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Jetzt ist's genug, jetzt ist's Zeit, daß ich bete«, sagte Chadschi Murat, nahm aus der inneren Brusttasche seiner Tscherkeska die Uhr, die ihm Woronzow geschenkt hatte, drückte vorsichtig gegen die Sprungfeder, neigte den Kopf zu der Uhr hinab und lauschte mit kindlichem Lächeln auf ihre Schläge. Die Uhr schlug zwölf und ein Viertel darüber.
»Von meinem Freunde Woronzow, ein Gastgeschenk«, sagte er lächelnd.
»Eine sehr schöne Uhr«, meinte Loris Melikow. »Bete also jetzt, ich will so lange warten.«
»Wie du willst«, sagte Chadschi Murat und begab sich in sein Schlafzimmer.
Als Loris Melikow allein war, schrieb er das, was Chadschi Murat ihm erzählt hatte, in den Hauptzügen nieder, zündete sich dann eine Zigarette an und begann im Zimmer auf und ab zu gehen. Als er in die Nähe der Tür kam, die der Schlafzimmertür gegenüberlag, hörte er ein paar Stimmen, die sich in tatarischer Sprache lebhaft über irgend etwas unterhielten. Er vermutete, daß es Chadschi Murats Muriden seien, die da drinnen sprachen, und er öffnete die Tür und ging zu ihnen hinein.
In dem Zimmer verspürte er jenen auffallenden säuerlichen Ledergeruch, der den Bergbewohnern eigentümlich ist. Am Fenster saß auf einem über den Fußboden gebreiteten Filzmantel in einem zerrissenen, unsauberen Beschmet der einäugige, rothaarige Hamsalo und flocht an einem ledernen Zaumzeug. Er sprach gerade mit seiner heiseren Stimme sehr eifrig über irgend etwas, verstummte jedoch sogleich bei Loris Melikows Eintritt und fuhr, ohne den Eintretenden irgendeiner Aufmerksamkeit zu würdigen, in seiner Arbeit fort. Ihm gegenüber stand der muntere Chan Mahoma, zeigte lachend seine weißen Zähne und wiederholte immer wieder irgend etwas, wobei seine wimperlosen schwarzen Augen nur so blitzten. Der schöne Eldar hatte die Ärmel an seinen kräftigen Armen emporgestreift und säuberte eben die Bauchgurte an einem Sattelzeug, das an der Wand von einem Nagel herabhing. Chanefi, der die Wirtschaft zu besorgen hatte, war nicht im Zimmer – er bereitete in der Küche das Mittagsmahl.
»Worüber streitet ihr denn?« fragte Loris Melikow den lustigen Chan Mahoma, nachdem er die drei begrüßt hatte.
»Er weiß immer nur den Schamyl zu loben«, antwortete Chan Mahoma und schüttelte dem Adjutanten die Hand. »Er sagt, daß Schamyl ein großer Mann sei. Er sei gelehrt und heilig, und ein Dschigit.«
»Ja – wie denn? Er hat ihn doch verlassen, und er rühmt ihn noch immer?«
»Er hat ihn verlassen – und rühmt ihn!« bestätigte Chan Mahoma mit blitzenden Augen und grinste dabei.
»Du hältst ihn wohl auch für heilig – wie?« fragte Loris Melikow den Einäugigen.
»Wenn er nicht heilig wäre, würde das Volk ihm nicht gehorchen«, versetzte Hamsalo rasch.
»Mansur war heilig, aber Schamyl ist es nicht«, sprach Chan Mahoma. »Das war ein wirklicher Heiliger. Als er Imam war, war das ganze Volk ein anderes. Er ritt in den Dörfern umher, und das Volk kam zu ihm heraus, um den Zipfel seiner Tscherkeska zu küssen, und es bereute seine Sünden und schwur, nichts Böses mehr zu tun. Noch jetzt erzählen die alten Leute, wie die Menschen damals lebten – ganz wie die Heiligen, rauchten nicht, tranken nicht, ließen kein Gebet aus, verziehen einander jede Beleidigung, ließen selbst die Blutrache ruhen. Fanden sie Geld oder sonstige Sachen, so banden sie das Gefundene an Stangen, die sie an den Weg stellten. Damals gab Gott dem Volke auch den Erfolg in allen Dingen, nicht so wie jetzt«, sagte Chan Mahoma.
»Auch jetzt wird in den Bergen nicht getrunken noch geraucht«, meinte Hamsalo.
»Dein Schamyl ist ein Lamorej«, sagte Chan Mahoma, während er Loris Melikow listig zublinzelte.
Lamorej war eine verächtliche Bezeichnung der Bergbewohner.
»Nenne ihn meinetwegen einen Lamorej«, sagte Hamsalo. »Ich weiß jedenfalls, daß in den Bergen die Adler wohnen.«
»Das hat er gut gesagt – ein schlagfertiger Bursche!« sagte Chan Mahoma lachend, offenbar erfreut über die treffende Antwort seines Gegners.
Als er in Loris Melikows Hand das silberne Zigarettenetui erblickte, bekam er plötzlich Lust zu rauchen und bat um eine Zigarette. Loris Melikow sagte, es sei ihnen doch verboten zu rauchen. Da blinzelte Chan Mahoma mit einem Kopfnicken nach Chadschi Murats Schlafzimmer hin und meinte, solange er es nicht sehe, könne es schon gewagt werden. Und er begann sogleich zu rauchen, wobei er den Rauch nicht tief einzog, sondern sogleich wieder in ungeschickter Weise zwischen den roten Lippen hervorblies.
»Das ist unrecht von dir«, sagte Hamsalo mit strafendem Blick und verließ das Zimmer. Chan Mahoma blinzelte pfiffig hinter ihm her, und als er seine Zigarette zu Ende geraucht hatte, fragte er Loris Melikow, wo er wohl am besten einen seidenen Beschmet und eine weiße Lammfellmütze kaufen könne.
»Hast du denn so viel Geld?« fragte der Adjutant.
»Es wird wohl dazu reichen«, entgegnete Chan Mahoma.
»Frag' ihn einmal, woher er das Geld hat«, sagte Eldar, sein lächelndes, hübsches Gesicht nach Loris Melikow hinwendend.
»Ich habe im Spiel gewonnen«, sagte Chan Mahoma rasch.
Und er erzählte, wie er gestern, als er in den Straßen von Tiflis spazieren ging, auf einen Haufen von Russen und Armeniern gestoßen sei, die »Schrift oder Adler« spielten. Der Satz sei recht groß gewesen: drei Goldmünzen und eine ganze Menge Silbergeld. Chan Mahoma hatte das Spiel rasch begriffen, war, mit den Kupfermünzen in seiner Tasche klimpernd, mitten in den Kreis der Spieler getreten und hatte aufs Ganze gehalten.
»Wie denn – aufs Ganze? Hattest du denn so viel Geld?« fragte Loris Melikow.
»Zwölf Kopeken hatte ich im ganzen«, antwortete Chan Mahoma mit vergnügtem Grinsen.
»Und wenn du verloren hättest?«
»Dann hatte ich diese hier«, sagte Chan Mahoma, auf seine Pistole zeigend.
»Die würdest du hingegeben haben?«
»Wozu denn? Weggelaufen wäre ich, und wäre mir einer nahegekommen, dann hätte ich ihn getötet. Abgemacht.«
»Und du hast gewonnen?«
»Ei ja, ich steckte alles ein und ging davon.«
Über Chan Mahoma und Eldar war Loris Melikow sich vollkommen klar. Chan Mahoma war ein lustiger Bursche, der gern über die Stränge schlug und nicht wußte, was er mit seinem Überschuß an Lebenskraft beginnen sollte – immer vergnügt, leichtsinnig, mit dem eigenen Leben wie mit dem fremden spielend. Diese Lust am Spiel mit dem Leben mochte ihn auch bestimmt haben, zu den Russen überzugehen, wie sie ihn vielleicht morgen bestimmen würde, wieder zu Schamyl zurückzukehren.
Auch in Eldars Wesen war nichts Rätselhaftes: er war ein ruhiger, starker, zuverlässiger Mensch, seinem Murschid bis in den Tod ergeben. Ein Rätsel blieb Loris Melikow nur der rothaarige Hamsalo. Loris Melikow sah, daß dieser Mensch nicht nur im Innern noch zu Schamyl hielt, sondern daß er auch allen Russen gegenüber einen flammenden Haß und Abscheu empfand. Er konnte daher nicht begreifen, warum er eigentlich zu den Russen übergegangen war. Er schöpfte den Verdacht – der auch bereits in einigen anderen russischen Offizieren aufgestiegen war –, daß Chadschi Murats Übertritt und alles, was er von seiner Feindschaft mit Schamyl erzählte, nichts als List und Täuschung sei, daß er nur gekommen sei, um die Schwächen der russischen Stellung auszukundschaften und dann, nachdem er wieder in die Berge geflohen, alle Kräfte gegen die schwachen Punkte zu richten. Hamsalos ganzes Wesen erschien dem Adjutanten als eine Bestätigung dieser Vermutung. »Diese beiden da, und Chadschi Murat selbst, wissen ihre Absichten zu verbergen,« dachte Loris Melikow, »jener Rotkopf aber verrät sich durch seinen unverhohlenen Haß.«
Loris Melikow versuchte es, auch Hamsalo zum Sprechen zu bringen. Er fragte ihn, ob er sich nicht langweile. Doch jener sah ihn nur mit seinem einen Auge scheel von der Seite an, und ohne auch nur einen Augenblick seine Flechtarbeit zu unterbrechen, brüllte er mit seiner heiseren Stimme drauflos: »Nein, ich langweile mich nicht.« Und von ähnlicher Art waren auch alle übrigen Antworten, die er gab.
Während Loris Melikow noch im Zimmer der Muriden Chadschi Murats weilte, trat auch Chanefi, der Aware, mit dem haarbedeckten Gesicht und Nacken und der zottigen, wie von Moos überwucherten Brust ins Zimmer. Er war ein Mensch, der nicht viel nachdachte, ein rüstiger Arbeiter, der gehorsam die Arbeit verrichtete, die sein Herr ihm aufgab, und ganz in dieser Arbeit aufging.
Als er jetzt hereinkam, um Reis zum Mahl zu holen, sprach Loris Melikow ihn an und fragte, woher er sei, und wie lange er Chadschi Murat schon diene.
»Fünf Jahre,« antwortete Chanefi. »Ich bin aus demselben Dorfe wie er. Mein Vater hatte meinen Oheim getötet, und sie wollten mich dafür töten«, erzählte er ruhig, während sein Blick unter den zusammengewachsenen Brauen hervor auf Loris Melikow fiel. »Da bat ich Chadschi Murat, er solle mich als Bruder annehmen.«
»Was heißt das: ›als Bruder annehmen‹?«
»Ich ließ zwei Monate lang meinen Kopf unrasiert und meine Nägel unbeschnitten und kam dann zu ihm. Er ließ mich zu Patimat, seiner Mutter, hinein. Patimat reichte mir die Brust, und so wurde ich sein Bruder.«
Im anstoßenden Zimmer ließ sich Chadschi Murats Stimme vernehmen. Eldar hörte seinen Ruf, säuberte rasch seine Hände und ging zu seinem Murschid hinein.
»Er bittet einzutreten«, sagte Eldar, zu Loris Melikow zurückkehrend. Dieser gab dem lustigen Chan Mahoma noch eine Zigarette und ging dann zu Chadschi Murat in das Gastzimmer zurück.