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XIX.

»Wo sind jene Träume geblieben?« dachte der Jüngling jetzt, als er nach dem Rundgang durch das Dorf auf sein Haus zuschritt; »ein Jahr lang suche ich schon auf diesem Wege das Glück, und was habe ich gefunden? Zuweilen fühle ich zwar, daß ich mit mir zufrieden sein kann, aber es ist eine so nüchterne, vernünftige Zufriedenheit. Oder nein, ich bin sogar direkt unzufrieden mit mir! Ich bin unzufrieden, weil ich hier kein Glück finde, und doch so heiß danach begehre! Ich hab' noch kein Glück empfunden und hab' doch alles von mir getan, was mich glücklich machen könnte. Warum? Wofür? Wem ist damit geholfen? Die Tante hatte recht, als sie mir schrieb: es ist leichter, selbst glücklich zu sein, als anderen Glück zu bereiten. Sind meine Bauern reicher geworden, sind sie gebildeter und sittlich entwickelter als früher? Nicht im geringsten! Ihnen ist nicht wohler, und mir ist mit jedem Tage schwerer zumute. Wenn ich einen Erfolg sähe, wenn ich Dankbarkeit fände, – aber nein, ich sehe nichts als Lug und Trug, Laster, Mißtrauen, Hilflosigkeit. Ich vergeude die besten Jahre meines Lebens,« sagte er sich, und es fiel ihm plötzlich ein, daß seine Nachbarn – wie die Amme ihm erzählt hatte – ihn den Unmündigen nannten, daß er im Wirtschaftsbureau kein Geld mehr hatte, daß die von ihm erfundene neue Dreschmaschine zum Gelächter aller Bauern zwar gepfiffen, aber nicht gedroschen hatte, als sie zum erstenmal vor zahlreichen Zuschauern in der Tenne in Gang gesetzt worden war, daß jeden Tag das Landgericht kommen konnte, um das Gutsinventar aufzunehmen, da er, durch all' seine neuen wirtschaftlichen Unternehmungen in Anspruch genommen, den Termin übersehen hatte. Und so klar und lebhaft, wie vorhin der Waldspaziergang und der Traum von dem Gutsherrnleben, trat jetzt sein Studentenstübchen in Moskau vor sein geistiges Auge: er sah sich spät nachts bei einer Kerze in Gesellschaft seines Kameraden und vergötterten sechzehnjährigen Freundes in dem Stübchen sitzen; fast fünf Stunden lang haben sie irgendwelche langweilige Paragraphen des bürgerlichen Rechtes gelesen und nachgesprochen, nun sind sie fertig, lassen sich ein Nachtmahl holen, leisten sich aus gemeinsamen Mitteln eine Flasche Champagner, sitzen da und plaudern von ihrer Zukunft. Wie ganz anders erschien die Zukunft damals dem jungen Studenten! Damals dachte er sie sich reich an Genüssen, an mannigfacher Tätigkeit, an glänzenden Erfolgen, und ganz unzweifelhaft sollte sie ihm und seinem Freunde das – wie sie damals glaubten – höchste Glück der Welt verschaffen: den Ruhm.

»Er schreitet bereits schnell vorwärts auf der Bahn des Ruhmes,« dachte Nechljudow in Bezug auf seinen Freund, »ich aber –?«

Inzwischen hatte er sich der Freitreppe seines Hauses genähert, an welcher etwa ein Dutzend Dorf- und Hofleute standen und mit verschiedenen Anliegen auf ihn warteten; aus dem Lande der Träume mußte er nun zur Wirklichkeit zurückkehren.

Da war eine blutiggeschlagene Bäuerin mit zerrauftem Haar und zerrissenen Kleidern, die unter Tränen klagte, ihr Schwiegervater wolle sie erschlagen; da waren ferner zwei Brüder, die schon seit zwei Jahren mit der Teilung ihres Hofes beschäftigt waren und einander voller Haß betrachteten; da war auch ein bärtiger, grauhaariger Gutsknecht, ein Säufer mit zitternden Händen, den sein Sohn, der Gärtner, hergeführt hatte, um sich beim Herrn über das liederliche Leben des Alten zu beklagen; da war ein Bauer, der seine kranke Frau aus dem Hause jagen wollte, weil sie den ganzen Frühling nicht gearbeitet hatte; sie saß jetzt schluchzend neben der Freitreppe auf dem Grase und zeigte stumm auf ihren entzündeten und geschwollenen, nachlässig mit schmutzigen Fetzen umwundenen Fuß.

Nechljudow hörte alle Bitten und Klagen an, gab hier einen Rat, dort ein Versprechen, half den einen und schalt die andern, und begab sich dann in sein Zimmer; er empfand ein aus Müdigkeit, Scham, Hilflosigkeit und Reue gemischtes Gefühl.


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