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Es war Frühling geworden. Meine schwermütige Stimmung war verschwunden, und an ihre Stelle war jenes schwärmerische Sehnen und Hoffen getreten, das der Frühling in der Seele erweckt. Ich führte nun nicht mehr dasselbe Leben wie im Beginn des Winters, sondern beschäftigte mich mit Sonja, trieb Musik, las viel, ging häufig im Park spazieren und machte lange Promenaden in den Alleen, oder ich saß auf einer Bank und träumte, hoffte und schwärmte Gott weiß, wovon. Zuweilen brachte ich, namentlich wenn der Mond schien, die ganze Nacht bis zum frühen Morgen am Fenster meines Zimmers zu; mitunter ging ich ganz leise, damit Katja nichts merkte, in der bloßen Nachtjacke in den Garten hinunter und lief über das tauige Gras nach dem Parkteich, und einmal wagte ich mich sogar aufs Feld hinaus und ging mitten in der Nacht ganz allein um den ganzen Park herum.
Es fällt mir jetzt schwer, mir jene Träumereien, die damals meine Phantasie beschäftigten, ins Gedächtnis zurückzurufen und sie zu verstehen. Und wenn sie mir wieder einfallen, kann ich es kaum glauben, daß dies wirklich meine Träumereien sind, so seltsam und lebensfremd scheinen sie mir.
Gegen Ende Mai kehrte Sergjej Michajlowitsch, wie er versprochen hatte, von seiner Reise zurück.
Das erstemal besuchte er uns am Abend, zu einer Zeit, da wir ihn gar nicht erwarteten. Wir saßen auf der Terrasse und wollten soeben Tee trinken. Der Garten prangte bereits in frischem Grün, und in den dichtbelaubten Bosketts ließen die Nachtigallen schon ihre Lieder erklingen. Die buschigen Fliedersträucher waren da und dort mit etwas Weißem oder Lilafarbigem bestreut – es waren die Blüten, die jeden Augenblick aufbrechen konnten. Das Laub der Birkenallee erschien ganz durchsichtig in den Strahlen der untergehenden Sonne. Auf der Terrasse lag ein kühler Schatten. Ein dichter Abendtau hatte sich auf den Rasen gesenkt. Vom Hofe her vernahm man das Brüllen der eingetriebenen Herde und die letzten Geräusche des schwindenden Tages. Der schwachsinnige Nikon fuhr mit dem Wasserfaß auf dem Wege vor der Terrasse vorüber, und der kühle Wasserstrahl seiner Gießkanne zeichnete schwarze Kreise auf dem frisch gelockerten Boden um die an Stäbe gebundenen jungen Georginen. Vor uns blinkte und brodelte auf dem weißen Tischtuch der blankgeputzte Samowar, daneben stand die Rahmkanne, und Brezeln und sonstiges Gebäck fehlten nicht. Katja spülte als sorgsame Hausfrau mit den runden, weichen Händen die Tassen aus. Ich konnte den Tee nicht erwarten und aß, da ich nach einem Bade Hunger hatte, eben eine mit frischer, dicker Sahne bestrichene Brotschnitte. Ich trug eine leinene Bluse mit offenen Ärmeln und hatte das feuchte Haar mit einem Tuche umhüllt. Katja war die erste, die den Gast durch das Fenster kommen sah.
»Ah, Sergjej Michajlowitsch!« rief sie aus. »Wir haben soeben von Ihnen gesprochen.«
Ich stand auf und wollte fortgehen, um mich umzukleiden, doch traf er mich gerade in der Tür und suchte mich zurückzuhalten.
»Nun, was für Umstände machen Sie hier auf dem Dorfe,« sagte er lächelnd, mit einem Blick auf das Tuch, mit dem ich den Kopf bedeckt hatte. »Sie genieren sich doch auch vor Grigorij nicht, und ich bin doch für Sie, denk' ich, ebensoviel wie Grigorij.« Doch gerade in diesem Augenblick schien es mir, als blicke er mich so ganz anders an als Grigorij, und ich ward ein wenig verlegen.
»Ich bin gleich wieder hier,« sagte ich und entfernte mich.
»Was ist denn an Ihnen auszusetzen?« rief er hinter mir her – »Sie sehen ganz wie eine junge Bäuerin aus!«
»Wie seltsam er mich ansah!« dachte ich, während ich mich oben in meinem Zimmer rasch umzog. »Nun, Gott sei Dank, daß er gekommen ist, es wird jetzt hier bei uns lustiger werden.«
Ich warf einen Blick in den Spiegel und eilte vergnügt die Treppe hinunter. Ich gab mir durchaus keine Mühe zu verheimlichen, daß ich mich beeilt hatte, und kam ganz atemlos auf die Terrasse zurück. Er saß am Tische und sprach mit Katja über unsere Angelegenheiten. Als er mich erblickte, lächelte er, fuhr jedoch fort zu sprechen. Unser Vermögensstand war, wie er sagte, in bester Ordnung. Wir sollten nach seiner Meinung noch den Sommer auf dem Lande zubringen und dann nach Petersburg ziehen, um Sonjas Erziehung zu vollenden, oder ins Ausland reisen.
»Ja, wenn Sie mit uns ins Ausland reisen wollten!« sagte Katja. »Aber so werden wir uns dort wie im Urwalde vorkommen.«
»Ach, wie gern möchte ich mit Ihnen um die ganze Welt herumreisen!« sagte er halb scherzend, halb im Ernst.
»Nun denn,« sagte ich, »so machen wir also zusammen eine Reise um die Welt!«
Er lächelte und schüttelte den Kopf.
»Und mein Mütterchen? Und meine Geschäfte?« sagte er. »Reden wir nicht davon. Erzählen Sie lieber, was Sie in der letzten Zeit getrieben haben. Haben Sie wieder Grillen gefangen?«
Als ich ihm erzählte, daß ich mich in seiner Abwesenheit mit allerhand nützlichen Dingen beschäftigt und durchaus keine Langeweile empfunden hätte, und als dann Katja meine Worte bestätigte, da lobte er mich und liebkoste mich gleichsam mit seinen Blicken und Worten wie ein artiges Kind, als hätte er ein besonderes Recht dazu. Ich hielt mich für verpflichtet, ihm ganz ausführlich und aufrichtig über alles zu berichten, was ich Rechtes getan, und ihm wie im Beichtstuhl alles zu bekennen, womit er vielleicht unzufrieden sein könnte. Der Abend war so schön, daß wir auch nach dem Tee noch auf der Terrasse blieben, und die Unterhaltung fesselte mich so sehr, daß ich gar nicht bemerkte, wie rings um uns nach und nach alle menschlichen Laute verstummt waren. Die Blumen ringsum dufteten so köstlich, reichlicher Tau netzte das Gras, eine Nachtigall schlug im nahen Fliedergebüsch und verstummte, als sie unsere Stimmen vernahm; der gestirnte Himmel schien sich tiefer auf uns herabgesenkt zu haben.
Ich merkte erst, daß es Nacht geworden, als plötzlich eine Fledermaus in lautlosem Fluge unter der über die Terrasse gespannten Markise hinhuschte und um mein weißes Tuch herumzuflattern begann. Ich lehnte mich gegen die Wand zurück und wollte schon aufschreien, aber die Fledermaus schlüpfte ebenso lautlos und rasch wieder unter dem Leinwanddach hinweg und verschwand im Halbdunkel des Gartens.
»Wie ich Ihr Pokrowskoje liebe!« sagte der Gast, das Thema des Gesprächs plötzlich wechselnd – »mein ganzes Leben lang könnte ich hier auf dieser Terrasse sitzen.«
»Nun, so bleiben Sie doch hier sitzen,« sagte Katja.
»Ja, bleiben Sie sitzen!« entgegnete er – »aber das Leben will leider nicht mit sitzen bleiben.«
»Warum heiraten Sie nicht?« sagte Katja. »Sie würden ein vortrefflicher Ehemann werden.«
»Sie meinen, weil ich gern stillsitze?« sagte er lächelnd. »Nein, Katerina Karlowna, für uns beide ist es zum Heiraten zu spät. Ich gelte schon längst nicht mehr als Heiratskandidat, und auch ich selbst habe schon alle solche Gedanken aufgegeben. Ich fühle mich seitdem, offen gesagt, recht glücklich und zufrieden.«
Ich hatte den Eindruck, als sei die Fröhlichkeit, mit der er dies sagte, doch ein wenig erzwungen.
»Wie denn: Sie sind erst sechsunddreißig Jahre alt, und fühlen sich schon lebensmüde?« sagte Katja.
»Ja, und in welchem Maße!« antwortete er. »Ich möchte nur noch dasitzen und der Ruhe pflegen. Zum Heiraten gehört etwas anderes. Fragen Sie einmal diese da!« – er nickte mit dem Kopfe nach mir herüber. »Die müssen heiraten, uns beiden aber muß es genügen, uns ihres Glückes zu freuen.«
Im Tone seiner Worte lag eine geheime Wehmut und eine gewisse Gezwungenheit, die mir nicht entging. Er schwieg ein Weilchen; weder ich noch Katja entgegneten etwas.
»Stellen Sie sich doch einmal vor,« fuhr er, sich auf dem Stuhle herumwendend, fort – »ich käme plötzlich auf den unglücklichen Einfall, irgendein siebzehnjähriges Mädchen heiraten zu wollen: sagen wir einmal Mascha ... Maria Alexandrowna, wollte ich sagen. Das Beispiel paßt sogar sehr schön, und ich freue mich, daß es mir gerade so einfiel – wirklich ein sehr zutreffendes Beispiel ...«
Ich mußte lachen und begriff durchaus nicht, warum er sich so sehr freute, und was an dem Beispiel so besonders zutreffend war.
»Nun sagen Sie mir einmal aufrichtig, Hand aufs Herz,« fuhr er in scherzendem Tone fort, indem er sich an mich wandte – »wäre es für Sie nicht ein Unglück, wenn Sie Ihr Dasein an einen alten Mann fesseln sollten, der sein Leben schon hinter sich hat, der nur noch still dasitzen und ausruhen möchte, während in Ihrem Herzen sich noch Gott weiß, welche Wünsche und Triebe regen?«
Ich wurde verlegen und schwieg, da ich nicht wußte, was ich antworten sollte.
»Ich mache Ihnen durchaus keinen Antrag,« sagte er lachend. »Aber sagen Sie mir ehrlich: Sie träumen doch sicherlich nicht von einem solchen Manne, wenn Sie des Abends allein durch die Alleen schreiten? Wäre das nicht geradezu ein Unglück für Sie?«
»Ein Unglück wohl nicht ...« begann ich.
»Aber auch kein großes Glück,« sagte er, den Satz ergänzend.
»Ja; aber ich kann mich vielleicht täuschen ...«
Doch er unterbrach mich von neuem.
»Nun, sehen Sie!« sagte er, und zu Katja gewandt, fuhr er fort: »Und sie hat vollkommen recht! Ich bin ihr dankbar für ihre Aufrichtigkeit und freue mich, daß wir das zur Sprache gebracht haben. Ja noch mehr: es wäre, glaube ich, für mich das größte Unglück ...«
»Was für ein Sonderling Sie doch sind: Sie haben sich gar nicht geändert!« sagte Katja und verließ die Terrasse, um für das Abendessen ihre Anordnungen zu treffen.
Wir schwiegen beide, nachdem Katja gegangen war, und rings um uns war alles still. Nur die Nachtigall ließ ihre Triller erschallen, nicht mehr schüchtern und in abgerissenen, einzelnen Tonfolgen, wie vorher, sondern hell und voll, daß es durch den ganzen Park hin tönte und die Nacht zum Leben weckte. Von unten her, aus der Schlucht, gab heute zum erstenmal eine zweite Nachtigall Antwort. Die erste schwieg, als lausche sie einen Augenblick nach der andern hin, dann aber schmetterte sie ihre Triller noch jäher und lauter in die Nacht hinaus. Und so majestätisch und ruhig klangen ihre Stimmen durch diese nächtliche Welt, die ganz ihr eigen und uns Menschenkindern fremd war.
Der Gärtner ging vorüber, um sich in der Orangerie schlafen zu legen; der schwere Tritt seiner plumpen Stiefel hallte leiser und leiser auf dem Gartenpfade wider. Ein Pfiff ertönte unten am Abhang der Schlucht, dann noch ein zweiter, und alles ward wieder still. Kaum hörbar rauschten die Blätter, ein Windstoß hob die Markise über der Terrasse, und ein köstlicher Duft drang vom Garten her zu uns herauf und erfüllte die Terrasse.
Das Schweigen war mir nach dem, was vorher gesprochen worden, recht peinlich, doch wußte ich nicht, was ich sagen sollte. Ich sah ihn an. Seine Augen, die im abendlichen Halbdunkel glänzten, waren auf mich gerichtet.
»Wie schön doch das Leben ist!« sprach er endlich.
Ich stieß einen Seufzer aus.
»Was ist Ihnen?« sagte er.
»Wie schön doch das Leben ist!« wiederholte ich.
Und wir versanken wieder in Schweigen, und von neuem empfand ich jene Unbehaglichkeit. Immer wieder ging es mir durch den Kopf, daß ich ihm wehgetan hatte, als ich zugab, daß er alt sei. Ich wollte ihm gar zu gern etwas Freundliches sagen, wußte jedoch nicht, wie ich es anfangen sollte.
»Nun, leben Sie wohl,« sagte er und erhob sich – »meine Mutter erwartet mich zum Abendessen. Ich habe sie heute kaum einen Augenblick gesehen.«
»Und ich wollte Ihnen so gern die neue Sonate vorspielen,« sagte ich.
»Ein andermal,« sprach er – ziemlich kühl, wie es mir schien. »Leben Sie wohl!«
Noch deutlicher empfand ich es nun, daß ich ihn verletzt hatte, und er tat mir leid. Ich begleitete ihn mit Katja gemeinsam die Freitreppe hinunter, und dann blieben wir beide auf dem Hofe stehen und sahen ihm nach, bis er unseren Blicken entschwunden war. Als der Hufschlag seines Pferdes verstummt war, begab ich mich auf die Terrasse zurück und schaute wieder sinnend in den Garten. Lange noch schaute ich in den tauigen Nebel, in dem die Laute der Nacht gleichsam hängen blieben, und die bunten Bilder meiner Phantasie zogen an meiner Seele vorüber.
Er kam ein zweites, ein drittes Mal zu uns, und das peinliche Gefühl, das jenes sonderbare Gespräch in mir erweckt hatte, schwand vollständig und kehrte nicht mehr wieder. Im Laufe des Sommers war er wohl zwei- oder dreimal in jeder Woche unser Gast, und ich gewöhnte mich so sehr an ihn, daß mir stets etwas fehlte, wenn er einmal längere Zeit ausblieb. Ich ward sogar allen Ernstes böse auf ihn und fand es sehr unrecht, daß er mich so allein ließ. Er verkehrte mit mir wie mit einem lieben jungen Kameraden, fragte mich aus, ließ mich offen alles aussprechen, was ich auf dem Herzen hatte, gab mir Ratschläge, munterte mich auf, schalt mich auch wohl zuweilen oder hielt mich gelegentlich von etwas zurück. Trotz all seines Bemühens jedoch, mit mir auf gleichem Fuße zu verkehren, hatte ich das Gefühl, daß hinter dem, was ich an ihm begriff, noch eine ganze mir fremde Welt vorhanden war, in die er mich keinen Einblick tun ließ, und das erhöhte meine Achtung vor ihm noch ganz besonders und zog mich zugleich zu ihm hin. Ich wußte von Katja und den Nachbarn, daß außer der Sorge um seine alte Mutter, mit der er zusammenlebte, außer seiner Wirtschaft und seinen Vormundschaftspflichten gegen uns ihn noch gewisse Angelegenheiten des Kreisadels in Anspruch nahmen, die ihm große Unannehmlichkeiten bereiteten; aber welche Auffassung er von diesen Dingen hatte, welche Überzeugungen, Pläne und Hoffnungen er hegte – darüber konnte ich nie etwas von ihm herausbekommen. Sobald ich das Gespräch auf diese Dinge lenkte, runzelte er auf seine ganz eigene Weise die Stirn, als wollte er sagen: »Bitte, reden wir nicht davon, was gehen Sie diese Geschichten an?« Und er lenkte das Gespräch sogleich auf etwas anderes. Anfangs fühlte ich mich durch dieses Verhalten ein wenig verletzt, mit der Zeit aber gewöhnte ich mich so sehr daran, daß wir immer nur von Dingen sprachen, die mich betrafen, und ich fand das schließlich ganz in der Ordnung.
Ein Umstand, der mir anfangs gleichfalls nicht gefiel, den ich jedoch später geradezu angenehm empfand, war, daß er gegen mein Äußeres völlig gleichgültig war, ja in dieser Beziehung sogar eine gewisse Geringschätzung an den Tag legte. Niemals spielte er auch nur mit einem Worte oder Blicke darauf an, daß ich schön sei, ja er wurde sogar ungehalten und ließ seinen Spott aus, wenn mich jemand in seiner Gegenwart hübsch fand. Er liebte es sogar, diesen und jenen Mangel an meinem Äußeren zu entdecken, und neckte mich damit. Die eleganten Kleider und Frisuren, mit denen Katja mich bei feierlichen Gelegenheiten zu schmücken liebte, veranlaßten ihn nur zu allerhand kritischen Bemerkungen, die der guten Katja großen Schmerz bereiteten und anfangs auch mir ziemlich peinlich waren. Katja, die es sich nicht ausreden ließ, daß er Gefallen an mir finde, konnte es nicht begreifen, daß ein Mann es mißbillige, wenn das Mädchen, das ihm gefiel, sich im besten Lichte zu zeigen suche. Ich begriff jedoch sehr bald, worauf es ihm ankam: er wünschte, daß ich nicht kokett sein möchte. Als ich mir hierüber klar war, verschwand aus meiner Kleidung, meiner Haartracht und meiner Art, mich zu bewegen, jeder Schatten von Koketterie; an ihre Stelle trat freilich eine andere Art von Koketterie: die Koketterie der Einfachheit, die zwar weniger auffällig war, aber zu meinem Alter, dem die Einfachheit noch gar nicht eigen sein konnte, in starkem Kontrast stand.
Ich wußte, daß er mich liebte; ob wie ein Kind oder wie ein Weib – danach fragte ich noch nicht. Diese Liebe war mir teuer, und da ich fühlte, daß er mich für das beste Mädchen auf der Welt hielt, so hegte ich den lebhaftesten Wunsch, ihn in dieser Täuschung zu erhalten. Ganz unwillkürlich täuschte ich ihn – aber indem ich ihn täuschte, wurde ich zugleich selbst besser. Ich fühlte, daß es mir besser anstand und meiner würdiger war, ihm die Vorzüge meiner Seele zu zeigen, als die meines Körpers. Mein Haar, meine Hände, mein Gesicht, meine Gewohnheiten, welcher Art sie auch sein mochten, ob gut oder schlecht, schien er gleichsam mit einem Blicke überschaut und richtig geschätzt zu haben, hier konnte ich nichts mehr hinzufügen, was er nicht schon kannte. Meine Seele dagegen kannte er nicht, weil sie eben zu jener Zeit noch wuchs und sich entwickelte – hier also konnte ich ihn noch täuschen und täuschte ihn wirklich. Wie erleichtert fühlte ich mich im Verkehr mit ihm, als ich erst zu dieser Erkenntnis gelangt war! Diese grundlose Befangenheit, dieser Zwang, den ich mir in allen Bewegungen hatte antun müssen, wich vollkommen von mir. Ich fühlte, daß, ob er mich von vorn oder von der Seite, sitzend oder stehend sah, ob ich das Haar nach oben oder nach der Seite gekämmt trug, er mich durch und durch kannte und mit mir so, wie ich vor ihm stand, vollkommen zufrieden war. Und wenn er mir, gegen seine Gewohnheit, plötzlich wie die andern gesagt hätte, daß ich ein hübsches Gesicht besitze, dann wäre mir dies, glaube ich, sogar recht peinlich gewesen. Welche Freude, welche Genugtuung empfand ich dagegen, wenn er nach irgendeiner Äußerung, die ich getan, mich aufmerksam ansah und mit bewegter Stimme, der er einen scherzenden Beiklang zu geben wußte, zu mir sagte:
»Ja, ja, in Ihnen steckt etwas ... Sie sind ein prächtiges Mädchen, das muß ich sagen.«
Und wofür empfing ich damals dieses Lob, das mein Herz mit Stolz und Freude erfüllte? Das eine Mal dafür, daß ich sagte, ich fände die Liebe des alten Grigorij zu seiner Enkelin so rührend, dann wieder dafür, daß ich mich durch ein Gedicht oder einen Roman zu Tränen erschüttern ließ, und ein andermal dafür, daß ich die Kompositionen Mozarts denjenigen Schulhoffs vorzog. Ich wunderte mich selbst darüber, mit wie feinem Gefühl ich damals erriet, was gut war, und was man lieben müsse, obgleich ich noch gar nicht recht wußte, was gut und liebenswert war. Meine früheren Gewohnheiten und meine Geschmacksrichtung fanden nur in sehr beschränktem Maße seinen Beifall, und es bedurfte nur eines Blickes von ihm oder eines Zuckens seiner Braue, um mich merken zu lassen, daß ihm das, was ich sagen wollte, nicht gefiel; oder er brauchte nur die ihm eigene mitleidig-geringschätzige Miene aufzusetzen, um mich sogleich davon zu überzeugen, daß ich das nicht liebte, was ich soeben noch geliebt hatte. Wenn er mir einen Rat erteilen wollte, glaubte ich zuweilen schon im voraus zu wissen, was er sagen würde. Er befragte mich gleichsam, indem er mir in die Augen sah, und sein Blick weckte in mir eben den Gedanken, auf den es ihm gerade ankam. All mein Denken und Fühlen war damals gleichsam nicht mehr mein – statt dessen wurden seine Gedanken, seine Gefühle, ehe ich mich's versah, zu den meinigen, hielten ihren Einzug in mein Sein und Wesen und trugen Licht in meine Seele. Ganz unmerklich begann ich alles mit andern Augen zu sehen: Katja sowohl wie unsere Leute, und Sonja, und mich selbst und meine Beschäftigungen. Die Bücher, die ich früher nur gelesen hatte, um mir die Langeweile zu vertreiben, wurden mir plötzlich eine der schönsten Lebensfreuden; und alles nur darum, weil ich mit ihm über die Bücher sprach und sie mit ihm zusammen las und er sie mir brachte. Früher war die Beschäftigung mit Sonja, der Unterricht, den ich ihr gab, für mich eine schwere Aufgabe gewesen, zu deren Erfüllung ich mich aus bloßem Pflichtgefühl zwang; jetzt wohnte er häufig den Stunden bei, und es machte mir Freude, Sonjas Fortschritte zu beobachten. Ein Musikstück rasch hintereinander einzuüben, war mir früher unmöglich erschienen – jetzt, da ich wußte, daß er es hören und vielleicht loben würde, spielte ich dieselbe Stelle wohl vierzigmal hintereinander, daß die arme Katja sich zuletzt die Ohren mit Watte verstopfen mußte, während ich bei diesen Tonübungen durchaus keine Langeweile empfand. Dieselben alten Sonaten klangen, wenn ich sie jetzt spielte, ganz anders und jedenfalls weit schöner als früher. Selbst Katja, die ich doch kannte und liebte wie mich selbst, nahm in meinen Augen eine neue Gestalt an. Jetzt erst begriff ich, daß sie durchaus nicht verpflichtet war, uns Mutter, Freundin und Dienerin zu sein, wie sie es uns bisher gewesen. Ich begriff die ganze Selbstlosigkeit und Hingebung dieses liebreichen Wesens, begriff, wie sehr ich ihr verpflichtet war, und liebte sie noch mehr als bisher. Auch unsere Leute, die Bauern, das Hofgesinde, die Dienstmägde, lehrte er mich in ganz anderem Lichte schauen als bisher. So lächerlich es klingen mag, jedenfalls ist es Tatsache, daß ich bis in mein achtzehntes Jahr hinein mitten unter diesen Menschen lebte, ohne auch nur soviel von ihnen zu wissen, wie von irgendeinem fremden Volke, das ich nie gesehen. Nie war es mir beigekommen, daß diese Menschen ebenso lieben, ebenso Schmerz und Mitleid empfinden wie ich selbst. Unser Garten, unsere Wälder und Felder, die ich schon so lange kannte, erschienen mir plötzlich neu und schön. Wohl nicht ohne Absicht hatte er einmal geäußert, daß es im Leben nur ein einziges sicheres Glück gebe: für andere zu leben. Mir waren damals diese Worte etwas seltsam vorgekommen, und ich verstand sie nicht; doch der Sinn seiner Worte, die Überzeugung, daß sie die Wahrheit enthielten, fand, ohne mein Denken zu berühren, unmittelbar den Weg zu meinem Herzen. Er eröffnete mir ein ganzes Leben der Freuden und Genüsse in der Gegenwart, ohne irgend etwas an meinem Leben zu ändern oder zu einem Eindruck irgend etwas, außer dem Gedanken an seine Person, hinzuzufügen. Alles, was mich von Kindheit auf still und stumm umgeben hatte, erwachte plötzlich für mich zum Leben. Er brauchte nur zu erscheinen, und alles das begann zu reden, sprach um die Wette auf meine Seele ein und erfüllte sie mit Glück.
Gar oft ging ich in diesem Sommer in mein Zimmer hinauf und warf mich aufs Bett, und statt der früheren Frühlingssehnsucht, statt der Zukunftswünsche und Zukunftshoffnungen erfüllte mich jetzt die Unruhe eines echten, wirklichen Gegenwartglücks. Ich fand keinen Schlummer, stand auf, setzte mich zu Katja aufs Bett und sagte ihr, daß ich vollkommen glücklich sei, was ich, wie ich mich jetzt erinnere, ihr durchaus nicht hätte zu sagen brauchen, da sie es mir selbst vom Gesicht ablesen konnte. Sie aber sagte mir, daß auch ihr nichts fehle, daß auch sie sehr glücklich sei, und küßte mich. Ich glaubte es ihr – es schien mir so durchaus notwendig und gerecht, daß alle Menschen glücklich wären. Aber Katja vergaß über dem Glück auch den Schlaf nicht, und so trieb sie mich, indem sie sich zuweilen sogar böse stellte, von ihrem Bett fort und schlief ein; ich aber grübelte noch lange darüber, was mich eigentlich so beglückte. Mitunter stand ich auf und betete zum zweitenmal, betete mit meinen eigenen Worten, um Gott für all das Glück zu danken, das er mir gegeben.
Und es war still in meinem Zimmer; nur Katjas gleichmäßiges Atmen ließ sich vernehmen, und die Uhr neben ihrem Bette tickte, ich aber warf mich im Bett auf meinem Lager hin und her und flüsterte vor mich hin oder bekreuzte mich und küßte das Kreuz an meinem Halse. Die Türen waren zu, die Fensterläden geschlossen, eine Mücke oder Fliege schwebte summend in der Luft. Ich hätte dieses kleine Zimmer niemals verlassen mögen, hätte gewünscht, daß nie wieder der Morgen anbräche, nie diese Stimmung, diese wohlige Atmosphäre, die mich umgab, sich verflüchtigte. Meine Traumbilder, meine Gedanken und Gebete schienen mir lebende Wesen zu sein, die hier in diesem Dunkel mit mir zusammen lebten, die mein Bett umschwebten, mir zu Häupten standen. Und jeder dieser Gedanken war auch sein Gedanke, jedes Gefühl – sein Gefühl. Ich wußte damals noch nicht, daß das die Liebe ist – ich dachte, daß das immer so sein könne, daß dieses Gefühl uns von selbst, ohne Entgelt, gegeben wird.