Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Woronzow war recht zufrieden damit, daß er, gerade er, das Glück gehabt hatte, diesen Erzfeind Rußlands, der nach Schamyl der mächtigste Mann in diesen Landen war, aus den Bergen herauszulocken und zu empfangen. Nur eins war dabei unangenehm: Der Oberbefehl über die Truppen in Wosdwischenskoje lag in den Händen des Generals Meller Sakomelskij, und die ganze Angelegenheit gehörte eigentlich in dessen Ressort. Woronzow hatte auf eigene Faust gehandelt, ohne ihm Meldung zu machen. Es konnte also leicht Unannehmlichkeiten geben. Dieser Gedanke verbitterte ihm ein wenig die Freude über seinen Erfolg.
Als der Fürst mit seinem Gefolge und den Gästen vor seinem Hause angelangt war, übergab er die Muriden Chadschi Murats der Obhut des Regimentsadjutanten, während er Chadschi Murat selbst in sein Haus geleitete.
Die Fürstin Maria Wassiljewna hatte ihr Staatskleid angelegt und erwartete mit ihrem sechsjährigen Sohne, einem hübschen lockenhaarigen Bürschchen, Chadschi Murat in ihrem Salon. Lächelnd empfing sie den Gast, der, die Arme über der Brust kreuzend, vor ihr stand. Chadschi Murat ließ ihr durch den Dolmetscher, der mit ihm gekommen war, in feierlicher Weise erklären, er betrachte sich für einen Freund des Fürsten, da dieser ihn in sein Haus aufgenommen habe, und die Familienmitglieder des Freundes seien ihm gleich teuer wie der Freund selbst. Chadschi Murats Äußeres sowohl wie sein Benehmen gefielen Maria Wassiljewna. Daß er verlegen ward und errötete, als sie ihm ihre große weiße Hand reichte, nahm sie nur noch mehr für ihn ein. Sie ersuchte ihn, Platz zu nehmen, fragte ihn, ob er Kaffee trinke, und ließ, bevor er geantwortet hatte, welchen kommen. Man brachte den Kaffee, doch Chadschi Murat trank nicht. Er verstand ein wenig Russisch, konnte diese Sprache jedoch nicht selbst sprechen, und wenn er etwas nicht verstand, lächelte er kindlich verlegen. Und dieses Lächeln gefiel Maria Wassiljewna ebensosehr, wie es Poltorazkij gefallen hatte. Das lockenhaarige Söhnchen der Fürstin, dem diese den Kosenamen Buljka gegeben hatte, stand neben der Mutter und verwandte keinen Blick von Chadschi Murat, der ihm stets als ein Krieger von seltener Tapferkeit geschildert worden war.
Woronzow ließ Chadschi Murat bei seiner Frau und begab sich nach der Kanzlei, um den vorgesetzten Stellen von der Ankunft Chadschi Murats Meldung zu machen. Er verfaßte einen Bericht an General Koslowskij, den in Grosnaja stationierten Befehlshaber des linken Flügels der kaukasischen Armee, und schrieb einen Brief an seinen Vater. Dann eilte er rasch nach Hause, in der Befürchtung, seine Frau könnte darüber ungehalten sein, daß er ihr diesen wildfremden, gefährlichen Menschen auf dem Halse gelassen, der einerseits nicht verletzt, andererseits wieder nicht gar zu freundlich behandelt werden durfte. Seine Furcht war jedoch grundlos gewesen. Chadschi Murat saß noch immer auf seinem Platze, hielt den kleinen Buljka, den Stiefsohn Woronzows, auf dem Schoße und hörte, den Kopf vorwiegend, mit Aufmerksamkeit auf den Dolmetscher, der ihm die Worte der lächelnden Fürstin übersetzte. Maria Wassiljewna hatte ihm soeben sagen lassen, er solle doch nicht jedes Stück seines Besitztums, das irgendeinem Freunde gefiel, gleich so ohne weiteres weggeben, sonst würde er bald so nackt wie Adam umhergehen.
Als der Fürst eintrat, nahm Chadschi Murat sogleich den darob sehr erstaunten und beleidigten Buljka vom Schoße und richtete sich empor, wobei der sorglos launige Ausdruck seines Gesichtes verschwand und eine ernste, strenge Miene an dessen Stelle trat. Er setzte sich erst wieder, als auch Woronzow Platz genommen hatte. Er nahm den Faden des Gespräches mit Maria Wassiljewna wieder auf und erklärte ihr, es bestehe bei ihnen ein solches Gesetz, daß alles, was einem Freunde gefalle, ihm auch hingegeben werden müsse.
»Dein Sohn sehr lieb, guter Freund,« sagte er auf Russisch, wählend seine Hand das Lockenhaar Buljkas streichelte, der sich ihm wieder auf den Schoß gesetzt hatte.
»Er ist ein ganz prächtiger Mensch, dein Räuberhauptmann,« bemerkte die Fürstin auf Französisch zu ihrem Gatten. »Buljka fand Gefallen an seinem Dolche, und er machte ihm das kostbare Stück sogleich zum Geschenk.«
Buljka zeigte dem Stiefvater den Dolch.
»Eine sehr wertvolle Waffe,« sagte Woronzow, gleichfalls auf Französisch. »Ich muß Gelegenheit finden, ihm ein Gegengeschenk zu machen.«
Chadschi Murat saß mit gesenktem Blicke da, streichelte immer wieder den Kopf des Knaben und murmelte dabei: »Dschigit, Dschigit!«
»Wirklich ein sehr schöner Dolch,« sagte Woronzow und zog die scharf geschliffene, damaszierte Klinge mit der Rinne in der Mitte halb aus der Scheide. »Bedank dich nur dafür!« sprach er zu dem Kleinen, und zum Dolmetscher gewandt, sagte er: »Frag' ihn, womit ich ihm dienen kann.«
Der Dolmetscher übersetzte seine Worte, und Chadschi Murat antwortete, daß er keine Wünsche habe, und nur darum bitte er, daß man ihm jetzt die Möglichkeit geben möchte, sein Gebet zu verrichten. Woronzow rief den Kammerdiener und befahl ihm, Chadschi Murat in ein Zimmer zu führen, in dem er ungestört beten könnte.
Als Chadschi Murat allein war, verwandelte sich sogleich der Ausdruck seines Gesichtes: an die Stelle der zufriedenen, zuvorkommend-feierlichen Miene, die es vorher gehabt hatte, trat ein Zug von tiefer Besorgnis.
Der Empfang, den ihm Woronzow bereitet, war weit besser, als er erwartet hatte. Aber je entgegenkommender dieser Empfang war, desto weniger traute Chadschi Murat Woronzow und seinen Offizieren. Er hatte alle möglichen Befürchtungen: daß man ihn einkerkern, ihn fesseln und nach Sibirien verschicken oder einfach töten würde, und er glaubte darum nicht vorsichtig genug sein zu können
Er fragte Eldar, der ihn aufsuchte, wo die Muriden untergebracht seien, wo sich die Pferde befänden, und ob man ihnen die Waffen abgenommen habe.
Eldar antwortete, die Pferde ständen im fürstlichen Marstall, und die Leute befänden sich in einem Schuppen, die Waffen habe man ihnen belassen, und für ihre Bewirtung mit Speise und Trank habe der Dolmetscher Sorge getragen.
Chadschi Murat schüttelte, während er seine Vorbereitungen zum Gebet traf, verwundert den Kopf. Nachdem er gebetet hatte, ließ er sich einen silbernen Dolch bringen, kleidete sich an, umgürtete sich und hockte in Erwartung der Dinge, die da kommen würden, auf dem niedrigen Diwan, der sich in dem Zimmer befand, nieder.
Es war in der fünften Stunde, als er zur Tafel beim Fürsten gerufen wurde.
Beim Mittagessen nahm Chadschi Murat nur etwas von einer Reisspeise, und zwar genau an derselben Stelle, an der auch die Fürstin sich bedient hatte.
»Er fürchtet, daß wir ihn vergiften könnten,« sagte die Fürstin zu ihrem Gatten. »Er hat von derselben Stelle genommen wie ich.«
Nach Tisch ließ sie Chadschi Murat durch den Dolmetscher fragen, wann er wieder beten würde. Chadschi Murat hob fünf Finger in die Höhe und zeigte nach der Sonne.
»Es ist bald so weit«, sagte Woronzow, zog seine kunstvoll gearbeitete Breguersche Taschenuhr hervor und drückte an einer Feder. Das Uhrwerk schlug drei Viertel auf fünf. Chadschi Murat hörte mit Staunen die feinen, klingenden Töne, er bat, die Uhr genauer betrachten und das Schlagwerk noch einmal vernehmen zu dürfen.
»Das scheint mir ein passendes Gegengeschenk für ihn, gib ihm die Uhr,« sagte die Fürstin auf Französisch zu ihrem Gatten.
Woronzow bot die Uhr sogleich Chadschi Murat an. Dieser kreuzte die Arme über seiner Brust und nahm die Uhr entgegen. Er setzte das Schlagwerk noch einige Male in Bewegung, lauschte auf den Klang der Uhr und nickte beifällig mit dem Kopfe.
Nach dem Mittagessen wurde dem Fürsten der Adjutant des Generals Meller Sakomelskij gemeldet. Der Adjutant hatte dem Fürsten auszurichten, daß der General, der inzwischen von der Ankunft Chadschi Murats gehört hatte, höchst ungehalten darüber sei, daß ihm davon keine Meldung gemacht worden. Er verlange nun, daß Chadschi Murat ihm sogleich übergeben würde. Woronzow entgegnete, der Befehl des Generale würde erfüllt werden, ließ Chadschi Murat durch den Dolmetscher den Wunsch des Generals übermitteln und bat ihn, mit ihm zusammen zu Meller zu gehen.
Als die Fürstin hörte, weshalb der Adjutant gekommen sei, begriff sie sogleich, daß zwischen ihrem Gatten und dem General leicht Mißhelligkeiten entstehen konnten, und so beschloß sie, trotz aller Einwendungen des Fürsten, mit ihm und Chadschi Murat zusammen zum General zu gehen.
»Es ist besser, du bleibst hier – die Sache geht mich ganz allein an,« meinte Woronzow.
»Du kannst mich nicht hindern, der Frau Generalin einen Besuch abzustatten,« gab sie zur Antwort.
»Dazu ist jede andere Zeit ebenso gut geeignet.«
»Und ich will gerade jetzt hingehen.«
Er mußte sie gewähren lassen, und so begaben sie sich zu dreien nach der Wohnung des Generals.
Als sie dort ankamen, geleitete Meller die Fürstin halb mürrisch, halb ehrerbietig nach dem Zimmer seiner Frau, während er Chadschi Murat durch den Adjutanten nach dem Empfangszimmer führen ließ, das er bis auf weiteres nicht verlassen sollte.
»Ich bitte,« sagte er, nachdem er die Damen zusammengebracht, zu Woronzow und öffnete die Tür seines Kabinetts, in das er mit dem Fürsten eintrat.
Ohne den Fürsten zum Sitzen einzuladen, trat er mit finsterer Miene vor ihn hin und begann:
»Ich führe hier das Kommando und habe daher alle Unterhandlungen mit dem Feinde zu führen. Warum haben Sie mir die Ankunft Chadschi Murats nicht gemeldet?«
»Chadschi Murat sandte einen Boten zu mir, mit der Ankündigung, daß er sich mir persönlich ergeben wolle,« antwortete Woronzow, ganz bleich vor Erregung. Er war auf einen heftigen Ausfall des ergrimmten Generals gefaßt, dessen zornige Erregung in ihm das gleiche Gefühl wachrief.
»Ich frage, warum Sie mir keine Meldung erstattet haben?«
»Ich hatte die Absicht, es zu tun, Baron, indes . . .«
»Ich bin für Sie nicht der Baron, sondern die Exzellenz,« platzte der General heraus, und sein ganzer, lange zurückgehaltener Ärger kam alsbald zum Durchbruch. Alle Unzufriedenheit, die sich in seiner Seele angesammelt hatte, drang mit Gewalt an die Oberfläche. »Habe ich meinem Kaiser«, fuhr er fort, »vielleicht darum siebenundzwanzig Jahre lang treu gedient, daß mir nun junge Leute von gestern, die sich auf ihre verwandtschaftlichen Beziehungen etwas zugute tun, in meine Dienstangelegenheiten hineinpfuschen?«
»Exzellenz, ich bitte Sie, solche ungerechte Anschuldigungen zu unterlassen,« unterbrach ihn Woronzow.
»Es ist nur die Wahrheit, was ich sage, und ich lasse mir das nicht länger gefallen,« versetzte der General, der immer erregter wurde.
In diesem Augenblick rauschte Maria Wassiljewna ins Zimmer, und hinter ihr her kam eine ältliche Dame von kleinem Wuchse und bescheidenem Aussehen herein – es war die Gattin Meller Sakomelskijs.
»Nun, lassen Sie schon gut sein, Baron – Simon hat nicht einen Augenblick daran gedacht, Ihnen irgendwelche Unannehmlichkeiten zu bereiten,« sagte Maria Wassiljewna.
»Das habe ich auch nicht behauptet, Fürstin . . .«
»Seien wir friedlich, General! Sie wissen: besser ein magerer Friede als ein fetter Streit. Das ist wenigstens meine Meinung«, versetzte sie lächelnd.
Der ergrimmte Krieger vermochte dem bezaubernden Lächeln der schönen Frau nicht zu widerstehen. Unter seinem mächtigen Schnurrbart zuckte gleichfalls ein Lächeln.
»Ich gebe zu, daß ich nicht richtig gehandelt habe,« sagte Woronzow, »indes . . .«
»Na, und ich habe mich hinreißen lassen«, versetzte Meller und reichte dem Fürsten die Hand.
Der Friede war wiederhergestellt, und es ward beschlossen, daß Chadschi Murat einige Zeit unter Mellers Obhut bleiben und dann dem Befehlshaber des linken Flügels, General Koslowskij, übergeben werden sollte. Chadschi Murat hatte, während die beiden Offiziere miteinander stritten, im anstoßenden Empfangszimmer gesessen, und wenn er auch nicht verstand, was gesprochen wurde, so begriff er doch so viel, daß der Streit sich um seine Person drehte, daß sein Abfall von Schamyl für die Russen von großer Bedeutung war, und daß er, wenn sie ihn nicht verschickten oder töteten, für seinen Übertritt einen hohen Preis fordern könne. Er hatte auch begriffen, daß Meller Sakomelskij, obschon er den höheren Rang bekleidete, doch nicht den gleichen Einfluß wie der ihm untergebene Woronzow besaß, daß er sich daher an Woronzow und nicht an Meller Sakomelskij zu halten habe. Als nun Meller Sakomelskij Chadschi Murat vor sich beschied und ihn über seine Absichten und Pläne befragte, nahm Chadschi Murat eine feierlich stolze Haltung an und sagte, er sei aus den Bergen niedergestiegen, um dem weißen Zaren zu dienen, und werde alles Weitere mit dem »Sardar«, dem Oberstkommandierenden Fürsten Woronzow in Tiflis, verabreden.