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Ich bin Student in Grenoble. Wenn ich Monsieur angesprochen werde, komme ich mir wie ein Abenteurer vor, der ferne Meere durchkreuzt, auf einer Insel landet, von fremden Stämmen bewohnt. Jede Mademoiselle ist eine exotische Prinzessin, geheimnisvoll und unergründlich. Ich treibe mich in den Bars umher, trinke Absinth, der mir nicht schmeckt, und komme mir dabei sehr lasterhaft vor. Ich sitze im Café, es macht auf mich großen Eindruck, daß niemand den Hut abnimmt, auch ich behalte meinen Hut auf, ich denke mir, voilà, das ist die verruchte Grande Nation.
Neben mir in der Pension wohnt eine Russin, Tochter eines Ministers, sie ist sehr häßlich, aber was liegt daran, sie ist eine Russin, wahrscheinlich eine Nihilistin, sie weiß, wie man Bomben wirft, und wenn sie zurückkehrt, wird sie »ins Volk gehen«, und eines Tages werde ich von ihr lesen, daß sie einen tyrannischen Großfürsten getötet hat. Links von mir wohnt ein ehemaliger österreichischer Offizier, er hat eine Freundin, eine kleine französische Schneiderin. Er lehrt mich das Abc des Mannes von Welt. »Hüten Sie sich vor den Studentinnen«, sagt er, »die philosophieren sogar im Bett und sind auch keine Jungfrauen. Wenn Sie etwas lernen wollen, gehen Sie ins Puff, die Besitzerin ist eine Dame der großen Welt, kutschiert ihren Wagen mit zwei Vollbluthengsten und hat ein Bankkonto beim Credit Lyonnais, sie versteht das Leben, sie ist eine Psychologin, und wenn Sie ihr gefallen, gibt sie Ihnen Kredit.« Ich gehe lieber in den Verein deutscher Studenten. Wir sprechen über Nietzsche und Kant, wir sitzen steif auf unseren Stühlen, wir trinken mit gewinkelten Armen und gewölbter Brust große Gläser dünnen Biers, um uns »zu Hause zu fühlen«, wir schimpfen auf den »französischen Schmutz«, wir dünken uns Pioniere einer höheren Kultur und beschließen den Abend, indem wir die Fenster öffnen und »Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt« singen. Auf dem Platz sammeln sich die Franzosen, sie hören unseren Liedern zu, schütteln die Köpfe und lachen. Wir gehen niemals allein nach Haus, immer zu zweien, wir sind im Lande des »Erbfeindes«, man kann nie wissen, wir haben den Krieg von 1870/71 gewonnen, wir haben Elsaß-Lothringen erobert, eines Nachts wird man von uns Revanche fordern. Auch Frauen sind in unserem Verein, ältliche Lehrerinnen, die für ein halbes Jahr beurlaubt wurden, damit sie Französisch wie Französinnen sprechen. Sie lernen es nie, ihr Hochmut erlaubt es ihnen nicht, sie tragen Reformkleider und breite Gesundheitsschuhe, sie warnen uns vor den leichten Sitten des degenerierten Volkes und ermahnen uns, immer daran zu denken, daß wir eine Mission haben.
Die Universität besuche ich selten. Die seichten Vorlesungen langweilen mich, die meisten Professoren erinnern an Etagenchefs eines Warenhauses, sie preisen die verschiedenen Artikel offiziöser Kultur an, ihre Sätze ähneln den Schlagzeilen der Reklameinserate. Grenoble ist die französische Propagandauniversität für Ausländer.
Ich lebe in Frankreich und habe Deutschland nie verlassen. In der Universität und beim Mittagessen, im Café und in den Abendstunden lebe ich mit Deutschen, treffe Deutsche und verlerne mein bißchen Schulfranzösisch. Ich beschließe, den Verein zu meiden. Der österreichische Offizier fragt mich, ob ich Karten spiele, ich kann nicht Karten spielen, aber ich gehe mit ihm, vielleicht lerne ich beim Kartenspielen Französisch.
Jeden Nachmittag treffen sich in einem Café Studenten aus aller Herren Länder, sie spielen ein Spiel, das »Polnische Bank« heißt und weder etwas mit Polen noch mit einer Bank zu tun hat, Silber- und Goldstücke wandern aus einer Hand in die andere. Man trinkt schwarzen Kaffee, es ist sehr unterhaltsam. Ich schaue den Spielern zu. Die kleine französische Schneiderin sitzt neben mir, der Österreicher verliert ein Zwanzigfrancstück nach dem anderen, die kleine Schneiderin lächelt mich an, mein Knie streift ihr Knie, sie steht auf, ich folge ihr, sie fragt mich, wo ich wohne, sie muß es wissen, aber sie hat es wohl vergessen, sie will mein Zimmer sehen, sie sagt »Mon petit«, ich sehe mich nach dem Offizier um, er verliert immer noch, sie hakt sich in meinen Arm, ich bin sehr glücklich, ich lerne Französisch.
Auch am nächsten Tag verliert mein Zimmernachbar. Ich muß ihm Geld borgen. Das Mädchen muß sich hinter ihn setzen und ihre Hand auf seine linke Schulter legen. Er verliert trotzdem und wird wütend, er verliere nur, weil ich nicht mitspiele. Ich setze fünf Francs und gewinne. Das Mädchen legt heimlich die andere Hand auf meine rechte Schulter, ich setze zehn Francs und gewinne wieder, die rechte Schulter bringt mehr Glück als die linke, ich setze zwanzig Francs, setze und setze, vor mir liegt ein Haufen Geld. Der Offizier hat nicht bemerkt, wie das Mädchen die Hand von seiner Schulter gezogen hat und sie mir gewölbt hinreicht. Ich fülle sie mit Geldstücken, ohne das Mädchen anzusehen, und bin dem Spiel verfallen. Die Kellner rücken die Tische, es ist zwölf Uhr. Der Wirt will schließen, ich habe das Geld, mit dem ich meine Pension und die Universität bezahlen sollte, verloren bis auf zwanzig Francs. Längst ist des Mädchens Hand auch von meiner Schulter geglitten, sie ruht jetzt auf einem Polen, von dem man sich erzählt, daß er seine Spielgewinne in französischen Papieren anlege. Wir gehen in eine Bar und spielen weiter. Ich gewinne wieder, ich sehe keine Menschen mehr, das grüne Tuch des Spieltisches verschwimmt in einem grünen Nebel, der alle verdeckt, ich setze die höchsten Einsätze, ich muß sehr viel gewonnen haben, ich spüre das Mädchen hinter mir. Morgens um drei Uhr wird die Bar geschlossen, einer sagt: »Wir gehen zu Madame Aline«, ich frage: »Wer ist Madame Aline?« – »Das ist die Dame der großen Welt, von der ich Ihnen erzählt habe«, sagt der Österreicher.
Die kalte Nachtluft ernüchtert mich, ich will nach Hause gehen. »Das können Sie nicht«, sagt der Österreicher, »nachdem Sie so viel gewonnen haben, und außerdem haben in den letzten Stunden Huren mitgespielt, und von Huren gewinnt ein Mann von Welt nicht, kommen Sie schon mit ins Puff, wenn Sie dort weiter gewinnen, dann hat das Schicksal es gewollt, und Sie müssen es mit Fassung tragen.«
Im Salon von Madame Aline sitzen französische Sergeanten. Der Erbfeind, denke ich, und trotzdem trinken sie Bier, sie würden eine gute Figur machen im Deutschen Verein, man müßte sie zur Aufnahme vorschlagen, auf ihren Knien sitzen ältliche Lehrerinnen, es sind die professionellen Damen des Salons, die Reformkleider und die breiten Sandalen haben sie abgelegt, sie sind nackt.
Madame Aline begrüßt uns. Die Königin von England würde uns nicht vornehmer begrüßen. Sie fragt nach unseren Wünschen, bedauert die jungen Damen, die uns entbehren müssen, und lädt uns zu einer Flasche Champagner ein, sie wolle auf unser Wohl trinken und auf das Glück jedes Spielers. Ich sitze mit schwerem Kopf am Tisch, ärgere mich, daß ich spiele, und genieße mit quälerischer Lust, wie ich verliere, erst den Gewinn, dann meine Habe.
Um sieben Uhr, in der brennenden Bläue des Frühlingsmorgens, gehe ich nach Hause, keinen Centime in der Tasche, meine Uhr habe ich dem Polen als Pfand gegeben, neben mir geht der Österreicher, er hat dreihundert Francs gewonnen und philosophiert über die Nichtigkeit der Welt und ihrer irdischen Güter. Mittags knurrt mir der Magen. Ich sage der Wirtin, ich sei krank, und nähre mich in den nächsten Tagen von Tee und Brot. In einer Blumenvase finde ich einige Francs, ich bedenke, wie ich nach Hause telegraphieren soll, ich setze immer neue Texte auf, keiner gefällt mir, schließlich entscheide ich mich für diesen: »Alles Geld einem Türken geborgt, Türke plötzlich verschwunden.«
Das Spielerabenteuer beschäftigt mich lange. Im nüchternen Tag begreife ich den Menschen nicht, der hemmungslos dem Chaotischen und Abgründigen der Nacht verfallen war. Es ist kein Fremder, ich bin es selbst, ich habe mit dieser neuen Gestalt, von deren Sein ich nichts ahnte, zu rechnen. Der Spieltisch sieht mich nicht wieder. Ich besuche die Universität, höre juristische, literarische, philosophische Vorlesungen, lese Nietzsche, Dostojewski, Tolstoi.
Ende Juni fahre ich mit einer Gruppe deutscher Studenten durch die Provence. »Wir werden den Süden gemeinsam genießen«, sagt die Lehrerin vor unserer Abreise und schwingt den Baedeker. Sie genießt in jeder Stadt Museen mit zweifelhaften Büsten und Bildern, Reste ehemaliger Ruinen, Denkmale, die Baedeker mit Sternen erwähnt, und läßt uns teilnehmen. Verbaute Höfe findet sie pittoresk, verkitschte Fassaden bizarr. Wenn sie einen schönen alten Brunnen entdeckt, belehrt sie uns, daß die Menschheit fortschreite und von Jahrhundert zu Jahrhundert sich höher entwickle, jetzt seien wir bei der Wasserleitung angelangt, das sei der Kampf mit der Natur, wer wisse, wo der Mensch in fünfzig Jahren stehe, es sei eine Lust zu leben.
In Nimes entfliehe ich. Ich quartiere mich in einem alten Hotel ein und verliebe mich in die Wirtin. Die Provençalen sprechen auf ihre Art französisch, ich verstehe sie kaum, es geht ihnen mit mir ebenso, darum halten sie mich für einen Pariser.
Die Wirtin spürt, daß ich sie liebe, sie fragt mich am zweiten Tag, ob ich nicht mit einem anderen Zimmer im zweiten Stockwerk vorliebnehmen wolle. Vielleicht wohnt sie im zweiten Stockwerk und muß Rücksicht nehmen. Das Personal, der Klatsch, die Nachbarn, die kleine Stadt, es spricht sich herum, immer finden sich neidische Leute, die zur Polizei rennen, Konzession und Liebe, die harte Wirklichkeit, der schöne Traum.
»Wenn Sie meinen«, sage ich leise.
Das Zimmer habe zwar kein Fenster, sagt sie sanft, aber Luft bekomme es vom Korridor, sie müsse sonst ein englisches Ehepaar abweisen, an wen solle sie sich sonst wenden, wenn nicht an mich, den Pariser, den alten Freund des Hauses.
In Marseille wohne ich in einem kleinen Hotel am Hafen. Im Speisesaal treffe ich einen jungen Deutschen, der in die Fremdenlegion eintreten will. Warum nicht, Fremdenlegion ist ein Abenteuer, gefährlicher als die Spielernacht, Afrika, Wüste, Löwen, Beduinen, verwegenes Leben, verwegenes Sterben, und ein Abenteuer, das noch verführerischer lockt: Neulich bin ich dem Spieler begegnet, wen werde ich auf diesem Wege treffen?
Mittags erzähle ich einem französischen Korporal, der an unserem Tische ißt, meine Pläne. Er hört mir ernsthaft und bedächtig zu, klopft mir auf die Schulter, leert sein Glas Wein und sagt: »Schlag's dir aus dem Kopf, Junge, die Fremdenlegion ist kein Spaß.«
Wie ich im Hafen stehe, und Soldaten nach Afrika verladen werden, jeder eine Nummer, jeder ein Sack, der hin und her geschoben wird, verliere ich die Lust, Fremdenlegionär zu werden. Was ist es für eine herrliche Sache um die Freiheit. Ich kann tun und lassen, was ich will. Morgen fahre ich nach Toulon, wenn's mir nicht paßt, fahre ich nach Grenoble zurück.
Hier halte ich inne. Ich bin ein junger Mensch aus bürgerlichem Haus. Daß ich in Frankreich lebe, daß ich studiere, daß ich reise, daß ich versorgt werde, scheint mir »selbstverständlich«. Über den Begriff der Freiheit habe ich nie nachgedacht, es sei denn bei philosophischer Lektüre. Daß mein Freund Stanislaus seit seinem vierzehnten Jahr als Taglöhner arbeitet und von seinem schmalen Lohn die Eltern miternähren muß, war recht und billig, ebenso wie mein Recht, das Leben zu »genießen«. Jetzt erscheint mir plötzlich dieses Recht problematisch. Ich erkenne, was meine äußere Freiheit bedingt und begrenzt: Geld. Geld gibt mir meine Mutter. Warum hat sie Geld, und Stanislaus' Vater hat keines? Ich denke an das Gespräch aus der Kindheit, da ich an meine Mutter die Frage stellte, warum essen sie bei Stanislaus jeden Tag Hering und Pellkartoffeln und wir Braten. Die Antwort der Mutter: »Weil Gott es will« genügt mir nicht mehr. Ich beginne, an der Notwendigkeit einer Ordnung zu zweifeln, in der die einen sinnlos Geld verspielen und die anderen Not leiden. Aber ich liebe das Geld. Ihm habe ich zu danken, daß ich an diesem strahlenden Morgen den von blühenden Glyzinien und Mimosen überhangenen Weg wandern, daß ich auf irgendeinem Stein ausruhen kann und hören, wie die Wellen des Mittelländischen Meeres gegen die steinige Küste in sanftem Rhythmus schlagen. Ja, ich liebe das Geld, mit schlechtem Gewissen. Der Tag ist mir verleidet, die Welt ist mir verleidet, die Werte, die ich gestern für ewig und unverrückbar hielt, sind fragwürdig geworden, ich selbst bin mir fragwürdig.
Ich sitze vor einer einsamen Kirche in der Nähe des Cap Martin. Ich gehe zur Kirchentür, ich trete in die Kirche, mich umfängt das stille Dämmerlicht einer Welt, in der Menschen selig werden allein durch den Glauben. Vor ein paar Tagen wollte ich Fremdenlegionär werden, jetzt, wenn ein Priester käme und den Jüngling anspräche und sein Herz träfe, er fände ihn bereit zur Absage an die Welt. Ich träume, wie irgendein fernes Kloster mich aufnimmt, ich lege meinen Namen ab und jede Beziehung zum Gestern, ich habe das Gelübde des Schweigens getan, mit den Klostermauern endet die Welt, ich lebe namenlos, verschollen.
Der Priester ist nicht gekommen. Draußen streift mich der kühle Abendwind, ich verspüre Hunger, wandere bis zum nächsten Ort und esse ohne Gewissensskrupel ein Stück Ziegenkäse und trinke den säuerlichen roten Landwein. Vor dem Café spielen die Männer Boule, die Mädchen promenieren und lachen und flirten, der Musikautomat schmettert den letzten Pariser Schlager, groß und feierlich leuchten die Sterne, meine Konflikte sind vergessen, Zweifel und Glaube im Meer ertrunken, die Welt ist sehr schön.
In Sarajewo wird der österreichische Thronfolger ermordet. Die österreichischen und serbischen Studenten werden einberufen, einen Wiener Freund bringe ich zur Bahn. Er sagt mir beim Abschied »Auf Wiedersehen«, ich weiß nicht, was antworten, ›vielleicht bist du in einem Jahr tot‹, denke ich. Ich gehe nach Hause, diese drei Buchstaben <em>TOT</em> haben sich in meinem Kopf eingenistet, ich werde sie nicht wieder los, ich finde sie überall, in Gesprächen, in Zeitungen. Ich finde sie auf einem Plakat, das die sozialistischen Arbeiter Grenobles auffordert, gegen die drohende Kriegsgefahr in einer Massenversammlung zu demonstrieren. Abends stehe ich in dieser Versammlung, eingekeilt zwischen französischen Arbeitern und Arbeiterinnen. Ich sehe ihre gutmütigen Gesichter, die klaren einfachen Züge, die straff und hart werden, wenn der Redner den Krieg verflucht. Nein, diese Menschen wollen den Krieg nicht. Ihr Schrei »Vive la paix!« ist eine Kampfansage gegen den Krieg.
Der österreichisch-serbische Krieg kommt. Mittags, morgens, abends berichten die Zeitungen vom Kriegsschauplatz, wir gewöhnen uns daran und hegen die törichte Hoffnung, er werde auf die beiden Länder beschränkt bleiben. Ende Juli beginnen die Universitätsferien. Ich will nach Paris reisen, an den französischen Sprachkursen der Sorbonne teilnehmen. Ich sitze am Abend vor meiner Abreise im Café und trinke einen Apéritiv, Zeitungsjungen stürmen ins Café: »Extrablatt! Jaurès ermordet!« Erregte Gruppen bilden sich, ich höre einen Arbeiter sagen: »C'est la guerre.« Im Café, vor dem Café, auf den Straßen, in den Parks sprechen fremde Menschen miteinander. Als sich um Mitternacht der übliche Kanonenschuß auf der Festung löst, stieben die Menschen erschreckt auseinander.
In Lyon wohnt der deutsche Konsul, ich werde ihn fragen, ob ich nach Paris fahren soll. Am 31. Juli bin ich unterwegs nach Lyon. An allen Stationen sehe ich Soldaten, Urlauber, die zum Regiment gerufen sind. In Lyon klingle ich den deutschen Konsul an.
»Raten Sie mir, nach Paris zu fahren?«
»Warum nicht?«
»Sie glauben nicht an eine Kriegsgefahr?«
»Unsinn!«
»Ich frage nicht nur meinetwegen. Deutsche Studenten in Grenoble möchten von Ihnen wissen, was sie tun sollen.«
»Studieren«, sagt der Konsul.
Einige Stunden später schreien die Zeitungsjungen:
»Mobilmachung in Deutschland!«
Ein Extrablatt jagt das andere.
»Kriegszustand in Deutschland!«
»Mobilmachung in Deutschland!«
»Deutsche Soldaten haben die französische Grenze verletzt!«
Eben bin ich noch Arbeitertrupps begegnet, die »A bas la guerre« gerufen haben, eben habe ich noch die schwarzumränderten sozialistischen Zeitungen gesehen, dem Andenken Jaurès gewidmet, jetzt schlägt die Stimmung um, man riecht den Krieg.
»Deutsches Ultimatum an Frankreich!« brüllen die Zeitungsjungen, denen die Blätter aus der Hand gerissen werden.
»Sie wollen den Krieg«, kreischt eine Frauenstimme.
Auf dem Platz Belle-cour staut sich die Menge. Redner klettern auf den Sockel des Denkmals.
»Frankreich ist bedroht«, schreit einer, »es geht um seine Freiheit.«
»Nein, um seinen Ruhm«, schreit ein anderer.
»Ich pfeife auf den Ruhm, es geht um Elsaß-Lothringen«, schreit ein dritter.
»Vive l'Alsace-Lorraine!« antwortet die Menge.
Aber kein Redner findet so viel Beifall wie jener, der die Hörer an die Französische Revolution erinnert, an die geschichtliche Mission Frankreichs, die Preußen vom Militarismus zu befreien und Deutschland die Demokratie zu bringen.
»Wir hassen nicht das deutsche Volk«, ruft er, »wir hassen nur seinen Kaiser!«
Tosender Beifall.
Neben dem Redner taucht eine Frau auf. »Wenn wir in Berlin einziehen«, ruft sie, »werden wir Wilhelm den Bart beschneiden!«
Aus der Menge antwortet es im Sprechchor: »Coupez la barbe de Guilleaume!«
Durch die Straßen ziehen Trupps junger Männer, in skandiertem Rhythmus peitschen sie ein Lied, es enthält nur eine Zeile, die sie pausenlos, fanatisch wiederholen:
»Conspuez Guilleaume, conspuez Guilleaume, conspuez!«
Ich habe nur einen Wunsch, ich will nach Deutschland. Am Bahnhof sagt man mir, daß nachts um zwei ein Zug zur Schweizer Grenze fahre. Ich gehe in ein kleines Café und warte. An allen Tischen spricht man vom Krieg. Neben mir sitzt ein dicker Sergeant mit geschwollenen, geröteten Augen, mit heiserer Stimme singt er die ersten Worte der Marseillaise, bricht ab, trinkt sein Glas und beginnt von neuem. Keiner achtet auf ihn. Er steht auf, geht zum Telephon, seine Stimme überschlägt sich, er brüllt in den Raum:
»Deutschland hat Frankreich den Krieg erklärt!«
Im Café ist es sehr still, der Sergeant geht wieder an seinen Tisch und setzt sich schwer auf seinen Stuhl. Das Schweigen ist wie eine Finsternis, die Licht und Menschen aufsaugt. Der Sergeant springt auf, singt die Marseillaise, und jetzt singen alle mit. Ich sitze fremd an meinem Tisch, die Kehle ist mir zugeschnürt, nie war mir so bang nach Deutschland wie in dieser Sekunde. Ich zahle und laufe auf die Straße. In der Nähe des Bahnhofs höre ich dumpfes Getrappel von Pferdehufen. In der Ferne eine schwarze Masse wird größer und größer. Fanfaren schmettern, an den Häusern öffnen sich Fenster. »Die Kürassiere«, ruft eine Stimme. Unter den Klängen der »Sambre et Meuse« zieht ein Kürassierregiment vorbei.
Auf dem Bahnhof wimmelt es von Soldaten, Frauen und Kinder begleiten sie. Sie fahren an die italienische Grenze. Nach Deutschland wird Italien, der deutsche Bundesgenosse, nicht mehr lange zögern.
Endlich sitze ich im Zug. In allen Abteilen Deutsche, die fliehen. Wir kommen kaum vorwärts. Immer wieder hält der Zug, wird umrangiert, endlos müssen wir warten. Am nächsten Morgen wird die Coupétür aufgerissen. Bärtige französische Soldaten, Landwehrleute mit aufgepflanztem Bajonett, befehlen uns, den Zug zu verlassen. Auf dem Platz vor dem Bahnhof werden wir zusammengetrieben, müssen unsere Pässe zeigen, die Deutschen werden abgesondert, wir sind verhaftet.
Bis zur Grenze sind es kaum zwanzig Kilometer. Einige von uns lassen das Gepäck im Stich und fliehen. Der Offizier, der uns verhaftet hat, ist ratlos. Er weiß nicht, was er mit uns anfangen soll. Schließlich, gegen Abend, wird uns erlaubt, zur Grenze zu fahren. Um Mitternacht, wenige Stunden vor Schließung der Grenzen, kommen wir in Genf an, hungrig und übermüdet. Aber als wir auf Schweizer Boden stehen, jubeln wir und fallen uns in die Arme und singen »Deutschland, Deutschland über alles«.
Auf der anderen Seite des Perrons singen Franzosen, die heimkehren, die Marseillaise.
Vor dem Bahnhof ein Soldat schlägt mit zuckenden Schlegeln auf eine kleine Trommel und verkündet die Schweizer Mobilmachung.