Ludwig Tieck
Der Alte vom Berge
Ludwig Tieck

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Die Räthin Helbach saß in dem Schlafzimmer, das von dem Hofe her nur von einem dämmernden Lichte matt erleuchtet war. Ihre verweinten Augen waren starr auf das aufgeschlagene Evangelium gerichtet, sie las mit Andacht und betete. Da hörte sie Getümmel, der Diener wurde von jemand, den er abhalten wollte, kräftig zurückgestoßen, man riß die Thüre gewaltsam auf, und zu den Füßen der Frau stürzte ein Jüngling heftig nieder, ergriff die Hand der Erschreckten und bedeckte sie mit Küssen, indem ein heißer Thränenstrom aus seinen Augen brach. Erst nach einer Weile erkannte die Mutter den verloren geachteten Sohn. Eine 259 gewaltige Rührung erfaßte sie: sie fragte: wo kommst Du her? – Steh auf! – Unglücklicher, komm in meine Arme. – Mehr konnte sie nicht sagen. –

Sie verstoßen, Sie verabscheuen mich nicht? rief der Jüngling in der schmerzlichsten Bewegung: Gott! habe ich auch nur einen Funken Liebe noch von diesem edlen Herzen verdient? Bin ich auch nur noch eines Blickes würdig?

Sie hielten sich eng umschlossen und konnten beide lange keine Worte finden. – Aber, Mutter, sagte endlich der junge Mann, können Sie das Ungeheuer in Ihren Armen, an Ihrem Herzen halten, das damals – –

Nein, mein Sohn, mein geliebter Sohn, erwähne dieses entsetzlichen Augenblickes nicht wieder, den wir vergessen müssen. So stammelte die Mutter. – Ich weiß jetzt auch, daß ich Dir damals Unrecht that, das Mädchen, das Du liebtest, ist gut, wie es sich nachher erwiesen hat. Ich selbst hatte Dich ja zu wenig gelehrt, Deine Leidenschaften zu mäßigen. Laß jene Stunde wie einen schweren Traum auf immer aus unserm Leben verschwunden seyn! Aber wo kommst Du her, wo warst Du bis jetzt?

Sie setzten sich, sie suchten sich beide in Leid und plötzlicher Freude zu fassen und zu beruhigen. Der Jüngling erzählte, indem er wieder von Zeit zu Zeit die geliebte Mutter umfaßte, oder ihre Hände küßte, wie er nach jener furchtbaren Stunde ohne Plan und Entschluß verzweifelnd umhergestreift sei, wie er, nachdem er von den letzten Mitteln entblößt war, in der Nähe des Gebirges den Entschluß gefaßt habe, den alten Balthasar aufzusuchen, um von diesem vielleicht Unterstützung zu erhalten. Da er aber von den Eigenheiten des seltsamen Mannes hörte, und wie schwer es sei, ihm nahe zu kommen, so änderte er seinen Entschluß, machte unter dem falschen Namen Wilhelm Lorenzen mit dem 260 Inspektor Eduard Bekanntschaft und wurde als Schreiber angestellt. Seine Geliebte zu sehn, die eine Reise unternahm, verließ er den Dienst, kam wieder, und entfernte sich von neuem, als er zu seinem Schrecken erfahren hatte, daß seine Mutter den Fabrikherrn besuche.

Jetzt eben, beschloß der Sohn, habe ich von einem Reisenden, einem ungarischen Mann, der in Eile vom Gebirge kam, eine höchst wichtige Nachricht vernommen. Ich wollte mich, dazu war ich unterwegs, auf Ihre Gnade und Ungnade zu Ihren Füßen werfen, als ich ihn im nächsten Städtchen traf. Erschrecken Sie nicht zu sehr, Herr Balthasar ist gestorben, plötzlich, am Schlage, ohne Testament, wie jener Fremde für gewiß gehört hat. Das Haus, das Städtchen, die ganze Umgegend ist in der größten Verwirrung. O meine Mutter, wir sind alle glücklich, wir können alle gut werden, wenn Sie an meine Reue und Besserung glauben, wenn wir den Vater bewegen können, in den Vorschlag einzugehn, den ich ihm thun will. Ich weiß, Sie versagen mir jetzt Ihre Einwilligung zu meiner Verbindung mit Carolinen nicht mehr, die Einwürfe, daß ich und das Mädchen nur arm sind, sind gehoben, wir sind viel zu reich geworden, viel zu sehr, um uns selbst vertrauen zu dürfen. –

Man hatte, als man sich beruhigt und verständigt hatte, zum Vater geschickt, der ernster und bewegter eintrat, als es gewöhnlich seine Weise war. Wie erstaunte der Alte, seinen verlornen Sohn als gebesserten, vernünftigen, umarmen zu können. Er war für dieses freudige Erschrecken unvorbereitet. Auch die gerührte Mutter kam ihm mit mehr Vertrauen und Liebe entgegen. Der Tod des Jugendgeliebten hatte sie tief erschüttert.

Zum erstenmal war diese Familie einig und glücklich, und empfand in der Trauer eine reine Freude in Aussicht 261 einer behaglichen und gesegneten Zukunft. Der Alte, der sich vornahm, nach dem Beispiel seines Sohnes anders zu werden, und die letzten Jahre seines Lebens anständiger hinzubringen, fand sich auch ohne Ueberredung darein, dem mündigen Sohn gerichtlich die unbeschränkte Verwaltung des Vermögens zu übertragen. Es ward beschlossen, daß der Sohn vorerst in Gesellschaft der Mutter hinaus reisen solle, um alles zu ordnen, später sollte die Braut und Frau des Sohnes ihnen folgen, der Vater zog es vor, in der Stadt zu bleiben, und seine Familie nur im Sommer zuweilen zu besuchen. So können wir, beschloß der Rath, ein fast verlorenes Leben noch wieder ergänzen und erhöhen, es in gegenseitiger Liebe und Einigkeit verklären. Meine Leibrente ist mehr als genügend zu meinem Unterhalt, und sollte es, wie ich nicht glauben kann, fehlen, so hilft mein Sohn mit mäßiger Beisteuer aus.



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