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XVIII.

»Mein Gott, mein Gott!« dachte Nechljudow, während er mit großen Schritten durch die schattigen Alleen des verwilderten Gartens seinem Hause zuging und zerstreut die Blätter und Zweige abriß, die ihm in den Weg kamen; »waren denn alle meine Träume von den Zielen und Pflichten meines Lebens wirklich so töricht? Warum ist mir schwer und traurig ums Herz, als wäre ich unzufrieden mit mir selbst, während ich doch hoffte, bei der Ausführung meines Planes beständig die Fülle moralischer Befriedigung zu empfinden, die ich durchkostete, als diese Ideen mir zum erstenmal kamen?« Und er versetzte sich im Geiste mit ungewöhnlicher Lebhaftigkeit und Klarheit in jene glückliche Zeit, die ein ganzes Jahr hinter ihm lag.

In aller Morgenfrühe war er aufgestanden, früher als alle anderen im Hause, und war, qualvoll erregt durch eine verborgene, unklare Jugendextase, ziellos durch Garten und Wald gewandert; lange war er an jenem frischen, kraftvollen, aber friedlichen Maimorgen gedankenvoll umhergeirrt, gequält von einem Überfluß an Gefühl, für welches er keinen Ausdruck fand. Bald zeigte ihm seine jugendliche Phantasie das süße Bild eines Weibes, umgeben von dem vollen Reiz des Unbekannten, und ihm war, als sei das das Ziel seiner unausgesprochenen Sehnsucht. Aber ein anderes, edleres Gefühl sagte ihm: Das ist es nicht! und hieß ihn weiter suchen. Bald schwang sich sein junger Feuergeist höher und höher ins Reich des Abstrakten und entdeckte ihm, wie er wähnte, die Gesetze des Seins, und mit stolzem Genusse verweilte er bei diesen Gedanken. Aber wieder sagte ihm ein Gefühl: Das ist es nicht! und wieder mußte er aufgeregt weitersuchen. Gedanken- und wunschlos, wie man's nach angestrengter Tätigkeit zu sein pflegt, hatte er sich schließlich unter einem Baume auf den Rücken gelegt und die durchsichtigen Morgenwölkchen betrachtet, die über ihm am hohen, unbegrenzten Himmelszelt dahinzogen. Und plötzlich hatten seine Augen sich ohne jeden Grund mit Tränen gefüllt, und weiß Gott woher war ihm ein leuchtender Gedanke gekommen, der ihn ganz erfüllte und an den er sich freudig anklammerte: der Gedanke, daß die Liebe und das Gute Wahrheit und Glück sind, und zwar die einzige Wahrheit und das einzig mögliche Glück auf Erden. Sein Gefühl sagte nicht mehr: Das ist es nicht! Er erhob sich und dachte nach. »Das ist es, das ist es!« sagte er sich voller Entzücken und maß alle früheren Überzeugungen, alle Erscheinungen seines Lebens an der eben entdeckten und, wie er meinte, völlig neuen Wahrheit. »Wie töricht ist doch alles, was ich bisher gewußt, woran ich geglaubt, was ich geliebt habe!« dachte er; »Liebe, – Selbstverleugnung, – das ist das einzige wahre, vom Zufall unabhängige Glück!« wiederholte er lächelnd und lebhaft gestikulierend. Indem er diesen Gedanken in verschiedener Weise auf das Leben anwandte und ihn immer wieder bestätigt fand, sowohl im Leben als in jener inneren Stimme, die ihm sagte: Das ist es! durchkostete er ein ihm neues Gefühl der freudigen Erregung und des Entzückens. »Ich muß also Gutes tun, um glücklich zu sein!« sagte er sich, und seine ganze Zukunft stand nicht mehr unklar, sondern als festgeformtes Gebilde vor ihm: als das Leben eines Gutsherrn.

Er sah ein großes Arbeitsgebiet vor sich, auf dem er sein ganzes Leben hindurch wirken konnte, – sein Leben, das er dem Guten weihen wollte und das somit glücklich sein würde. Er brauchte sich sein Tätigkeitsfeld nicht erst zu suchen, es war da; er hatte natürliche Verpflichtungen: er hatte Bauern. Und ein so genußreiches und dankbares Arbeiten bot sich ihm dar: »Ich will einwirken auf dieses einfache, empfängliche, unverdorbene Volk, es vor der Armut retten, es materiell heben, ihm die Bildung vermitteln, die ich glücklicherweise besitze, seine Fehler verbessern, die nur der Unwissenheit und dem Aberglauben entspringen, sein Sittlichkeitsgefühl entwickeln, es lehren, das Gute zu lieben. Welch eine glänzende, glückliche Zukunft! Und für alles dies werde ich, der ich's um meines eigenen Glückes willen tun will, die Dankbarkeit der Bauern ernten, werde beobachten, wie ich mit jedem Tage dem mir gesteckten Ziele näher und näher komme. Eine herrliche Zukunft! Wie konnte ich sie nur bisher nicht erkennen?«

»Und außerdem« – dachte er weiter – »wer hindert mich, mein persönliches Glück zu suchen in der Liebe zu einem Weibe, im Familienleben?« Und seine junge Phantasie spiegelte ihm nun eine noch reizvollere Zukunft vor. »Ich und meine Frau, die ich so lieben werde, wie noch niemand auf Erden jemals geliebt worden ist, wir werden immer in dieser stillen, poesievollen, ländlichen Natur leben, mit unsern Kindern, vielleicht mit der alten Tante; wir haben unsere gegenseitige Liebe und die Liebe zu unsern Kindern, und wir wissen beide: unsere Bestimmung ist, Gutes zu tun. Wir helfen einander, diese Bestimmung zu erfüllen. Ich treffe allgemeine Anordnungen, gebe allgemeine, gerechte Unterstützungen, errichte ein Mustergut, eine Sparkasse, ein paar Werkstätten; und sie mit ihrem hübschen Köpfchen geht in dem einfachen weißen Kleide, das sie über den schmalen Füßchen ein wenig hebt, durch den Straßenschmutz in die Dorfschule, ins Krankenhaus, zu einem unglücklichen Bauern, der gerechterweise keine Unterstützung verdient hätte, und tröstet und hilft überall. Die Kinder, die Greise, die Weiber – alle vergöttern sie und schauen zu ihr auf wie zu einem Engel, wie zu einer überirdischen Erscheinung. Dann kommt sie heim und verbirgt vor mir, daß sie bei dem unglücklichen Bauern gewesen ist und ihm Geld gegeben hat; aber ich weiß alles, und ich umarme sie herzlich und küsse zärtlich und heiß ihre herrlichen Augen, ihre schamhaft errötenden Wangen und die lächelnden roten Lippen –!«


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