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Elftes Kapitel

Plötzlich hörte Barbara ihn in dem dunkeln Garten sagen:

»Wenn ein Mann so alt ist wie ich, dann weiß er das alles.« Er sprach von seiner Viehzucht, von der Verwaltung seines Gutes, seiner Hausführung und all den Umständen, die Leben und Besitz mit sich bringen, und die gleichzeitig Schwierigkeiten schaffen. »Und er weiß auch, daß all dies nicht so gut und tadellos durchgeführt werden kann, wenn er nicht jemanden hat, der ihm dabei hilft.«

Sie wußte seit Monaten, daß Wilfrid sich für sie interessierte, aber die Sache hatte sie seit langem nicht mehr aufgeregt, und sie hatte sich auch keine Gedanken mehr darüber gemacht. Sie konnte sich gar nicht mehr daran erinnern, daß sie einst Angst davor gehabt hatte, eingefangen zu werden. Er war eines Tages plötzlich in das Feld ihres Lebens getreten, war nicht etwa über die Hecke gesprungen, sondern rechtschaffen durch die Tür gekommen und hatte sie sorgfältig wieder hinter sich geschlossen.

Aber es war schon genug gewesen, daß er überhaupt hereingekommen war. Sie hatte sogleich den Kopf aufgeworfen, die Ohren gespitzt und unruhig um sich gesehen; der Gedanke der Gefangenschaft war ihr sogleich gekommen. Hinter dem Rücken verborgen, mochte er den Halfter in der Hand halten. Mit außerordentlichem Interesse hatte sie beobachtet, wie er langsam durch das Feld herankam. Und wie er näher kam, hatte sie bald eine Wendung nach der einen, bald nach der anderen Seite gemacht. So oft er einen Schritt vorwärts gemacht hatte, war sie vorsichtig zurückgewichen, nervös und voll Scheu vor der Hand, die plötzlich zugreifen mochte. Aber mit der Zeit war alles Gefühl von Besorgnis geschwunden. Die Art, wie er versuchte, sie einzufangen, war entweder zu langsam oder zu schlau, und besondere Schlauheit traute sie ihm nicht zu. Und mit der Zeit glaubte sie gar nicht mehr, daß er einen Halfter hinter sich verbarg. Sie wurde immer zahmer, und gelegentlich fraß sie ganz gerne die kleinen Büsche süßen Grases aus seiner Hand, die er ausriß und ihr reichte, so daß sie die Mühe ersparte, sich selbst zu bücken und es abzuweiden. Das war keiner, der sie fangen konnte. Wenigstens hatte sie sich das eingeredet und sich damit beruhigt. Und in diesem sicheren Glauben hatte sie ein gegenseitiges Vertrauen und eine Vertraulichkeit sich entwickeln lassen, die jetzt in einem einzigen Augenblick zerstört war.

Nicht, daß die Hand hinter dem Rücken hervorgeschossen wäre und zugegriffen hätte, um sie bei der Mähne zu fassen. Da hätte sie sich immer noch blitzschnell zurückziehen und den Griff vermeiden können. Ein Sprung zur Seite, ein blitzendes Aufwerfen der Hufe, und fort wäre sie gewesen, die ganze Länge und Breite des Feldes zwischen ihnen.

Aber in dem Gefühl der Sicherheit, an das sie sich gewöhnt hatte, hatte sie ihre Furcht gleichsam einschläfern lassen. Sie hatte so oft an den Büscheln süßen Grases geknabbert und wieder geknabbert, und jetzt fühlte sie, ohne daß er plötzlich zugegriffen hätte, seine Hand bereits in ihrem Nacken, und die Finger schlossen sich um so fester, als er merkte, daß er sie hielt.

Einen Augenblick stand sie regungslos still in der Finsternis des Gartens, während der Geruch des frischen Heues von der Wiese und der Duft der Madonnenlilien und Tabakpflanzen rings um sie durch die Luft wogten, und ein furchtbarer Schrecken lief durch alle ihre Adern.

War sie schon gefangen? Gab es kein Entkommen mehr? In diesem Augenblick wußte sie es nicht. Sie stand in atemlosen Schweigen da und wartete und zitterte so, daß sie kein Glied regen konnte. Jeden Augenblick erwartete sie, die Riemen des Halfters um ihren Hals zu fühlen. War es noch möglich, sich ihnen zu entwinden, jetzt, da er sie bereits so weit hatte? Gab es noch ein Entkommen? War dies das Ende ihrer wonnigen Freiheit, jetzt, da sie noch so jung war und ihre Jugend eigentlich zum erstenmal voll empfand?

Sie wußte nicht genau, was sie meinte, wenn sie an ihre Freiheit dachte; sie dachte auch nicht an den eigentlichen Sinn des Wortes, es war nur so, wie ein Vogel im Käfig an den Wind denken mag, der über die Wipfel der höchsten Bäume hin streicht. Es war etwas, das, wenn es einmal verlorenging, unwiderruflich und für immer verloren sein mußte; etwas, das sie nie wiedergewinnen konnte; etwas, das sie nicht aufgeben konnte, ausgenommen, wenn sie dafür etwas anderes von unbeschreiblichem Glanz bekam, für das sie keinen Namen hatte. Wenn man es Liebe nannte, so schien das nicht mehr Begriff davon zu geben, als die Schrift auf den Etiketten der Marmeladetöpfe, die sie jedes Jahr mit der Mutter einmachte, wenn der Jahresvorrat in dem Schrank unter der Treppe weggeschlossen wurde. Die Leute redeten wohl vom Verlieben. Aber sie wußte, das war nur ein allgemeiner Ausdruck für das, was sie fühlten, ein Wort, das es gerade noch möglich machte, zu verstehen, was der andere meinte; es war nur ein Zeichen, ungefähr so, wie wenn ein Mann vor einem anderen seinen Hut abnimmt und damit »guten Tag« sagen will, aus Höflichkeit für andere Leute, während es ihm in Wirklichkeit ganz gleichgültig ist, ob sie einen guten Tag haben oder nicht.

Sie fühlte nichts von jenem unbeschreiblichen Glanze, und doch schlug ihr Herz hier in der Finsternis in heftiger Angst vor der Gefangenschaft, die ihr zu drohen schien. Sie wußte wohl, daß sie Wilfrid »nein« sagen konnte, aber irgendwie schien das durchaus nicht genug. Die Gefahr blieb die gleiche. Sie wußte instinktiv, daß er nicht der Mann war, ein Nein, eine Ablehnung als endgültig zu betrachten. Sie wußte auch ganz bestimmt, daß ihre beiden Eltern, Laetitia und Roger, diese Heirat wünschten. Und doch waren diese Gefahren noch nicht die größten. Gegen beide hatte sie ja ihren Willen; was sie viel mehr fürchtete, war das tiefe Bewußtsein, daß die Ehe schließlich das Los, das Schicksal ihres Geschlechts war, und daß all diese anderen Gefahren gleichsam nur von der Seite her wirkende Kräfte waren, die sie einem unvermeidlichen Geschick in die Arme trieben, dem kein Weib entgehen konnte.

Das war der Schrecken, der sie durchschauerte; darum stand sie zitternd in der Finsternis, denn es schien ihr in diesem Augenblick, daß das drohende Schicksal des Heiratens stärker war, als das freudige Bewußtsein, mit dem sie manchmal empfand, daß jener unbeschreibliche Glanz früher oder später kommen und sie einhüllen und über jede Furcht hinwegtragen würde. Sie konnte nicht glauben, daß ihre Mutter diesen Glanz je gekannt hatte. Bei all den Ehepaaren, die sie kannte, hatte sie nie eine Spur davon gemerkt. Die Frauen mußten wohl alle einmal so geträumt haben wie sie, jenen Glanz erwartet haben wie sie, und dabei hatte sie jenes drohende Schicksal eingeholt und zu Gefangenen gemacht. Dem Anschein nach sahen alle ganz zufrieden aus. Aber es war eine Zufriedenheit, vor der ihr manchmal schauderte, wenn sie daran dachte.

Was sollte jetzt mit ihr geschehen? War sie bereits eingeholt? Es war leicht, sich zu sagen, daß sie ja ihren Willen hatte und danach handeln konnte. Was war leichter, als einfach »nein« zu sagen, wenn Wilfrid ihr jetzt einen Antrag machte? Aber zum erstenmal hörte sie deutlich den Klang von Schritten, die auf der harten Straße des Lebens hinter ihr herkamen. Wenn sie sie jetzt nicht erreichten, früher oder später erreichten sie sie. Wenn es nicht Wilfrid war, war es ein anderer. Und so groß war in diesem Augenblick ihre Furcht, daß sie jede Hoffnung darauf verlor, daß diese Schritte jemals so herankommen würden, wie sie es geträumt hatte: in einem Sturm, der sie vom Boden emporriß, mit Armen, die sie hoch über die kleinbürgerliche Zufriedenheit einer Ergebung ins Alltägliche dahintrugen.

So lange dauerte dies Schweigen, daß er sie endlich fragte, ob sie gehört hätte, was er gesagt hatte.

»Ja, ich habe es gehört«, sagte sie.

»Und wissen Sie auch, was ich meine, Barbara?«

Es war nur ein ganz kleiner Aufschub, wenn sie ihn fragte, was er meinte; aber jeder Aufschub war ihr willkommen. Jedenfalls wollte sie ihm nicht zu Hilfe kommen. Er aber hatte sich's nun einmal in den Kopf gesetzt und arbeitete sich näher heran.

»Ich bin dreiunddreißig Jahre alt«, sagte er. Es klang, als ob er ihr mitgeteilt hätte, daß er das höchste Greisenalter erreicht hätte. »Ich bin kein so junger Mann, daß ich mir einreden könnte, daß ich verliebt bin. Ich bin wirklich seit Monaten in Sie verliebt.«

Just das war es, obschon sie sich darüber nicht klar gewesen war. Er war seit Monaten in sie verliebt und hatte noch nie ein Wort davon gesprochen. Sie seufzte beinahe erleichtert auf, als sie es hörte und es ihr klar wurde. Das waren nicht die Schritte, die sie einholen konnten. Nun mochte er sagen, was er wollte; er konnte ihr kein Jawort mehr ablocken. Er war seit Monaten in sie verliebt gewesen und hatte nie ein Wort davon gesprochen bis jetzt! Was sie auch von Jimmy denken mochte – und sie wußte nicht recht, was sie von ihm denken sollte –, so viel wußte sie, daß er es nicht so gemacht hätte.

Jetzt fühlte sie ihre Freiheit wieder, den Wind, der über die Wipfel der höchsten Bäume hinstreicht, das jubelnde Gefühl, daß die Tür des Käfigs noch nicht hinter ihr zugefallen war. Was auch vor ihr stehen mochte, für eine Weile konnte sie noch frei ihre Schwingen bewegen, hoch durch die Lüfte schweben, die Erde tief unter sich sehen.

Ihre Stimme war jetzt ganz fest, als sie ihn fragte, warum er ihr das nicht früher gesagt hätte.

»Warum?« fragte er. »Was hätte es für einen Unterschied gemacht? Ich wollte die Sache erst überdenken und ganz sicher sein. Hätte es Ihnen gefallen, wenn ich im ersten Augenblick, in dem ich dachte, daß ich Sie liebe, gleich gekommen wäre und Ihnen einen Heiratsantrag gemacht hätte?«

»Aber denkt man denn darüber nach, ob man verliebt ist oder nicht?« fragte sie.

»Wie kann man es denn wissen, wenn man nicht darüber nachdenkt? Man muß sich doch fragen, man muß doch ganz sicher sein, daß man nichts anderes im Kopf hat.«

»Ich dachte immer, man liebte mit dem Herzen und nicht mit dem Kopf«, sagte sie.

Sie wußte, daß das mitleidlos war, aber sie konnte nicht anders. Sie handelte mit der Grausamkeit, die ein Weib empfindet, wenn sie vor sich sieht, was ihr Geschlecht so oft ertragen muß. Es war nicht ihre persönliche Grausamkeit, sie lag in ihrer Natur als Weib. Diesen Mann heiratete sie nicht. Das wußte sie. Aber irgendeine andere Frau heiratete ihn sicherlich eines Tages. Ohne es zu wissen, sprach sie im Interesse dieser Frau; sie fühlte, wenn auch wie etwas Fernes, das nicht aus ihr selbst kam, die Grausamkeit, die in ihren Worten und in ihrer Stimme lag, und konnte doch nicht anders.

Er fühlte, daß er auf einen Widerstand stieß, der weit heftiger war als sein Gefühl. Irgend etwas stellte sich seiner Liebeserklärung entgegen und richtete eine Schranke auf, die zu überschreiten beinahe unmöglich schien. Aber was es war, das wußte er nicht.

»Wollen Sie damit sagen, daß Sie nicht glauben, daß ich Sie liebe?« sagte er.

»Nein, das will ich durchaus nicht sagen.«

»Also was meinen Sie dann? Ich verstehe Sie nicht.«

So war es auch. Er hatte keine Ahnung. Er wußte, daß er ihr ein sehr vorteilhaftes Angebot machte, und nachdem er alles aufs sorgfältigste erwogen und abgewogen hatte, und die Wagschale in seinem Geist sich gesenkt hatte, machte er ihr das Angebot auch von ganzem Herzen.

Was konnte eine Frau mehr verlangen? Und plötzlich fiel es ihm ein, daß es nur eine mögliche Erklärung gab, daß, wenn sie ihn nicht gern hatte, der Grund darin liegen mußte, daß sie jemand anders gern hatte. Den jungen Laidlaw! Aber den kannte sie doch erst seit vierzehn Tagen! Dennoch lag darin des Rätsels Lösung. Denn das konnte er sich nicht vorstellen, daß sie ihn nicht liebte, weil sie ihn eben nicht liebte.

»Da ist wohl jemand anders dahinter?« fragte er, als sie ihm keine Antwort gab. »Sie haben einen anderen gern?«

Er hätte nichts sagen können, was sie mehr von ihm entfernt hätte als das. Denn es bewies nicht nur seine Eitelkeit, sondern es erinnerte sie auch an all das, was sie an jenem Tag plötzlich gemerkt hatte, als sie Laetitia und Jimmy einen Augenblick allein zusammen im Garten gesehen hatte.

»Warum sollte jemand anders dahinter sein?« fragte sie. »Ist es denn unmöglich, daß jemand einfach nicht verliebt ist? Ich habe niemand gern. Vielleicht liegt es nicht in meiner Natur. Ich weiß es nicht. Jedenfalls will ich nicht heiraten. Ich möchte noch lange, sehr lange nicht heiraten. Ich mag nicht. Vielleicht bin ich noch zu jung. Ich weiß nur, daß ich lieber gar nicht heiraten möchte als jetzt heiraten, ehe ich noch Zeit gehabt habe, zu sehen, wie das Leben wirklich ist.«

Wie das Leben wirklich ist! Was konnte sie nur meinen?

»Ich glaube, Sie meinen,« sagte er, »Sie wollen sich vorläufig noch unterhalten. So denken die Mädchen heute. Es weiß zwar keine recht, was sie dabei will, aber das wollen sie nun einmal. Meinen Sie das?«

Sie hatte das keineswegs gemeint, aber nun erklärte sie ihm aufs nachdrücklichste, daß sie eben das gemeint hatte.

»Die Männer genießen ihre Jugend«, sagte sie. »Warum soll ein Mädchen nicht die ihre genießen? Wenn ich je heiraten sollte, so möchte ich mich jedenfalls erst umsehen, ehe es so weit kommt.«

All dies klang außerordentlich unedelmütig, selbstsüchtig und roh. Und sie ärgerte sich so darüber, daß er sie dazu gebracht hatte, so zu sprechen, daß sie ihm den Rücken drehte und allein längs des Rasenbeetes zurückschritt; und er stand da und wunderte sich über die Weiber, die so unerklärlich waren.

 

Als Roger den Salon verließ und durch den Garten nach dem Atelier hinüberging, blieb ein junger Mann im Salon zurück, der ganz starr war, zu sehen, wie selbstsüchtig Männer sein konnten! Jimmy hätte es nie für möglich gehalten, daß ein Mann sich so benehmen konnte, wie Roger sich benommen hatte. Er kannte manche Ehepaare, wenn er sie auch nicht geradezu beobachtet hatte, aber nie hätte er geglaubt, daß die sogenannte Heiligkeit der Ehe zu solch einer Rücksichtslosigkeit führen konnte, wie die in Rogers Benehmen gegen Laetitia, deren Zeuge er eben geworden war.

Das war nicht Liebe! Der Mann hatte sie nie geliebt! Ein Mann, der das tun konnte, was Roger an diesem Abend getan hatte, der sich so unerhört selbstsüchtig benehmen konnte, der war ganz unfähig, auch nur zu ahnen, was Liebe war.

Und Jimmy gedachte seiner Freundschaft. Sogar diese Freundschaft, die doch rein platonisch war, war von wärmeren Empfindungen getragen, als dies gewohnheitsmäßige Zusammenleben, das doch aus beiden eins machen sollte, und das ihnen all die wundersamen Intimitäten gestattete, die das Vorrecht der Liebe waren.

Wenn die Ehe zu einer derart verwahrlosten und jeden Reizes entkleideten Gewohnheitssache wurde, dann dankte er Gott dafür, daß Laetitia seine Freundin und nicht seine Frau war. Aber sie?! Sie hatte doch darunter zu leiden. Seine Freundschaft konnte ihr nicht über alles hinweghelfen. Je mehr er darüber nachdachte – und die ganze Zeit hindurch, während sie gesungen und Roger auf der Violine gekratzt hatte, waren seine Gedanken in einem wilden Aufruhr gewesen –, je mehr er darüber nachdachte, desto mehr wurde er vom Geist Sir Galahads ergriffen.

Er mußte sie aus dieser grauen Tragödie erlösen. So wie er die Sache sah, schien es möglich, daß auch sie noch nie erfahren hatte, was Liebe ist. Sie hatte seine Freundschaft angenommen. War es nicht seine Freundespflicht, es ihr begreiflich zu machen, so daß sie wenigstens von dem Manne, der ihr Liebe schuldete, Liebe fordern konnte?

Mit Roger konnte er nicht darüber sprechen. Aber seine Freundschaft gab ihm das volle Recht, mit ihr darüber zu reden. Platonische Freundschaft war das idealste Verhältnis zwischen der Seele eines Mannes und der einer Frau. Sie gestattete und verlangte ein vollkommenes Verständnis. Laetitia konnte ihn nicht mißverstehen. Er sah seinen Weg vor sich. In dieser letzten Urlaubswoche, die ihm noch blieb, trat er ritterlich in ihr Leben, zerschnitt die Bande gleichgültiger Gewohnheit, die sie gefangen hielten, und ritt wieder davon, das Zeichen ihrer unbefleckten Freundschaft auf seinem Schild. Das war wirkliches Leben. Lebendigeres Leben als er je gekannt hatte. Es war ein heiteres, befreiendes Gefühl, das sein Herz heftig schlagen ließ. Als Rogers Schritte im Garten verhallten, wendete Laetitia sich am Klavier um und sah Jimmys Augen, die sich flammend in die ihren senkten. Sie war so glücklich gewesen, daß Roger sich wieder einmal für ihre gemeinsame Musik interessierte, eines der kleinen Dinge, die sie in jener ersten Zeit gemeinsam erlebt und gefühlt hatten, daß sie die sonderbare platonische Freundschaft, die ihr so kurz vorher angeboten worden war, völlig vergessen hatte.

Sie hatte in diesem Augenblick ein süßes Gefühl ihres Erfolges und fühlte sich erfrischt und angeregt. Wenn sie es auch nur unklar und halb bewußt fühlte, im tiefsten wußte sie, was der Grund war. Eine Frau vergißt das Kleid nicht, das sie trägt; sie sieht es beständig, auch wenn sie es selbst anhat. Das Charmeusekleid war es. Sie erkannte es schon in der wonnigen Empfindung, wenn die Seide ihre Haut berührte. Sie konnte es in Augenblicken sehen, wenn sie das Kleid jetzt in einem Spiegel, jetzt im Glas eines gerahmten Bildes beim Vorübergehen schimmern sah.

Von diesen sichtlichen Beweisen abgesehen, nahm sie ja die ungreifbare psychologische Wirkung wahr, die es nicht nur auf sie, die es auf alle übte, die sie darin sahen. Die kleine Szene in ihrem Schlafzimmer, deren augenblicklichen Verdruß sie längst vergessen hatte, hatte ihr wiederum gezeigt, welche Wirkung das Kleid auf Roger gemacht hatte. Selbst das neue Bild, das er malte – im Unterbewußtsein merkte sie wohl, daß es das gleiche bedeutete und bewies. Lange schon war seine geistige Energie unterhöhlt durch das Leben, das er führte; jetzt aber war eine neue Jugendkraft in sein Werk gekommen. Und ihr war es nicht anders ergangen. Sie war eine andere Frau geworden in dem Augenblick, in dem sie das Kleid über ihre Schultern geworfen hatte. Der heutige Abend, an dem sie es bei ihrer ersten Gesellschaft trug, glich einem Abend aus Tausendundeiner Nacht. Das Charmeusekleid hatte Zauberkräfte. Ein Wunschteppich oder Aladdins Wunderlampe konnte nicht mehr davon haben. Es trug sie in Traumländer, in Gedankenreiche, die sie längst im Meer versunken geglaubt hatte, wie die sagenhafte Atlantis.

Und auch Ellen war es nicht anders gegangen. Ellen hatte etwas getan, was sie noch nie getan hatte. Während sie ihr beim Ankleiden geholfen hatte, hatte sie ein Lied vor sich hingesummt. Als perfektes Stubenmädchen wußte sie sehr genau, daß Singen eine Freiheit war, die sie sich nur in der Küche und in dazugehörigen Räumen herausnehmen durfte; sie beging also damit einen Bruch aller Vorschriften und Regeln, den sie sich selbst nie verziehen haben würde, wenn sie es gewußt hätte. Aber sie wußte gar nichts davon. So groß war die Wirkung des Kleides auf ihre weiblichen Sinne, daß die Töne des Liedes ihr auf die Lippen traten, ohne daß sie selber sie hörte. Und als Laetitia es ihr lächelnd sagte, und sie sich auf die Zunge biß vor Scham, daß sie etwas so Ungeheuerliches getan hatte, wußte sie nicht einmal, was sie gesungen hatte.

Mit schwerer Reue hatte sie Laetitia gefragt, was sie denn gesungen hätte, und Laetitia mußte ihr wahrheitsgemäß sagen, daß es das folgende Lied gewesen war:

»Und wenn ich keinen kriege,
Geh' ich aufs Land zurück,
Dort füttre ich die Hühner
Und pfeife auf mein Glück!«

Das machte allerdings die Sache nicht besser, da Ellen vom Lande kam und ihre ganze Jugend auf einem Gut verbracht hatte. Auch war der Sinn sehr deutlich, da sie nicht mehr in der ersten Blüte der Jugend stand, und wenn sie auch, wie Roger ihr gesagt hatte, hübsche Hände hatte, so hatten sie ihr bisher nichts genützt. Sie biß sich daher auf die Lippen und verharrte in vollkommenem Schweigen, bis sie mit dem Helfen fertig und Laetitia vollkommen angezogen war; dann war sie beinahe in die Küche gestürzt, um der Köchin zu sagen, was ihr passiert war.

Es hat nun allerdings mit der Geschichte Laetitias nichts zu tun und berührt auch die psychologische Wirkung des Charmeusekleides nicht weiter, aber die Köchin, die verwitwet war, sagte, daß, wenn sie noch einmal die Wahl hätte, einen zu kriegen oder die Hühner zu füttern, sie das letztere bei weitem vorziehen würde.

Die Wirkung des Kleides auf Barbara war für Laetitia nicht minder deutlich.

Dies war der einzige Schatten in all dem heiteren und befreienden Licht, das so plötzlich auf ihren Weg gefallen war. Barbara litt; das wußte sie. Sie war sich zwar nicht klar darüber, daß ihr Leiden Eifersucht war, aber sie wußte, daß Jimmy sich von Barbara abgewendet hatte und daß das Kind, das sie liebte, und für das sie ihr Leben gegeben hätte, über die erste Enttäuschung gestrauchelt und gefallen war und sich das Herz dabei blutig gerissen hatte.

Das mußte kommen. Das schlimmste daran war für Laetitia, daß es durch sie gekommen war. Denn sie glaubte noch immer, daß sie den Jüngling durch das, was sie am ersten Nachmittag zu ihm gesprochen, abgeschreckt hatte. Aber, wenn er sich so leicht abschrecken ließ, dann wäre es kein Glück für Barbara gewesen. Dann war es viel besser, wenn sie den leidenschaftslosen Wilfrid heiratete, der ihr wenigstens die soliden Vorteile des Lebens zu bieten hatte, und sie auch in Pflicht und stiller Zuneigung weiter bieten würde: sie fielen ihr dann automatisch während ihres ganzen Lebens zu.

Barbara war tief verwundet, und Laetitia ahnte noch kaum, wie tief es ihr ging. Dies war der einzige Schatten in all dem strahlenden Licht, in dem sie wandelte, fast seit dem Augenblick, in dem sie das Charmeusekleid zum erstenmal angezogen hatte.

Und so wie Jimmy der erste gewesen war, der ihr klargemacht hatte, welch einen Unterschied das Kleid in ihrer Erscheinung bewirkte, so brachte er ihr nun auch zum Bewußtsein, welche ungreifbare, aber bedeutsame Wirkung es auch auf alle anderen ausübte.

Als sie sich jetzt am Klavier umwendete und seinen Blicken begegnete, lächelte sie, nicht nur, weil sie sich in diesem Augenblick als eine glückliche Frau fühlte, sondern sie lächelte ihn an, als ob er es gewesen wäre, der sie glücklich gemacht hatte.

Er glaubte, sie lächle, weil sie seiner Freundschaft gedachte. Wie konnte eine Frau, die eben noch so gelitten hatte, wie Laetitia gelitten haben mußte, so glücklich lächeln, wenn sie nicht fühlte, daß das Leben ihr noch etwas Besseres zu bieten hatte, als die unerhörte Rücksichtslosigkeit und Selbstsucht, mit der ihr Mann sich soeben gegen sie benommen hatte?

Jimmy beugte sich vor. In diesem Augenblick, in dem er sie so lächeln sah, fühlte er ein heftiges Verlangen, seine Hand auszustrecken und die ihre zu ergreifen, um sie dieser Freundschaft zu versichern, bei der sie, wie er meinte, ihre Zuflucht suchte. Aber im gleichen Augenblick erinnerte er sich des festen Entschlusses, zu dem er nach ihrer Begegnung im Garten gelangt war, und er konnte gerade noch seine Hand rechtzeitig zurückziehen, ehe die Erfüllung brennheiß auf den Gedanken gefolgt war. Er durfte ihre Hand nicht berühren. Er wußte zwar nicht genau, weshalb. Irgendein Instinkt der Selbsterhaltung warnte ihn davor, und mit einer Anstrengung, unter der alle seine Sinne schmerzlich litten, hielt er die Hände fest ineinander verschränkt.

»Haben Sie auch vollkommen begriffen,« fragte er, und seine Stimme klang seltsam ruhig in seinen Ohren, während sein Herz so heftig klopfte, »haben Sie auch vollkommen begriffen, was ich damit meinte,« wiederholte er, »als ich neulich von platonischer Freundschaft sprach?«

Sie hätte am liebsten hellauf gelacht. Es war nicht Unfreundlichkeit; im Gegenteil, es war ein fast zärtliches Bedürfnis zu lachen, aber es war doch so stark, daß sie, da hier im Zimmer keine hohen Madonnenlilien standen, hinter denen sie sich verbergen konnte, zur Lampe an den Tisch trat. Sie beugte ihren Kopf unter den Lampenschirm, so daß er ihr Gesicht nicht sehen konnte, und richtete den Docht, schraubte ihn erst höher und dann wieder tiefer, als hätte sie endlich die richtige Höhe gefunden.

»Ich glaube, ich hab' es begriffen«, sagte sie dann ebenso ruhig wie er. Er war davon noch nicht völlig überzeugt und sprach seine Zweifel aus.

»Sie glauben vermutlich,« sagte er, »daß Freundschaft und insbesondere platonische Freundschaft, eine lahme, laue Sache ist; daß sie in einer Art negativer Kameradschaft besteht, die ganz zufrieden ist, wenn sie sich gelegentlich aussprechen darf, aber diese Gelegenheit nicht sucht.«

Er hatte dies ohne Stammeln und ohne Zögern gesagt und war erstaunt über seine eigene Beredsamkeit. Das war wieder nur sie. Noch nie hatte er zu einer Frau so sprechen können. Sie ließ ihn die Worte finden, sie zeigte ihm neue Ziele und einen Sinn des Lebens, den er vorher nie gekannt hatte. Er sah sich selbst und alles, was ihn bewegte und erfüllte, mit außerordentlicher Klarheit. Er verstand sich selbst. Es gab nicht viele Frauen, die einem Manne dies ermöglichten und ihn zu solcher Höhe erhoben.

»Glauben Sie, daß meine Gefühle von dieser Art sind?« fuhr er fort.

Sie wußte nicht, was sie sagen sollte. Er sprach so ernst und offenbar mit so bestimmten Absichten, daß sie seine Fragen nicht einfach ignorieren und unbeantwortet lassen konnte. Und nachdem sie die Lampe gerichtet hatte, war keine Stelle mehr im Zimmer, an der sie ihr Lachen verbergen konnte. Das machte übrigens nicht viel, weil ihr bereits nicht mehr zum Lachen zumute war. Sie begann sich im Gegenteil ein wenig zu fürchten; sie wußte nicht, was er noch alles sagen würde. Und sie fing auch an zu besorgen, daß die ganze seltsame Verwicklung auch in ihm eine jener tiefen Wunden hinterlassen könnte, die so lange Zeit zum Heilen brauchen und manchmal nie wieder völlig heilen.

Seine Stimme und sein Gesicht verrieten eine so starke Erregung, jene Erregung, die denen, die sie nicht erwidern, immer ein bißchen verrückt erscheint. Sie fühlte, daß sie auf ihn eingehen und ihm irgendwie entgegenkommen mußte. Es hätte keinen Zweck gehabt und nicht gut getan, wenn sie ihm geradeheraus gesagt hätte, daß diese ganze platonische Freundschaft sinnloses Jungengerede war, oder wenn sie ihm geraten hätte, fortzugehen und sich einmal gründlich und wirklich zu verlieben. Er glaubte ja an diese Freundschaft, ihm war jedes Wort, das er sprach, heiliger Ernst. Das konnte sie sehen und hören.

»Sagen Sie mir genau, was Sie fühlen«, sagte sie. »Vielleicht kann ich Ihnen helfen.«

»Sie mir helfen!« sagte er. »Ich will Ihnen helfen!«

Sie sah ihn verwundert an und fragte ihn, wie er das meinte.

»Glauben Sie, ich habe nicht gesehen,« sagte er, »auch in diesen wenigen Malen, die ich hier war, wie leer Ihr Leben ist?«

»Leer?«

Die Verwunderung in ihrem Ton schreckte ihn nicht ab. Er war nun einmal auf ritterlicher Fahrt. Von Kopf zu Fuß gerüstet, hoch zu Roß, die goldenen Sporen an den Füßen. Nichts konnte ihn mehr hemmen. Er hatte ihr sein Schwert geweiht, und mit lautem Schlachtruf ritt er in die Schranken.

»Ja – leer!« wiederholte er. »Das Leben einer Frau muß leer sein, wenn so wenig Liebe darin ist, wie in dem Ihren.«

Diese unerhörte Aufrichtigkeit raubte ihr den Atem. Sie fand keine Worte, sie wußte nicht, was sie sagen sollte, um ihn zum Schweigen zu bringen, und schweigend ließ sie ihn weiterreden. Und nun selbst nicht länger erschrocken über seine eigene Kühnheit, fuhr er fort:

»Ich will nicht sagen, daß Ihr Mann Sie nicht liebt oder nicht wenigstens geliebt hat. Sie sind eine verheiratete Frau, und ich würde kein Recht haben, mit ihm darüber zu sprechen, aber unsere Freundschaft gibt mir das Recht, Ihnen zu sagen, daß Sie insofern selbst schuld sind, als Sie es zulassen, daß er Ihnen seine Liebe nicht mehr zeigt, daß er einfach vergißt, sie Ihnen zu zeigen. Sie lassen Ihr Leben vertröpfeln, bis es leer sein wird, wie ein zerbrochener Krug. Darum habe ich Ihnen meine Freundschaft angeboten, weil ich das fühlte. Ich wollte Ihnen irgendwas geben, womit Sie Ihr Leben ausfüllen könnten. Wir können einander ja nicht viel sehen. Ich bin ja fast immer auf See. Aber wir können einander schreiben. Ich habe mir oft gedacht, wie herrlich es wäre, wenn ich eine Frau wüßte, der ich schreiben kann, wo immer ich bin, aus jeder Gegend der Welt. Und jetzt habe ich Sie gefunden. Und so oft ich auf Urlaub zu Hause bin, können wir uns treffen. Dann kann ich Ihnen meine Freundschaft beweisen. Dann werde ich immer hierherkommen. Ich werde Ihnen immer jede Stunde widmen, die ich dienstfrei habe. Sie wissen nicht, was diese Freundschaft für mich bedeutet. Es ist das Beste, was mir noch im Leben begegnet ist.«

Von den verschiedenartigsten Bewegungen hin und her geworfen, hörte Laetitia diesen Redestrom an. Sie hätte ihn ohrfeigen mögen für seine Unverschämtheit. Sie hätte weinen mögen, weil es so wahr war, was er sagte. Sie hätte ihn in ihre Arme nehmen und küssen können, weil er so unschuldig und ahnungslos in seinem jugendlichen Idealismus daherredete. Dies war ihr letztes Gefühl, und ihre Stimme war fast zärtlich, als sie antwortete. Da sie ihn noch immer nicht völlig verstand, so tat sie etwas, was sie vielleicht nicht getan hätte, wenn sie nur die geringste Ahnung gehabt hätte, welche Folgen es nach sich zog. Sie beugte sich vor und streckte ihm ihre Hand hin, zur Besiegelung der Freundschaft, die er ihr bot.

»Ich weiß, Sie meinen es gut«, sagte sie freundlich. »Ich kann ja aus jedem Wort hören, wie gut Ihr Herz ist und wie großherzig Sie fühlen. Aber Sie sind noch zu jung, als daß Sie selbst völlig begreifen könnten, was Sie da alles gesagt haben. Wir wollen einander schreiben. Es wird mir eine große Freude sein, aus allen Erdteilen Ihre Briefe zu bekommen, in denen Sie mir sagen, was Sie tun, was Sie denken, was für Hoffnungen Sie haben. Ich werde mich immer freuen, Sie hier zu sehen, wenn Sie wiederkommen. Und eines Tages werden Sie sich wirklich verlieben, und dann werden Sie glauben, daß diese Liebe sich vom ersten Augenblick bis zum letzten gleichbleiben wird. Und dann werden Sie mir alles sagen. Und dann werde ich Ihnen mit all meiner Erfahrung bei Ihrer Begeisterung helfen, und so wollen wir sehen, ob wir nicht dafür sorgen können, daß Ihr Leben kein leeres wird, und auch nicht das des Mädchens, das Sie dann lieben werden.«

Ihre Stimme war warm und innig. Sie fühlte die Freude eines romantischen Erlebnisses. Und immer noch hielt sie ihre Hand ausgestreckt, daß er sie nehmen sollte.

Er aber fühlte drohende Gefahr, als er auf ihre Hand sah. Halb bewußt fühlte er, was es bedeutete, wenn er jetzt ihre Hand berührte. Aber er empfand eine noch größere Furcht vor etwas, das ihm im Augenblick viel schlimmer schien als diese Gefahr: er fürchtete, mißverstanden zu werden.

Wenn sie dachte, daß er sich jemals in eine andere verlieben könnte, dann verstand sie ihn nicht. Wenn sie glaubte, daß irgendeine Leidenschaft je an die Stelle dieser Freundschaft, die er für sie empfand, treten und sie verdunkeln könnte, dann tat sie ihm tieferes Unrecht als sie ahnte. Und dieses Gefühl, daß sie ihm schweres Unrecht tat, vermochte er nicht zu ertragen. Die Gefahr, ihre Hand zu berühren, schien nichts im Vergleich. Wenn er je im Leben das Bedürfnis gehabt hatte, verstanden zu werden, so war es jetzt, und wenn es je einen Menschen gab, von dem er nicht mißverstanden werden wollte, so war sie es.

»Sie verstehen mich nicht im geringsten,« sagte er, »wenn Sie glauben, daß ich mich je in eine andere verlieben werde.«

Wenn das wahr war, dann verstand sie ihn wirklich nicht. Selbst wenn sie ihrer ersten Begegnung mit Roger gedachte, hatte sie keinen jungen Menschen mit so reichem Gefühl, der so zum Liebhaber bestimmt gewesen wäre, gesehen. Wenn sie jetzt ein junges Mädchen gewesen, wenn sie Barbara gewesen wäre, wie heftig würde ihr Herz dann bei dem Ton seiner Stimme geschlagen haben, als er nach Verständnis schrie. Wie alt war er? Zweiundzwanzig? Dreiundzwanzig. Sie hatte genug Ahnung von den Männern, daß sie wußte, daß es in ihrem Idealismus eine Periode gab, in der sie sich selbst mit dem Gelübde ewiger Entsagung geißelten. Die das taten, waren die leidenschaftlichsten Liebhaber. Auch er war bestimmt, ein rechter Liebhaber zu werden, wenn er erst zur Klarheit kam und nicht mehr blind im Dunkeln tappte.

Jetzt wünschte sie, daß sie nie zwischen ihn und Barbara getreten wäre. Etwas vom Glanz seiner Liebesfähigkeit umgab sie bereits, seitdem sie das Charmeusekleid trug. Mit solcher Liebe mußte ein Weib das Leben beginnen, wie immer es auch enden mochte. Die bequeme und behagliche sorgenfreie Existenz, die sie an Wilfrids Seite für Barbara in Aussicht genommen hatte, war doch nur ein mutloses und negatives Dasein. Einmal solche Liebe zu erleben, wie dieser junge Mensch da sie zu erleben und zu geben imstande war, war das Richtige, war, was die Natur wollte, um ihre Ziele zu erreichen. Er war der Mann für ihre Barbara. Sie hatte die größte Angst, daß Barbara jetzt, im gleichen Augenblick, draußen im Garten, aus gekränkter Liebe Wilfrids Antrag annehmen könnte.

Wenn sie dies tat, so war es nur Laetitias eigene Schuld. Es war ja völlig wahr, was dieser da – Jimmy – gesagt hatte. Ihr Dasein war ein leeres. Sie hatte es zugelassen, daß Roger allmählich vergaß, es auszufüllen. Und infolge der Leere in ihrem eigenen Herzen war sie dahin gekommen, für Barbara nur mehr die äußeren Vorteile, die sorgenfreie Existenz zu suchen. War es jetzt zu spät, zu spät für Barbara draußen im Garten, zu spät für ihn, der hier im Zimmer saß und sich einer ewigen platonischen Freundschaft weihte?

»Vielleicht verstehe ich Sie besser als Sie selber,« sagte sie, »Sie glauben jetzt, daß diese Freundschaft das große Ereignis in Ihrem Leben sei, aber warten Sie nur einmal, bis Sie einem Mädchen begegnen, das ebenso jung ist wie Sie und das Ihnen beides geben kann, Liebe und Freundschaft. Hier ist meine Hand. Warum nehmen Sie sie nicht? Das soll Freundschaft bedeuten, bis Sie das Mädchen finden, das Sie lieben können. Dann werden Sie meine Freundschaft nicht mehr brauchen – zum mindesten nicht für sich allein. Vielleicht werden Sie sie mit ihr zusammen noch haben wollen; und wenn es so ist, soll sie Ihnen werden. Hier ist meine Hand. Nehmen Sie sie doch!«

Er machte einen letzten Versuch, zu widerstehen. Er empfand dunkel, daß er an einem Abgrund stand, daß er Gefahr lief, in ein Schicksal zu versinken, das er nie für möglich gehalten hätte. Im Geiste sah er all die vielen Gesichter der jungen Leute, die er kannte, alle riefen sie ihm zu, was für ein verkommener Mensch er war. Er hörte ihre Stimmen; er wußte genau, was sie von ihm dachten und sagten. Im nächsten Augenblick waren sie verschwunden, nicht daß Finsternis sie vor ihm verhüllt hätte – sie verschwanden vor dem blendenden Licht der Erfüllung. Er hatte die Hand, die sie ihm bot, mit seinen beiden ergriffen und bedeckte sie mit einer nicht mehr zu hemmenden Flut leidenschaftlicher Küsse. Laetitia war so überrascht, daß sie nicht einmal daran dachte, ihm ihre Hand zu entziehen. Sie saß ganz verblüfft da und lauschte, allerdings mit laut klopfendem Herzen, auf die Worte, die zugleich mit seinen Küssen aus seinem Munde strömten, wie ein überschwellender Gießbach seine Wasser zärtlich und wild über die Kiesel hinströmen läßt.

»Ich werde diesem Mädchen nie begegnen!« rief er. »Wie könnte ich ihr je begegnen! Sie müßte Ihnen ganz gleichen, ganz so wie Sie sein in allem – die Augen, das Haar, die Lippen, der Ton Ihrer Stimme, das entzückende Lächeln. Ich weiß, ich tue etwas Schreckliches. Sie sind verheiratet. Ich weiß, was ich tue, ist furchtbar. Ich habe mich selbst zu täuschen gesucht, mir einreden wollen, es wäre Freundschaft. Ich weiß jetzt, daß es nicht Freundschaft ist. Wie kann ich mich je verlieben, da ich doch Sie liebe! Ich liebte Sie vom ersten Augenblick an, als ich Sie hier in diesem Zimmer auf dem Stuhl stehen und in den Spiegel schauen sah!«

So erstaunt war Laetitia, daß sie ihre Hand immer noch in den seinen ließ, und nur flüsterte: »In diesem Kleid?«

»Was hat das Kleid damit zu tun?« rief er. »Sie sind es, um Sie handelt es sich, die es trägt. Ich habe mir einzureden versucht, es sei Freundschaft, wahrscheinlich nur, um Ihnen näherkommen zu dürfen, so nahe, wie ich jetzt bin, wie ich mein ganzes Leben lang zu sein wünschen werde, näher, als ich Ihnen je wieder zu sein wagen werde. Ich weiß, alles, was ich da sage, ist schrecklich. Sie sind verheiratet, und dennoch liebe ich Sie. Noch schlimmer. Ich habe es Ihnen sogar gesagt. Ich weiß, daß das furchtbar ist. Und glauben Sie nicht, daß ich es blind und unwissend getan habe – o nein, ich wußte es. Aber ich konnte nicht anders – ich mußte es aussprechen. Und vielleicht, wenn Sie darüber nachdenken werden, wenn ich fort bin, werden Sie nicht gar zu schlecht von mir denken. Ich habe Sie nicht gebeten, mir einen Kuß zu geben – ich würde das nie wagen –, ich bitte Sie um nichts. Ich habe Ihnen nur gesagt, daß ich Sie liebe, sonst nichts. Ich glaube, Sie sind die entzückendste Frau in der ganzen Welt. Wenn ich ein alter Mann bin, werde ich noch daran denken, wie reizend Sie waren und ich werde mich freuen, daß ich das Bild Ihrer Schönheit in mir nie dadurch verdorben habe, daß ich eine andere heiratete!«

Er ließ ihre Hand los. Er ließ sie plötzlich los, als ob sie glühendes Eisen wäre und er sie nicht länger halten könnte, weil der Schmerz zu heftig wurde. Er ließ ihre Hand los und sprang auf. Ehe sie überhaupt völlig begriff, was geschehen war, ging er bereits mit raschen Schritten zur Tür. Sie hatte weder die Kraft noch auch den Wunsch, ihn zurückzurufen. Ohne sie auch nur noch einmal anzusehen, schritt er hinaus. Sie hörte seine Schritte, da er durch die Vorhalle ging, und hörte die Haustür ins Schloß fallen.

Er war fort.

 

Am nächsten Morgen fuhr Roger auf seinem Fahrrad ins Dorf. Er flog die Straße bergab und verschwand im Pfarrhof. Zehn Minuten später kam er wieder zum Vorschein, ein großes Buch unterm Arm. Von da fuhr er nach der Dorfschule. Die Kinder waren beim Unterricht. Mitten in der Stunde öffnete Roger die Tür des Schulzimmers und sah hinein. Daß die ganze Klasse bei seinem Anblick im gemeinsamen Aufsagen irgendeines erstaunlichen Bestandteiles des menschlichen Wissens innehielt und verstummte, kümmerte ihn nicht. Er winkte dem Schullehrer, als ob es in diesem Augenblick nur eine Angelegenheit von wirklicher Bedeutung und Wichtigkeit gegeben hätte, und das war die, die ihn herführte.

Fünf Minuten später verließ er die Schule mit einem zweiten dicken Buch unterm Arm. Dann fuhr er zum Schneider, störte eine gesellige Unterhaltung des Dorfklubs auf und rief Hinds auf die Straße hinaus. Nach einer eiligen Besprechung erhielt er ein weiteres Buch, und so mit drei Büchern ausgerüstet, konnte er nicht mehr radfahren und schob daher sein Rad nach Hause, so schnell er es vermochte.

Das war das erste Ereignis von einiger Bedeutung, das sich am Tage nach der Abendgesellschaft in seinem Hause zutrug. Das zweite war, daß Jimmy an der Haustür erschien. Ellen, die ihm öffnete, sah einen der beiden Herren vom Abend vorher am Tor; er schien bedrückt auszusehen und fragte in einem Ton wie jemand, der an die unrichtige Tür geraten zu sein fürchtet, ob Frau Campion zu sprechen sei.

»Ich werde ihr's sagen«, erwiderte sie.

Die Wirkung auf ihre Herrin, als sie den Besuch anmeldete, war eine derartige, daß sie nicht umhin konnte, die Sache nachher mit der Köchin zu besprechen. Laetitia fragte, wo dieser Herr wäre, und eilte dann über die Hintertreppe in ihr Zimmer hinauf. Kaum fünf Minuten später sah Ellen sie wieder herunterkommen: sie hatte ihre älteste, schlechteste Gartenschürze um, hatte den »Fetzen von einem Hut« – dies waren die Worte, die Ellen gebrauchte – schief auf den Kopf gesetzt, und ihr Kleid aus Rogers ausrangierter Draperie sah aus, als stammte es aus den Requisiten eines bankrotten Zirkus.

»Die Frau,« sagte die Köchin, als sie alles gehört hatte, »die Frau weiß schon, was sie tut. Nur er hat einen Hirnkasten, in dem es so aussieht, als wenn man eine Zinnschüssel voll Linsen auf die Erde schüttet, daß alle durcheinander laufen.«

Aus dieser Charakterisierung gewann Ellen den Eindruck, daß Laetitias Geist seine bestimmte Form hatte. Und wenn Laetitia eine Aufgabe vor sich sah, dann war Ellens Eindruck nicht so unrichtig. Die Köchin hatte ganz recht. Laetitia wußte sehr genau, was sie tat, als sie dieses Kleid anzog. Und der Anblick von Jimmys Gesichtsausdruck, als er in die Halle trat, bestärkte sie darin. Er sah aus, als hätte sie ihm einen Faustschlag ins Gesicht versetzt. Das hatte sie in gewissem Sinn auch getan. Es war ein Ausdruck von Schmerz, der blitzschnell kam und ganz langsam wieder verschwand – wenn er völlig schwand –, und er bedeutete, daß sie gleichzeitig einen Sieg erfochten hatte und die Waffen streckte. Sie wußte im Augenblick, daß sie zugleich siegte und besiegt worden war.

Wenn sie am Abend vorher das volle Gefühl weiblichen Triumphes empfunden hatte, als er das Zimmer so plötzlich verlassen hatte, und sie wußte, daß es aus tödlicher Angst vor ihrem Reiz geschah, so war dieses Gefühl für immer dahin, als er sie jetzt sah. Was sie jetzt verlor, konnte sie nie wieder völlig zurückerobern. Es war von ihr gewichen wie ein Talisman, der geraubt worden war. Es war unwiederbringlich verloren, und sie fühlte den Verlust so deutlich, als wäre die Kette, an der der Talisman hing, ihr gewaltsam vom Halse gerissen worden.

»Sie kamen gerade, als ich in den Garten hinaus zur Arbeit gehen wollte«, sagte sie.

Er stand mit dem Hut noch in der Hand und drehte den Rand ein wenig in den Fingern; er stand so aufrecht wie er konnte, aber so oft er sie ansah, war ihm zumute, als erhielte er jedesmal einen Schlag, der ihn und seinen Stolz zu Boden fällte.

»Sie wollen wohl sagen, daß ich gar nicht hätte kommen sollen«, gab er zur Antwort.

»Warum denn nicht?«

Wie konnte sie das nur fragen? Warum nicht? Weil er sich am Abend zuvor ungehörig benommen hatte, benommen hatte, wie sich nur ein unanständiger Mensch benimmt. Er hatte das Unsagbare getan, was ihn unter seinen Kameraden unmöglich machen mußte, und er schämte sich dessen nicht einmal. Er hätte fortgehen müssen, ehe er noch ein Wort gesprochen, und freute sich doch, daß er gesprochen hatte.

»Ich bin diese Nacht überhaupt nicht zu Bett gegangen«, sagte er. »Was haben Sie getan, nachdem ich fort war? Konnten Sie schlafen?«

Sie dachte daran, wie sie zu Bett gegangen war – die ganze Seele von dem warmen Gefühl eingehüllt, daß doch noch etwas von dem an ihr sein mußte, was einst den Pfarrer von Saint Mary Abbots angezogen hatte, was den wohlhabenden Fabrikanten von seinen Geschäften im Norden, die ihn so sehr in Anspruch nahmen, fortgeführt, was Rogers Herz in Flammen gesetzt hatte. Sie erinnerte sich, wie sie sich unter die Bettdecke geduckt hatte, wie jeder Gedanke ihr wohlgetan hatte, gleichsam wie eine warme Welle nach der anderen, bis der Schleier des Schlafs süß über ihre Augen gefallen und sie in selige Vergessenheit hinübergeglitten war.

Und da sie an all dies dachte, sagte sie:

»Ich habe lange nicht einschlafen können.«


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