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Herrgott, Kinder, was habt ihr denn da angerichtet?« rief der Festungskommandant und faßte sich verzweifelt an den Kopf, als er die Nachricht von Chadschi Murats Flucht erhielt. »Nun geht es mir an den Kragen! Wie konntet ihr den Räuber nur laufen lassen?!« schrie er auf Mischkin los, der ihm soeben das Vorgefallene gemeldet hatte.
Sogleich wurde überall Alarm geschlagen, und nicht nur die Kosaken, die zur Verfügung standen, sondern auch die Milizen der friedlichen Dörfer wurden, soweit dies in der Kürze der Zeit möglich war, mobil gemacht und den Flüchtigen nachgesandt. Eine Belohnung von tausend Rubeln wurde für denjenigen ausgesetzt, der Chadschi Murat, ob tot oder lebendig, zurückbringen würde. Zwei Stunden, nachdem Chadschi Murat mit seinen Begleitern entflohen war, befanden sich bereits zweihundert Berittene mit dem Kommissar an der Spitze unterwegs, um die Entkommenen wieder einzufangen.
Nachdem Chadschi Murat noch einige Werst auf der Landstraße weitergeritten war, hielt er seinen schwer keuchenden, ganz in Schweiß gebadeten Schimmel für einen Augenblick an. Rechts vom Wege sah man die Hütten und das Minarett des Dorfes Benerdschik, links dehnten sich weithin die Reisfelder, und hinter ihnen schimmerte von ferne der Fluß. Wiewohl nun der Weg in die Berge nach rechts führte, schlug Chadschi Murat doch die entgegengesetzte Richtung, nach links hin, ein, da er annahm, daß die Verfolger den Weg nach rechts wählen würden. Er gedachte an der ersten besten Stelle über den Alasan zu setzen, am anderen Ufer, wo ihn niemand vermuten würde, entlang zu reiten, bis er den Wald erreichte, dann wieder überzusetzen, auf die Straße zurückzukehren und nun erst seinen Weg in die Berge zu nehmen. Nachdem er diesen Entschluß gefaßt, nahm er sogleich seinen Weg nach links. Doch zeigte es sich, daß es unmöglich war, an den Fluß zu gelangen. Das Reisfeld, das er passieren mußte, war, wie stets im Frühling, unter Wasser gesetzt und in einen einzigen großen Sumpf umgewandelt, in dem die Beine der Pferde tief versanken. Chadschi Murat ritt mit seinen Begleitern bald dahin, bald dorthin, in der Hoffnung, einen trockeneren Weg zu finden, aber die Felder, auf die sie gerieten, waren alle in gleicher Weise überschwemmt und unpassierbar. Die Pferde konnten nur mit Mühe die versinkenden Beine aus dem schluckernden Morast ziehen, machten schwer keuchend ein paar Schritte und blieben immer wieder stehen. Eine ganze Zeitlang quälten sie sich auf diese Weise ab, ohne den Fluß zu erreichen. Da erblickten sie ein kleines Gehölz, aus niedrigem Buschwerk bestehend, das sich inselartig aus dem Reisfeld erhob. Dorthin beschloß Chadschi Murat sich zu wenden, um im Schutze der Sträucher die erschöpften Tiere ausruhen zu lassen und den Anbruch der Nacht abzuwarten. Sie erreichten das Gehölz, stiegen ab, fesselten die Pferde und ließen sie weiden. Sie selbst verzehrten das aus Brot und Käse bestehende Mahl, das sie mitgenommen hatten. Unentdeckt blieben sie hier bis zum Eintritt der Dunkelheit. Der im ersten Viertel stehende Mond, der zuerst geschienen hatte, war hinter die Berge gegangen, und die Nacht war dunkel. Es gab um Nucha herum besonders viele Nachtigallen, und auch in dem Gehölz ließen sich jetzt einige vernehmen, nachdem sie anfänglich, solange die Reiter mit ihren Pferden sich hin und her bewegten, still geblieben waren. Unwillkürlich lauschte Chadschi Murat, während er besorgt in die Nacht hinausspähte, ihrem Gesange.
Und er dachte an den Nachtigallensang und das Lied von Hamsat, das ihn heute Nacht, als er im Hausflur sich Wasser holte, so gefesselt hatte. Jeden Augenblick konnte es ihm jetzt ebenso ergehen wie jenem Hamsat. Eine Ahnung beschlich ihn, daß sein Schicksal das gleiche sein würde, und tiefer Ernst senkte sich in seine Seele. Er breitete seinen Filzmantel auf der Erde aus und verrichtete sein Gebet. Kaum hatte er es beendet, als sich in der Ferne ein Geräusch vernehmen ließ, das sich dem Gehölz zu nähern schien. Es rührte, wie ihm vorkam, von zahlreichen Hufen her, die durch das feuchte Reisfeld dahergewatet kamen. Der scharfäugige Bata lief an den Rand des Gehölzes und sah im Dunkeln die Schatten von Reitern und Fußgängern. Chanefi, der auf der anderen Seite des Gehölzes Ausschau hielt, sah auch dort Reiter und Fußgänger, die näher und näher kamen. Das war Karganow, der Kommissar des Bezirks, mit seinen Milizen.
»Wohlan, so werden wir kämpfen, wie Hamsat«, dachte Chadschi Murat.
Nachdem das Alarmzeichen ertönt war, hatte Karganow sich mit etwa hundert Milizen und Kosaken an die Verfolgung Chadschi Murats gemacht, doch konnte er nirgends eine Spur von ihm entdecken. Schon hatte er enttäuscht und hoffnungslos den Rückweg angetreten, als er kurz vor Anbruch des Abends einem Greise begegnet war, den er befragte, ob er keine Berittenen gesehen habe. Der Alte erwiderte, er habe wohl welche gesehen, sechs Reiter habe er gesehen, die in den Reisfeldern hin und her geritten seien und dann in das Gehölz, in dem er Reisig sammelte, gekommen seien. Karganow ließ sogleich kehrt machen, nahm den Alten mit und rückte bis in die Nähe des Gehölzes vor, wo ihm die gefesselten Pferde zu Gesicht kamen und Chadschi Murats Anwesenheit verrieten. Er wartete, bis die Nacht hereinbrach, verteilte dann seine Mannschaften im Kreise um das Gehölz und sah dem anbrechenden Morgen entgegen, der ihm Chadschi Murat tot oder lebendig in die Hände liefern sollte.
Als Chadschi Murat begriffen hatte, daß er vom Gegner eingekreist sei, suchte er einen mitten im Gehölz befindlichen trockenen alten Graben auf: hier wollte er sich mit den Seinigen verschanzen und sich so lange verteidigen, als sein Kugelvorrat und seine Kräfte reichten. Er teilte seinen Plan den Genossen mit und befahl ihnen, einen Wall um den Graben herum zu errichten. Die Muriden begannen sogleich, Zweige abzuhauen und mit ihren Dolchen, so gut es ging, Erde aufzuschütten. Chadschi Murat arbeitete selbst eifrig mit. Als der Morgen dämmerte, ritt der Befehlshaber der Milizen vor das Gehölz und rief mit lauter Stimme: »Heda, Chadschi Murat, ergib dich! Unser sind viele, und ihr seid nur wenige.«
Als Antwort fiel ein Schuß aus dem Graben, ein Rauchwölkchen stieg auf, und unter einem der Milizsoldaten brach das Pferd zusammen. Gleich darauf krachten die Büchsen der Milizen, die am Rande des Gehölzes aufgestellt waren, und ihre Kugeln pfiffen, Laub und Zweige niederreißend, durch die Büsche, trafen jedoch keinen der in dem Graben Verschanzten, sondern schlugen wirkungslos in den Verhau, den die Muriden errichtet hatten. Nur Hamsalos Pferd, das zu weit abseits gegangen war, wurde verwundet. Die Kugel hatte es am Kopfe getroffen, es war jedoch nicht zusammengebrochen, sondern hatte die Fessel zerrissen und war, das junge Gras mit seinem Blute färbend und mit lautem Krachen die Büsche durchbrechend, zu den anderen Pferden hingestürmt. Chadschi Murat und seine Leute schossen nur immer dann, wenn einer von den Milizsoldaten sichtbar wurde, und sie verfehlten nur selten ihr Ziel. Drei Mann von den Milizen waren bereits verwundet. Die Milizen verspürten durchaus keine Lust, sich auf Chadschi Murat und seine Leute zu stürzen, sie entfernten sich im Gegenteil immer weiter von ihnen und schossen ins Geheg hinein aus der Ferne. So verging wohl eine gute Stunde. Die Sonne war bereits über den Horizont getreten, und Chadschi Murat dachte schon daran, sein Pferd zu besteigen und den Versuch zu machen, sich bis zum Flusse durchzuschlagen, als sich das laute Geschrei einer neu angelangten großen Milizabteilung vernehmen ließ. Es war Chadschi Aga von Mechtulinsk, der mit seinen Leuten angelangt war. Es waren ihrer wohl an die zweihundert Mann. Chadschi Aga war dereinst mit Chadschi Murat befreundet gewesen und hatte mit ihm zusammen in den Bergen gelebt, doch war er dann zu den Russen übergegangen. Mit ihm war auch Achmet Chan gekommen, dessen Vater mit Chadschi Murat verfeindet war. Ebenso wie Karganow leitete auch Chadschi Aga sein Vorgehen damit ein, daß er Chadschi Murat aufforderte, sich zu ergeben, was dieser wiederum durch einen Schuß beantwortete.
»Die Säbel heraus, Kinder!« rief Chadschi Aga, und die Milizen warfen sich mit lautem Geschrei auf das Gebüsch. Doch hinter dem Wall hervor knallten nacheinander ein paar Schüsse, und drei Mann fielen wieder zu Boden. Die Heranstürmenden machten Halt, gingen an den Rand des Gehölzes zurück und schossen von dort aus auf die Verschanzung. Von neuem gingen sie dann, hinter Büschen Deckung suchend, vor, und während ein Teil von ihnen ganz in die Nähe vordrang, fielen andere unter den Kugeln Chadschi Murats und seiner Muriden. Chadschi Murat schoß nicht eine Kugel umsonst ab und auch Hamsalo traf fast immer und stieß jedesmal einen Freudenschrei aus, wenn er sah, daß er gut geschossen hatte. Chan Mahoma saß am Rande des Grabens, sang laut sein »Illach il allah« und schoß ohne Hast, traf jedoch nur selten. Eldar bebte an allen Gliedern vor Ungeduld, sich mit dem Dolche auf die Feinde zu stürzen, schoß häufig und mit wechselndem Erfolge und sah immer wieder auf Chadschi Murat oder steckte den Kopf aus dem Graben. Der zottige Chanefi hatte die Ärmel aufgestreift und verrichtete auch hier die Arbeit eines Dieners. Er lud die Büchsen, die ihm Chadschi Murat und Chan Mahoma reichten, schüttete trockenes Pulver auf die Pfannen und schob die Kugeln samt den eingefetteten Pfropfen mit dem eisernen Ladestock in die Läufe. Bata hielt es in dem Graben nicht aus, er lief zu den Pferden hin und suchte sie an einen sicheren Platz zu treiben, wobei er unaufhörlich kreischte und aus freier Hand, ohne Stütze, schoß. Er wurde zuerst verwundet. Die Kugel traf ihn in den Hals, und er setzte sich nieder und begann, während er Blut spuckte, laut zu schimpfen. Dann erhielt Chadschi Murat einen Schuß in die Schulter. Er riß ein Stück Watte aus seinem Beschmet, verstopfte damit die Wunde und fuhr fort zu schießen.
»Greifen wir doch zu den Säbeln!« rief Eldar schon zum dritten Male. Er schaute hinter dem Wall hervor und wollte sich schon auf die Feinde werfen, da traf ihn eine Kugel, und er wankte und fiel kopfüber gerade auf Chadschi Murats Bein. Chadschi Murat sah ihn an: die schönen Widderaugen waren fest und ernst auf ihn gerichtet. Der Mund mit der vorspringenden Oberlippe zuckte, ohne sich zu öffnen. Chadschi Murat zog sein Bein unter dem leblosen Körper hervor und fuhr fort zu schießen.
Chanefi beugte sich über Eldars Leichnam und nahm die noch nicht abgeschossenen Patronen aus seiner Tscherkeska.
Chan Mahoma fuhr inzwischen fort zu singen, langsam zu laden und zu zielen. Die Feinde kamen, sprungweise von Busch zu Busch vorgehend, unter Schreien und Kreischen immer näher. Noch eine zweite Kugel traf Chadschi Murat, diesmal in die Seite. Er legte sich im Graben hin, zog wieder ein Stück Watte aus seinem Beschmet und verstopfte damit die Wunde. Diese zweite Wunde war tödlich, und Chadschi Murat fühlte, daß er sterben würde. Bilder der Erinnerung traten in rascher Folge vor seine Seele. Er sah den starken Abununzal Chan vor sich, wie er, mit der einen Hand die abgeschlagene, herunterhängende Backe festhaltend, sich mit dem Dolche auf die Feinde stürzte, und er sah den blutleeren, hinfälligen alten Woronzow mit seinen listigen Augen und seiner glatten Zunge, und seinen Sohn Jussuf, und seine Gattin Sofiat, und das bleiche Gesicht seines Todfeindes Schamyl mit dem roten Bart und den halbgeschlossenen Lidern. Und alle diese Erinnerungen jagten rasch an seinem Geiste vorüber, ohne irgendeine Empfindung, sei es Mitleid oder Haß, oder sonst etwas, in ihm hervorzurufen. Alles das erschien so nichtig im Vergleich zu dem, was jetzt für ihn beginnen sollte oder schon begonnen hatte. Er raffte seine letzte Kraft zusammen, richtete sich hinter dem Schutzwalle auf, schoß seine Pistole auf einen vorübereilenden Milizsoldaten ab und traf ihn. Der Getroffene brach zusammen. Nun kroch Chadschi Murat vollends aus dem Graben heraus und ging, schwerfällig hinkend, mit dem Dolche in der Faust, dem Feinde gerade entgegen. Ein paar Schüsse wurden auf ihn abgegeben, und er wankte und stürzte zu Boden. Eine Anzahl Milizen warfen sich unter lautem Siegesgeschrei auf den Körper des Gefallenen. Doch der, den sie für tot hielten, bewegte sich plötzlich. Zuerst erhob sich der blutige Kopf, von dem die Lammfellmütze heruntergefallen war, und dann reckte sich der Rumpf in die Höhe und richtete sich, mit den Armen einen Baumstamm umfassend, langsam empor. So entsetzlich war dieser Anblick, daß alle, die herbeigeeilt waren, wie erstarrt dastanden. Doch plötzlich ging ein Beben durch Chadschi Murats Körper, er ließ den Baum los, fiel so in seiner ganzen Länge, wie eine Distel, die die Sense getroffen, mit dem Gesicht voran, auf die Erde und rührte sich nicht mehr. Aber wenn er sich auch nicht mehr regte, so fühlte er doch noch immer. Als Chadschi Aga, der zuerst auf ihn zugeeilt war, ihn mit seinem großen Dolche über den Kopf schlug, war ihm, als schlüge man ihn mit einem Hammer über den Schädel, und er konnte nicht begreifen, wer das tat, und warum es geschah. Es war die letzte Empfindung, die ihn noch mit seinem Körper verband. Dann fühlte er gar nichts mehr, und das, was da von den Feinden mit Füßen getreten und zerhackt wurde, hatte nichts mehr mit ihm gemein. Chadschi Aga trat ihm auf den Rücken, schlug ihm mit zwei Hieben den Kopf ab und stieß ihn vorsichtig, um sich die Schuhe nicht blutig zu machen, mit dem Fuße zur Seite. Das hellrote Blut, das der Halsschlagader entströmte, färbte, mit dem schwarzen Blute der Kopfwunden vermischt, das Gras.
Wie der Jäger über dem getöteten Wild, so standen Karganow, Chadschi Aga und Achmet Chan über den Leibern Chadschi Murats und seiner gefallenen Muriden. Chanefi, Chan Mahoma und Hamsalo waren überwältigt und gefesselt worden. Im Pulverdampf durch die Büsche streifend, unterhielten sich die Sieger höchst vergnügt und freuten sich ihres Triumphes.
Die Nachtigallen, die während des Feuerns geschwiegen hatten, begannen jetzt wieder zu schlagen – zuerst die eine in nächster Nähe und dann die andern weiter im Gehölz.
*
Der Tod dieses Menschen war es, den mir die zertretene Distel auf dem frischgepflügten Acker ins Gedächtnis rief.
Ende