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VI.

[Die 5 Gebote Christi.
1. Gebot: Du sollst nicht mit deinem Bruder zürnen.
2. Gebot: Du sollst dich unter keinem Vorwande von deinem Weibe scheiden.
3. Gebot: Du sollst niemandem einen Eid leisten.
4. Gebot: Du sollst nicht widerstreben dem Uebel.
5. Gebot: Du sollst auch deine Feinde lieben, d.h. diejenigen, die nicht deine Volksgenossen sind.
Wodurch das richtige Verständniss dieser Gebote gehindert wird.
Einprägung dieser Gebote führt zum ewigen Frieden.]

 

Und also, nachdem ich das Gesetz Christi als Gesetz Christi aber nicht als Gesetz Mosis und Christi, und jenen Grundsatz dieses Gesetzes erkannt hatte, der das Gesetz Mosis geradezu verwirft, so verschwand jegliche frühere Unklarheit, Zerstreutheit und alles Widersprechende in den Evangelien und sie verschmolzen für mich in ein unzerreissbares Ganze: aus diesem hervor trat das Wesen der ganzen Lehre, ausgesprochen in den einfachen, klaren und jedermann zugänglichen fünf Geboten Christi (Matth. 5, 21–48), von denen ich bisher nichts gewusst hatte.

In allen Evangelien ist die Rede von den Geboten Christi und deren Erfüllung.

Alle Theologen sprechen von den Geboten Christi; welches aber diese Gebote sind, hatte ich früher nicht gewusst. Mir schien, Christi Gebot bestehe darin: »liebe Gott und deinen Nächsten wie dich selbst«. Und ich sah nicht, dass dies nicht Christi Gebot sein konnte, weil es das Gebot der Alten ist (Deuteron. u. Levit.). Die Worte Matthäus 5, 19: »wer nun eins von diesen kleinsten Geboten auflöset, und lehret die Leute also, der wird der kleinste heissen im Himmelreich; wer es aber thut und lehret, der wird gross heissen im Himmelreich« – bezog ich auf die Gebote Mosis. Dass aber die neuen Gebote Christi klar und bestimmt ausgesprochen sind im 5. Kap. Matth. V. 21–48, das war mir nie in den Sinn gekommen. Ich sah nicht, dass an der Stelle, wo Christus spricht: »es ist euch gesagt worden – ich aber sage euch« neue, bestimmte Gebote Christi ausgedrückt sind und gleich der Anzahl der Hinweise auf das alte Gesetz (die zwei Berufungen auf den Ehebruch für eine gerechnet) sind es gerade fünf neue, klare und bestimmte Gebote Christi.

Von den sogenannten Makarismen oder Seligkeiten und deren Zahl hatte ich gehört und hatte sie erklären hören in dem Religionsunterricht unserer Kirche über das Gesetz Gottes – über die Gebote Christi jedoch hatte ich nie etwas vernommen. Zu meiner Verwunderung sollte ich sie entdecken.

Und ich entdeckte sie folgendermaassen. In Matth. 5, 21–28 ist gesagt: »Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist: du sollst nicht tödten; wer aber tödtet, der soll des Gerichts schuldig sein (21). Ich aber sage euch: wer mit seinem Bruder umsonst zürnet, der ist des Gerichts schuldig; wer aber zu seinem Bruder sagt: Raka, der ist des Raths schuldig; wer aber sagt: du Narr, der ist des höllischen Feuers schuldig (22). Darum, wenn du deine Gabe auf dem Altar opferst, und wirst allda eindenken, dass dein Bruder etwas wider dich habe (23); So lass allda vor dem Altar deine Gabe, und gehe zuvor hin, und versöhne dich mit deinem Bruder; und alsdann komm und opfere deine Gabe (24). Sei willfertig deinem Widersacher bald, dieweil du noch bei ihm auf dem Wege bist, auf dass dich der Widersacher nicht dermaleins überantworte dem Richter, und der Richter überantworte dich dem Diener, und werdest in den Kerker geworfen (25). Ich sage dir: wahrlich, du wirst nicht von dannen herauskommen, bis du auch den letzten Heller bezahlest (26).«

Nachdem ich das Gebot des Nichtwiderstrebens dem Uebel begriffen hatte, ward ich inne, dass diese Verse dieselbe klare, auf das Leben anwendbare Bedeutung haben mussten, wie das Gebot über das Nichtwiderstreben dem Uebel. Die Bedeutung, die ich früher diesen Worten beilegte, war die, dass jeder stets den Zorn gegen seinen Nächsten vermeiden, nie Schmähworte gebrauchen und mit allen, ohne Ausnahme, in Frieden leben müsse; im Texte aber stand ein Wort, das diesen Sinn ausschloss. Es war gesagt in den kanonischen Evangelien: »zürne nicht umsonst«, sodass aus diesen Worten keine Vorschrift unbedingten Friedens hervorging. Dieses Wort verwirrte mich. Und um meinen Zweifel aufzuklären, wandte ich mich an die Erläuterungen der Theologen. Zu meiner Verwunderung fand ich, dass die Erläuterungen der Kirchenväter hauptsächlich darauf gerichtet sind festzustellen: wann der Zorn zu entschuldigen ist und wann nicht. Alle Erläuterer der Kirche legen ein besonderes Gewicht auf die Bedeutung des Wortes »unnütz«,εἰκῆ, welches am besten durch »umsonst« übersetzt werden kann, und erklären diese Stelle in dem Sinn, dass man eben nicht umsonst die Menschen beleidigen und keine Schmähworte gebrauchen solle, dass aber der Zorn nicht immer ungerecht sei; und zur Bestätigung dieser Erklärung führen sie Beispiele an über den Zorn der Apostel und der Heiligen.

Und ich konnte nicht umhin zuzugeben, dass die Erklärung, dass der Zorn »zu Ehren Gottes« nicht verboten wird, obgleich er dem ganzen Sinne des Evangeliums vollständig widerspricht, folgerecht ist und ihren Grund in dem Worte εἰκῆ, hat, das im 22. Verse steht. Dieses Wort verändert den Sinn des ganzen Ausspruchs.

»Zürne nicht umsonst.« Christus gebietet allen zu vergeben, zu vergeben ohne Ende; er vergiebt selbst und verbietet Petrus, als dieser seinen verrathenen Meister vertheidigt, den, wie man wohl annehmen müsste, gerechten Zorn gegen Malchus. Und derselbe Christus lehret alle Menschen: zürnet nicht umsonst, und durch diese Worte gestattet er den gerechten, den begründeten Zorn. Christus predigt den Frieden allen einfachen Leuten, und plötzlich, gleichsam als wolle er sich davon lossagen, dass diese Lehre in allen Fällen anwendbar sei, und zugeben, dass es Fälle giebt, wo man seinem Bruder zürnen dürfe, schaltet er das Wort »umsonst« ein. Und in den Erläuterungen wird erwiesen, dass es einen gerechten, rechtzeitigen Zorn giebt. Wer aber ist der Richter darüber, fragte ich mich, ob der Zorn ein gerechter ist? Ich habe noch nie zornige Menschen gesehen, die ihren Zorn nicht für gerecht gehalten hätten. Alle halten ihren eigenen Zorn für gerecht und nützlich. – Dieses Wort vernichtete den ganzen Sinn des Verses. Das Wort stand aber in der heiligen Schrift und ich konnte es nicht entfernen. Es brachte eine gleiche Aenderung hervor, als hätte man in dem Ausspruch: »liebe deinen Nächsten« hinzugefügt: »liebe den guten Nächsten« oder: »liebe den Nächsten, der dir gefällt«!

Der ganze Sinn des Ausspruchs ward für mich zerstört durch das Wort »umsonst«. Die Verse 28 und 24, welche fordern, dass bevor man bete, man sich mit demjenigen versöhnen solle, der uns zürnt, Verse, die ohne das Wort »umsonst« eine gerade, verpflichtende Bedeutung hätten, erhielten auf diese Weise eine bedingte Bedeutung.

Mir schien, dass Christus jeden Zorn, jedes Uebelwollen vorbieten müsse und deshalb, um dergleichen zu verhüten, jedem vorschreibt: bevor du deine Gabe bringest, d. h. bevor du in Beziehung zu Gott trittst, entsinne dich, ob es nicht einen Menschen giebt, der dir zürnt? Und wenn es einen solchen giebt, sei er nun gerecht oder ungerecht in seinem Zorn, so gehe hin und versöhne dich mit ihm und dann erst komm und bringe deine Gabe, oder bete. So schien es mir; nach den Erläuterungen aber erwies es sich, dass dieser Ausspruch nur bedingt zu verstehen war.

Von allen Erläuterungen wird er in dem Sinne erklärt, dass man sich bemühen müsse sich mit allen zu versöhnen, wenn man aber solches der Verderbtheit derer wegen, mit denen man verfeindet ist, nicht thun könne, so solle man sich im Herzen, in Gedanken aussöhnen, und die Feindschaft der andern gegen uns würde uns am Beten nicht verhindern. Ausserdem erschienen mir die Worte: »wer da sagt: Raka, oder du Narr, der ladet furchtbare Schuld auf sich« – stets sonderbar und unklar. Wenn Schmähungen verboten sind, warum werden als Beispiele so schwache, fast nicht beleidigende Ausdrücke gewählt? Und ferner: weshalb eine so entsetzliche Drohung gegen den, der sich zu einem so schwachen Schmähwort, wie »Raka« d. h. »Nichtiger«, hinreissen lässt? Alles dies war nicht klar.

Ich fühlte, dass hier ein ebensolches Missverständniss bestand, wie bei den Worten »richtet nicht«; ich fühlte, dass wie in jener Erklärung, so auch hier aus dem Einfachen, Wesentlichen, Bestimmten, Erfüllbaren alles in das Reich des Nebelhaften und Indifferenten überging. Ich fühlte, dass Christus die Worte: »gehe hin und versöhne dich mit ihm«, nicht in dem Sinne wie sie ausgelegt werden – »versöhne dich in Gedanken« –, auffassen konnte. Was heisst das: versöhne dich in Gedanken –? Ich glaubte, dass Christus das sagt, was er mit den Worten des Propheten ausspricht: nicht Opfer will ich, sondern Mitleid, d. i. Liebe zu den Menschen. Darum also, so du Gott wohlgefallen willst, so entsinne dich bevor du betest, Morgens und Abends, vor der Messe und vor der Vesper, wer dir zürnet, und gehe hin und thue also, dass er dir nicht mehr zürne, und dann bete, wenn du willst. Aber – »in Gedanken«! Ich fühlte, dass die ganze Erklärung, die mir den direkten und klaren Sinn zerstörte, sich auf das Wort »umsonst« gründete. Wenn dies entfernt würde, träte der Sinn klar hervor; doch alle Erläuterer waren gegen meine Auffassung; auch das kanonische Evangelium mit dem Worte »umsonst« war dagegen.

Sobald ich von diesem abweiche, kann ich, nach meinem Gutdünken, auch von anderem abweichen; andere können desgleichen thun. Alles liegt in dem einen Worte: fehlt dieses, so ist alles klar. Und ich machte den Versuch das Wort εἰκῆ irgendwie philosophisch zu erklären, so dass es den Sinn des Ganzen nicht störe.

Ich wende mich an die Wörterbücher: an das allgemeine Wörterbuch, und sehe, dass dieses Wort εἰκῆ auch »ohne Zweck«, »unbedacht« bedeutet; ich versuche eine derartige Deutung zu geben, die den Sinn nicht beeinträchtigt: das Hinzufügen des Wortes aber hat augenscheinlich die Bedeutung, die ihm beigelegt wird. Ich forsche im evangelischen Lexikon – die Bedeutung des Wortes ist dort dieselbe wie hier. Ich forsche im Kontexte – das Wort wird im Evangelium nur einmal gebraucht, eben hier. In der 1. Epistel an die Korinther (15, 2) ist es genau in demselben Sinne angewendet. Folglich giebt es keine Möglichkeit es anders zu erklären und man muss zugeben, dass Christus gesagt hat: zürnet nicht umsonst. Ich muss aber gestehen, dass, wenn ich zugeben müsste, dass Christus an dieser Stelle so unklare Worte gesprochen und dadurch die Möglichkeit gegeben hat sie also zu verstehen, dass nichts von ihnen übrig bleibt – dies für mich dasselbe wäre, wie mich vom Evangelium loszusagen. Es blieb eine letzte Hoffnung: befand sich dies Wort in allen Abschriften? – Ich forsche in den Varianten, forsche im Griesbach, in dem alle Varianten angegeben sind, d. h. wie, in welchen Abschriften und bei welchen Kirchenvätern ein gewisser Ausdruck gebraucht worden ist. Ich forsche und mit einem Schlage erkenne ich mit Entzücken, dass sich an dieser Stelle Randbemerkungen befinden, dass es also Abweichungen giebt. Ich forsche – und alle Varianten betreffen diese Stelle, d. i. das Wort εἰκῆ. In den meisten Abschriften des Evangeliums und den Citaten der Kirchenväter fehlt gänzlich das Wort εἰκῆ. Folglich hatte die Mehrzahl dieselbe Auffassung wie ich. Ich forsche im Tischendorf – in der ältesten Abschrift –, das Wort ist nicht da. Ich forsche in Luthers Uebersetzung, aus der ich es auf dem kürzesten Wege erfahren konnte – das Wort fehlt auch da.

Das Wort, welches den ganzen Sinn der Lehre Christi veränderte, dieses Wort ist ein Zusatz, der noch im 5. Jahrhundert in den besten Abschriften des Evangeliums nicht vorgekommen ist.

Es hatte sich einer gefunden, der dies Wort einschaltete, und es fanden sich Leute, die einen solchen Zusatz guthiessen und ihn erklärten.

Christus konnte dies entsetzliche Wort nicht gesagt haben und hat es nicht gesagt, und jener ursprüngliche, einfache, gerade Sinn des ganzen Ausspruchs, der mir auffiel wie er jedem auffällt, ist der wahre.

Mehr noch: es genügte mir zu begreifen, dass die Worte stets jeden Zorn, gegen wen es auch sei, verbieten, damit auch das frühere mich verwirrende Verbot zu irgend jemand »Raka« oder »du Verrückter« zu sagen, einen andern Sinn bekam, als den, Christus verbiete den Gebrauch schmähender Worte. Das eigenthümliche, nicht übersetzte hebräische Wort Raka gab mir diesen Sinn. Raka bedeutet der Zertretene, der Vernichtete, der Nichtexistirende; das Wort Raka bedeutet das Ausschliessen und kann am besten durch die Worte »nur nicht« übersetzt werden. Raka ist ein Mensch, der nicht als Mensch anzusehen ist. In der Mehrzahl wird das Wort Rekim in dem Buche der Richter 9, 4 gebraucht, wo es Verlorene (Lose, Nichtige) bedeutet. Das also ist das Wort, das Christus von keinem Menschen zu sagen erlaubt, – gleichwie auch das andere Wort, welches bei Luther durch Narr übersetzt ist, aber eigentlich verrückt bedeutet, ein Begriff, der uns von den Pflichten des Menschen zum Nächsten entbindet. Wir zürnen, wir thun den Menschen Böses und um uns zu rechtfertigen sagen wir, dass derjenige, dem wir zürnen, ein Verlorener, ein Narr oder ein Verrückter sei. Und eben diese zwei Worte sind es, die Christus dem Menschen vom Menschen zu sagen verbietet; er verbietet, wem es auch sei zu zürnen und seinen Zorn dadurch zu rechtfertigen, dass man den andern für verloren und verrückt hält

Und also eröffnete sich mir, anstatt der nebelhaften Erklärungen und der jeder Willkür unterworfenen, unbestimmten und unwichtigen Ausdrücke von Vers 21–26 das einfache, klare und bestimmte erste Gebot Christi: lebe in Frieden mit allen Menschen, halte nie deinen Zorn gegen die Menschen für gerecht, halte keinen Menschen für einen Verlorenen oder Narren. Und nicht nur, dass du deinen eigenen Zorn nicht für gerecht halten sollst, sondern du sollst auch den Zorn des andern gegen dich für ungerecht erachten; darum, wenn es einen Menschen giebt, der dir zürnet, – bevor du betest, gehe hin und vernichte dies feindselige Gefühl (23 u. 24). Suche noch rechtzeitig die Feindschaft zwischen dir und deinem Widersacher zu vernichten, auf dass sie sich nicht entflamme und dich vernichte (25 u. 26).

Nach dem ersten that sich mir auch das zweite Gebot kund, das gleichfalls mit dem Hinweis auf das alte Gesetz beginnt.

In Matth. 5, 27–30 ist gesagt: »Ihr habt gehöret, dass zu den Alten gesagt ist: du sollst nicht ehebrechen. Ich aber sage euch: wer ein Weib ansiehet, ihrer zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen. Aergert dich aber dein rechtes Auge, so reiss es aus und wirf es von dir. Es ist dir besser, dass eins deiner Glieder verderbe, und nicht der ganze Leib in die Hölle geworfen werde. Aergert dich deine rechte Hand, so haue sie ab, und wirf sie von dir. Es ist dir besser, dass eins deiner Glieder verderbe, und nicht der ganze Leib in die Hölle geworfen werde.«

Matth. 5, 31–32 heisst es: »Es ist auch gesagt: wer sich von seinem Weibe scheidet, der soll ihr geben einen Scheidebrief. Ich aber sage euch: wer sich von seinem Weibe scheidet (ausser um des Ehebruchs willen) der macht, dass sie die Ehe bricht; und wer eine Abgeschiedene freiet, der bricht die Ehe.« (5. Mos. 24, 1.)

Der Sinn dieser Worte schien mir folgender: der Mensch soll nicht einmal den Gedanken zulassen an eine Vereinigung mit einem andern Weibe als demjenigen mit dem er sich bereits verbunden hat, und darf nie, wie es nach dem Gesetze Mosis gestattet war, dieses Weib gegen ein anderes vertauschen.

Gleichwie im ersten Gebote gegen den Zorn der Rath ertheilt ist, diesen Zorn im Keime zu ersticken, ein Rath, der durch den Vergleich mit einem Menschen, der zum Richter geführt wird, erläutert wird; so sagt Christus auch hier, dass die Hurerei daraus entspringt, dass Männer und Weiber auf einander als auf einen Gegenstand der Wollust blicken. Auf dass es nicht so sei, muss alles beseitigt werden, was Wollust erregen kann; man muss alles vermeiden, was Wollust erweckt und nachdem man mit seinem Weibe vereint ist, darf man sein Weib unter keinerlei Vorwand verlassen, denn das Verlassen desselben bringt Unsittlichkeit hervor: die verlassenen Weiber verführen andere Männer und bringen Unsittlichkeit in die Welt.

Die Weisheit dieses Gebotes fiel mir auf. Alles Böse unter den Menschen, das aus den geschlechtlichen Beziehungen entsprang, wurde durch diese Lehre beseitigt. Wissend, dass der Genuss der geschlechtlichen. Beziehungen zu Zwietracht führt, vermeiden die Menschen alles, was Wollust hervorruft, und wissend, dass es des Menschen Bestimmung ist, gepaart zu leben, vereinigen sie sich zu Paaren und bleiben dieser Verbindung in jedem Falle treu; und alles Böse der Zwietracht um geschlechtlicher Beziehungen willen wird beseitigt dadurch, dass es keine einzelnen, aus dem Eheleben ausgeschlossenen Männer und Weiber giebt.

Die Worte der Bergpredigt παρεκτὸς λόγου πορνείας, welche von Luther so eigentümlich und willkürlich durch »es sei denn um Ehebruch« übersetzt und welche so aufgefasst wurden, dass der Mann sich von seinem Weibe scheiden könne im Falle ihres Ehebruchs, erschienen mir jetzt noch auffallender.

Abgesehen davon, dass etwas Unwürdiges in der Form selbst lag, in der dieser Gedanke ausgesprochen war – neben den ihrer Bedeutung nach tiefsten Wahrheiten der Predigt, gleich einer Anmerkung zu einem Paragraphen eines Kodex, stand diese sonderbare Ausnahme aus der allgemeinen Regel –; diese Ausnähme selbst widersprach dem Grundgedanken.

Ich forsche bei den Erläuterern – und alle, Joh. Chrys. S. 365 und andere, selbst gelehrte theologische Kritiker wie Reuss, erkennen an, dass diese Worte bedeuten, dass Christus in dem Falle eines Ehebruchs von Seiten des Weibes die Scheidung gestattet, und dass im 9. Kap. in der Rede Christi, wo die Scheidung verboten wird, die Worte: »es sei denn um der Hurerei willen«, wie es Luther übersetzt, dasselbe bedeuten. Ich lese und lese nochmals den 32. Vers und es scheint mir, er könne nicht das Gestatten der Ehescheidung bedeuten. Um mich zu vergewissern, forsche ich in den Kontexten und finde in den Evangelien Matth. 19, Mark. 10, Luk. 16, in der ersten Epistel Pauli an die Korinther dieselbe Lehre über die Unlösbarkeit der Ehe, ohne jegliche Einschränkung.

Im Evangelium Luk. 16, 18 ist gesagt: »Wer sich scheidet von seinem Weibe und freiet eine andere, der bricht die Ehe; und wer die Abgescheidete von dem Manne freiet, der bricht auch die Ehe.«

Im Evangelium Mark. 10, 4–12 lautet die Vorschrift ebenso bedingungslos. »Sie sprachen: Moses hat zugelassen, einen Scheidebrief zu schreiben und sich zu scheiden (4). Jesus antwortete und sprach zu ihnen: um eures Herzens Härtigkeit willen hat er euch solches Gebot geschrieben (5); Aber von Anfang der Kreatur hat sie Gott geschaffen ein Männlein und ein Fräulein (6). Darum wird der Mensch seinen Vater und Mutter lassen, und wird seinem Weibe anhangen (7), Und werden sein die zwei ein Fleisch. So sind sie nun nicht zwei, sondern ein Fleisch (8). Was denn Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden (9). Und er sprach zu ihnen: wer sich scheidet von seinem Weibe, und freiet eine andere, der bricht die Ehe an ihr (11); Und so sich ein Weib scheidet von ihrem Manne, und freiet einen anderen, die bricht ihre Ehe (12).«

Ganz so heisst es bei Matth. 19, 4–9.

In der ersten Epistel Pauli an die Korinther 7, 1–12 ist ausführlich der Gedanke entwickelt, der Unsittlichkeit solle dadurch vorgebeugt werden, dass jeder Mann und jedes Weib, nachdem sie sich verbunden, sich nicht verlassen dürfen und einer dem andern in geschlechtlicher Beziehung genügen müssen; und ebenso deutlich ist gesagt, dass in keinem Falle einer der Verehelichten den andern verlassen dürfe um mit einem oder einer andern in Beziehung zu treten.

Nach Markus, Lukas und der Epistel Pauli ist die Ehescheidung nicht gestattet. Nach dem Sinne der Lehre, dass Mann und Weib ein Fleisch, durch Gott vereint sind, einer Lehre, die sich in beiden Evangelien wiederholt, ist sie nicht gestattet. Nach dem Sinne der ganzen Lehre Christi, die da lehrt allen zu vergeben, selbst dem gefallenen Weibe, ist sie nicht gestattet. Nach dem Sinne der ganzen Stelle, die da erklärt, dass das Verlassen des Weibes Unsittlichkeit erzeugt, umsomehr eines unsittlichen Weibes, – ist sie nicht gestattet.

Worauf beruht denn die Annahme, dass die Scheidung im Falle des Ehebruchs des Weibes gestattet sei? Auf jenen Worten des 32. V. 5. Kap. Matth., die mir so eigenthümlich auffallend erschienen. Diese Worte werden von allen derart gedeutet, als ob Christus die Ehescheidung im Falle des Ehebruchs des Weibes gestatte, und dieselben Worte wiederholen sich in vielen Abschriften der Evangelien, und viele Kirchenväter stellen sie an Stelle der Worte im 19. Kapitel.

Ich begann wiederum diese Worte zu lesen und konnte sie lange nicht begreifen. Ich sah, dass hier ein Fehler in der Uebersetzung und der Deutung sein müsse, worin aber dieser Fehler bestand, konnte ich lange nicht finden. Der Fehler war offenbar. Indem Christus sein Gebot dem Gebote Mosis entgegenstellt, laut welchem jeder Mann, wie es dort heisst, sein Weib, »wenn sie nicht Gnade findet vor seinen Augen« (Mos. 5, 24, 1), freilassen und ihr einen Scheidebrief geben kann, sagt er: »ich aber sage euch: wer sich von seinem Weibe scheidet (ausser um Ehebruchs willen), der macht, dass sie die Ehe bricht.« In diesen Worten liegt durchaus kein Gegensatz oder eine Entscheidung darüber, ob man sich scheiden dürfe oder nicht, es ist nur gesagt, dass das Freigeben des Weibes ihr Veranlassung giebt die Ehe zu brechen. Und plötzlich wird dabei eine Ausnahme gemacht für das Weib, das des Ehebruchs schuldig ist. Diese Ausnahme, die sich auf das des Ehebruchs schuldige Weib bezieht, wo es sich um den Mann handelt, ist überhaupt sonderbar und unerwartet, in diesem Zusammenhange aber geradezu unsinnig, da sie selbst die zweifelhafte Logik, die in den Worten an sich lag, aufhebt. Es wird gesagt, dass das Freigeben des Weibes sie zum Ehebruch veranlasst, und es wird vorgeschrieben das des Ehebruchs schuldige Weib freizugeben; als ob das des Ehebruchs schuldige Weib die Ehe nicht brechen würde.

Abgesehen davon: nachdem ich diese Stelle aufmerksam analysirt hatte, bemerkte ich, dass sie nicht einmal grammatischen Sinn besass. Es wird gesagt: wer sich scheidet von seinem Weibe, ausser um Ehebruchs willen, der macht, dass sie die Ehe bricht, und der Satz ist zu Ende. Es wird vom Manne behauptet, dass er, indem er das Weib freigiebt, macht, dass sie die Ehe bricht. Warum heisst es denn hier: »ausser um Ehebruchs willen«? – Wenn gesagt wäre, dass der sich von seinem Weibe, ausser dem Falle des Ehebruchs, scheidende Mann die Ehe bricht, dann wäre der Satz richtig; so aber hat das Subjekt »der Mann, der sich scheidet,« kein anderes Prädikat als »macht, dass sie die Ehe bricht«. In welcher Beziehung steht nun »ausser um des Ehebruchs willen« zu diesem Prädikat? Selbst wenn zu den Worten »ausser um des Ehebruchs willen« das Wort: »des Weibes« oder »ihres« hinzugefügt wäre, was nicht der Fall ist, selbst dann könnten diese Worte sich nicht auf das »macht, dass sie die Ehe bricht« beziehen. Diese Worte beziehen sich, nach der angenommenen Auslegung, auf das Prädikat »wer sich scheidet«, dieses aber ist nicht das Hauptprädikat; das Hauptprädikat ist: »macht, dass sie die Ehe bricht«. Wozu ist denn gesagt: »ausser um des Ehebruchs willen« oder »es sei denn um Ehebruch« –? Sei es um Ehebruchs, sei es nicht um Ehebruchs willen, der Mann, wenn er sich scheidet, giebt allemal Veranlassung zum Ehebruch.

Der evangelische Ausspruch ist ganz gleich dem folgenden: derjenige, der seinem Sohne den Lebensunterhalt entzieht, ausser Grausamkeit, macht, dass er grausam wird. Das kann offenbar nicht die Bedeutung haben, dass der Vater seinem Sohne den Lebensunterhalt entziehen kann, wenn der Sohn grausam ist. Wenn er eine Bedeutung hat, so ist es nur die, dass der Vater, der seinem Sohne den Lebensunterhalt entzieht, ausser dass er sich selbst der Grausamkeit schuldig macht, auch seinen Sohn zur Grausamkeit veranlasst. Ebenso hätte auch der Ausspruch des Evangeliums Sinn, wenn anstatt der Worte »ausser um des Ehebruchs willen« es heissen würde: ausser Wollust, Unsittlichkeit oder etwas Aehnliches – was nicht eine Handlungsweise, sondern eine Eigenschaft bezeichnen würde.

Und ich fragte mich: sollte hier nicht blos gesagt sein, dass, wer sich von seinem Weibe scheidet, ausser dass er sich selbst der Unsittlichkeit schuldig macht (da jeder sich von seinem Weibe nur scheidet um ein anderes zu nehmen), auch das Weib zum Ehebruch veranlasst. Wenn das Wort »Ehebruch« im Texte derart gebraucht ist, dass es auch Unsittlichkeit bedeuten kann, so ist der Sinn klar.

Und es wiederholt sich dasselbe, was mir so oft in solchen Fällen vorgekommen. Der Text bestätigte meine Annahme, sodass kein Zweifel mehr möglich war.

Das erste, was mir beim Lesen des Textes auffiel, war, dass das Wort πορνεία, sowie das Wort μοιχᾶσϑαι, das ein ganz anderes ist, durch das Wort »Ehebruch« übersetzt war. Vielleicht aber sind diese Worte synonym, oder es wird in den Evangelien das eine für das andere gebraucht. Ich forsche im allgemeinen und im evangelischen Lexikon und sehe, dass das Wort πορνεία, das dem hebräischen senuth, dem lateinischen fornicatio, dem deutschen Hurerei gleichkommt, eine ganz bestimmte Bedeutung hat und nie, nach keinerlei Wörterbüchern Ehebruch, adulterium, wie es übersetzt wird, bedeutet hat oder bedeuten kann. Es bezeichnet einen lasterhaften Zustand oder eine lasterhafte Eigenschaft, aber durchaus nicht eine Handlung und kann nicht durch das Wort Ehebruch übersetzt werden. Ueberdies sehe ich, dass die Worte »Ehebruch, ehebrechen« in allen Evangelien und sogar in diesen Versen durch das andere Wort μοιχᾶσϑαι bezeichnet werden. Und es genügte mir, diese offenbar mit Absicht falsche Uebersetzung zu verbessern, damit der Sinn, der von den Erläuterern dieser Stelle und dem Kontexte (19) beigelegt wird, ganz unmöglich und die Bedeutung, bei welcher das Wort πορνείας sich auf den Mann bezieht, zweifellos wurde.

Die Uebersetzung wie sie jeder machen wird, der des Griechischen kundig ist, wird folgendermaassen lauten: παρεκτὸς – ausser, λόγου – der Schuld, πορνείας – der Unsittlichkeit, ποιεῐ – macht er, αὐτὴν – (dass) sie, μοιχᾶσϑαι – die Ehe bricht; und wir haben buchstäblich: »wer sich scheidet von seinem Weibe, ausser der Schuld der Unsittlichkeit, macht, dass sie die Ehe bricht«.

Denselben Sinn gewinnt man aus dem 19. Kap. Es genügt die unrichtige Uebersetzung des Wortes πορνείας und des Vorwortes ἐὰν, durch »um« übersetzt, zu verbessern, und an Stelle des Wortes »Ehebruch« zu sagen »Unsittlichkeit« und anstatt »um« zu sagen »wegen«, um klar zu machen, dass die Worte εἰ μὴ ἐπὶ πορνείᾳ sich nicht auf das Weib beziehen können. Und da die Worte παρεκτὸς λόγου πορνείας nichts anderes bedeuten können als die Schuld der Unsittlichkeit des Mannes, – so können auch die Worte εἰ μὴ ἐπὶ πορνείᾳ, die im 19. Kap. stehen, sich auf nichts anderes beziehen als auf die Unsittlichkeit des Mannes. Es ist gesagt εἰ μὴ ἐπὶ πορνείᾳ – Wort für Wort »wenn nicht wegen Unsittlichkeit«. Und es ergiebt sich folgender Sinn: indem Christus an dieser Stelle den Pharisäern antwortet, die da glaubten, dass wenn der Mann sein Weib nicht verlassen hat um sich der Unsittlichkeit hinzugeben, sondern um sich mit einem andern Weibe ehelich zu verbinden, er die Ehe nicht gebrochen hat, – stellt er die Behauptung auf, dass das Verlassen der Frau, d. h. das Auflösen der Beziehungen zu ihr, auch wenn es nicht wegen Unsittlichkeit, sondern um der ehelichen Verbindung mit einer andern willen geschieht, dennoch Ehebruch ist. Und es entsteht ein ganz einfacher Sinn, im Einklange mit der ganzen Lehre, mit den Worten, mit denen er in Verbindung steht, sowie mit der Grammatik und Logik.

Und diese einfache, klare Bedeutung, die aus den Worten selbst und aus der ganzen Lehre entspringt, musste ich mit der grössten Mühe entdecken. In der That: lest die Worte im Deutschen, im Französischen, wo geradezu gesagt ist: »pour cause d'infidélité« oder »à moins que cela ne soit pour cause d'infidélité«, und errathet, dass sie etwas ganz anderes bedeuten! Das Wort παρεκτὸς, welches, allen Wörterbüchern nach, »excepté«, »ausgenommen« bedeutet, wird durch einen ganzen Satz wiedergegeben: »à moins que cela ne soit«. Das Wort πορνεία wird durch »infidélité«, »Ehebruch« übersetzt. Und auf diese absichtliche Entstellung des Textes gründet sich eine Erklärung, die den moralischen und religiösen, sowie den grammatischen und logischen Sinn der Worte Christi entstellt.

Und abermals fand ich die Bestätigung jener fruchtbaren und tröstlichen Wahrheit, dass der Sinn der Lehre Christi einfach und klar ist, dass seine Vorschriften wichtig und bestimmt sind, dass aber die Auslegungen, die darauf ausgehen das im Leben bestehende Böse zu rechtfertigen, seine Lehre derart verfinstert haben, dass man sie mit Mühe wieder entdecken muss. Es wird mir klar, dass wenn die Evangelien zur Hälfte verbrannt oder halbverwischt entdeckt worden wären, es leichter sein würde den wahren Sinn festzustellen, als jetzt, wo gewissenlose Erläuterer darüber hingegangen sind, die gerade den Zweck gehabt haben den Sinn der Lehre zu verdunkeln. In diesem Falle ist es noch augenscheinlicher als in dem vorhergehenden, wie der ganz spezielle Zweck der Rechtfertigung einer Ehescheidung eines Iwan des Grausamen die Veranlagung zur Verfinsterung der ganzen Lehre über die Ehe geworden ist.

Es genügt alle Erklärungen zu verwerfen, und anstatt des Nebelhaften und Unbestimmten erscheint das vollkommen bestimmte, klare zweite Gebot Christi.

Mache die Wollust der geschlechtlichen Beziehungen nicht zu einer Belustigung für dich; möge jeder Mann, wenn er nicht ein Kastrat ist, d. h. wenn er der geschlechtlichen Beziehungen bedarf, ein Weib, und jedes Weib einen Mann nehmen; und jeder Mann habe ein Weib und jedes Weib habe einen Mann: und zerstört nie und unter keinem Vorwande die fleischliche Verbindung zwischen euch.

Sogleich unmittelbar nach dem zweiten Gebote wird abermals ein Hinweis auf das alte Gesetz angeführt und das dritte Gebot wird erklärt (Matth. 5, 33-37): »Ihr habt weiter gehöret, dass zu den Alten gesagt ist: du sollst keinen falschen Eid thun und sollst Gott deinen Eid halten (Levit. 19, 12). Ich aber sage euch, dass ihr allerdings nicht schwören sollt, weder bei dem Himmel, denn er ist Gottes Stuhl (34); Noch bei der Erde, denn sie ist seiner Füsse Schemel; noch bei Jerusalem, denn sie ist eines grossen Königs Stadt (35). Auch sollst du nicht bei deinem Haupte schwören; denn du vermagst nicht ein einiges Haar weiss oder schwarz zu machen (36). Eure Rede aber sei: ja, ja, nein, nein; was drüber ist, das ist vom Uebel (37).«

Diese Stelle hatte mich, wenn ich sie las, früher stets durch ihre Unbegreiflichkeit verwirrt; sie verwirrte mich ebenso wie die Stelle über die Ehescheidung – nicht durch den Widerspruch mit anderen Stellen, wie z. B. das Gestatten des gerechten Zornes, – nicht durch die Schwierigkeit der Ausführung, wie die Vorschrift über das Hinhalten des Backens; nein, sie verwirrte mich, im Gegentheil, durch ihre Klarheit, ihre Einfachheit und Leichtigkeit. Neben Regeln, deren Tiefe und Bedeutung mich schreckten und demüthigten, stand plötzlich eine für mich so nutzlose, leere, leichte Regel, die weder für mich noch für andere irgend welchen Werth haben konnte. Ich schwur ohnehin nicht, weder bei Jerusalem, noch bei Gott, noch bei sonst etwas, und es kostete mich gar keine Mühe; und ausserdem, schien es mir, könne es für niemand von Wichtigkeit sein ob ich schwur oder nicht. Und in dem Wunsche für diese, mich durch ihre Leichtigkeit verwirrende Regel eine Erklärung zu finden, wandte ich mich an die Erläuterer. In diesem Falle brachten sie mir Hilfe.

Alle Erläuterer sehen in diesen Worten die Bestätigung des 3. Gebotes Mosis – nicht im Namen Gottes zu schwören. Sie erklären diese Worte in dem Sinne, dass Christus, gleich Moses, durchaus verbietet den Namen Gottes unnütz zu gebrauchen. Ausserdem erklären sie, dass diese Regel Christi, nicht zu schwören, nicht immer bindend sei und sich durchaus nicht auf den Eidschwur beziehe, den jeder Staatsbürger der Obrigkeit zu leisten hat. Und es werden Texte aus der hl. Schrift hervorgesucht, nicht um den geraden Sinn der Vorschrift Christi zu bestätigen, sondern um zu beweisen, dass man sie nicht zu erfüllen genöthigt sei und sie umgehen könne und müsse.

Es wird gesagt, dass Christus selbst den Eid im Gericht bestätigt hat, als er auf die Worte des Hohenpriesters: »ich beschwöre dich bei dem lebendigen Gott«, antwortete: »du sagst es«; es wird gesagt, dass der Apostel Paulus Gott anruft zum Zeugen der Wahrheit seiner Worte, was offenbar auch ein Schwur ist; es wird gesagt, dass die Schwüre durch das Gesetz Mosis vorgeschrieben waren, dass Gott aber dieses Gebot nicht abgeändert hat; es wird gesagt, dass nur leere, pharisäisch-heuchlerische Schwüre aufgehoben werden.

Und nachdem ich den Sinn und Zweck dieser Erklärungen begriffen hatte, sah ich ein, dass Christi Vorschrift über den Schwur durchaus nicht so nichtig, leicht und bedeutungslos sei, wie sie mir anfangs erschienen, als ich zu der Zahl der von Christus verbotenen Schwüre den Eidschwur nicht rechnete, der dem Staate zu leisten ist.

Und ich fragte mich: Ist hier nicht vielleicht gesagt, dass auch jener Schwur verboten ist, den die kirchlichen Erläuterer so sorgsam aus allen andern Schwüren aussondern? Ist hier nicht der Eidschwur verboten, derselbe Eidschwur, ohne den die Theilung der Menschen in Staaten, ohne den der Militärstand nicht möglich ist? Soldaten das sind Menschen, die alle Gewalttaten vollführen, und sie nennen sich »Vereidete«. Wenn ich mit jenem Grenadier darüber sprechen würde, wie er den Widerspruch zwischen dem Evangelium und dem Kriegsreglement entscheidet, würde er mir sagen, dass er einen Eid geleistet, d. h. beim Evangelium geschworen hat. Solche Antworten haben mir alle Militärpersonen gegeben. Dieser Eid ist zur Herstellung jenes furchtbaren Uebels, das durch Gewalt und Krieg hervorgerufen wird, so nothwendig, dass z. B. in Frankreich, wo das Christenthum verleugnet wird, der Eidschwur dennoch aufrecht erhalten ist. Christus musste sagen: »ihr sollt niemand einen Eid leisten«. Er ist gekommen um das Böse zu vernichten; sobald er aber den Eidschwur nicht aufhebt, – wie viel Böses bleibt da noch in der Welt! Man wird vielleicht entgegnen, dass zu Christi Zeiten dieses Böse nicht so bemerkbar gewesen sei. Dem ist aber nicht so. Epiktetos und Seneka haben bereits darüber gesprochen, dass man niemandem einen Eid schwören dürfe; in den Gesetzen Manus besteht die gleiche Regel. Warum soll ich behaupten, Christus habe dieses Uebel nicht gesehen? und es behaupten, wenn er doch so gerade, so klar und selbst ausführlich darüber gesprochen hat?

Er hat gesagt: »Ich sage euch: ihr sollt allerdings nicht schwören.« – Dieser Ausspruch ist ebenso einfach, klar und unzweifelhaft wie die Worte »richtet nicht und verdammet nicht« und ist ebenso wenig verschiedenen Deutungen unterworfen; um so mehr als zum Schluss hinzugefügt ist, dass alles, was von dir mehr verlangt wird als die Antwort: ja oder nein, alles vom Uebel ist.

Wenn Christi Lehre darin besteht immer den Willen Gottes zu erfüllen, wie kann da der Mensch schwören den Willen des Menschen erfüllen zu wollen? Der Wille Gottes ist mit dem Willen des Menschen nicht stets übereinstimmend. Und sogar an dieser Stelle sagt Christus genau dasselbe. Er sagt (5, 36): »Auch sollst du nicht bei deinem Haupte schwören; denn du vermagst nicht ein einiges Haar weiss oder schwarz zu machen.« Dasselbe steht in der Epistel Jakobi.

In diesem Briefe, am Schlusse, gleichsam als Abschluss des ganzen, sagt der Apostel Jakobus (5, 12): »Vor allen Dingen aber, meine Brüder, schwöret nicht, weder bei dem Himmel, noch bei der Erde, noch mit keinem andern Eide. Es sei aber euer Wort: Ja, das ja ist; und nein, das nein ist; auf dass ihr nicht in Heuchelei (wie Luther das griechische Wort κρίσις ganz willkürlich übersetzt hat, was aber verschiedene Deutungen zulässt, von denen die üblichste »Gericht, Urtheil« ist) fallet.« Der Apostel sagt auch, weshalb man nicht schwören soll: der Schwur an und für sich scheint kein Verbrechen, durch ihn aber verfällt man in Heuchelei (nach Luthers Uebersetzung, aber dem wahren Sinn des Wortes nach in Urtheil, wie es in diesem Vers übersetzt werden kann), und deshalb soll man gar nicht schwören. Wie könnte das, was Christus und die Apostel gesagt haben, noch deutlicher gesagt werden?

Ich war aber derart verwirrt, dass ich mich lange Zeit verwundert fragte: bedeutet das wirklich das, was es bedeutet? wie schwören wir denn alle beim Evangelium? – Das ist unmöglich!

Ich hatte indess die Erläuterung bereits gelesen und hatte gesehen auf welche Weise dies »Unmögliche« möglich gemacht worden war.

Wie bei den Erklärungen der Worte: »richtet nicht, zürnet niemand, zerreisset nicht das Band zwischen Mann und Weib« – so geht es auch hier. Wir haben unsere eigenen Regeln aufgestellt; uns sind diese Regeln theuer und wir wollen sie geheiligt wissen. Da kommt Christus, den wir für Gott halten, und sagt, dass diese unsere Regeln nicht gut sind. Wir halten ihn für Gott; von unseren Gebräuchen aber uns lossagen, das wollen wir nicht. Was sollen wir also thun? – Wo es angeht, das Wort »umsonst« einschalten und die Regel gegen den Zorn auf ein Nichts zurückführen; wo es angeht, gleich den gewissenlosen Rechtsverdrehern den Sinn eines Gesetzes-Paragraphen derart verstümmeln, dass das Gegentheil herauskommt, dass anstatt dessen, dass man sich von seinem Weibe nie scheiden dürfe, herauskommt, dass man sich scheiden darf. Wo aber eine falsche Auslegung ganz unmöglich ist, wie bei den Worten: »richtet nicht und verurtheilt nicht« und bei den Worten; »schwöret nicht«, – allerdinge dreist und gerade der Lehre entgegen handeln, behauptend, dass wir diese Lehre befolgen. Und wahrlich, was uns hauptsächlich verhindert zu begreifen, dass das Evangelium jeden Schwur, umsomehr den Eidschwur verbietet, ist: dass die pseudochristlichen Lehrer mit ungewöhnlicher Dreistigkeit die Menschen auf das Evangelium und bei dem Evangelium selbst schwören d. h. das thun lassen, was dem Evangelium entgegen ist.

Wie sollte es einem Menschen, den man bei dem Kreuze und bei dem Evangelium zu schwören veranlasst, in den Sinn kommen, dass das Kreuz eben deshalb heilig ist, weil man auf ihm den gekreuzigt hat, der das Schwören verbietet, und dass der Schwörende möglicherweise gerade die Stelle als ein Heiligthum küsst, an der es klar und bestimmt gesagt ist: ihr sollt allerdinge nicht schwören –?

Jedoch mich verwirrte diese Dreistigkeit nicht mehr. Ich sah klar, dass in den Versen 33-37 das klare, bestimmte, ausführbare 3. Gebot ausgesprochen war: du sollst nie, du sollst niemandem und in nichts schwören. Jeder Eidschwur ist von den Menschen zum Uebel erdacht.

Nach diesem 3. Gebote wird der vierte Hinweis angeführt und das 4. Gebot auseinandergesetzt. Matth. 5,38-42 (Luk. 6,29 f.): »Ihr habt gehöret, dass da gesagt ist: Auge um Auge, Zahn um Zahn (38). Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Uebel; sondern so dir jemand einen Streich giebt auf deinen rechten Backen, dem biete den andern auch dar (39). Und so jemand mit dir rechten will und deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel (40). Und so dich jemand nöthiget eine Meile, so gehe mit ihm zwei (41). Gieb dem, der dich bittet; und wende dich nicht von dem, der dir abborgen will (42).«

Darüber, welche gerade, bestimmte Bedeutung diese Worte haben und wie uns jegliche Veranlassung fehlt sie in anderem Sinne auszulegen, habe ich bereits gesprochen. Die Erklärungen dieser Worte, von Johannes Chrysostomus an bis auf uns, sind wirklich merkwürdig. Diese Worte gefallen allen, und alle stellen bezüglich dieser Worte jede Art tiefsinniger Kombinationen an, ausgenommen die eine: dass diese Worte gerade die Bedeutung haben, die sie in Wirklichkeit besitzen. Die kirchlichen Erläuterer, ohne sich im geringsten von der Autorität dessen einschüchtern zu lassen, den sie als Gott anerkennen, schränken ganz ruhig den Sinn seiner Worte ein. Sie sagen: es ist selbstverständlich, dass alle diese Gebote über das Ertragen von Beleidigungen, über das Entsagen der Rache, als geradezu gegen, die jüdische Rachsucht gerichtet, nicht nur die gesellschaftlichen Maassregeln zur Einschränkung des Uebels und Bestrafung der Uebelthäter nicht ausschliessen, sondern auch besondere, persönliche Bemühungen und Sorgen eines jeden Menschen, als z. B. um die Unantastbarkeit der Wahrheit, um Belehrung der Beleidiger, um das Aufheben der Möglichkeit für die Böswilligen andern zu schaden, mit in sich begreifen; da sonst die geistvollsten Gebote des Erlösers sich nur in Buchstaben verwandeln würden, die zur Verbreitung des Bösen und zur Unterdrückung des Guten dienen könnten. Die Liebe des Christen muss gleich sein der Liebe Gottes, aber die Liebe Gottes lässt das Böse unbestraft nur in dem Maasse, in dem es für die Ehre Gottes und die Errettung des Nächsten mehr oder weniger unschädlich bleibt; im entgegengesetzten Falle muss das Böse eingeschränkt und bestraft werden, was hauptsächlich der Obrigkeit zukommt (Bibel-Kommentar des E. Michael, gegründet auf Erläuterungen der heil. Väter).

Gelehrte und freisinnige Christen lassen sich gleichfalls nicht durch den Sinn der Worte Christi einschüchtern und verlassen ihn. Sie sagen, dies seien sehr erhabene Aussprüche, die aber jeglicher Möglichkeit der Anwendung auf das wirkliche Leben entbehren, denn die Anwendung der Regel über das Nichtwiderstreben dem Uebel auf das Leben zerstört jene ganze Lebensordnung, die wir so herrlich eingeführt haben: so spricht Strauss und Renan, und so sprechen alle freidenkenden Erläuterer.

Es genügt jedoch uns zu Christi Worten zu verhalten wie wir uns zu den Worten des ersten besten Menschen verhalten, der mit uns spricht, d.h. anzunehmen, dass er das sagt, was er sagt, um sofort die Nothwendigkeit jeder tiefsinnigen Kombination zu verwerfen. Christus sagt: ich finde, dass die Art und Weise der Sicherstellung eures Lebens sehr thöricht und schlecht ist. Ich biete euch eine ganz andere, folgende Art; und er spricht jene Worte 5, 38-42. Es scheint, dass, bevor man diese Worte verbessert, man sie verstehen müsse. Das aber will eben keiner, indem jeder zum voraus überzeugt ist, dass die Ordnung, in der wir leben und die durch diese Worte zerstört wird, ein heiliges Gesetz der Menschheit darstellt.

Ich hielt unsere Lebensordnung weder für gut noch für heilig und begriff deshalb dies Gebot früher als die andern. Und nachdem ich diese Worte so verstanden hatte, wie sie gesagt waren, staunte ich über ihre Wahrhaftigkeit, Genauigkeit und Klarheit. Christus sagt: »Ihr wollt das Böse durch das Böse vernichten. Das ist unvernünftig. Auf dass kein Böses sei, thuet nichts Böses.« Und dann führt Christus die Fälle an, in denen wir gewohnt sind Böses zu thun, und sagt, in diesen Fällen sollten wir es nicht thun.

Dieses vierte Gebot war das erste, das ich begriff und das mir den Sinn der übrigen erschloss. Dieses einfache, klare, leicht zu befolgende Gebot lautet: widerstrebe nie mit Gewalt dem Uebel; brauche nie Gewalt gegen Gewalt: wirst du geschlagen, so dulde; wirst du zur Arbeit gezwungen, so arbeite; will man dir nehmen was du für das deine hältst, so gieb es hin!

Und diesem vierten Gebot folgt der fünfte Hinweis und das fünfte Gebot. Matth. 5, 43-48: »Ihr habt gehöret, dass da gesagt ist: du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen (Lev. 19, 17-18) (43). Ich aber sage euch: liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen; thut wohl denen, die euch hassen; bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen (44): Auf dass ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über die Bösen und über die Guten, und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte (45). Denn so ihr liebet, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Thun nicht dasselbe auch die Zöllner (46)? Und so ihr euch nur zu euren Brüdern freundlich thut, was thut ihr Sonderliches? Thun nicht die Zöllner auch also (47)? Darum sollt ihr vollkommen sein, gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist (48).«

Diese Worte erschienen mir anfangs als eine Erklärung, Ergänzung und Verstärkung, ich will sogar sagen, als eine Uebertreibung der Worte über das Nichtwiderstreben dem Uebel. Nachdem ich aber den einfachen, anwendbaren, bestimmten Sinn jeder Stelle gefunden, die mit der Berufung auf das alte Gesetz beginnt, ahnte ich einen solchen auch hier. Jeder Berufung folgte die Auseinandersetzung des Gebotes; jeder Vers des Gebotes hatte eine Bedeutung und konnte nicht ausgeschlossen werden: hier musste es ebenso sein. Die letzten, im Lukas wiederholten Worte, dahingehend, dass Gott keinen Unterschied macht zwischen den Menschen und allen Gutes giebt, und dass »ihr deshalb auch so sein sollt wie Gott: keinen Unterschied machen zwischen den Menschen und nicht so thun wie die Heiden, sondern alle lieben und allen in gleichem Maasse Gutes thun« – diese Worte waren klar; sie erschienen mir als eine Bestätigung und Erläuterung einer bestimmten, klaren Regel; worin aber diese Regel selbst bestand, konnte ich lange nicht begreifen.

Die Feinde lieben? Das wäre etwas Unmögliches. Das war einer jener herrlichen Aussprüche, die man nicht anders aufnehmen kann als wie einen Hinweis auf ein unerreichbares sittliches Ideal. Das war zu viel oder – nichts. Man kann sich enthalten seinem Feinde zu schaden, ihn lieben aber kann man nicht. Christus konnte nicht Unmögliches vorgeschrieben haben. Ueberdies, gleich in den ersten Versen, in der Berufung auf das Gesetz der Alten: »es ist euch gesagt: hasset eure Feinde« – lag etwas Zweifelhaftes. An früheren Stellen führt Christus die wirklichen, eigentlichen Worte des Gesetzes Mosis an, hier aber führt er Worte an, die nie gesagt worden sind. Es ist, als ob er das Gesetz verleumde.

Wie bei meinen früheren Zweifeln, gaben mir auch hier die Erläuterungen keine Aufklärung. In allen Erläuterungen wird anerkannt, dass die Worte: »es ist euch gesagt: hasset eure Feinde« – nicht im Gesetze Mosis stehen; die Erklärung aber dieser falsch angeführten Stelle aus dem Gesetze wird nirgends gegeben. Es wird davon gesprochen, wie schwer es sei seine Feinde – die Bösen – zu lieben, und grösstenteils werden Verbesserungen an Christi Worten gemacht; es wird gesagt, dass man seine Feinde nicht lieben könne, man könne aber ihnen nichts Böses wünschen und thun. U. a. wird eingeprägt, dass man seine Feinde anzeigen, d. h. ihnen widerstehen könne und müsse; es wird über verschiedene Stufen des Erreichens dieser Tugend gesprochen, so dass, den Erläuterungen der Kirche nach, der endgiltige Schluss der ist, dass Christus, man weiss nicht weshalb, die Worte aus dem Gesetze Mosis falsch angeführt hat und viele herrliche, aber im Grunde leere und nicht anwendbare Worte gesprochen habe.

Mir schien, das könne nicht so sein. Hier musste ein klarer, bestimmter Sinn sein, ein ebensolcher Sinn, wie er in den ersten vier Geboten ist. Und um diesen Sinn zu verstehen, suchte ich zu allererst die Bedeutung der Worte der falschen Berufung auf das Gesetz zu begreifen: »es ist euch gesagt: hasset eure Feinde«. Nicht umsonst führt Christus bei jeder Regel die Worte des Gesetzes an: du sollst nicht tödten, du sollst nicht ehebrechen u. s. w., und stellt diesen Worten seine Lehre entgegen. Wenn man nicht begreift was er unter den aus dem Gesetze von ihm angeführten Worten versteht, kann man auch nicht begreifen was er vorschreibt. In den Erläuterungen wird geradezu gesagt (man kann es auch nicht verschweigen), dass Christus Worte anführt, die nicht im Gesetze stehen; es wird aber nicht erklärt, weshalb er das thut und was diese falsche Berufung bedeutet. Mir schien, dass man zu allererst erklären müsse was Christus meinen konnte, wenn er Worte anführte, die nicht im Gesetze waren. Und ich fragte mich: was können die Worte bedeuten, die Christus unrichtigerweise aus dem Gesetze anführt? In allen früheren Berufungen Christi auf das Gesetz wird nur eine Regel des alten Gesetzes angeführt, wie: du sollst nicht tödten, du sollst nicht ehebrechen, du sollst deinen Eid halten, Zahn um Zahn – und nach der Anführung dieser einen Vorschrift wird die ihr entsprechende Lehre auseinandergesetzt. Hier aber werden zwei Regeln angeführt, die einander entgegengestellt werden: es ist euch gesagt worden: ihr sollt den Nächsten lieben und den Feind hassen, sodass augenscheinlich die Grundlage des neuen Gesetzes eben der Unterschied sein soll zwischen den zwei Vorschriften des alten Gesetzes in Bezug auf den Nächsten und auf den Feind. Und tun klarer zu begreifen, worin dieser Unterschied bestellt, fragte ich mich: was bedeutet in der Sprache des Evangeliums das Wort »der Nächste« und das Wort »Feind«? Und in den Wörterbüchern und Kontexten der Bibel nachschlagend, überzeugte ich mich, dass das Wort »der Nächste« in der Sprache des Hebräers stets nur den Hebräer bezeichnet. Eine solche Definition des Nächsten wird auch im Evangelium durch das Gleichniss vom Samariter gegeben. Nach den Begriffen des hebräischen Schriftgelehrten, der da fragt: wer ist der Nächste? – konnte der Samariter nicht der Nächste sein. Dieselbe Definition des Nächsten wird in der Apostelgeschichte 7, 27 gegeben. »Der Nächste« bedeutet in der Sprache des Evangeliums: »der Landsmann«, der Mann, der zu derselben Nation gehört. Und deshalb nehme ich an, dass der Gegensatz, den Christus an dieser Stelle aufstellt, indem er jene Worte des Gesetzes anführt: »liebe den Nächsten und hasse den Feind«, in dem Unterschiede zwischen dem Landsmann und dem Fremden besteht. Ich frage mich: was ist ein Feind, nach den Begriffen der Juden? Und ich finde die Bestätigung meiner Voraussetzung: das Wort »Feind« wird in den Evangelien beinahe immer in dem Sinne nicht des persönlichen, sondern des allgemeinen Feindes der Nation gebraucht (Lukas 1, 71 u. 74. Matth. 22, 44. Mark. 12, 36. Luk. 20, 43 u. a.). Die Einzahl aber, in der das Wort »Feind« in diesen Versen im Ausspruch »hasse den Feind« gebraucht wird, bezeugt mir, dass hier die Rede von dem Feinde des Volkes ist. Die Einzahl bedeutet die Gesammtheit der feindlichen Nationen. Im alten Testament wird der Begriff des feindlichen Volkes immer durch die Einzahl ausgedrückt.

Und sobald ich das begriffen hatte, war sofort die Schwierigkeit beseitigt: warum und wie Christus, der jedesmal vorher die eigentlichen Worte des Gesetzes anführte, hier plötzlich die Worte anführen konnte: »es ist euch gesagt: hasse den Feind«, die nicht gesagt worden waren. Man braucht nur das Wort »Feind« im Sinne von Volksfeind und »den Nächsten« im Sinne von Landsmann aufzufassen, damit diese Schwierigkeit gar nicht aufkomme. Christus spricht davon, wie es nach dem Gesetze Mosis den Hebräern vorgeschrieben ist sich zu dem Feinde des Volkes zu verhalten. Alle jene, in verschiedenen Büchern der Schrift zerstreuten Stellen, in denen Unterdrückung, Tödtung und Vernichtung anderer Völker vorgeschrieben wird, vereinigt Christus in den einen Ausdruck »hassen«, dem Feinde Böses thun. Und er sagt: es ist euch gesagt, ihr sollt die euren lieben und den Feind des Volkes hassen; ich aber sage euch: ihr sollt alle lieben, ohne Unterschied der Nation, der sie angehören. – Und sobald ich diese Worte so aufgefasst hatte, war sofort auch die andere, die Hauptschwierigkeit aufgehoben: wie die Worte »liebet eure Feinde« zu verstehen sind. Man kann persönliche Feinde nicht lieben. Menschen aber eines feindlichen Volkes kann man ebenso lieben wie seine Landsleute. Und es ward mir offenbar, dass Christus, wenn er sagt: »es ist euch gesagt: liebe den Nächsten und hasse den Feind; ich aber sage euch: liebet eure Feinde« –, davon spricht, dass alle Menschen ihre Landsleute für ihre Nächsten, fremde Völker aber für ihre Feinde anzusehen gewohnt sind und dass er solches verbietet. Er sagt: nach dem Gesetze Mosis besteht ein Unterschied zwischen einem Hebräer und einem Nicht-Hebräer, als einem Feinde des Volks; ich aber sage euch: ihr sollt diesen Unterschied nicht machen. Und gleich (Matth. und Luk.) nach dieser Regel sagt er, dass vor Gott alle gleich sind; dieselbe Sonne bescheinet alle, auf alle fällt der Regen; Gott macht keinen Unterschied zwischen den Völkern und thut allen das gleiche Gute; desgleichen sollen auch die Menschen Gutes thun allen Menschen ohne Unterschied ihrer Nationalität und nicht so wie die Heiden, die sich in verschiedene Völker theilen.

So ward mir abermals von verschiedenen Seiten die einfache, wichtige, klare und anwendbare Bedeutung der Worte Christi bestätigt. Abermals trat an Stelle einer nebelhaften und unbestimmten Philosophie eine klare, bestimmte, wichtige und ausführbare Regel: keinen Unterschied zu machen zwischen dein eigenen und dem fremden Volke und nichts von alledem zu thun, was aus diesem Unterschied entspringt: fremde Völker nicht anfeinden, keinen Krieg führen, nicht theilnehmen an Kriegen, uns nicht waffnen zum Kriege, sondern uns zu allen Menschen, welcher Nation sie auch angehören mögen, ebenso verhalten, wie wir es zu der eigenen thun.

Alles das war so einfach, so klar, dass ich mich wunderte wie ich es nicht sofort hatte verstehen können.

Die Ursache meines Nichtverstehens war dieselbe wie die meines Nichtverstehens des Verbotes der Gerichte und des Schwurs. Es ist schwer zu begreifen, dass jene Gerichte, die mit einem christlichen Dankgebet eröffnet werden und von denen gesegnet werden, die sich für Vollstrecker der Gesetze Christi halten, dass eben diese Gerichte mit dem Glauben an Christus nicht vereinbar, ja ihm gerade zuwider sind. Noch schwerer ist es zu errathen. dass derselbe Schwur, zu dem alle Menschen durch die Vollstrecker des Gesetzes Christi gebracht werden, durch dieses Gesetz geradezu verboten ist; zu errathen aber, dass das, was in unsrem Leben nicht nur für unentbehrlich und natürlich, sondern auch für das Herrlichste und Heldenmüthigste gilt – die Liebe zum Vaterlande, die Verteidigung und Erhebung desselben, der Kampf mit dem Feinde u. dergl. –, nicht nur eine Uebertretung des Gesetzes Christi, sondern ein vollständiges Sichlossagen von ihm ist, – das zu errathen ist ausserordentlich schwer. Unsere Lebensweise hat sich bis zu solchem Grade von der Lehre Christi entfernt, dass gerade diese Entfernung jetzt das Haupthinderniss für ein richtiges Verständniss derselben wird. Wir haben so wenig darauf geachtet, und haben derart vergessen was er uns über unser Leben gesagt hat: darüber, dass wir nicht nur nicht tödten, sondern selbst andern Menschen nicht zürnen dürfen, dass wir uns nicht vertheidigen sollen, sondern den andern Backen hinhalten müssen, dass es uns, die wir gewohnt sind Leute, die ihr Leben dem Todtschlage geweiht haben, ein christlich gesinntes Kriegsheer zu nennen, die wir gewohnt sind die an Christus gerichteten Gebete um Besiegung des Feindes anzuhören, unsern Ruhm und unsern Stolz im Todtschlage zu suchen und den Degen, dies Symbol des Todtschlags, zu einer gewissen Art Heiligthum zu erheben, sodass ein Mensch ohne dies Symbol ohne Messer, ein beschimpfter Mensch ist, – dass es uns jetzt erscheint, Christus habe den Krieg nicht verboten; wenn er ihn verboten hätte, würde er es deutlicher ausgesprochen haben.

Wir vergessen, dass Christus sich gar nicht vorstellen konnte, dass Menschen, die an seine Lehre der Demuth, der Liebe und der allgemeinen Brüderschaft glaubten, ruhig und bewusst das Tödten ihrer Brüder veranstalten könnten.

Christus konnte sich das nicht vorstellen und deshalb konnte er dem Christen den Krieg nicht verbieten, gleichwie ein Vater, der seinen Sohn belehrt wie er redlich leben soll, wie er niemandem Böses zufügen und sein Eigenthum anderen hingeben soll, zu ihm nicht das Verbot aussprechen kann den Leuten auf der Landstrasse die Kehle abzuschneiden.

Dass es nothwendig wäre dem Christen den mit dem Worte »Krieg« bezeichneten Todtschlag zu verbieten, das konnte kein Apostel und kein Jünger Christi aus den ersten Jahrhunderten des Christenthums sich denken. Origenes z. B. äussert folgendes in seiner Antwort an Celsus, Kap. 63. Er sagt: »Celsus ermahnt uns mit allen unseren Kräften dem Kaiser beizustehen, an seinen gesetzlichen Mühen theilzunehmen, uns für ihn zu bewaffnen, unter seinen Fahnen zu dienen und wenn nöthig seine Heere in den Kampf zu führen. Darauf müssen wir erwidern, dass wir bei Gelegenheit den Herrschern Hilfe leisten, jedoch sozusagen eine göttliche Hilfe, da wir in den Panzer Gottes gekleidet sind. Durch diese Handlungsweise unterwerfen wir uns der Stimme des Apostels: vor allem beschwöre ich euch – sagt er – zu beten, zu bitten und zu danken; zu beten für alle Menschen, für Könige und für die, so in höchsten Ehren stehen. Sodass, je gottesfürchtiger, umso nützlicher ein Mensch den Königen ist und sein Nutzen wirksamer ist als der Nutzen des Soldaten, der, nachdem er sich für die königliche Fahne hat anwerben lassen, so viele Feinde todtschlägt wie möglich. Denjenigen aber, die, ohne unseren Glauben zu kennen, von uns verlangen, dass wir Menschen tödten, können wir ausserdem noch antworten: eure Oberpriester verunreinigen auch nicht ihre Hände, damit Gott ihr Opfer annehme. So auch wir.« – Dieses Kapitel mit der Erklärung schliessend, dass die Christen durch ihr friedliches Leben mehr Nutzen bringen als die Soldaten, sagt Origenes: »Also führen wir besser Krieg um die Errettung des Kaisers als irgend jemand sonst. Es ist wahr, wir dienen nicht unter seinen Fahnen. Wir werden auch nicht dienen, selbst wenn er uns dazu zwingen wollte.«

So verhielten sich die Christen der ersten Jahrhunderte zum Kriege und so sprachen ihre Lehrer, indem sie sich an die Mächtigen der Erde wandten, und sprachen so zu einer Zeit, da die Märtyrer zu hunderten und zu tausenden um ihres Glaubens willen umkamen.

Und jetzt? – Jetzt ist es gar keine Frage mehr, ob der Christ sich am Kriege betheiligen könne. Alle jungen Leute, im kirchlichen, sogenannten christlichen Gesetze auferzogen, begeben sich jeden Herbst, sobald der Termin eintritt, vor die Kriegsbehörden und sagen sich mit Hilfe kirchlicher Priester vom Gesetze Christi los. Unlängst nur fand sieh ein Bauer, der auf Grund des Evangeliums sich vom Kriegsdienste lossagte. Die Kirchenlehrer bemühten sich den Bauern zur Einsicht seiner Verirrung zu bringen; da aber der Bauer nicht ihnen, sondern Christus glaubte, so wurde er ins Gefängniss geworfen und dort so lange festgehalten bis er sich von Christus lossagte. Und alles dies geschieht, nachdem uns Christen vor 1800 Jahren von unsrem Gott ein vollkommen klares und bestimmtes Gesetz offenbart worden ist: halte die Menschen anderer Nationen nicht für deine Feinde, sondern siehe auf alle Menschen wie auf deine Brüder und verhalte dich zu allen ebenso, wie du dich zu den Leuten deines Volkes verhältst, und deshalb: nicht nur, dass du die, so du deine Feinde nennst, nicht tödtest, liebe sie vielmehr und thue ihnen Gutes.

Und nachdem ich diese so einfachen, bestimmten, keinerlei Auslegungen unterworfenen Gebote Christi in der Weise begriffen hatte, fragte ich mich: was wäre es, wenn die ganze christliche Welt an diese Gebote glaubte, nicht in dem Sinne, dass man sie absingen oder ablesen müsste um Gottes Gnade zu gewinnen, sondern so, dass man sie erfüllen soll zum Heile der Menschen? Was wäre es, wenn die Menschen an die Verpflichtungen dieser Gebote glaubten, wenn auch nur so fest, wie sie geglaubt haben, dass man jeden Tag beten, am Freitage fasten und jedes Jahr sich zum Abendmahl vorbereiten müsse? Was wäre es, wenn die Menschen an diese Gebote auch nur insoweit glaubten, wie sie an die Forderungen der Kirche glauben? Und ich stellte mir die ganze christliche Gemeinde vor, wie sie, nach diesen Geboten lebend, das junge Geschlecht in diesen Geboten erziehen würde.

Ich stellte mir vor, dass uns allen und unseren Kindern von Kindheit an durch Wort und Beispiel nicht das eingeflösst würde, was man jetzt uns einflösst: dass der Mensch seine Würde bewahren, seine Rechte vor den andern vertheidigen muss (was nicht anders als durch Demüthigung und Kränkung anderer geschehen kann), sondern: dass kein einziger Mensch irgend welche Rechte besitzt und nicht höher oder niedriger als der andere sein kann; dass nur derjenige niedriger und schmachvoller ist, der sich über die anderen erheben will; dass es keinen erniedrigenderen Zustand für den Menschen giebt, als den Zustand des Zornes gegen einen andern Menschen; dass das, was in meinen Augen die Nichtigkeit oder Narrheit eines Menschen ausmacht, meinen Zorn gegen ihn und meine Entzweiung mit ihm nicht rechtfertigen kann. Anstatt der ganzen Einrichtung unseres Lebens, vom Schaufenster der Läden an bis auf Theater, Romane und weiblichen Putz, der Fleischeslust erweckt, – stellte ich mir vor, dass uns allen und unsren Kindern durch Wort und That eingeprägt würde, dass Belustigungen durch wollüstige Bücher, durch Theater und Bälle die allergemeinsten Belustigungen sind; dass jede Handlung, die zum Zweck die Ausschmückung oder Schaustellung des Körpers hat, eine der niedrigsten und widerwärtigsten Handlungen ist. Anstatt der Einrichtung unseres Lebens, wo es nothwendig und gut erscheint, dass ein junger Mann bis zu seiner Heirath sich Ausschweifungen hingiebt; anstatt dessen, dass man ein Leben, welches die Eheleute trennt für das natürlichste ansieht; anstatt der gesetzlichen Anerkennung des Standes der zur Ausschweifung dienenden Weiber; anstatt der Zulassung und Segnung der Ehescheidung – anstatt alles dessen stellte ich mir vor, dass man uns mit Wort und That einprägte: dass der ehelose Stand des zu geschlechtlichen Beziehungen herangereiften und sich von ihnen nicht lossagenden Menschen eine Missgestalt und eine Schmach ist; dass das Verlassen derjenigen, mit der er sich vereint hat, das Vertauschen ihrer gegen eine andere, nicht nur eine ebenso unnatürliche Handlung des Mannes wie die Blutschande, sondern auch eine grausame, unmenschliche Handlung ist. Anstatt dass unser ganzes Leben auf Gewalt beruht, dass jede unserer Freuden durch Gewalt errungen und beschirmt wird; anstatt dass jeder von uns von Kindheit an bis ins Greisenalter hinein entweder der Bestrafte oder der Strafende ist – stellte ich mir vor, dass uns allen durch Wort und That eingeprägt würde, dass die Rache das niedrigste thierische Gefühl ist; dass die Gewaltthätigkeit nicht nur eine schmachvolle Handlung, sondern eine Handlung ist, die den Menschen des wahren Glückes beraubt, dass die Freude des Lebens nur die ist, die man nicht durch Gewalt zu beschützen braucht; dass die höchste Achtung nicht derjenige verdient, der von den andern nimmt oder das seine den andern vorenthält und andere zu seinem Dienste zwingt, sondern der, der mehr von dem seinigen weggiebt und mehr den anderen dient. Anstatt das für gut und gesetzlich anzuerkennen, dass jeder einen Eid schwört und das Kostbarste was er besitzt d. i. sein Leben, seine Freiheit hingiebt, ohne selbst zu wissen wozu, – stellte ich mir vor, dass allen eingeprägt würde, dass der vernünftige Wille des Menschen sein höchstes Heiligthum ist, welches der Mensch niemandem hingeben kann, und dass sich durch einen Eid jemandem zu etwas zu verpflichten ein Sichlossagen von seinem vernünftigen Wesen, eine Beschimpfung des höchsten Heiligthums bedeutet. Ich stellte mir vor, dass anstatt jenes Völkerhasses, der uns unter dem Scheine der Vaterlandsliebe eingeflösst wird, anstatt jener Lobpreisungen des Todtschlags, der Kriege, die uns von Kindheit an als die heldenmüthigsten Thaten geschildert werden, – uns Grauen und Verachtung gegen alle jene wirkenden Staatskräfte, Diplomaten und Militärpersonen, die zur Theilung der Menschen dienen, eingeflösst würde; dass uns ferner eingeprägt würde, dass ein Anerkennen irgend welcher Königreiche, besonderer Gesetze, Grenzen, Länder ein Zeichen der gröbsten Unwissenheit ist; dass der Krieg, d. h. das Tödten fremder, unbekannter Menschen ohne jegliche Veranlassung. das schrecklichste Verbrechen ist, zu dem nur ein verirrter und verderbter Mensch gelangen kann, der bis zum Thiere herabgesunken ist. Ich stellte mir vor, dass alle Menschen daran glaubten, und fragte: was würde dann sein?

Früher hatte ich mich gefragt, was aus der Befolgung der Lehre Christi, wie ich sie verstand, entstehen würde, und unwillkürlich musste ich antworten: nichts. Wir werden alle beten, des Segens der heil. Sakramente theilhaftig sein, an die Erlösung und Errettung unserer selbst und der ganzen Welt durch Christus glauben; doch wird diese Rettung nicht von uns ausgehen, sondern sie wird eintreten weil die Zeit des Untergangs der Welt kommen wird. Christus wird kommen, wenn seine Zeit da sein wird, um zu Gottes Ehren »zu richten die Lebendigen und die Todten«, und ein Reich Gottes wird erstehen, unabhängig von unserem Leben. – Jetzt aber hatte Christi Lehre, wie ich sie mir vorstellte, noch eine andere Bedeutung. Die Gründung des Reiches Gottes auf Erden hing auch von uns ab. Die Befolgung der in den 5 Geboten ausgesprochenen Lehre Christi gründete dieses Reich Gottes. Das Reich Gottes auf Erden ist – der Friede aller Menschen unter einander. Der Friede unter den Menschen ist das höchste, auf Erden erreichbare Glück der Menschen. So erschien das Reich Gottes allen hebräischen Propheten. Und so erschien und erscheint es jedem menschlichen Herzen. Alle Prophezeiungen weissagen Frieden den Menschen. Die ganze Lehre Christi besteht darin Gottes Reich, Frieden den Menschen zu geben. In der Bergpredigt, im Gespräch mit Nikodemus, in den Episteln der Jünger, in allen seinen Predigten spricht er nur davon, was die Menschen trennt und sie verhindert in Frieden zu leben und somit in das Reich Gottes einzugehen. Alle Gleichnisse sind nur Beschreibungen dessen, was das Reich Gottes ist und Bekräftigungen dafür, dass nur die Liebe zu den Brüdern und der Friede mit ihnen zu diesem Reiche Gottes verhilft. Johannes der Täufer, Christi Vorgänger, sagt, das Reich Gottes sei herangekommen und werde durch Jesus Christus der Welt verliehen.

Christus sagt, er habe den Frieden auf die Erde gebracht (Joh. 14, 27): »Den Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch. Nicht gebe ich euch, wie die Welt giebt. Euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht.«

Und diese seine fünf Gebote geben den Menschen wirklich den Frieden. Alle fünf Gebote haben nur diesen einen Zweck – Frieden unter den Menschen, Es genügt den Menschen an Christi Lehre zu glauben und sie zu befolgen, und der Friede wird auf Erden sein, und nicht ein Friede wie ihn die Menschen errichten, ein zeitweiliger, zufälliger, einzelner Friede, sondern ein Friede, der allgemein, unzerstörbar und ewig ist.

Das erste Gebot lautet: Halte Frieden mit allen, hüte dich einen andern Menschen für nichtig oder für einen Verrückten zu halten (Matth. 5, 22). Wenn der Friede zerstört ist, so wende alles dran um ihn wiederherzustellen; der Dienst Gottes ist Vernichtung der Feindschaft (Matth. 5, 23-24). Versöhne dich bei der geringsten Uneinigkeit, auf dass du das wahre Leben nicht verlierest. – In diesem Gebote ist alles gesagt; Christus aber sieht die Lockungen der Welt voraus, die den Frieden zwischen den Menschen stören und giebt ein zweites Gebot gegen die Lockungen der geschlechtlichen Beziehungen, die den Frieden stören: Schau nicht auf sinnliche Schönheit als auf eine Belustigung; fliehe im voraus diese Versuchung (28-30); der Mann nehme ein Weib und das Weib einen Mann und verlasset nicht einer den andern, unter keinem Vorwande (32). Die zweite Versuchung sind die Schwüre, die den Menschen zur Sünde verleiten: Wisse im voraus, dass es Böses ist und thue keinerlei Gelübde (34-47). Die dritte Versuchung ist die Rache, die da menschliche Gerechtigkeit genannt wird: Räche dich nicht und rechtfertige dich nicht dadurch, dass du gekränkt würdest; dulde die Kränkung, vergilt aber nicht Böses mit Bösem (38-42). Die vierte Versuchung ist die Unterscheidung der Nationen, die Feindschaft der Völker und Staaten: Wisse, dass alle Menschen Brüder und Kinder eines Gottes sind und brich mit niemand den Frieden im Namen der Vortheile des Volks (43-48). Sobald die Menschen eines dieser Gebote nicht erfüllen, wird der Friede gestört. Erfüllen aber die Menschen alle Gebote, so wird das Reich des Friedens auf Erden herrschen. Diese Gebote schliessen alles Böse aus dem Leben der Menschen aus.

Bei der Erfüllung dieser Gebote wird das Leben des Menschen ein solches sein, wie jedes Menschen Herz es sucht und wünscht. Alle Menschen werden Brüder sein, jeder wird stets in Frieden mit den andern leben und alle Güter der Welt in dem Zeitraum des Lebens geniessen, der ihm von Gott zugetheilt ist. »Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Lanzen zu Sicheln machen.« Erstehen wird jenes Reich Gottes, das Reich des Friedens, das alle Propheten verheissen haben, das uns nahe kam unter Johannes dem Täufer und das Christus verkündigt hat, als er mit Jesaias' Worten sprach: »Der Geist des Herrn ist bei mir, derhalben er mich gesalbet hat und gesandt zu verkündigen das Evangelium den Armen, zu heilen die zerstossenen Herzen, zu predigen den Gefangenen, dass sie los sein sollen, und den Blinden das Gesicht, und den Zerschlagenen, dass sie frei und ledig sein sollen, und zu predigen das angenehme Jahr des Herrn.« (Luk. 5, 18-19. Jes. 61, 1-2.)

Die Gebote des Friedens, von Christus gegeben, einfach, klar, alle Fälle der Uneinigkeit voraussehend und ihnen vorbeugend, eröffnen dieses Reich Gottes auf Erden. Also ist Christus der wahrhafte Messias. Er hat die Verheissung erfüllt. Die Menschen allein erfüllen nicht das, was sie selber ewig gewünscht, um was sie stets gebetet haben und immer beten.


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