Ludwig Tieck
Denkwürdige Geschichtschronik der Schildbürger
Ludwig Tieck

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Caput XV.

Berathschlagungen. – Seltsame, doch glückliche Vorbedeutung.

Die Schildbürger trieben nun ihr republikanisches Wesen immer fort, und fühlten sich sehr glücklich, daß ihre Freiheit durch nichts beschränkt wurde. An einem Morgen ging ein junger Schildbürger herum und bat die Uebrigen, sie möchten sich doch in ihren Rathskleidern auf der grünen Wiese versammeln, denn er habe ihnen etwas Wichtiges vorzutragen.

Alle kamen aus Neugier auf der Wiese zusammen und setzten sich in einen Kreis, die Füße durch einander geschlagen und die Köpfe gegen einander gekehrt, worauf derjenige, der den Rath berufen hatte, also anfing:

Meine Freunde, es ist ausgemacht, und Jeder von uns fühlt es, daß wir glücklich sind; dieses rührt aber blos von unsrer Verfassung her, indem wir die alte hergebrachte Ordnung umgekehrt haben. Sollen wir denn nun so neidisch seyn, sollten wir Alle ein so enges Herz haben, daß wir damit zufrieden sind, wenn wir uns nur allein glücklich fühlen? Nein, meine Mitbürger, das sey fern von uns. Der wirklich große und edle Mensch zeigt sich eben darin, daß er das Glück über den Erdkreis zu verbreiten trachtet, und sich dann im Glücke der Menschheit vollkommen glücklich fühlt. Darum verehren wir die Erfinder der nützlichen Künste und Wissenschaften, und nennen sie die Wohlthäter der Menschheit. Darum ist es von den 72 Stiftern und Erfindern der Religionen groß und heilsam gewesen, ihre Religion und ihre Lehren auszubreiten, damit auch andre Menschen im Lichte wandeln konnten. Wer verübelt es den Königen, wenn sie mit Gewalt die Wohlfahrt ihrer Länder auch über andre, die ihnen nicht gehören, auszustreuen suchen? Die späteste Geschichte nennt ihre Namen noch mit Ehrfurcht, und legt ihnen den Beinamen der Großen bei. Diesen Beispielen laßt uns folgen. Wir wollen unsre Verfassung auch über die benachbarten Länder erstrecken; der König muß abgesetzt werden, eben so, wie unser Bürgermeister abgesetzt ward, und er wird sich auch gewiß freiwillig dazu bequemen; das Volk muß getröstet und beglückt werden, und es wird uns auf den Knien danken.

Noch nie hatte ein Vorschlag bei den Schildbürgern so lauten Beifall gefunden; man wollte sogleich aufstehn und zum Werke schreiten, nur Pyrrho hielt sie noch zurück und rief: Haltet nur noch einen Augenblick ein, geliebte Mitbürger! wohin führt Euch ein edler, aber dennoch blinder Eifer? Wendet die Augen von der Wohlfahrt der Nationen ab, und seht auf Euch selbst.

Du widerräthst uns also diesen Vorschlag? riefen Alle.

Mit nichten, antwortete der weise Pyrrho, Ihr versteht mich falsch, nur seht für diesen Augenblick einmal hieher zur Erden, ich meine auf Eure Beine. Wir sitzen hier in einem runden Kreis, unsre Tracht ist ganz gleich, wie es Rathsherren ziemt; wollt Ihr nun wohl so unbesonnen seyn, und so rasch und 73 plötzlich aufspringen? Könnte nicht, da unsre Beine Alle gleich aussehn, im Irrthum Einer des Andern Beine erwischen und so das Beinwesen der ganzen Bürgerschaft unter einander verwechselt werden? Ob es gleich Unrecht ist, von edeln Männern einen solchen Argwohn zu hegen, so fürcht' ich doch, daß diejenigen Füße, die mit Hühneraugen, oder diejenigen Beine, die vom Podagra geplagt sind, gar dahinten bleiben würden, und daß sich Keiner würde zu ihnen bekennen wollen. Es ist eben denjenigen, die von diesen Krankheiten leiden, auch nicht gar zu sehr zu verübeln, denn es liegt einmal das Bestreben in uns, daß wir uns Alle gern auf einen guten Fuß setzen wollen, wie man zu sagen pflegt. Laßt uns daher auf einen Anschlag sinnen, wie wir Alle unsre Beine wieder herauskriegen, und Jedem auch die rechten zu Theil werden, damit keinesweges res publica detrimenti capiat.

Sie saßen Alle still und dachten mit vielem Eifer nach. Keiner getraute sich zu bewegen, aus Furcht, plötzlich fremde Beine an sich zu ziehen, da sie alle so verwickelt waren; man dachte alle Hülfsmittel durch, aber es wollte sich gar nichts Heilsames ergeben.

Indem sie noch so im heftigen Rathschlagen saßen, zog ein Fremder vorüber, der einen tüchtigen Wanderstab in der Hand trug. Sie riefen ihn zu sich, und erzählten ihm ihre verwickelte und verwirrte Lage mit den Beinen, und ob er, als ein gereister Mann, nicht vielleicht durch lange Erfahrung in fremden, weit entlegenen Ländern wundersame Mittel dagegen kennen gelernt habe; wenn es sey, so möchte er sie ihnen 74 mittheilen, sie wollten auch zur Dankbarkeit ein gutes Stück Geld nicht zu sehr bedauern.

Der Reisende sah sie eine Zeitlang an, dann sagte er: Seht, meine bedauernswürdigen Freunde, diesen Stab, er ist in der geheimnißvollen Mitternacht, bei'm Schein des Vollmondes in der längsten Nacht, in Mesopotamien von einem eingeweihten heiligen Baume, durch einen achtzigjährigen Priester abgeschnitten. Dieser Priester hat ihn mir verehrt zum Schutz gegen meine Feinde, zur Beschirmung der Freunde; wollt Ihr mir nun ein gutes Trinkgeld geben, so denke ich Euch auch mit diesem bezauberten Zweige aus der Noth zu helfen.

Sie versprachen es, worauf er anfing, mit seinem Stocke auf ihre Beine zu schlagen, so daß Jeder erschrocken aufsprang und auf seinen Beinen stand. Ein Einziger, der nicht getroffen war, blieb sitzen und sagte: Lieber Gesell, warum wollet Ihr Euer Geld nicht auch an mir verdienen? Ich bitte, Ihr wollet mich nicht sparen, oder sind denn jene Beine dort etwa die meinigen? Der Fremde gab auch diesem einige Hiebe und er war auch mit Beinen versorgt, worauf er seine Danksagung empfing und fröhlich von dannen zog.

Hierauf gingen die Schildbürger gutes Muths nach ihrer Stadt zurück und Pyrrho sagte zu ihnen unterwegs: Diese Ineinanderschränkung der Beine ist für uns zweifelsohne von sehr guter Vorbedeutung, denn sie bedeutet unsre unzertrennliche Einigkeit, das Ineinanderfügen unsers Willens und unsrer Macht, und darum können wir uns auch einen glücklichen Ausgang unsers Unternehmens versprechen. Wir sind 75 wie ein Bündel Pfeile, und ich mag Euch die schöne Fabel nicht noch einmal erzählen, die sich am lieblichsten von den holländischen Dukaten lesen läßt. Schließlich aber wollte ich Euch nur noch erinnern, daß es gut sey, wenn wir uns künftig mit den Beinen etwas mehr hüten, denn wenn eine ähnliche heilige Ruthe nicht in der Nähe ist, so könnte uns großer Schaden daraus erwachsen.

Unter derlei weisen Gesprächen kamen sie in ihre Häuser zurück.



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