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Neuntes Kapitel

»Ich konnte doch nicht sehen, was für eine Art Frauenzimmer sie ist.«

Fräulein Limpnett sah hierin eine derartige Gleichgültigkeit, daß die Aufregung, die eine Gesellschaft mit Rinderbraten notwendig mit sich brachte, sie nicht genügend erklären konnte.

»Ich habe sie nur von oben gesehen, als sie vor der Tür stand, so daß ich eigentlich nur ihren Hut sah. Was für ein Typus ist es denn? Er malt wieder mein Porträt. Ich wußte gar nicht, daß er noch ein anderes Frauenzimmer malen wollte«, sagte Laetitia.

Fräulein Limpnett sah zur Zimmerdecke empor, weil diese in der Richtung zum Himmel, zu dem sie eigentlich emporschauen wollte, das nächste war. Sie hatte sich kürzlich ein Buch von der Leihbibliothek kommen lassen. Es hieß »Künstlerfrauen«. Da es eine Übersetzung aus dem Französischen war, hatte sie es sofort zurückgeschickt. Jetzt bedauerte sie, daß sie es nicht gelesen hatte, denn dann hätte sie Laetitia vielleicht eher begriffen. Aber Roger Campion! Roger Campion konnte doch nicht so schlecht sein wie ein französischer Künstler! »La Nue«!

»Ich kann Ihnen nur soviel sagen ...« begann Fräulein Limpnett und erzählte ihr mit allen Einzelheiten, wie das junge Frauenzimmer sich am Abend vorher benommen hatte, als sie aus dem Atelier gekommen war.

Aber Laetitia lachte nur! Es gibt für Menschen von der Sittenstrenge Fräulein Limpnetts nichts Verstimmenderes, als wenn derartige Mitteilungen, die sie ungern genug gemacht haben, in dem Hörer keinen Verdacht erregen, sondern nur mit einem fröhlichen und vertrauensvollen Lachen erwidert werden. Wenn Laetitia all die Zeichen von Leiden gezeigt hätte, die die ersten Symptome einer Blutvergiftung mit Eifersucht sind, dann würde Fräulein Limpnett sich nicht nur mitfühlend gezeigt und sie bedauert haben, sondern sie hätte ihr auch nach Kräften geholfen, den Grund ausfindig zu machen, aus dem Roger sich dieses junge Frauenzimmer als Modell geholt hatte. Indessen sollte, wie es schien, gar nicht nachgeforscht werden, und Fräulein Limpnett fühlte sich nicht nur bis zu einem gewissen Grade gekränkt, sondern vor allem schwer enttäuscht.

»Allerdings, wenn Sie es so nehmen,« bemerkte sie, »habe ich nichts mehr zu sagen. Es ist ja nicht meine Sache. Geben Sie mir das Geld, meine Liebe, und ich gehe und besorge das Lendenstück.«

Während sie die Dorfstraße hinabschritt, dankte sie Gott, daß sie nicht zu den nachtragenden Menschen gehörte. Sie war sich bewußt, daß sie nach den Geboten der Nächstenliebe gehandelt hatte und auch weiterhin danach handelte. Ihr zartfühlender Rat war nicht beachtet worden. Zu dem Abendessen war sie nicht eingeladen. Aber es lag nicht in ihrer Art, daraufhin den verlangten Liebesdienst zu verweigern und den Rinderbraten nicht zu besorgen.

Jeder Schritt zum Fleischer war eine Pilgerfahrt, bei der die fehlende Wölbung im Bau ihres Fußes ihr die gleichen Dienste tat, wie die Einsätze in ihren Schuhen.

Wenn es Fräulein Limpnett auch nicht gelungen war, Laetitias Seelenfrieden zu stören, so hatte sie doch ihre Neugier erregt. Roger malte ein neues Bild und hatte ihr kein Wort davon gesagt. Den ganzen Vormittag, während sie die Vorbereitungen für die Abendgesellschaft traf und Barbara, in einer Aufregung, die auch ihr keine Zeit ließ, sich mit ihren Gefühlen zu beschäftigen, bald dahin, bald dorthin rennen und alles mögliche für sie besorgen mußte, überdachte Laetitia diese merkwürdige Tatsache. Zum erstenmal, soweit sie sich erinnern konnte, hatte Roger eine Arbeit angefangen, ohne von allen Leuten mehr oder minder zu verlangen, daß sie jede andere Tätigkeit unterbrechen und stille stehen und ihn darüber reden hören sollten.

Sie hatte im Augenblick viel zuviel zu tun, um mehr darüber zu denken, als daß es ein ungewöhnliches Ereignis war. Fräulein Limpnett hatte das Lendenstück gebracht. Als es auf dem Küchentisch lag und aus dem Bogen des »Kentischen Boten« gewickelt war, in dem der Fleischer es verpackt hatte, da hatte selbst die Köchin ausgerufen: »Gott sei Dank!« Dann hatte sie es mit beinahe zärtlichen Händen genommen und triumphierend zur Küchenwage getragen und, als der Zeiger neun Pfund und sieben Lot wies, erklärt, daß das wenigstens schwerer als Nußfleisch wog!

Ohne die geringste Ahnung von dem, was sich in seinem Hause vorbereitete, kam Roger zum Mittagessen. Da er kein Modell hatte, war er mit der Arbeit früh fertig geworden. Er war hungrig wie ein Jagdhund. Laetitia hatte noch nie solchen Appetit bei ihm beobachtet, und es kam ihr die plötzliche Idee, diesen Appetit noch zu steigern, um den Schock, den er am Abend unzweifelhaft empfinden mußte, wenn er den Bratenduft aus der Küche roch, abzuschwächen. Sie wechselte das Kleid noch vor dem Mittagessen und lockte ihn damit, ihr Porträt möglichst rasch zu beginnen. Es gelang ihr auch, ihn ins Atelier zurückzulocken, ohne daß er mehr Nahrung zu sich genommen hatte als einen Apfel, ein paar Paranüsse und eine Tasse heißen Malzkaffees.

Seine Energie bei so wenig Nahrung war außerordentlich. In dem Augenblick, in dem er Laetitia wieder in dem Charmeusekleid sah, wollte er auch sofort an die Arbeit gehen. Die Schwierigkeit war gewesen, ihn dazu zu bringen, daß er überhaupt etwas zu sich nahm! Er hatte nicht einmal die Geduld, den Apfel zu schälen, und zerquetschte die Nüsse mit dem Nußknacker, als ob er sie zertreten hätte. Der Malzkaffee war zu heiß, und er stellte die Tasse mit der Untertasse heftig auf den Tisch und stand auf.

»Ich kann das Zeug nicht trinken!« rief er. »Es ist zu heiß ... es ist überhaupt untrinkbar! Ich weiß wirklich nicht, ob Kaffee nicht ebensogut wäre, wenn nicht besser.«

»Würdest du heute abend vielleicht gern nach dem Essen eine Tasse Kaffee trinken?« fragte Laetitia mit der Sorge und Bereitwilligkeit einer liebevollen Gattin, die alles gerne tun will, was in ihrer Macht steht, um Gaumen und Magen ihres Mannes zu befriedigen.

»Jawohl!« antwortete er kurz und schritt aus dem Zimmer nach dem Atelier hinüber, als hätte der Malzkaffee dadurch, daß er zu heiß war, ihn persönlich beleidigt, so daß er nun bereit war, echten Bohnenkaffee zu trinken, um ihn gleichsam zu strafen.

Sie kannte diese kleinen persönlichen Verärgerungen an ihm und die Rachsucht, die er dann empfand. Es war eine Inspiration und Berechnung zugleich von ihrer Seite: sie war sich dessen bewußt gewesen, als sie ihm den Kaffee anbot. Einmal, als sie noch einen Hund gehabt hatten und dieser eines Abends die warme Milch, die für Roger zurechtgestellt war, gestohlen und ausgesoffen hatte, hatte sie gesehen, wie er mit sorgfältiger Berechnung der beiderseitigen Raummöglichkeiten beim Essen aus dem Sack mit trockenem Zwieback für den Hund, der in dem Verschlag hing, in dem sein Fahrrad stand, drei Stück Zwieback heimlich entfernte, um ihn zu strafen.

Mit ein wenig Aufmerksamkeit, ein wenig Nachdenken und glücklichen Eingebungen des Augenblicks war es nicht schwer, einen Menschen von solcher Art richtig zu behandeln. Wenn sie sonst nichts für ihre Abendgesellschaft getan hätte, das eine hatte sie jedenfalls erreicht, daß sie heute nach dem Essen Kaffee trinken durften. Sie folgte ihm durch den Garten ins Atelier, das heißt sie nahm ihre Röcke ein wenig auf und lief neben ihm her.

Kein Mensch in Sterrenden hätte mit Roger Schritt halten können, wenn er zu seiner Arbeit eilte oder auf dem Rade umherjagte. Dabei sang sie mit ihrer rührenden und ein wenig klagenden Stimme, die sie kaum mehr geübt hatte, seitdem Barbara ein ganz kleines Kind gewesen, vor sich hin.

Sie saß noch keine fünf Minuten vor der orangefarbenen chinesischen Draperie, als er bereits tief in seiner Arbeit war. Die Zunge schoß ihm aus dem Munde, er zog sie wieder ein, trat bald von der Staffelei zurück und bald wieder auf sie zu. Bei einem Gespräch mit ihm, wenn er so bei der Arbeit war, mußte man sich auf eine Folge geduldig hingeworfener Bemerkungen oder Fragen beschränken, auf die er nur mit einem Grunzen antwortete, bis sie infolge hartnäckiger Wiederholung endlich an sein Ohr gelangt und ihm ins Bewußtsein gedrungen waren. Laetitia wußte aus langer Erfahrung, daß dies die beste Zeit und Gelegenheit war, ihm irgendeine überraschende Neuheit beizubringen. Sie sah es zwar nicht so an, aber sie ging doch nach der Methode vor, mit der man einem schlafenden Hund einen Knochen vor die Nase hält. Ganz allmählich erwachte Roger zum Verständnis dessen, was ihm gesagt wurde. Der Anprall brach sich an seinem Unterbewußtsein, ehe er das Bewußtsein erreicht hatte. Sein geistiges Auge öffnete sich nur allmählich. Und wenn er es endlich klar vor sich sah, dann war sein Losfahren bei weitem nicht so bösartig und verstimmend, wie es unter anderen Umständen vielleicht gewesen wäre.

Auch an diesem Nachmittag ging Laetitia nach dieser Methode vor, mit einer unschuldigen Unbefangenheit, die sie selber täuschte, und erzählte ihm von der bevorstehenden Abendgesellschaft.

»Wir haben heute abend eine ... eine kleine Gesellschaft«, sagte sie.

»Halte den Kopf ein klein wenig mehr nach links,« murmelte er, »noch ein klein wenig mehr ... ein ganz kleines bißchen ... so ist's recht! So, gut so!«

Sie wartete eine kleine Weile, dann sagte sie wieder:

»Wir werden heute abend eine kleine Gesellschaft haben.«

Seine Zungenspitze zitterte in der Luft. Wenn man ihm in diesem Augenblick mitgeteilt hätte, daß das Haus in Flammen stehe, dann würde er es möglicherweise gehört haben, würde aber auch sofort bedacht haben, daß das Atelier ja auf der anderen Seite des Gartens lag und er sich daher in völliger Sicherheit befand. Nichtsdestoweniger und wie entzückt er auch von dem Licht war, das er gerade bei ihren Augen aufsetzte, hatte er doch bei der dritten Wiederholung halbwegs verstanden. Er vernahm das Wort »Gesellschaft« wie eine Stimme, die vom anderen Ende eines langen Ganges in einem weitläufigen Gebäude an sein Ohr hallte. Und wenn man ihn unter Eid darüber vernommen hätte, ob er auch die Worte »heute abend« richtig verstanden, er hätte es nicht beschwören können.

In der Tat hatte er den ganzen Satz gleich das erstemal gehört, aber erst beim drittenmal waren ein oder zwei Worte davon über die Schwelle seines Bewußtseins gedrungen. Einen Augenblick oder zwei ließ er sie dort kreisen, während er die Zunge, elektrisch vibrierend, vorstreckte. Dann erst, als das Licht auf dem Auge erfolgreich aufgesetzt war, als er die Zunge wieder eingezogen und, mit schiefgesenktem Kopf und ohne einen Blick für irgend etwas anderes als für die Leinwand, die üblichen beiden Schritte von der Staffelei zurück gemacht hatte, fragte er: »Wo?«

»Hier«, sagte sie.

Die Sache kam allmählich in Gang. Sie wußte nun, daß er das Wort »Gesellschaft« gehört hatte.

»Äh?« sagte er, hob den Pinsel in die Höhe und schritt wieder auf die Leinwand zu.

»Hier«, erwiderte sie.

»Hier«, wiederholte er und seine Zunge schoß wieder aus dem Munde hervor.

Sie ließ sich nicht entmutigen. Als geistiger und psychologischer Versuch an Roger ging die Sache so gut, wie unter den Umständen zu erwarten war. Er gab ihr einige weitere Anweisungen für ihre Stellung; sie wartete noch ein bißchen länger; dann sagte sie:

»Wir haben heute abend eine kleine Gesellschaft.«

»Guter Gott!« rief er aus und sah sie mit einem Ausdruck unverhohlenen Schreckens und Abscheus in den Blicken an. »Eine Gesellschaft! Was soll das heißen? Was meinst du damit? – Eine Gesellschaft?!«

»Wilfrid kommt zum Abendessen und ... der junge Laidlaw.«

»Zum Abendessen?! Hierher?!«

Er legte buchstäblich Palette und Pinsel nieder, stellte sich vor den Modellsitz und starrte sie an.

»Ja, zum Abendessen. Hierher.« Sie war völlig ruhig und heiter. Er hatte die Augen geöffnet und losgebissen. Aber er hatte ihr schließlich nicht die Hand abgebissen, und der Knochen war in seinem Maul. Solange er daran kaute, konnte nichts passieren. Selbstverständlich würde er noch großen Lärm machen, mit lautem Gebell und leisem Knurren, aber das schlimmste war überstanden. Darum war sie heiter und ruhig.

»Was wirst du ihnen denn zu essen geben? Glaubst du, zwei gefräßige junge Kerle wie die, werden sich mit Vegetarianerpasteten und gebackenen Bananen zufrieden geben?«

»Nein,« erwiderte sie ruhig, »das glaube ich nicht, Roger.«

»Also was, im Himmels Namen, willst du ihnen dann zum Essen geben?«

Sie sagte: »Einen Rinderbraten, ein Lendenstück«, als ob sie von einem Oblatenbiskuit spräche, und entfernte mit zwei Fingern einen Wollfaden von ihrem Rock.

Roger rang nach Atem. Nicht nur Fleisch, sondern Rinderbraten! Nicht nur Rinderbraten, sondern ausgerechnet ein Lendenstück! Das englische Roastbeef, das den ganzen groben Materialismus verschuldet hatte, an dem alle Kunst zugrunde ging! In seinem Haus Roastbeef! Vielleicht gar noch auch Bier!

»Was wirst du ihnen denn zu trinken geben?« schrie er.

»Bier«, sagte sie. »Helles Bier, oder wie sie es hier nennen. Ich verstehe nichts von Wein, Roger, und ich habe einmal gehört, daß sie im ›Weißen Roß‹ sehr gutes, helles Bier haben.«

Roastbeef und helles Bier! Die Sehnen der englischen Kraft! Jawohl! Schöne Sehnen, die von Rheumatismus verknotet und gelähmt waren! Die mit Harnsäurekristallen durchsetzt und davon zerfressen waren! Er stürmte im Atelier auf und nieder und redete, als ob er die Anzeigen aller möglichen schwindelhaften Heilmittel aus einer Zeitung vorläse. Laetitia saß völlig ruhig da und hörte zu. Sie hatte all das im Frieden und im Streit schon oft gehört. Es war gewissermaßen die gregorianische Hymne des vegetarischen Kirchendienstes. »Von Harnsäurekristallen im Blut, von allem Rheumatismus und Hüftweh«, so hatte sie oft vor sich hingeflüstert, »erlöse uns, o Herr!«

Als seine Tirade gegen Rinderbraten sich an ihrem Schweigen schließlich erschöpft hatte, sah er plötzlich die andere Seite dieses häuslichen Götzensturzes. Was sollte das heißen, daß dieser junge Schiffsleutnant zu einem Abendessen im Hause eingeladen wurde, nachdem sie sich doch beide darüber einig geworden waren, daß es für alle Teile das beste war, wenn Barbara ihn nicht wiedersah? Genau wie ein Hund, der mitten im Kauen einen anderen Knochen sieht, ließ er den ersten fallen und stürzte sich auf den zweiten.

»Was soll das für einen Zweck haben?« rief er und drehte sich mit aufgeregten Handbewegungen hin und her, wie ein Maître d'Hotel in einem französischen Stück. Er hatte die Augenbrauen bis an die Haarwurzeln hochgezogen. Seine Augen funkelten hart wie die eines Wiesels. Er sah aus, als ob er erzgepanzert bereit stünde, mit jedermann zum Kampf anzutreten, mit der ganzen biersaufenden britischen Nation, wenn es sein mußte.

Sie wußte nie recht, woran sie mit ihm war, wenn er in diesen Zustand geriet. Er war dann imstande, aus dem Hause zu laufen und viele Meilen weit durch die Hügel zu wandern und erst zur Schlafenszeit wiederzukommen. Das aber war gegen ihren Plan; an dem Abendessen mußte auch er teilnehmen. Ja, in ihrer Angst, daß irgend etwas Derartiges geschehen könnte, fühlte sie plötzlich, ohne sich völlig darüber klar zu werden, daß das Abendessen mehr für ihn gegeben wurde als für irgend jemand sonst. Selbst nicht für Barbara. Sie war nicht gewöhnt, sich selbst zu beobachten und zu ergründen und ahnte daher nicht, das, was sie eigentlich wollte, war, daß er diesen Jungen mit der platonischen Freundschaft und den feurigen Augen sehen sollte. Und doch kam es ihr darauf vor allem an. Und mit all der sanften Freundlichkeit, die in ihrem Wesen lag, und die sie diesmal auch beabsichtigte, ging sie daran, ihn zu beruhigen, ihn glatt zu bürsten und ihn in jeder Weise solange zu umschmeicheln und zu streicheln, bis er wieder völlig liebenswürdig wurde.

Er sei zu sehr mit seiner Arbeit beschäftigt gewesen, sagte sie, um zu erkennen, daß diese Gefahr gar nicht mehr bestand. »Ich habe noch am selben Nachmittag mit ihm darüber gesprochen«, sagte sie. »Natürlich nicht direkt. Er ist eben noch sehr jung. Er weiß es selber, wie jung er ist. Und ich habe beide für heute abend eingeladen, damit Barbara sie beisammen sehen und erkennen kann, wie echt und wertvoll Wilfrid ist.«

Echt und wertvoll! das war ganz gut für den Katalog eines Juweliers! Was fragten Mädchen in Barbaras Alter nach Echtheit? Was die Mädels heute verlangten, das waren die schäbigen imitierten Steine, die sie am Kleide tragen konnten wie ihre Herzen! Genau so ging es übrigens mit dem Zeichnen und mit allen anderen Künsten gleichfalls. Einige Augenblicke später war er in einem Strom schäumender und zischender Beredsamkeit wieder beim Rinderbraten angelangt. »Wie kann man auch erwarten, daß ein Volk feinerer Empfindung fähig sein und Geschmack haben soll,« brüllte er, »wenn es all seine Verdauungsorgane mit Fleischnahrung anfüllt und verstopft? Bist du jemals in einem Londoner Klub gewesen und hast dort die Klubsessel im Rauchzimmer gesehen, und gesehen, wie in jedem ein Mann sitzt, der seinen Verdauungsschlaf nach dem Mittagessen hält, wie die Bestien im Zoologischen Garten nach der Fütterung?«

Er wußte, daß sie es nie gesehen hatte, und sie wußte, daß sie ihm darin nicht widersprechen durfte. Plötzlich erkannte sie, daß ihre kleine Abendgesellschaft in höchster Gefahr schwebte. Auch er erkannte es und triumphierte. Mit einem lauten »Ä?!«, wie ein Hund, der vor dem Tor des eigenen Hauses bellt, wendete er sich gegen sie.

Es war nur ein Zufall, der ihr in diesem Augenblick zu Hilfe kam und das ganze Unternehmen rettete. Sie saß da und blickte zu Boden, und auf dem Fußboden, gerade vor dem Modellsitz, sah sie eine Haarnadel. Schweigend stieg sie von dem erhöhten Sitz herab und hob sie auf.

Seine Augen folgten ihrer Bewegung. »Was hebst du denn da auf?« fragte er.

»Eine Haarnadel«, sagte sie.

Einen Augenblick war er so verwirrt, daß er vollkommen den Kopf verlor und ihr sagte, sie sollte sie wieder hinwerfen.

Sie achtete nicht darauf. Mit ebenso ruhiger Stimme, wie sie ihm von dem Rinderbraten erzählt hatte, sagte sie jetzt: »Es ist keine von meinen Haarnadeln. Und auch keine von Barbara.«

Da stand er; all die gesträubten Borsten auf seinem Rücken glätteten sich; all sein Eifer und sein Kampfesmut waren verschwunden; er stand da, voll Angst und Feigheit. Einer ganzen Welt wilder Reden hätte er entgegentreten können. Gegen die Tatsache einer einzigen Haarnadel fühlte er sich wehrlos. Sie betrachtete die Haarnadel in ihrer Hand eine Weile, dann hob sie den Kopf und sah Roger an. Jetzt stand er nicht mehr vor dem Tor des eigenen Hauses. Jetzt war er im Hinterhof eines fremden Hauses abgefaßt. Seine Augen irrten von der Haarnadel in ihrer Hand zu ihrem Gesicht und dann wieder zu der Haarnadel zurück.

»Was ist denn das für ein Bild, an dem du malst?« fragte sie.

»Welches Bild?«

»Nun, das Mädchen, das gestern kam. Ich sah sie ins Haus treten. Du hast gestern den ganzen Nachmittag daran gemalt, und heute den ganzen Vormittag.«

Sie sprach durchaus nicht im Ton eines Verhörs. Das lag nicht in ihrer Natur. Sie fragte ganz einfach.

»Ich werde es dir zeigen, wenn es fertig ist«, sagte er.

Sie wünschte zu wissen, warum sie es nicht gleich sehen durfte. Er redete doch sonst mit jedermann über seine Bilder. Insbesondere aber mit ihr. Er sprach noch nachts im Bett davon, wenn die Kerze ausgelöscht war und sein warmer Atem beim Sprechen sie rückwärts am Halse kitzelte. Er redete von seinen Bildern, bevor er sie zu malen anfing, wenn er sie zu malen anfing, wenn sie halbfertig waren und wenn sie ganz fertig waren. Sie wußte eigentlich gar nichts von Malerei und Bildern, aber sie verbarg ihre Unwissenheit unter dem tiefsten Interesse an allem, was er tat oder nicht tat. Sie hatte sich die Ausdrücke, die ein Maler gebraucht, den ganzen Künstlerjargon angeeignet wie ein Papagei, seitdem sie verheiratet war. Wenn von Perspektive die Rede war, dann redete sie vom Fluchtpunkt, obschon sie keine Ahnung hatte, was ein Punkt mit einer Flucht zu tun haben sollte. Wenn von der Zeichnung die Rede war, dann wußte sie mit dem Daumen kleine Bewegungen zu machen, die an die Stelle der Worte traten, die ihr fehlten. Wenn von Farbe die Rede war, dann sprach sie von der Harmonie und von dem Effekt oder von dem Ton, und jedesmal knurrte er ungeduldig, wenn sie es tat. Und trotzdem war kein Mensch in Sterrenden, auf dessen Meinung er mehr gegeben hätte, als auf die ihre. Er hörte jeden Menschen begierig an und wollte wissen, was der Betreffende zu seinen Bildern sagte, obschon er sich oft nicht darum kümmerte und nach seinem eigenen Kopf handelte. Es war aber auch vorgekommen, daß er aus einer Sommerlandschaft ein Winterbild gemacht hatte, nur weil jemand gefunden hatte, daß die Kirschblüten auf den Bäumen wie Schnee aussahen, und ihm dabei der Gedanke gekommen war, wie schön der Baum im Winter aussehen müßte.

Bei dem Verhältnis, in dem sie, er als Künstler und sie als Hauskritikerin, zueinander standen, hatte sie durchaus das Recht, zu erwarten, daß er ihr das Bild schon jetzt, halb fertig oder nicht, zeigte. Er konnte keinen Präzedenzfall anführen. Schon daß er bald auf ein Bein und bald auf das andere gestützt dastand, bewies die Schwäche seiner Position. Ihre Abendgesellschaft war außer Gefahr.

»Kann ich es nicht sehen, Roger?« wiederholte sie.

Mit einem Knurren und einer befangenen Bewegung des ganzen Körpers schritt er zur Wand und hob eine in den Rahmen gespannte Leinwand auf, die umgekehrt dort lehnte. Er würde es ihr nicht gezeigt haben, wenn er nicht gewollt hätte. Er hatte sich danach gesehnt von dem Augenblick an, in dem er den Pinsel angesetzt hatte. Das Versprechen, das er Schneider Hinds gegeben, zählte nicht. Schon, als er es gegeben hatte, hatte er gewußt, daß er es nicht halten würde. Wenn ein Mann seiner Frau nicht alles oder nichts sagen kann, oder jedenfalls soviel, als er ihr eben sagen will, dann hatte die persönliche Freiheit ein Ende. Schneider Hinds war selbst verheiratet. Diese Bedingung konnte also nur eine Formsache gewesen sein. Und Letty! In seinen Angelegenheiten war sie verschwiegen wie ein Grab.

Sie wendete den Kopf ab, als er das Bild zur Staffelei trug. Der Aussteller darf vielleicht nicht sagen »Bitte, sieh noch nicht her«, aber schon in seiner Haltung liegt eine gewisse Abwehr. Die einfache Anständigkeit verbietet dem Beschauer, einen Blick auf das Bild zu werfen, bevor es im richtigen Winkel auf der Staffelei steht. Als sie hörte, daß er seine zwei Schritte zurücktrat, wendete sie sich wieder um.

Seine Augen schossen von den ihren zu dem Bild und wieder zurück wie ein Federball, und versuchten ihren Eindruck zu erkennen. Er wußte, daß sie staunen würde, aber er begriff nicht, wie jemand zu erstaunt sein konnte, um etwas zu sagen. Nachdem er mindestens sechsmal nach ihrem Gesicht gesehen, sagte er nur »Äh? Äh?« wie ein Kind, das zum erstenmal einen Laut hervorbringt und nun krampfhaft versucht, sich damit auszudrücken.

»Roger!« sagte sie atemlos. »Wie hast du sie dazu gekriegt? Warum hast du das gemacht? Roger – sieh mich an!« Er sah sie an. »Roger, seit dem ersten Bild, das du von mir gemacht hast, hast du so etwas nicht mehr gemalt!«

Er war drauf und dran, ihr zu sagen, daß sie Unsinn rede, aber das Leuchten in ihren Augen und eine allmähliche Erkenntnis, die in ihm aufstieg, ließen ihn verstummen und diesen zur Gewohnheit gewordenen Anschnauzer unterdrücken. Er stand einfach neben ihr, mit einem törichten Lächeln im Gesicht.

»Aber wie hast du sie dazu gebracht, daß sie dir für die ganze Figur saß?« fragte sie ihn. Das war nur mehr weibliche und menschliche Neugier. Er merkte gar nicht, was für eine Anerkennung seines Werkes darin lag, daß sie erst jetzt wieder daran dachte. Aber nun, da diese Neugier einmal erwacht war, kamen auch andere Gedanken, die sich bisher in ihrem Unterbewußtsein verborgengehalten hatten, hervorgekrochen, wie neugierige Passanten, die durch eine offene Tür spähen. Jetzt erinnerte sie sich, daß Fräulein Limpnett ja von einem jungen Frauenzimmer gesprochen hatte. Sie hatte soviel zu tun gehabt und war innerlich so beschäftigt gewesen, daß die Worte der Dame ihr zunächst keinen Eindruck gemacht hatten. Sie hatte nur gelacht, und bei ihrem Lachen waren die Worte in ihr versunken und verschwunden, und sie hatte sie vollkommen vergessen. Jetzt kamen sie ganz sachte wieder zum Vorschein. Sie fühlte, wie ein Blutstrom ihr heiß in die Wangen schoß, der ebenso schnell wieder schwand, wie er gekommen war, und wie ihre Lippen plötzlich eisig kalt wurden.

»Wie hast du das gemacht, Roger?« wiederholte sie.

»Sie darum gebeten«, sagte er.

»Ja, aber wie? Ist es ein nettes Mädchen?«

Ob es ein nettes Mädchen war! Was für eine Frage! Woher sollte er wissen, ob sie ein nettes Mädchen war oder nicht? Er hatte sie nur sich hinter dem Wandschirm ausziehen gehört und nur gesehen, wie ungeschickt sie sich anstellte, wie alle Frauenzimmer, wenn sie zum erstenmal als Aktmodell saßen. Ob sie ein nettes Mädchen war?! Jetzt redete sie wirklich Unsinn, und er sagte es ihr auch. Was kümmerte es ihn, ob sie nett war oder nicht.

»Sieh nur die Figur an!« sagte er. »Diesen Fleischton! Ein Dienstmädchen, und sie hat eine Haut wie Elfenbein, und weiß es nicht einmal! Emma Hamilton – was? Wenn Romney die Möglichkeit gehabt hätte, sie so zu malen?! Äh, was? Sie windet sich wie ein Wurm, aber darüber wird sie schon wegkommen, wenn sie es mehr gewohnt ist. Wahrhaftig! Emma Hamilton! Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Wie sie dem Doktor in Adelphi als Aktmodell saß. Erinnerst du dich? In der Lebensgeschichte von ihr, die wir gelesen haben. Damit hat es vielleicht angefangen; dann kam Featherstone und all die anderen; dann Nelson. Äh? Damit hat's vielleicht angefangen.«

Obwohl er ganz von dem einen Ziel erfüllt war, war ihm plötzlich eingefallen, was Schneider Hinds gesagt hatte: »Ich nehme an, Sie sind sich darüber klar, daß Sie das Mädel vermutlich um den letzten Fetzen Anständigkeit bringen, der noch an ihr ist? Und wenn sie die Fetzen abnimmt, damit Sie sie in ganzer Figur malen können, wird sie sie wahrscheinlich nie wieder anziehen.« Nun, wenn es so war, so konnte er nichts machen. Es handelte sich um sein Bild. Wer würde heute noch von Emma Hamilton reden, wenn Nelson die Schlacht von Trafalgar verloren hätte, und wenn Romney nicht seine Farben auf die Leinwand gesetzt hätte, um ihren Namen berühmt zu machen? Und trotzdem war sie in Schande gestorben.

All diese Dinge schossen ihm nur wirr durch den Kopf. Er hätte sie nicht in Worten aussprechen können. Alles, was er tun konnte, als Laetitia diese törichte Frage stellte: »Ist sie ein nettes Mädchen?« war, daß er auf sein Bild wies und sie hier auf eine schöne Linie des Leibes, dort auf einen wunderbaren Ton im Fleisch aufmerksam machte. Der menschliche Standpunkt, von dem Laetitia bei ihrer Frage ausging, interessierte ihn nicht.

Und während sie ihm zuhörte, begriff Laetitia das allmählich, und sie wußte auch, daß der kleinliche Verdacht Fräulein Limpnetts und ihre enge Moral gegenüber dem leidenschaftlichen Streben nach seinem Ziel, das ihn vorwärtstrieb, überhaupt nicht zählten. Und wie er so redete, sah sie ihn plötzlich wieder in voller Jugendkraft an seiner Arbeit. Selbst jetzt, da er es nur erst angefangen hatte, war das Bild von einer Kraft, die sie erschreckte; es war ein Erbeben, das sie durchfuhr, auf das sie nicht für alle Schätze der Welt verzichtet hätte.

Schüchtern steckte sie die Hand durch seinen Arm und suchte seine Hand.

»Jetzt fürchtest du dich nicht vor den jungen Leuten, wie?« flüsterte sie.

Aber es war noch nicht so weit. Es brauchte lange Zeit, ehe das Charmeusekleid ihn völlig überwunden hatte.

»Sieh nur das an«, sagte er; und er ließ ihre Hand fallen, er wußte kaum, daß er sie in der seinen gehalten hatte und schritt an die Staffelei. »Sieh diese Linie unter der Brust! Davon ahnen die Leute nichts, wenn sie die Teller auf den Tisch setzen!«

Laetitia ging. Sie erreichte die Tür des Ateliers; sie schritt hinaus; und er wußte nicht einmal, daß sie gegangen war.

Als das letzte Tageslicht schwand, und es nicht mehr möglich war zu arbeiten, kam Roger ins Haus zurück. Die Abendgesellschaft hatte er vollständig vergessen. Als er die Haustür öffnete, blieb er, wie von einem elektrischen Schlag getroffen, stehen, als wäre ein Strom, stark genung, einen Mann auf dem Hinrichtungsstuhl zu erledigen, durch seinen Körper gegangen. Es war der Geruch gebratenen Fleisches, der für seine Nase so aufreizend war, wie Brandgeruch für ein Pferd im Stall. Er brach auch sogleich aus. Zum Glück für die häusliche Ruhe aller stürmte er die Treppe hinauf. Wäre er nach er Küche ausgebrochen und hätte die Köchin beschimpft, die eben in Seligkeit schwelgte, an einem Rinderbraten ihre Kunst zeigen zu können, seine verrückten Reden würden sie zweifellos bewogen haben, auf der Stelle zu kündigen.

Roger aber lief, so rasch er irgend konnte, in Laetitias Zimmer.

Da sie ihn heranstürmen hörte, rief sie aus dem Zimmer: »Du kannst jetzt nicht herein!« Aber in diesem Augenblick hätte keine Rücksicht, kein Zartgefühl ihn im Lauf hemmen können. Er war nicht nur ein verheirateter Mann. Er war vor allem ein schwer gekränkter Mann.

Sie war nicht eben vollständig angekleidet. Sie hatte ein Bad genommen und war im Begriff, sich ganz umzukleiden, weil es nicht wie eine wirkliche Gesellschaft gewesen wäre, wenn sie sich nicht gerade zur rechten Zeit angezogen hätte, um im letzten Augenblick hinunterzugehen und ihre Gäste zu empfangen. Das gelbe Kleid lag auf dem Bett ausgebreitet; sie hatte beschlossen, Ellen eine Freude zu machen und sie heraufzurufen, um ihr beim Ankeliden zu helfen. Der Augenblick schien nahe, als sie aus dem Badezimmer kam; und sie stand in ihrem Zimmer noch ganz allein, mit klopfendem Herzen, als Roger wie ein Südweststurm zur Tür hereinbrauste.

»Roger!« rief sie.

»Es wird Fleisch im Haus gekocht!« brüllte er.

»Ich habs die ja gesagt! Ein Lendenbraten.«

»Ja, aber du hast es mir gesagt, während ich bei der Arbeit war. Da habe ich nicht ...« er hielt inne.

»Was hast Du nicht?« Sie warf einen Schal, irgend etwas, das ihr unter die Hand kam, über ihre Schulter. Es war aber auch zu ärgerlich. Sie hatte ihm gesagt, daß er nicht herein konnte. Ihm machte es vielleicht nichts, wenn sie seine Bilder unfertig sah, aber ihr machte es etwas. Warum Männer nur so waren? Konnten sie denn gar nicht verstehen, daß es Augenblicke gibt, in denen Frauen alleinzubleiben wünschen, bis zuletzt? Frauen lieben nichts so sehr, als im letzten Augenblick eine Tür zu öffnen und plötzlich ins Zimmer zu treten, nachdem alles so herrlich wie nur möglich gemacht, der letzte Haken geschlossen, die letzte Schleife gebunden ist. Männer waren doch die störendsten Geschöpfe, zu nichts zu gebrauchen als zu ihrer Arbeit! In diesem Augenblick hätte sie weinen mögen. Daß er sie in dem Kleide schon gesehen hatte, änderte daran gar nichts. Ihr Plan war gewesen, hinabzukommen, wenn sie fertig war; nicht eine Sekunde früher. Sie hatte seinen Abendanzug in seinem Zimmer bereitgelegt, damit er wissen sollte, daß auch er sich anziehen mußte. »Was hast du nicht?« wiederholte sie nochmals, und ihre Lippen zitterten vor Erregung.

»Warum legst du denn das um die Schultern?« fragte er.

»Ich sagte dir doch, du kannst jetzt nicht herein«, sagte sie schmollend.

»Ich kann nichts dafür«, sagte er. »Daran ist der Braten schuld. Ich hatte das gänzlich vergessen. Das ist aber doch kein Grund dafür, daß du deine Schultern bedeckst.«

»Ja, ich bin aber noch nicht fertig angezogen.«

Das war eine Antwort! Da er doch eben entdeckte, daß sie sehr schöne Schultern hatte! Frauen waren doch zu närrisch! Oder war es ihr nicht recht, daß ihr Mann sie bewunderte? Konnte denn eine Frau nicht einsehen, daß es die Hauptaufgabe ist, wenn man verheiratet ist, bei dem Mann immer das Bild der Schönheit zu erhalten, die er an ihr gesehen, als er sie heiratete? Und wie konnte sie das, wenn sie sich vor ihm versteckte?

Und jetzt überblickte er wieder, wie im Scheine eines plötzlichen Lichts, ihr ganzes gemeinsames Leben. Das hatte Laetitia getan! Sie hatte sich vor ihm verborgen. Sie verbarg sich jetzt vor ihm. Er sah wohl, daß sie verstimmt und ärgerlich war – aber warum? Weil er ihre Schultern bewunderte? In der Nase den Geruch von Rinderbraten und vor sich die Aussicht, sich in wenigen Minuten umziehen, ein reines Hemd nehmen und seinen Smoking anziehen zu müssen ... es war wirklich zuviel. Nicht die geringste Vernunft war in alledem.

»Nun, auf mein Wort! Ich weiß wirklich nicht, was du willst und was ich sagen soll!« sagte er, drehte sich um und ging in sein Zimmer. An der Tür kehrte er noch einmal um und schoß einen Parterpfeil ab, der ihm besonders wirksam schien: »Wir sind doch nicht erst seit gestern verheiratet«, sagte er. Das war vollkommen richtig. Ganz abgesehen von dem Bratengeruch, der ihn noch wütender machte, weil er nun erst fühlte, wie entsetzlich hungrig er war, war die Bemerkung durchaus angemessen.

»Aber ich bin nicht deine Emma Hamilton«, rief sie ihm nach, als er die Tür schloß.

Als sie allein war, ließ sie die paar heißen Tränen, die ihr in den Augen standen, über die Wangen rollen.

Roger aber murmelte, während er sich anzog, immer wieder vor sich hin:

»Nicht meine Emma Hamilton ... nicht meine Emma Hamilton ...«

Und wenn sie es gewesen wäre? Was, dachte er, würde er tun, wenn er sie dabei überrascht hätte, wie sie das Liebeswerben eines jungen Nelson annahm?

Da riß ihm ein Hosenknopf ab, und er klingelte heftig, daß Ellen kommen sollte.


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