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Achtes Kapitel

Militärgefängnis

Das Gefängnis in der Leonrodstraße ist eines der ältesten in München. Die Büros und Korridore sind elektrisch beleuchtet, die Zellen ohne Licht. In diesen trüben Wintertagen beginnt für den Gefangenen die Nacht schon um drei Uhr nachmittags, sie währt bis in den späten Vormittag, nur einige Stunden am Tag sind so hell, daß er lesen kann.

 

Ich nutze die Zeit, ich lese Werke von Marx, Engels, Lassalle, Bakunin, Mehring, Luxemburg, Webbs. Eher aus Zufall denn aus Notwendigkeit war ich in die Reihen der streikenden Arbeiter geraten, was mich anzog, war ihr Kampf gegen den Krieg, jetzt erst werde ich Sozialist, der Blick schärft sich für die soziale Struktur der Gesellschaft, für die Bedingtheit des Krieges, für die fürchterliche Lüge des Gesetzes, das allen erlaubt zu verhungern, und wenigen gestattet, sich zu bereichern, für die Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit, für die geschichtsbildende Bedeutung der Arbeiterklasse.

Wieder denke ich an Stefan, den Freund meiner Kindheit, an seinen Haß gegen die Reichen, an die Antwort meiner Mutter, daß Armut gottgewollt sei. Die Erde hat Nahrung für alle in Fülle, des Menschen Geist fand Mittel und Wege, die Kräfte der Natur zu übermächtigen, Stein in wahrhaftes Gold zu wandeln, in Brot. Und doch sterben hier die Menschen vor Hunger, dort wird Weizen ins Meer geschüttet, hier prunken leer die Paläste, dort hat der Mensch keine Bleibe, hier verkümmern Kinder, dort werden Güter verbrecherisch vertan, die Stätten des Geistes bleiben den Besitzlosen verschlossen, die edelsten Kräfte der Menschheit werden verschüttet und zerbrochen, Opfer, maßlos, fordern die falschen Götzen. Unvernunft und Blindheit beherrschen die Völker, und die Völker dulden ihre Herrschaft, weil sie dem Geist, der Vernunft mißtrauen, die das chaotisch Planlose dämmen und ordnen und schöpferisch formen könnten. Weil der Mensch organisch wächst, nennt er seine Golems, Wirtschaft und Staat, organische Gebilde, so beschwichtigt er sein schlechtes Gewissen – denn ist er nicht hilflos vor der unfaßbaren und undämmbaren Allmacht einer Welt, die den Tod als unentrinnbares Schicksal birgt? Tief in ihm bohrt und nagt die Lebensangst, er liebt die Freiheit, aber er fürchtet sich vor ihr, und eher erniedert er sich und schmiedet sich selbst die Knechtfesseln, als daß er wagt, frei und verantwortlich zu schaffen und zu atmen.

 

Jeden Tag darf ich eine halbe Stunde auf dem steinernen Gefängnishof umhergehen, an Sträuchern schwellen die ersten Knospen, armselig und verkümmert sind diese Sträucher, jetzt beglücken sie mich, als hätten sie die Leuchtkraft blühender Rhododendren. Verse bilden sich mir auf diesem Hof, die »Lieder der Gefangenen«, die letzten Szenen der »Wandlung«.

 

Die Zellen sind verschmutzt und verwanzt, Dutzende von Gefangenen wechseln einander ab, ohne daß die Bezüge der Pritschen, auf denen sie schlafen, erneuert werden. Wir essen Kriegsbrot, mit Kleie vermischt, Kohlrübensuppe, Kohlrübenmarmelade, Kohlrübengemüse, einmal, am Sonntag, Graupensuppe mit einem winzigen Stück Fleisch darin, immer sind wir hungrig.

 

Wir sind Gefangene, aber wir bleiben Soldaten, wir dürfen tagsüber unsere Schuhe nicht ausziehen, wir dürfen nicht mehr als einen Knopf des Uniformrocks öffnen, jeder Verstoß gegen die »Hausordnung« wird streng bestraft.

Das Gefängnis ist mit Deserteuren überfüllt, um Platz für neue Gefangene zu schaffen, stellt man die Soldaten vor die Wahl, sich für die Front oder fürs Zuchthaus zu entscheiden. Galt Frontdienst bisher als Ehrendienst, jetzt wird er dem Zuchthaus gleichgestellt.

Die Aufseher sind kriegsuntaugliche Landwehrleute, mit ihnen auszukommen, ist nicht schwer, aber die Bürounteroffiziere, die nie an der Front waren, behandeln uns mit zynischer Brutalität. Einmal sehe ich, wie einer dieser Unteroffiziere, klein, rotbackig, gesund, einen Soldaten, der drei Jahre lang an der Front gekämpft hat, mit Ohrfeigen traktiert, daß der baumlange Mensch wie ein Kind zu weinen anfängt. Oft fliehen die Gefangenen aus der Qual der höllischen Tage in den Tod. Sie schneiden sich mit Scherben die Pulsadern auf, sie zerreißen die Laken und binden aus den Streifen Stricke, sie stürzen sich übers Geländer der Treppe in den Steinkeller. Ich werde nie mehr jenen spitzen, tierischen Schrei vergessen, der eines Morgens meinen Schlaf zerstach, daß ich schreiend auffuhr und, mir selber fremd, zu schreien fortfuhr.

 

Zu mir sind die Aufseher freundlich, sie kommen in meine Zelle, sie fragen, wann der »Schwindel« endlich aufhört, sie erzählen von Weib und Kindern, von häuslicher Not. Wenn ich antworte, es läge an ihnen, den Krieg abzukürzen, zucken sie verlegen die Achseln und wiederholen, was feige Menschen immer sagen:

»Ja, wenn alle mitmachten.«

 

Auch die anderen Streikführer sind verhaftet, ich sehe niemand, wir hausen in strenger Isolierung. Die Behörden wagen nicht, zuzugeben, daß wir wegen unserer Beteiligung am Streik verhaftet wurden. Die rechtssozialistische »Münchener Post« schreibt, ich sei als Deserteur eingesperrt.

Besuche darf ich nicht empfangen, selbst der Anwalt wird nicht vorgelassen. Ich trete in den Hungerstreik, mir bleibt kein anderes Mittel, mich zu wehren.

Jeden Tag werde ich von neuem vernommen, am Ende liest der Schreiber mir ein Protokoll vor. Was ich sagte, ist entstellt und verzerrt, ich weigere mich, es zu unterschreiben. Der Kriegsgerichtsrat Schuler läßt mich strammstehen: »Ich gebe Ihnen den militärischen Befehl, das Protokoll zu unterschreiben.«

Ich rühre mich nicht.

»Ich werde Sie mit Wasser und Brot und Dunkelarrest bestrafen.«

Ich schweige.

Am nächsten Tag werde ich wieder gerufen.

»Unterschreiben Sie!«

»Nein«, sage ich, und vom Hunger, vom Fieber, von Zorn gepeitscht, springe ich auf ihn zu.

»Sie sind ein Schuft!« rufe ich und weiß im gleichen Augenblick, daß meine Lage trostlos ist, der Kriegsgerichtsrat ließ einem Freund Handschellen anlegen, weil er sich weigerte, seinen Namen unter das Protokoll zu setzen.

Der Kriegsgerichtsrat weicht zurück und lächelt trocken: »Gut, wenn Sie nicht unterschreiben, werde ich für die Richtigkeit zeichnen.«

 

Eines Tages wache ich mit schweren Gliedern auf, der Hals schmerzt, ich will mich von der Pritsche erheben, ohnmächtig falle ich hin.

Mittags kommt der Arzt, ein Jude. Er untersucht mich, man müsse alle Pazifisten an die Wand stellen, sagt er, dann verschreibt er Aspirin und verweigert dem Fiebernden eine zweite Decke.

Die Nacht liege ich in hohem Fieber, niemand kümmert sich um mich. Am nächsten Morgen kommt ein anderer Arzt, er gibt dem Sanitätsunteroffizier, der ihn begleitet, einen Auftrag, als der die Zelle verlassen hat, beugt er sich über mein Bett.

»Ich hasse den Krieg wie Sie, ich werde Ihnen helfen, jetzt schicke ich Sie ins Lazarett, später schreibe ich Sie haftunfähig.«

Hat der Arzt die Worte gesprochen, oder habe ich sie im Fieber gehört?

Der Sanitätsunteroffizier ist wieder eingetreten, der Arzt schreit, als pfeife er einen Simulanten an:

»Sie werden ins Militärlazarett überführt!«

 

Nachmittags bringt mich ein Krankenwagen ins Militärlazarett. Im Aufnahmezimmer sitzt ein chauvinistischer jüdischer Unteroffizier, ich solle meinem Schöpfer danken, grollt er, daß die Ärzte sich meiner annähmen, Deutschland habe ein Recht nicht nur auf Belgien, sondern auch auf Calais, wenn Deutschland die Stadt nicht behalte, würden die Engländer sie einstecken.

 

Die Krankenstube der Gefangenen hat Raum für zwei, aber wir sind sechs, Deserteure, Diebe, Meuterer, »Landesverräter«. Zwei liegen in Betten, vier auf Strohsäcken an der Erde, das Fenster ist verschlossen und vergittert, die Luft verpestet, ein Kübel dient den sechs Menschen, zweimal am Tage wird dieser Kübel geleert, morgens um halb sieben und abends um fünf. Den Mann neben mir quält ein Blasenleiden. Sein nasses Bett riecht wie eine Jauchegrube. Er liegt an der Tür, wenn die Eßnäpfe durch die Türklappe gereicht werden, packt er sie mit seinen aufgeweichten, gerillten Waschfrauenhänden. Mich würgt der Ekel, ich rühre das Essen nicht an.

 

Am nächsten Morgen, in großer Suite, hält der Oberstabsarzt seinen Einzug, begleitet vom Stabsarzt, vom Assistenzarzt, vom Unterarzt. Auf meinem Bett liegen die Gedichte von Werfel, die ich mir aus dem Gefängnis mitgenommen habe. Der Oberstabsarzt greift nach dem Buch, schlägt es auf und liest ein paar Zeilen:

»Schöpfe du, trage du, halte
tausend Gewässer des Lächelns in deiner Hand!
Lächeln, selige Feuchte ist ausgespannt
all übers Antlitz.«

»Wer solchen Quatsch liest, kann sich nicht wundern, wenn er im Gefängnis endet«, spricht der Oberstabsarzt und sieht die Suite an. Der Stabsarzt verneigt sich, der Assistenzarzt schlägt die Hacken zusammen, der Unterarzt nimmt stramme Haltung an und dienert in den Knien.

Die Visite ist beendet.

 

Ich sehne mich nach der Stille meiner schmutzigen, verwanzten Zelle, ein Paradies scheint sie mir gegen diese Hölle.

Am vierten Tag melde ich mich gesund. Als ich wieder in meiner Zelle bin, weine ich vor Freude.

 

Das vergitterte Fenster teilt den ewig grauen Winterhimmel in kleine trostlose Quadrate. Wenn ich mich am Sims hochziehe, sehe ich gegenüber die weiße Kaserne des Kriegsgerichts, darin die uniformierten Zuschneider des Rechts den Menschen graue Zuchthausjahre zumessen. Die Fenster im Erdgeschoß schmücken freundliche weiße Gardinen, dort wohnt der Pförtner. An einem Fenster die Gardinen teilen sich, neugierig reckt sich der Kopf eines Mädchens. Unsere Blicke begegnen einander. Der Kopf verschwindet, aber das leichte Schwanken der Gardinen verrät des Mädchens Gegenwart.

Am andern Morgen um die gleiche Zeit bin ich wieder am Gitter, wieder ist das Mädchen am Fenster. Jeden Tag um die gleiche Stunde wiederholt sich die zarte Begegnung. Wenn der Posten naht und Gefahr droht, winkt sie mir, sie erfindet die Sprache wortreicher Gesten, Augen und Lächeln sind Vokale, Hände und Schultern Konsonanten.

Eines Abends kreischen die Riegel vor der Zelle, die Tür wird aufgeschlossen, der Bürounteroffizier ruft meinen Namen.

»Werde ich in ein anderes Gefängnis transportiert?« frage ich.

»Raus!« schnauzt seine barsche Stimme.

Der Unteroffizier geht voran, ich folge ihm durch die Korridore, er öffnet die Tür zum Büro.

Unter der warmen Gaslampe am Tisch lehnt das Mädchen. Ich starre sie fassungslos an. Röte färbt ihr Gesicht. Verlegen blickt sie zu Boden.

Was ist geschehen?

Die Pförtnerstochter war die Freundin des Unteroffiziers. Sie wußte, wie alle in der Nachbarschaft, daß im Militärgefängnis »Politische« sitzen, romantische Abenteurer, Räuber der Volkslegenden, den Reichen Hab und Gut raubend, um es den Armen zu geben, Narren, die Frieden predigen, wenn die Völker Europas sich bekriegen, und wenn sogar der Herr Pfarrer verkündet, daß Gott mit seinen paukenden und posaunenden Engeln unser Heer begleitet, doch immerhin Leute, von denen die Zeitungen schreiben, gefährliche, interessante Leute.

Sie möchte gerne einen von ihnen kennenlernen, sie will es durchsetzen. Ist sie nicht die Braut des Aufsehers? Als sie ihren Bräutigam bittet, er solle sie heimlich ins Gefängnis mitnehmen, sie möchte sich den jungen Unteroffizier, den »Politischen«, anschauen, nimmt er die Bitte für Scherz und lacht sie aus. Am nächsten Abend will er wie immer zu ihr in die Kammer steigen, der Fensterladen ist mit Riegeln versperrt, er klopft, sie antwortet nicht. Wütend rennt er fort, schon hört er Stimmen aus dem Schlafzimmer der Eltern.

»Warum hast du mich gestern abend nicht zu dir gelassen, Marie?«

»Weil ich nicht wollte.«

»Darf ich heute abend kommen?«

»Ja, wenn du mich den Politischen sehen läßt.«

So macht sie ihn mürbe.

Am Sonntag hat er Dienst. Niemand außer ihm ist im Büro, am Tor den Landwehrmann besticht er mit Zigaretten.

Nach einer Stille sagt der Aufseher:

»Da hast deinen Politischen, bist jetzt zufrieden?«

Er setzt sich an den Tisch, nimmt eine Mundharmonika aus der Tasche und spielt die Tonleiter auf und ab, auf und ab.

»Wenn der Herr Aufseher spielen täte, könnten wir tanzen«, sage ich.

»Ich verbitte mir Ihre Frechheiten«, sagt der Herr Aufseher.

»Gleich spielst«, sagt das Mädchen.

Der Herr Aufseher duckt sich, denkt an das verschlossene Fenster, lächelt säuerlich, setzt die Mundharmonika an die Lippen und spielt einen Walzer.

»Bitte«, sage ich.

»Ich bin so frei«, sagt das Mädchen.

Wir tanzen zur Walzermusik des Herrn Aufsehers um den Tisch, und wenn wir uns den Wänden nähern, an denen Ketten und Handschellen und Fußfesseln hängen, stoße ich mit dem Fuß danach, und das Klirren der Eisenringe begleitet den Tanz. Die Musik bricht ab, der Aufseher wendet sich um und lauscht.

»Willst nicht weiterspielen?« fragt drohend das Mädchen.

»Blöde Gans! Da kommt die Kontroll. Das kost mir mei Stell! Marsch in Ihre Zelle!« fährt er mich an, und zu dem Mädchen gewandt: »Du mit!«

Er schiebt mich aus der Stube. Ich laufe in meine Zelle, das Mädchen folgt, und wie wir die Zellentür hinter uns schließen, fällt mir das Mädchen um den Hals, und wir küssen uns. Aber schon öffnet der Aufseher die Tür.

»Es war nix. Glei kimmst aussa. Jetzt hab i gnua!«

 

Der freundliche Arzt zeigt sich nicht mehr, doch er hat sein Versprechen nicht vergessen. Eines Tages werde ich zu ihm geführt. Zeternd und brüllend untersucht er mich, einige Tage später werde ich wegen Haftunfähigkeit zum Ersatzbataillon nach Neu-Ulm entlassen.

 

Ich laufe im Frühlingsabend durch die blühenden Kastanienalleen.

Frei. Allein. Ich bin froh, und das Herz ist mir schwer.


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