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3.

Von jenem Tage an veränderte sich unser Leben und unser gegenseitiges Verhältnis von Grund auf. Wir fühlten uns nun nicht mehr so zufrieden und beglückt, wenn wir ganz für uns allein waren. Es gab Fragen, die wir im Gespräch möglichst nicht berührten, und es fiel uns leichter, in Gegenwart Dritter miteinander zu sprechen, als unter vier Augen. Sobald die Rede auf das Landleben oder auf einen Ball kam, war uns, als wenn es plötzlich vor unsern Augen zu flimmern begänne, und wir sahen einander verlegen an. Wir fühlten gleichsam beide, wo der Abgrund lag, der uns voneinander trennte, und wir vermieden es, uns ihm zu nähern. Ich war davon überzeugt, daß er stolz und jähzornig war, und daß ich vorsichtig sein mußte, um nicht seine schwachen Seiten zu verletzen. Er wiederum glaubte bestimmt, daß ich ohne den Verkehr in der Gesellschaft nicht leben könne, daß das Leben auf dem Lande mir nicht behage und er dieser unglücklichen Neigung sich fügen müsse. Wir gingen jeder offenen Aussprache über diese Themata aus dem Wege und gewannen so ein ganz falsches Urteil über einander. Längst schon hatten wir aufgehört, füreinander die vollkommensten Menschen auf der Welt zu sein; wir zogen Vergleiche mit Dritten und dachten insgeheim gering voneinander.

Vor der Abreise war ich erkrankt, und statt aufs Land zu gehen, bezogen wir eine Villa in der Nähe der Stadt, von wo aus mein Mann allein zu seiner Mutter reiste. Als er abreiste, war ich bereits wieder soweit hergestellt, daß ich ihn hätte begleiten können, doch wußte er mich unter dem Vorwande, er sei um meine Gesundheit besorgt, zum Bleiben zu bewegen. Ich fühlte jedoch, daß er nicht sowohl um meine Gesundheit besorgt war, als vielmehr befürchtete, unser Leben im Dorfe könnte sich unbehaglich gestalten. Ich bestand nicht gerade darauf, mit ihm zu gehen, und ließ ihn allein abreisen. Während seiner Abwesenheit fühlte ich mich einsam und verlassen; als er jedoch zurückkehrte, merkte ich, daß er nicht mehr ein so wesentlicher Teil meines Lebens war wie früher. Wie anders war das früher gewesen, als jeder Gedanke, jeder Eindruck, den ich ihm nicht mitteilte, mich wie ein begangenes Verbrechen bedrückte, als jede seiner Handlungen mir vollkommen, jedes seiner Worte mir heilig erschien, als wir vor lauter Freude über jedes, auch das geringste Ding lachen konnten, sobald wir einander nur anblickten! Diese Beziehungen hatten sich ganz unmerklich vollkommen gewandelt, ohne daß wir uns darüber Rechenschaft geben konnten, wie dies eigentlich geschehen. Jedes von uns hatte jetzt seine besonderen Interessen und Angelegenheiten, die wir nicht mehr zu unseren gemeinsamen zu machen versuchten. Es beunruhigte uns auch gar nicht mehr, daß jedes von uns seine eigene Welt hatte, die dem andern fremd war. Wir gewöhnten uns nach und nach an diesen neuen Zustand, und als ein Jahr herum war, flimmerte es uns gar nicht mehr vor den Augen, wenn wir einander ansahen. Seine plötzlichen Ausbrüche von Fröhlichkeit, seine Kindlichkeit, seine milde, verzeihende Denkweise und seine Gleichgültigkeit gegen alles, was nicht uns betraf – alles das verschwand mit der Zeit ganz und gar. Niemals wieder begegnete ich bei ihm jenem tiefen Blick, der mich früher mit Unruhe und Seligkeit erfüllt hatte, nie wieder beteten wir, nie jauchzten wir miteinander. Ja wir sahen einander nicht einmal allzu oft – er war beständig unterwegs und trug durchaus kein Bedenken, mich allein zu lassen, und ich ging ganz und gar in der Gesellschaft auf, in der ich seiner nicht bedurfte.

Szenen und Streitigkeiten gab es zwischen uns nicht mehr; ich suchte ihm das Leben behaglich zu machen, er erfüllte jeden meiner Wünsche, und es sah ganz so aus, als liebten wir einander.

Wenn wir allein waren, was nur selten vorkam, hatte ich weder ein besonderes Gefühl der Freude, noch empfand ich Aufregung oder Verlegenheit – es war mir zumute, als sei ich ganz allein, ganz für mich da. Ich wußte sehr wohl, daß es mein Mann war, der da neben mir saß – nicht irgendein Unbekannter, sondern eben mein Mann, ein braver Mensch, den ich kannte wie mich selbst. Ich war davon überzeugt, daß ich ganz genau wußte, was er tun, was er sagen, wie er dreinschauen würde; und wenn er einmal anders handelte oder anders blickte, als ich es erwartet hatte, dann glaubte ich, er habe einen Irrtum begangen. Ich erwartete nichts von ihm. Er war, mit einem Wort, mein Gatte und weiter nichts. Ich war überzeugt, daß dies so sein müsse, daß es keine anderen Beziehungen zwischen Mann und Frau gebe, daß niemals andere Beziehungen zwischen uns bestanden hatten. Wenn er verreiste, fühlte ich mich, zumal in der ersten Zeit, vereinsamt, und es war mir bange zumute; ich fühlte, wenn er nicht anwesend war, stärker, welche Stütze, welchen Schutz ich an ihm hatte; kehrte er heim, so fiel ich ihm um den Hals vor lauter Freude, doch zwei Stunden später war diese Freude ganz vergessen, und ich hatte ihm nichts weiter zu sagen. Nur in den Augenblicken stiller, maßvoller Zärtlichkeit, die wir hatten, war mir, als sei doch nicht alles so zwischen uns, wie es sein müßte, und dieselbe Empfindung glaubte ich auch in seinen Augen zu lesen. Es gab da, wie mir schien, eine Grenze der Zärtlichkeit, die er nicht überschreiten wollte, und die ich nicht überschreiten konnte. Zuweilen überkam mich eine schwermütige Stimmung, doch hatte ich keine Zeit, über ihre Ursache lange nachzugrübeln, und beeilte mich, diese Schwermut, die durch das unklare Bewußtsein von der Wandlung unserer gegenseitigen Beziehungen hervorgerufen ward, über all den Zerstreuungen zu vergessen, die mir beständig in meinen Kreisen winkten. Das Leben in der Welt, das mich anfangs durch seinen Glanz und die Triumphe, die es meiner Eitelkeit bereitet hatte, in eine Art Betäubung versetzte, beherrschte bald meine Neigungen vollkommen, wurde mir zur Gewohnheit, schlug mich ganz in seine Fesseln und trat völlig an die Stelle des Gefühlslebens in meiner Seele. Ich war nie mehr mit mir allein und fürchtete mich, über meine Lage tiefer nachzudenken. Meine ganze Zeit, vom späten Morgen, wenn ich mich erhob, bis tief in die Nacht hinein war in Anspruch genommen und gehörte nicht mir selbst. Ich empfand weder Freude noch auch Langeweile – es war mir eben, als könne das nur so und nicht anders sein.

So gingen drei Jahre dahin, und während dieser Zeit blieben unsere Beziehungen ganz dieselben, als seien sie auf einem Fleck stehen geblieben, als seien sie erstarrt und könnten weder schlechter noch besser werden. In diese drei Jahre fielen zwei wichtige Ereignisse unseres Ehelebens, die jedoch beide auf mein Leben keinen wesentlichen Einfluß ausübten – nämlich die Geburt meines ersten Kindes und der Tod Tatjana Semjonownas. In der ersten Zeit hatte mich zwar das Gefühl meiner Mutterwürde mit solcher Macht ergriffen und mich in einen so unerwartet köstlichen Rausch des Entzückens versetzt, daß ich dachte, ein neues Leben habe für mich begonnen; doch schon nach zwei Monaten, als ich wieder auszugehen begann, ging dieses Gefühl, sich allmählich abschwächend, in Gewohnheit und kalte Pflichterfüllung über. Mein Mann war im Gegensatz dazu seit der Geburt unseres ältesten Sohnes wieder der alte geworden, so sanft, so ruhig und häuslich, und hatte seine ganze Zärtlichkeit und Liebe auf das Kind übertragen. Oft, wenn ich im Ballkleid in das Zimmer des Kleinen trat, um mich für die Nacht von dem Kinde zu verabschieden, traf ich meinen Mann an seinem Bettchen, sah seinen streng prüfenden Blick vorwurfsvoll auf mich gerichtet und empfand plötzlich Gewissensbisse. Ich erschrak über meine Gleichgültigkeit gegen das Kind und fragte mich: »Bin ich denn schlechter als andere Frauen? Doch was soll ich tun?« dachte ich – »ich liebe meinen Sohn, aber ich kann doch nicht tagelang bei ihm sitzen – das langweilt mich, und verstellen will ich mich um keinen Preis.«

Der Tod seiner Mutter bereitete ihm tiefen Kummer; es fiel ihm schwer, wie er sagte, ohne sie in Nikolskoje zu leben; mir dagegen wäre, so aufrichtig ich auch um sie trauerte und den Schmerz meines Mannes mitfühlte, gerade jetzt das Leben auf dem Landgute angenehmer und ruhiger erschienen. Wir hatten diese drei Jahre größtenteils in der Stadt zugebracht – auf dem Lande war ich nur einmal zwei Monate lang gewesen, und im dritten Jahre waren wir dann ins Ausland gereist.

Wir brachten den Sommer in den Bädern zu. Ich war damals einundzwanzig Jahre alt. Unsere Vermögenslage war, wie ich glaubte, eine glänzende, und von meinem Eheleben erwartete ich nicht mehr, als es mir bisher schon gewährt hatte. In meinen Kreisen glaubte ich allgemein beliebt zu sein. Meine Gesundheit war vortrefflich, meine Toiletten waren die schönsten, die man in den Bädern zu sehen bekam, ich wußte, daß ich schön war, zudem war das Wetter prächtig. Eine Atmosphäre von Schönheit und Eleganz umgab mich, und ich war in ausgezeichneter Stimmung. Meine heitere Laune war jedoch nicht von der Art, wie sie in Nikolskoje gewesen, als ich fühlte, daß mein Glück in mir selbst ruhte, daß ich glücklich war, weil ich mein Glück verdiente, daß mein Glück zwar groß war, aber doch noch weit größer sein müßte, daß alles in mir immer mehr, immer mehr Glück verlangte. Das war damals anders gewesen – doch auch in diesem Sommer war mir recht wohl zumute. Ich sehnte mich nach nichts, hegte keine Hoffnung und keine Furcht, mein Leben erschien mir in jeder Hinsicht ausgefüllt, und mein Gewissen glaubte ich vollkommen ruhig. Unter den jungen Leuten, die ich während jener Saison kennen lernte, befand sich nicht ein einziger, den ich in irgendeiner Hinsicht vor den andern ausgezeichnet hätte, jedenfalls nicht vor dem alten Fürsten K., unserem Gesandten, der mir ein wenig die Cour machte. Der eine war mir ein bißchen zu jung, der andere wieder etwas zu alt; jener Engländer erschien mir gar zu blond, und der Franzose mit dem kleinen Kinnbart wollte mir auch nicht gefallen: sie alle waren mir völlig gleichgültig, wenn ich auch ihre Gesellschaft nicht entbehren konnte. Sie gehörten mit ihren ausdruckslosen, heiteren Gesichtern eben notwendig zu jener lebenslustigen Atmosphäre, die mich umgab. Nur einer von ihnen, ein italienischer Marchese D., wußte durch die Kühnheit, mit der er seinem Entzücken über mich Ausdruck gab, meine Aufmerksamkeit mehr als die andern auf sich zu ziehen. Er verpaßte keine Gelegenheit, in meiner Gesellschaft zu sein, mit mir zu tanzen, auszureiten, mich im Kasino zu treffen usw. und mir zu sagen, daß ich schön sei. Mehrmals sah ich ihn vom Fenster aus an unserm Hause vorübergehen, und oftmals hatte der unangenehm stechende Blick seiner funkelnden Augen mich veranlaßt, zu erröten und mich abzuwenden. Er war jung, stattlich, elegant, und hatte, was mir besonders auffiel, in seinem Lächeln und der Form seiner Stirn viel Ähnlichkeit mit meinem Manne, obschon er weit hübscher war als dieser. Diese Ähnlichkeit hatte mich frappiert, obgleich er sonst, um den Mund, um das lange Kinn wie auch im Blick nicht jenen bestrickenden Ausdruck der Güte und idealen Ruhe hatte, wie er meinem Manne eigen war, sondern vielmehr etwas Rohes, Tierisches seine Züge entstellte. Ich nahm damals an, er sei in der Tat von einer Leidenschaft für mich ergriffen, und empfand zuweilen eine Art stolzen Mitleids mit ihm. Ich wollte ihn beruhigen, wollte einen Ton halb freundschaftlicher, stiller Vertraulichkeit ihm gegenüber anschlagen, doch er wies diese meine Versuche schroff zurück und fuhr fort, mich mit seiner mir unangenehmen, zwar noch nicht ausgesprochenen, doch jeden Augenblick dem Ausbruch nahen Leidenschaft zu beunruhigen. Ohne es mir selbst einzugestehen, fürchtete ich doch diesen Mann und dachte unwillkürlich öfters an ihn. Mein Mann war mit ihm bekannt, behandelte ihn jedoch noch kühler und zurückhaltender als unsere übrigen Bekannten, für die er nur der Gatte seiner Frau war.

Gegen Ende der Saison wurde ich krank und konnte zwei Wochen lang das Haus nicht verlassen. Als ich zum ersten Male nach meiner Krankheit wieder ausging und auf dem Abendkonzert erschien, erfuhr ich, daß inzwischen die schon längst erwartete, ihrer Schönheit wegen berühmte Lady S. angekommen sei. Es bildete sich sogleich ein Kreis um mich, und man begrüßte mich freudig, noch größer und vornehmer jedoch war der Kreis, der sich um die soeben angekommene Löwin gebildet hatte. Alles um mich sprach nur von ihr und ihrer Schönheit. Man zeigte sie mir, und sie war in der Tat, wie ich zugeben mußte, ein reizvolles Geschöpf, doch machte ihre selbstzufriedene Miene auf mich einen unangenehmen Eindruck, und ich zögerte nicht, das offen auszusprechen.

An diesem Tage langweilte mich alles, was mir früher so unterhaltsam erschienen war. Tags darauf veranstaltete Lady S. einen Ausflug nach dem Schlosse; ich lehnte es ab, mich daran zu beteiligen. Es blieb fast niemand bei mir zurück, und alles nahm plötzlich in meinen Augen ein anderes Aussehen an. Alles erschien mir so banal und langweilig, ich war dem Weinen nahe und wünschte nur, meine Kur so rasch wie möglich zu beenden und nach Rußland zurückzukehren. Ein häßliches Gefühl, das ich mir selbst noch nicht eingestehen mochte, bemächtigte sich meiner Seele. Ich ließ verbreiten, daß ich krank sei, und hielt mich fern von der großen Gesellschaft; nur des Morgens ging ich zuweilen aus, ganz allein, um Brunnen zu trinken, oder ich machte mit L. M., einer russischen Bekannten, gelegentlich Spazierfahrten in der Umgegend. Mein Mann war damals gerade abwesend – er war für einige Zeit nach Heidelberg gefahren, wo er die Beendigung meiner Kur abwarten wollte, um dann heimzukehren. Nur einige Male hatte er mich im Bade besucht.

Eines Tages hatte die ganze Gesellschaft, mit Lady S. an der Spitze, eine Partie unternommen, während ich am Nachmittag mit L. M. nach dem Schlosse gefahren war. Unsere Kalesche fuhr im Schritt auf der vielfach gewundenen Chaussee dahin, zwischen den hundertjährigen Kastanien, durch die in der Ferne die anmutige badische Landschaft in den Strahlen der untergehenden Sonne sichtbar wurde. Wir waren in einem ernsthaften Gespräch begriffen, wie wir es noch niemals geführt hatten. L. M., die ich schon lange kannte, erschien mir jetzt zum erstenmal als eine prächtige, kluge Frau, mit der man über alles sprechen konnte, und deren Freundschaft zu erwerben sich wohl lohnte. Wir sprachen von der Ehe, von den Kindern, von der Hohlheit des Lebens, das man in den Bädern führt; wir sehnten uns nach Rußland, nach dem Leben auf dem Dorfe, und es ward uns wohlig und weh zugleich ums Herz.

Ganz im Banne dieser ernsten Stimmung, betraten wir das Schloß. In seinen Mauern war es schattig und kühl, oben auf den Ruinen spielte der Sonnenschein, man vernahm Schritte und Stimmen. Durch das Tor erblickten wir wie in einem Rahmen die reizvolle, für uns Russen jedoch kalte badische Landschaft. Wir hatten uns gesetzt, um ein wenig auszuruhen, und schauten auf die untergehende Sonne. Die Stimmen erklangen nun deutlicher, und es schien mir, als würde mein Name genannt. Ich horchte auf und vernahm unwillkürlich jedes einzelne Wort. Ja, es waren die Stimmen von Bekannten: der Marchese D. und sein Freund, ein Franzose, den ich gleichfalls kannte, waren es, die sich über mich unterhielten. Sie verglichen mich mit Lady S., und der Franzose analysierte meine und ihre Schönheit. Er sagte nichts, was mich hätte verletzen können, doch alles Blut drang mir zum Herzen, als ich seine Worte vernahm. Er demonstrierte dem andern bis ins einzelne, was an mir und was an Lady S. schön sei. Ich hätte bereits ein Kind gehabt, und Lady S. zähle erst neunzehn Jahre; mein Haar sei schöner und voller, dafür sei jedoch ihre Taille graziöser; die Lady sei eine Dame der großen Welt, während »die Ihrige« – so bezeichnete er mich – eine jener vielen kleinen russischen Fürstinnen sei, die so häufig in den Bädern auftauchen. Zum Schlusse meinte er, ich hätte sehr wohl daran getan, den Kampf mit Lady S. nicht erst aufzunehmen, und für Baden-Baden sei ich wohl endgültig erledigt.

»Sie tut mir leid,« sagte der andere.

»Vielleicht findet sie bei Ihnen noch einigen Trost ...« meinte der Franzose leichthin, mit einem zynischen Lachen.

»Wenn sie abreist, folge ich ihr nach,« sagte brutal die Stimme mit dem italienischen Akzent.

»Glücklichster aller Sterblichen: er kann noch lieben!« lachte der Franzose.

»Lieben?« wiederholte der andere und machte dann eine kleine Pause. »Ich kann nicht anders als lieben – ein Leben ohne Liebe ist für mich tot. Aus seinem Leben einen Roman machen – das ist das einzig Schöne. Und mein Roman hört nie in der Mitte auf, auch hier wird es einen Schluß geben.«

»Viel Glück, mein Freund!« sagte der Franzose.

Mehr hörten wir nicht, weil die beiden um eine Ecke bogen. Alsbald vernahmen wir ihre Schritte von der andern Seite. Sie gingen eine Treppe hinunter, kamen wenige Augenblicke später aus einer Seitentür hervor und waren sehr überrascht, als sie uns erblickten. Ich errötete, als der Marchese D. auf mich zutrat, und ein Schreck befiel mich, als er mir beim Verlassen des Schlosses den Arm reichte. Ich konnte nicht ablehnen, und wir begaben uns hinter L. M., an deren Seite der Franzose ging, nach unserem Wagen. Ich fühlte mich gekränkt durch die Äußerung, die der Franzose über mich getan, obschon ich mir insgeheim selbst sagte, daß er nur ausgesprochen hatte, was auch ich empfand; die Worte des Marchese dagegen hatten mich durch ihre Brutalität in Erstaunen und Aufregung versetzt. Es war mir höchst peinlich, daß er nach dem, was er in bezug auf mich gesagt, doch ohne jede Scheu sich mir näherte. Es war mir widerwärtig, ihn so in meiner nächsten Nähe zu wissen; ohne ihn anzusehen oder ihm auch nur zu antworten, suchte ich meinen Arm so zu halten, daß ich seine Worte nicht hören konnte, und schritt, so rasch ich konnte, hinter L. M. und dem Franzosen daher. Der Marchese sagte irgend etwas über das herrliche Landschaftsbild, über das unverhoffte Glück, mir hier im Schlosse zu begegnen, und noch einiges andere, das ich nicht hörte. Ich dachte in diesem Augenblick an meinen Mann, meinen Sohn, meine russische Heimat; ein peinliches Gefühl, ein Bedauern, eine Sehnsucht ergriff meine Seele, und ich beeilte mich, so rasch wie möglich nach Hause zurückzukehren, nach meinem einsamen Zimmer im »Hôtel de Bade«, um in Ruhe über alles das nachzudenken, was sich soeben in meiner Seele zu regen begonnen hatte. Doch L. M. ging sehr langsam, es war noch ein ganzes Stück bis zu unserem Wagen, und mein Begleiter schien absichtlich seinen Schritt zu verzögern, als wollte er mich zurückhalten. »Das kann nicht sein!« dachte ich und schlug entschlossen eine raschere Gangart ein. Doch nun merkte ich in der Tat, daß er mich absichtlich zurückhielt und sogar meinen Arm an sich preßte. L. M. bog soeben um eine Ecke des Weges, und wir waren allein. Ich wurde von Angst ergriffen.

»Verzeihen Sie,« sagte ich kühl und wollte meinen Arm zurückziehen, doch der Spitzenbesatz meines Ärmels blieb an einem Knopfe seines Rockes hängen. Er beugte sich vor, um die Spitze loszumachen, und seine unbehandschuhten Finger berührten meine Hand. Eine mir ganz neue Empfindung, halb Schreck und halb Lust, überlief wie ein Schauer meinen Rücken. Ich sah ihn an und versuchte in meinem Blicke all die kalte Verachtung zum Ausdruck zu bringen, die ich ihm gegenüber empfand; doch mein Blick sagte nicht das, was ich hineinlegen wollte – nur Angst und Erregung sprach sich darin aus. Seine glühenden, feuchtverschleierten Augen sahen mich aus nächster Nähe leidenschaftlich an, ruhten auf meinem Halse und meiner Brust, seine beiden Hände umfaßten meine Hand über dem Gelenk, seine geöffneten Lippen sprachen irgend etwas – daß er mich liebe, daß ich sein Alles sei – und dann näherten sich mir diese Lippen, und seine Hände drückten die meinigen immer fester und taten mir weh. Durch meine Adern rann es wie Feuer, es wurde mir dunkel vor den Augen, ich zitterte, und die Worte, die ich ihm entgegenschleudern wollte, blieben mir in der Kehle stecken. Plötzlich fühlte ich einen Kuß auf meiner Wange, und am ganzen Leibe zitternd in kaltem Erschauern, stand ich da und sah ihn an. Ich besaß nicht die Kraft, etwas zu sagen oder mich zu rühren, ich war wie vom Schreck gelähmt und erwartete etwas, verlangte nach etwas. Alles dies dauerte nur einen Augenblick. Ich begriff, was hinter diesem Gesicht verborgen lag: diese steile, niedrige Stirn, die unter dem Strohhut sichtbar ward, und die der Stirn meines Mannes so ähnlich war, diese schöne, gerade Nase mit den geblähten Nüstern, dieser lange, spitzgedrehte Schnurrbart mit dem kleinen Kinnbärtchen, diese glattrasierten Wangen und der gebräunte Hals! Ich haßte, ich fürchtete ihn – er war mir so ganz wildfremd; und doch hatte die Erregung und Leidenschaft dieses mir verhaßten fremden Mannes in meiner Seele einen so starken Widerhall gefunden! Ein so unwiderstehliches Verlangen hatte mich erfaßt, mich den Küssen dieses sinnlich rohen und doch wiederum schönen Mundes, den Liebkosungen dieser weißen Hände mit den feinen Adern und den ringgeschmückten Fingern hinzugeben. Es zog und trieb mich, kopfüber in diesen lockenden Abgrund verbotener Lust zu stürzen, der sich plötzlich vor mir aufgetan hatte ...

»Ich bin so unglücklich,« dachte ich – »so möge denn noch mehr, noch mehr Unglück sich über meinem Haupte sammeln!«

Er schlang seinen Arm um mich und beugte sich über mein Gesicht.

»Möge noch mehr, noch mehr Schmach und Sünde sich über mir häufen!«

»Ich liebe Sie!« flüsterte er mit einer Stimme, die so sehr der meines Mannes glich. Mein Mann und mein Kind kamen mir plötzlich in Erinnerung, als Wesen, die mir einst teuer waren, und mit denen ich jetzt gänzlich abgeschlossen hatte. Da ließ sich plötzlich an der Wegbiegung die Stimme meiner Landsmännin vernehmen, die mich rief. Ich kam zur Besinnung, entriß ihm meine Hand und eilte, ohne mich nach ihm umzusehen, auf L. M. zu. Wir stiegen in die Kalesche, und nun erst sah ich mich nach ihm um. Er lüftete den Hut und fragte lächelnd nach irgend etwas. Er ahnte nicht, welchen grenzenlosen, unaussprechlichen Widerwillen ich in diesem Augenblick vor ihm empfand.

Mein Leben erschien mir so unglücklich, die Zukunft so hoffnungslos, die Vergangenheit so düster! L. M. sprach mit mir, doch begriff ich kein Wort. Ich hatte das Gefühl, als spreche sie nur aus Mitleid mit mir, um die Verachtung zu verbergen, die ich ihr einflößte. In jedem Worte, jedem Blick glaubte ich diese Verachtung, dieses kränkende Mitleid zu lesen. Der Kuß brannte mir noch auf der Wange wie ein Mal der Schande, und der Gedanke an meinen Gatten, an mein Kind war mir unerträglich. Ich hoffte über meine Lage in Ruhe nachdenken zu können, sobald ich erst allein auf meinem Zimmer wäre; als ich jedoch allein war, ward ich von Entsetzen ergriffen. Ich trank den Tee nicht aus, der mir gebracht wurde, und ohne zu wissen, warum, begann ich mit fieberhafter Eile meine Sachen zu packen, um noch mit dem Abendzuge zu meinem Manne nach Heidelberg zu fahren.

Als ich mit meiner Kammerzofe in dem leeren Kupee saß, als die Lokomotive sich in Bewegung setzte und die frische Luft durch das Fenster zu mir hereinströmte, kam ich allmählich wieder zur Besinnung und begann über meine Vergangenheit und Zukunft klarer nachzudenken.

Mein ganzes Eheleben vom Tage unserer Abreise nach Petersburg an erschien mir plötzlich in einem neuen Lichte und lastete wie eine schwere Schuld auf meinem Gewissen. Zum ersten Male gedachte ich wieder lebhaft der ersten Zeit unserer Ehe auf dem Lande, all der Pläne, die wir damals entworfen, und zum erstenmal durchfuhr mir der Gedanke den Kopf: welche Freuden sind ihm denn nun in dieser ganzen Zeit zuteil geworden? Und ich fühlte mich ihm gegenüber in tiefer, tiefer Schuld.

»Doch warum hat er mich nicht zurückgehalten, warum hat er sich vor mir verstellt, warum ist er jeder Erklärung ausgewichen, warum hat er mich beleidigt?« fragte ich mich. »Warum hat er die Macht seiner Liebe mir gegenüber nicht geltend gemacht? Oder liebte er mich vielleicht nicht?«

Aber welche Schuld ihn auch immer treffen mochte, der Kuß des fremden Mannes brannte noch heiß auf meiner Wange, ich fühlte ihn ganz deutlich. Je mehr ich mich Heidelberg näherte, desto lebendiger trat mir das Bild meines Gatten vor Augen, desto banger wurde mir vor dem Wiedersehen. »Ich werde ihm alles, alles sagen, werde in einem Strome reuiger Tränen alles bekennen,« dachte ich, »und er wird mir verzeihen.« Was dieses »alles«, das ich ihm sagen wollte, sein würde, wußte ich selbst nicht, wie ich auch nicht daran glaubte, daß er mir verzeihen würde.

Kaum hatte ich denn auch das Zimmer meines Mannes betreten, kaum sein ruhiges, wenn auch erstauntes Gesicht erblickt, als ich sogleich fühlte, daß ich ihm nichts sagen, ihm nichts bekennen, ihn nicht um Verzeihung bitten würde. Mein Schmerz und meine Reue sollten unausgesprochen, sollten tief in meiner Seele verborgen bleiben.

»Was für ein Einfall!« sagte er – »ich wollte ja morgen zu dir kommen!« Als er jedoch mein Gesicht schärfer betrachtete, schien es, als erschrecke er. »Was ist dir! Was hast du denn?« sagte er.

»Nichts,« antwortete ich und konnte nur mit Mühe meine Tränen zurückhalten. »Ich gehe nicht mehr nach Baden zurück. Laß uns nach Hause reisen, nach Rußland, und wenn es morgen sein soll!«

Er sah mich eine ganze Weile schweigend und mit Aufmerksamkeit an.

»Erzähle mir, was dir begegnet ist!« sagte er.

Ich errötete unwillkürlich und senkte den Blick. In seinen Augen flammte ein Gefühl der Kränkung und des Zornes auf. Ich erschrak bei dem Gedanken, daß er irgendwelche bösen Vermutungen haben könnte, und mit einer so vollendeten Verstellung, wie ich sie mir selbst nicht zugetraut hätte, sagte ich:

»Es ist nichts vorgefallen, ich langweile und gräme mich einfach, wenn ich so allein bin, und ich habe sehr viel über unser Zusammenleben und über dich nachgedacht. Ich fühle mich längst dir gegenüber in tiefer Schuld. Warum fährst du mit da hin, wohin es dich selbst nicht zieht? Längst schon bin ich dir gegenüber schuldig,« wiederholte ich, und die Tränen traten mir wieder in die Augen. »Laß uns aufs Land zurückkehren, und zwar für immer!«

»Ach, meine Liebe, erspare mir alle gefühlvollen Szenen,« versetzte er kühl. »Daß du aufs Land ziehen willst, ist recht schön, zumal auch unser Geld zu Ende geht; aber daß es für immer sein sollte – nein, das ist Einbildung. Ich weiß, daß du es nicht aushältst. Trink eine Tasse Tee, das wird besser sein,« schloß er, und stand auf, um dem Kellner zu klingeln.

Ich suchte zu erraten, was er wohl von mir denken mochte, und ich fühlte mich verletzt, wenn ich mir all das Schreckliche vorstellte, das er mir, nach seinem ungläubigen und gleichsam beschämten Blicke zu urteilen, zutrauen mochte. Nein, er will und kann mich nicht verstehen! Ich sagte ihm, daß ich das Kind sehen wolle, und verließ ihn. Ich wollte allein sein und weinen, weinen, weinen ...


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