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Mehr und mehr durchdrang der Geist des Charmeusekleides das ganze Haus. Dabei ahnten weder Roger noch Laetitia, welchen tiefen Eindruck das Kleid auf ihn gemacht hatte. Nicht nur, daß er bereits am nächsten Morgen das neue Porträt in Angriff nahm – noch am selben Abend, gleich nach dem Abendbrot, ging er allein ins Atelier zurück, zog alte Bilder hervor, die gegen die Wand gelehnt standen, und prüfte sie mit kritischen Augen, die keine Gnade kannten. Das Ergebnis war höchst beunruhigend.
Er konnte nun nicht länger mehr daran zweifeln; während der ganzen letzten zehn Jahre, ja durch noch längere Zeit hatte er nichts wirklich Neues geschaffen. Es waren immer die gleichen alten Themen, vielleicht mit größerer Fertigkeit, mit einer sichereren Technik gemalt, aber immer das gleiche, immer dieselbe Art zu sehen, die nichts aus dem Leben gelernt hatte, ewige Wiederholungen, wie ein Papagei im Käfig immer wieder das gleiche kreischt.
Die jungen Leute hatten ihn überholt. Er gab es höchst ungern zu. Er hätte es keinem anderen gegenüber zugestanden, nur sich selber, hier in der Einsamkeit seines eigenen Ateliers. Aber es war die Wahrheit. Er hatte heute Bilder in der Akademie gesehen, Bilder von Malern, deren Namen er noch nie gehört hatte, hatte wider Willen Neues an ihnen entdeckt. Er versuchte, sich durch ein wegwerfendes Urteil über ihre Pinselführung und Zeichnung darüber hinwegzusetzen, aber es gelang ihm nicht. Was in diesen Bildern lag, drängte sich ihm auf und verfolgte ihn. Er konnte sie nicht aus seiner Erinnerung loswerden und von ihnen wegdenken. Und doch waren es unbekannte Leute im Vergleich zu ihm. Aber was nützte es, daß er Roger Campion war, einen in Künstlerkreisen wohlbekannten Namen hatte, daß er eingeladen wurde, in Komitees zu sitzen und ein anerkannter englischer Künstler war, wenn irgendein junger Mensch, von dem man noch nie gehört hatte, es einfach durch sein Bild erreichte, daß es anständig gehängt wurde und jedem in die Augen fiel, während man an seinen Bildern mit der Bemerkung vorüberging: »Das ist ein Campion – malt immer kentische Landschaften –, man kann seine Bilder sofort erkennen.«
Er hatte es selbst gehört: »Malt immer kentische Landschaften.« Es lag eigentlich nichts Herabsetzendes darin, wenn man sein Werk so kennzeichnete, aber in der Verallgemeinerung und darin, daß sie zutraf, fühlte er eine verletzende kritische Spitze.
»Das sollen sie zum letztenmal von mir gesagt haben!« rief er an diesem Abend laut, während er dröhnenden Schrittes in seinem Atelier auf und nieder schritt. »Wenn sie glauben, daß es beim Malen auf den Gegenstand ankommt, dann werde ich ihnen zeigen, daß ich nicht an die kentische Landschaft gebunden bin! Sie sollen nächstes Jahr die Augen aufmachen in der Akademie! Ich werde dafür sorgen, daß sie mich in die richtige Höhe hängen! Vor diesem Porträt, vor diesem Hintergrund werden sie stehenbleiben und mein Bild anschauen!« Und er stieß eine alte Leinwand mit dem Fuß zur Seite, während er auf und ab ging.
Aber das Porträt war nicht genug. Er wußte das ganz gut. Die Jahresausstellung war voll von Porträts gewesen. Der Wettbewerb darin war ungeheuer. Er wußte sehr gut, obgleich er im Augenblick viel zu aggressiv gestimmt war, um es zuzugeben, daß Leute Porträts malten, die mehr konnten als er; zudem Leute, die den Vorteil hatten, in solchen sozialen Kreisen zu verkehren, daß schon die Modelle die allgemeine Aufmerksamkeit auf ihre Bilder zogen.
Wer war Laetitia für das Publikum? Sein Porträt mußte vom Anfang an im Nachteil sein. Wie es geht, wenn man plötzlich die Schwierigkeiten des Lebenskampfes fühlt, war er geneigt, die Bedeutung solcher Vorteile und Nachteile zu übertreiben.
»Was habe ich für Aussichten?« sagt ein Mann, wenn er die Mühlsteine Gottes fühlt, die so langsam, so fein und so sicher mahlen.
Jedenfalls mußte er, das war ihm klar, mindestens drei oder vier Bilder einschicken, und da er über das Porträt mit sich im reinen war, so suchte er im Geist, wie ein Jagdhund nach einer Spur, nach Gegenständen für die anderen Bilder. Und hier begann, ohne daß er es ahnte, das Charmeusekleid seine Wirkung zu tun.
Laetitia hatte es nicht bemerkt; Roger hatte es ihr nicht gesagt und wußte es kaum selbst, daß er in dem Augenblick, in dem er sie am Nachmittag in dem Kleide gesehen hatte, sie wieder so sah, wie vor nahezu zwanzig Jahren, als die Leidenschaft eines jungen Mannes und sein künstlerisches Schönheitsgefühl zugleich ihn zu ihr gezogen und mit Begeisterung erfüllt hatten. In jenen Tagen waren beide Empfindungen nicht zu trennen gewesen. Eine männliche Leidenschaft hatte sich nicht nur in den Studien, die er von ihr malte, sondern in all seinen Arbeiten geltend gemacht. Ganz allmählich war seither, in der beengenden Luft von Sterrenden und bei seiner blutlosen, vegetarianischen Lebensweise die Leidenschaft schon halb erloschen und nur die Asche der einstigen Flamme geblieben. Er umgab sie nicht mehr mit Liebe, weil er kein Liebesfeuer fühlte. Eine sanfte Zuneigung, die durch die stillschweigende Sicherheit und Widerspruchslosigkeit ihres Verhältnisses zueinander zur Gewohnheit wurde, war geblieben, und diese sanfte Zuneigung durchdrang und charakterisierte, ohne daß er es ahnte, das Wesen seines Werkes und seiner Kunst.
»Malt immer kentische Landschaften!« Es entging ihm, daß dies gleichsam ein Vorwurf gegen seine Männlichkeit war; er vermochte das Gefühl nicht zu analysieren, und doch lag darin etwas von dem schmerzenden Stich dieses geflügelten Pfeils, der ihn getroffen hatte.
»Malt immer kentische Landschaften!« Es war eine herabsetzende Verallgemeinerung, in der gleichsam alle Kraft sich auflöste! Er schwor es sich zu, während er im Atelier hin und her ging, daß keine einzige kentische Landschaft unter den Bildern sein sollte, die er nächstes Jahr nach der Akademie schicken wollte. Also was sonst? Er vermochte es selbst nicht zu sagen warum, aber seitdem er Laetitia an diesem Nachmittag gesehen hatte, mußte er unwillkürlich wieder und wieder an eine Aktstudie denken, die er am Vormittag in der Akademie gesehen hatte. Diese Studie war besser gemalt gewesen, als die meisten Arbeiten der jungen Maler. Ebendarum hatte er sie genauer angesehen, aber nicht darum war sie ihm zuerst aufgefallen, nicht darum hatte sie seine Blicke angezogen. Sondern weil sie offensichtlich heidnisch war. Der junge Mensch, der sie gemalt hatte, hatte sich durch keine Konvention beeinflussen oder hindern lassen. Er war offenbar vom Leben entzückt und hatte dies furchtlos ausgesprochen. Dann hatte Roger, als er im Zug seine Bananen aß und ein Bild der Ausstellung nach dem anderen wieder vor sein geistiges Auge trat, diese Studie fast vergessen. Aber als er die Stellung für das Porträt gerichtet hatte und Laetitia wieder gegangen war, hatte er sich plötzlich lebhaft daran erinnert.
So etwas oder ähnliches wollte er jetzt eigentlich machen. Er hätte nicht sagen können warum. Und die Anregung war, soviel er wußte, von dem Bilde gekommen, das er in der Akademie gesehen hatte. Roger war kein Mensch, der sich selbst zu ergründen und zu analysieren vermochte. Die Ideen kamen ihm wie Zugvögel auf der Wanderschaft, die sich auf einem Schiff im Meer niederlassen. Er nahm sie auf und fütterte sie, gab ihnen, was er zu geben hatte, und schickte sie dann wieder auf die Reise. So war ihm jetzt der Gedanke gekommen, eine Aktstudie zu malen, und woher er ihm gekommen war, fragte er nicht. Es war schon genug für ihn, daß er vermutete, durch das Bild, das er in der Akademie gesehen hatte, angeregt worden zu sein. Er wußte, und darauf allein kam es an, daß er Fleisch ebensogut malen konnte, wie irgendein Künstler, der zur Zeit lebte. Das hieß viel gesagt, aber er konnte es mit Überzeugung und ohne Einbildung sagen. Einst hatten es auch die Kritiker von ihm gesagt. Dieselben Leute, die ihn jetzt abtaten mit »malt immer nur kentische Landschaft«.
Er zweifelte nicht, daß er es vermochte, aber woher sollte er ein Modell nehmen? Wo konnte er in Sterrenden ein Modell finden, das ihm für die Figur sitzen würde? Nirgends! Und mit einer Verzweiflung, die allmählich die Form heftiger Erbitterung gegen die Prüderie annahm, die auf dem Lande herrschte, mußte er sich sagen, daß es einfach ausgeschlossen war.
Nicht als ob es in Sterrenden keine Mädchen gegeben hätte, deren Körper seiner Meinung nach durchaus malenswert gewesen wären. Hannah Wrench, die Tochter eines der beiden Grünzeughändler, zum mindesten, war eine, die er, sozusagen und ohne jede Nebenabsicht, im Geist beständig entkleidet hatte, und er war überzeugt, daß sie eine gute Figur hatte und durchaus wohlgebaut war. Sie hatte ihm auch wiederholt für seine Plakatzeichnungen gesessen, die er um des Verdienens willen machte, und die einzige Sache, die ihm zweifelhaft blieb, war der Ton ihrer Haut. Ihre Wangen waren rosig wie Äpfel, die Hände rauh und grob von der Hausarbeit. Er hatte verschiedene leise Versuche gemacht, herauszubekommen, wie ihre Haut getönt sein könnte, wobei er sich immer mit einer gewissen Nervosität der Existenz eines Herrn Wrench, ihres Vaters bewußt war, der in Sterrenden im Ruf großer Sittenstrenge stand, ein eifriger Kirchgänger war, und durch den nahen Umgang mit seinem Schöpfer die Furcht Gottes schon in seiner Stimme verriet.
Er war so weit gegangen, daß er Hannah vorschlug, sie sollte ihm in einer lose hängenden und durchscheinenden Draperie sitzen, wogegen Hannah selbst, die sich ihrer Reize sehr bewußt war, durchaus nichts einzuwenden hatte, und er hatte sich bereits seinem Ziel, ein Aktmodell in Sterrenden zu finden, nahe geglaubt. Diese Nähe des Ziels hatte ihm einen wilden Mut gegeben. Nach den ersten beiden Sitzungen hatte er versuchsweise vorgeschlagen, daß die bereits lose fallende Draperie noch freier arrangiert werden sollte, damit er den Fleischton besser wahrnehmen konnte. Der Himmel weiß, was er noch vorgeschlagen hätte, wenn sie darein gewilligt hätte.
Aber es gab gewisse Grenzen, die für Hannah Wrench moralische Grenzen waren, die nichts im Himmel noch auf der Erde von Sterrenden sie zu überschreiten bewogen hätte. Sie hatte die leichten Gewänder nur fester um sich geschlagen und den erstaunten Roger auf der Stelle verlassen mit den Worten:
»Ich weiß nicht, für was für eine Art Mädel Sie mich halten, Herr Campion, aber so was tu' ich jedenfalls nicht!«
Schon der Ton, in dem sie ihn »Herr Campion« anredete, nachdem sie ihn sonst als ständigen Kunden im Laden ihres Vaters nur einfach »Herr« zu nennen pflegte, klang drohend und unheilverkündend. Er war den ganzen Tag nicht ohne Besorgnis gewesen; gegen Abend erfüllte sich seine Ahnung, und Herr Wrench erschien in seiner Wohnung.
Rogers Mut, und es fehlte ihm daran durchaus nicht, war nicht von der Art, daß er ihn für einen körperlichen Zusammenstoß geeignet machte; überdies hatte er, außer seinen Radfahrten, durch Jahre keinerlei Muskelübungen gepflogen und war nicht in der Form, einem Manne wie Herrn Wrench gleichwertig entgegenzutreten. Herr Wrench war ein hervorragender Kricketspieler, er gehörte zu den »Elf« von Sterrenden, und es war bekannt, daß er einen Ball aus dem Kricketgrund bis in die Gärten der vier Landhäuser jenseits des Wellblechpavillons schleudern konnte. Roger hatte in seinem ganzen Leben keinen Ball geschlagen noch sonst einen Sport getrieben. Im Gegenteil, er hatte für allen Sport nur die größte Verachtung, und als Laetitia einmal das alte Wort zitiert hatte, daß die Schlacht von Waterloo auf den Spielgründen von Eton gewonnen worden sei, hatte er, die Augen vor Entrüstung flammend, ausgerufen:
»Ebensogut könntest du sagen, daß die Seeschlacht von Jütland auf den Fischteichen gewonnen worden ist, auf denen die Kinder ihre Papierschiffe schwimmen lassen!«
Trotzdem vermißte er die sportlichen Instinkte, die Gewohnheit, einen Ball kräftig zu schlagen, als er allen Mut zusammennahm und an diesem Abend ins Atelier ging, in dem Herr Wrench ihn erwartete. »Ich möchte gerne wissen,« sagte dieser Herr mit unheilverkündender Ruhe, als Roger die Tür geschlossen hatte, »ich möchte gerne wissen, Herr Campion, was Sie mit meiner Tochter vorhaben.«
»Vorhaben?« wiederholte Roger.
»Ja, vorhaben! Wenn ich gewußt hätte, daß sie hier für Sie gesessen hat, nur mit einem dünnen Fetzen an, der so durchsichtig ist, als ob sie hinter dem Musselinvorhang in ihrem Schlafzimmer stünde und gar nichts anhätte, dann hätte ich ihr und Ihnen schon lange meine Meinung gesagt.«
Jetzt ging Roger in die Höhe, wie ein Hanswurst aus einer Büchse mit einer tüchtigen Springfeder.
»Das ist ja lächerlich!« schrie er. »Das Zeug, mit dem ich sie drapiert habe, ist viel anständiger als die Kleider, in denen manche Frau in Gesellschaft geht! Ich kann Ihnen das Bild zeigen, wenn Sie wollen. So einen Unsinn habe ich noch nie gehört!«
Nun war es gefährlich, Herrn Wrench gegenüber das Wort Unsinn zu gebrauchen. Er hatte wiederholt selbst in der Kapelle seiner Sekte gepredigt, es gab also eines, was er nicht sprach, und das war Unsinn. Er redete entweder die heilige Wahrheit Gottes oder er schwieg. Dies war ein Grundsatz, den er stets beobachtete und nur zeitweilig vergaß, wenn er gerade etwas sagen wollte.
»So, ich rede also Unsinn, so?« sagte er mit noch gefährlicherer Ruhe als vorher. »Nun, wenn das, was ich rede, Unsinn ist, dann möchte ich wissen, was das ist, was Sie zu meiner Tochter gesagt haben.«
Was er zu seiner Tochter gesagt hätte? So unschuldig waren Rogers Vorschläge gemeint gewesen, daß schon die Worte »zu seiner Tochter gesagt« eine böswillige und gemeine Entstellung der Wahrheit schienen. Er wendete sich auch sofort heftig dagegen und fand vor Ärger nicht gleich Worte.
»Ich habe zu Ihrer Tochter gar nichts gesagt,« schrie er, »als was ich zu jeder Frau sagen würde.«
»So, Sie würden das also zu jeder Frau sagen, so?«
»Ja was denn sagen?«
»Ihr sagen, daß sie sich vor Ihnen auskleiden soll.«
Jetzt begriff Roger erst, wie schlimm die Sache stand, und die krasse Unbildung, die von seinem Standpunkt, dem einzigen, den er klar sah und kannte, darin lag, machte ihn ebenso wütend, wie Mückenstiche an einem heißen Sommertag. Er begann im Atelier hin und her zu gehen, während er redete, was einen Mann vor einem kühleren Beobachter immer lächerlich erscheinen läßt, und Herr Wrench betrachtete ihn augenblicklich mit sehr kühlem Auge. Und während er auf und ab ging, schrie er seinen Glauben und sein Bekenntnis heraus, wie ein Missionsprediger den seinen, denn Herr Wrench war für ihn jetzt nur mehr der Vertreter und das Symbol einer Welt, die der Schönheit verschlossen und in finsteren Materialismus versunken war.
»Sie wissen nicht, was der Beruf des Künstlers ist!« begann er, als wäre dies der Text für seine Predigt.
»Nein, ich weiß es nicht«, sagte Herr Wrench, immer noch ruhig und sehr beherrscht, weil er in dieser Angelegenheit zwei Seiten zu bedenken hatte, eine geschäftliche und eine moralische. Herr Campion war ein sehr guter Kunde, er brauchte nicht nur sehr viel Gemüse im Winter, er machte auch große Bestellungen in Mehl und Hülsenfrüchten. Andererseits durfte die Tugend seiner Tochter nicht ungestraft gefährdet werden, und wäre Roger etwa bei dem anderen Grünzeughändler in Sterrenden Kunde gewesen, dann würde ihn Herr Wrench ohne weiteres, zum mindesten metaphorisch, aus dem Ort hinausgeprügelt haben. So wartete er stetig auf den Augenblick, in dem Rogers Erregung eine andere Richtung nehmen würde. Aber Roger schlug genau die gleiche Taktik ein. Seine Entrüstung war ebenso heftig; seine Parade war der Hieb.
»Nein, Sie wissen es allerdings nicht«, fuhr er fort. »Niemand in Sterrenden weiß es. Sie denken, ich sitze da und verschmiere eine Menge Farben, und Sie halten es für ein Wunder Gottes, daß ich überhaupt Geld zum Leben verdiene. Bilder bedeuten für Sie nichts. Dazu sind Sie nicht intelligent genug, um Bilder zu verstehen. Wenn ich die Dorfstraße malen würde und Ihren Laden ausließe, weil Sie eine neue Stukkatur davor angebracht haben, dann würden Sie sagen, ich kann nicht malen. Und wenn ich Ihre Tochter bitte, sie soll mir in ganzer Figur sitzen, dann glauben Sie, ich schlage ihr etwas Unanständiges vor! Das ist alles, was Sie und Ihresgleichen von Kunst verstehen! Sie fragen, ob es anständig ist oder nicht, und ob es ähnlich aussieht oder nicht! Ich aber sage Ihnen: wenn Ihre Tochter jedes Kleidungsstück vor mir ablegen würde, das sie anhat, und hier für mich sitzen würde, dann würde ich weit weniger daran denken, daß sie ein Frauenzimmer ist, als ich jetzt daran denken muß, bei all dem Blödsinn, den Sie über das reden, was ich zu ihr gesagt habe. Vielleicht hat sie gar krumme Beine, und wenn sie die hat, dann möchte ich sie lieber mit einem halben Dutzend Röcke sehen als ohne einen!«
»Von meinen Kindern hat keines krumme Beine!« erklärte Herr Wrench mit fester Stimme und staunte, daß er hier eine Diskussion darüber führte, ob seine Tochter gerade Glieder hatte oder nicht.
»Nein; ich nehme das auch gar nicht an. Eben darum habe ich ihr ja die Höflichkeit erwiesen und sie aufgefordert, mir zu sitzen.«
»Die Höflichkeit?!« Herr Wrench glaubte nicht recht gehört zu haben.
»Ja! – die Höflichkeit! Wozu ist denn die Schönheit einer Frau auf der Welt?«
Dieses Argument überstieg die Begriffsmöglichkeiten, über die Herr Wrench verfügte. Daß die Beleidigung, über die er sich zu beklagen gekommen war, eine Höflichkeit genannt wurde, das zu hören machte ihn verdutzt und nahm ihm den Wind aus den Segeln. Und jetzt – wozu die Schönheit einer Frau in der Welt war? Ja, wozu war sie in der Welt? fragte er nun selber.
»Warum haben Sie Ihre Frau eigentlich geheiratet?« fragte Roger. »War sie schön für Sie oder nicht?«
»Ja, sie war schön«, sagte Herr Wrench.
»Und waren Sie darum unmoralisch, weil Sie sie für schön hielten, ja oder nein?«
Völlig verwirrt mußte Herr Wrench gestehen, daß er sich darum noch nicht unmoralisch gefühlt hatte.
»Nun also, warum sollte die Schönheit einer Frau nicht auf jeden Menschen einen moralischen Einfluß haben? Und das ist die Aufgabe des Künstlers, damit ich es Ihnen einmal sage und klar mache, wenn Sie es schon von selber nicht begreifen!«
Und triumphierend drehte Roger sich um, als er diese Worte sprach, während Herr Wrench, nicht ohne jenen Argwohn, den unbegriffene Worte in einem ungebildeten Geist erzeugen, antwortete:
»Nun schön, wenn das die Ansicht ist, die die Künstler haben, und einer von ihnen kommt und sich in meine Tochter verliebt, dann werde ich dafür sorgen, daß er sie erst heiratet, bevor er sie malt, und wenn er sie malt, dann wird sein Bild in meinem Hause jedenfalls nicht an die Wand gehängt werden.«
Und Herr Wrench hatte ihn verlassen, immerhin befriedigt, seinen Kunden nicht verloren zu haben; für Roger aber war es ein Sieg des Geistes über die blöde Materie gewesen. Gleichzeitig jedoch war ihm jede Hoffnung, in Sterrenden jemals ein Aktmodell zu finden, für immer geraubt. Und jetzt brauchte er es dringender als je in der ganzen Zeit, die er dort verbracht hatte.
Es gab nur einen Menschen im Dorf, der ihm helfen konnte. Er setzte seinen Hut auf, stieg auf sein Fahrrad und fuhr ins Dorf hinab zu Tom Hinds. Wie gewöhnlich um diese Zeit des Vormittags war der Dorfklub in Tom Hinds' Laden versammelt. Der Pfarrvikar glättete den Ladentisch mit seinem Hosenboden, die beiden Söhne des Rittergutsbesitzers lehnten an der Wand. Ein Fremder, der sich nur vorübergehend in Sterrenden aufhielt, aber, da er sich kein Ansehen gab und keine Geschichten machte, als eine Art Ehrenmitglied aufgenommen wurde, stand am Türpfosten. Der Klub hatte noch andere Mitglieder, aber mehr als diese hatten nicht gleichzeitig Platz. Hinter dem Ladentisch, an dem kleinen Tischchen, auf welchem seine rostige alte Nähmaschine stand, saß Tom Hinds, mit einem schlauen Zwinkern in den Augen, die alles scharf beobachteten, was um ihn vorging, einem Zwinkern, das sie nie verließ; er leitete das Gespräch in die Bahnen, die er wollte, nach seiner Laune und mit einem Humor, der alle anzog und um dessentwillen sie kamen.
Roger steckte den Kopf zur Tür hinein, und das Gelächter verstummte. Niemand außer Tom Hinds sah, was an Roger humoristisch war. Keiner betrachtete ihn völlig als einen Menschen wie die anderen. Sie waren zwar stolz darauf, daß sie einen Künstler in ihrem Dorf hatten, aber so wie Herr Wrench wußte keiner von ihnen recht, was ein Künstler war. Daß jemand sechs Meilen radfuhr, um eine schwarzweiße Kuh zu finden, da es doch so viele rote auf Arkwrights Pachtgut am Rand des Dorfes gab, bewies deutlich, daß er nicht über seine volle Vernunft verfügte. Die einzige Erklärung, die sie dafür fanden, war, daß er eben gerne radfuhr, aber wenn sie in Betracht zogen, wie zerstreut und gehetzt er durch das Dorf jagte, so war auch das nicht zu verstehen.
Nur Tom Hinds, der, wie schon früher gesagt wurde, seine Bildung der Schule der Natur verdankte, hatte eine Ahnung davon, was Roger wollte, wenn er in dieser verrückt erscheinenden Weise nach Modellen suchte. Er selber hatte ihm gesessen, und das war für Leute, die hinreichende Intelligenz besaßen, der Weg, Roger kennen und verstehen zu lernen. Hinds konnte auch den Mann verstehen, der sich in Sterrenden aufgehalten und sein Porträt hatte malen lassen: der Unglückliche war bei jedem Sitzen im Gesicht röter und röter geworden und sah, als das Porträt fertig war, auf der Leinwand wie ein ländlicher Gutsbesitzer aus, dem ein Schlaganfall drohte.
Wie die meisten Leute in Sterrenden, kam auch Roger mit vielen seiner Sorgen zu Tom Hinds. Er war der einzige, der ihn soweit verstand, und sein Verständnis entsprang aus dem Humor eines wahrhaft gebildeten Geistes. Als Roger an diesem Vormittag den Kopf zur Ladentür hineinsteckte und das Gelächter verstummte, war er vollkommen überzeugt, daß dies deshalb der Fall war, weil er so Wichtiges mit Hinds zu besprechen hatte, und er bat ihn, einen Augenblick herauszukommen und mit ihm zu reden.
Die stete Bereitwilligkeit des Schneiders, die Sorgen anderer Leute anzuhören, war eine der Eigenschaften, die ihm seine einzigartige Stellung in Sterrenden gaben. Eine andere war die einfache, aber eigenartige Weise, in der er guten und vernünftigen Rat gab.
»Ich muß Sie nur eine Minute sprechen,« sagte Roger, »nur eine Minute!«
Tom Hinds trat auf die Straße hinaus, und Roger hielt sich aufgeregt an seinem Fahrrad fest, während er sprach.
»Ich brauche ein Modell«, sagte er.
Der Schneider nickte. Er hatte das erwartet. Roger hatte nicht die geringsten Bedenken, Leute um das zu bitten, was er brauchte. Es schien ihm ganz selbstverständlich, daß man ihm bei seiner Arbeit in jeder Weise behilflich war. Wenn ihn jemand bei Ausübung seiner Kunst störte oder behinderte, dann empfand er, daß die Leute immer noch nicht begriffen, wie wesentlich und nötig die Kunst für das Leben der Nation war.
»Sie müssen mir ein Modell verschaffen«, fuhr er fort.
Tom Hinds nickte abermals und wartete. Roger gehörte zu jenen Schauspielern auf der Lebensbühne, denen man kein Stichwort zu geben braucht, so gut kennen sie ihre Rolle und spielen sie.
»Sie müssen mir ein Modell für ganze Figur verschaffen.«
Tom Hinds sah Roger scharf von der Seite an.
»Seife?« fragte er.
»Nein, nicht Seife! Mein Bild für die nächste Jahresausstellung in der Akademie.«
»Weiß Frau Campion darum?«
»Nein.«
»Sollten Sie es ihr nicht lieber sagen?«
»Daß Sie in Ihrem Alter solche Seitensprünge machen!«
Roger war in diesem Augenblick nicht zu Spaßen aufgelegt. Seinem Empfinden nach handelte es sich um das Größte und Wichtigste, was ihm begegnet war, seitdem er in Sterrenden wohnte. Sein Seelenheil in der künftigen Welt war ihm an diesem Vormittag nicht wichtiger als der Wunsch, einen nackten Körper zu malen. Er hatte das Bild schon halb fertig im Geist. Wenn er hier kein Modell finden konnte, war er so gut wie entschlossen, das Haus aufzugeben und wieder nach London zu übersiedeln. Ein Modell mußte er haben. Tom Hinds sah offenbar nicht ein, daß dies in Sterrenden kein Spaß war.
»Ich weiß nicht, was Sie meinen, was ›Seitensprünge‹ heißen soll«, sagte er. »Ich brauche ein Modell. Sie wissen gut, daß ich hier keines bekommen kann. Denken Sie doch an Wrench!«
»Ach so, ich dachte, Sie brauchen ein Frauenzimmer!«
»Ja natürlich.«
»Warum sollte ich also an Wrench denken? Ich wünsche weder an Wrench zu denken, noch ihn zu sehen! Wer wird an Wrench denken?«
Roger blickte verzweifelt zum Himmel. Er sah so unglücklich aus, daß der Schneider ihn aus Mitleid schließlich ernst nahm. Roger besaß die Fähigkeit, daß er die kleinsten Tragödien in seinem Leben anderen ungeheuerlich darstellen und sie davon überzeugen konnte, daß sie ungeheuerlich waren, zum mindesten Leuten von begrenztem Verständnis. Nach fünf Minuten hatte Tom Hinds vollkommen begriffen, daß die Welt der Kunst einen unersetzlichen Verlust erleiden mußte, wenn Roger kein Mädchen fand, das ihm für ganze Figur Modell saß. Und es war nicht nur an sich schwierig, die betreffende Dame zu finden, sondern auch, wenn man sie fand, war es, wie der Schneider andeutete, keineswegs ratsam, das Dorf darum wissen zu lassen, daß eine so zweifelhafte Sache im Gange war.
»Sie können in Sterrenden keine Damen ohne Kleider malen«, sagte er. »Abgesehen von Ihrem eigenen guten Ruf ...«
»Zum Teufel mit meinem guten Ruf!« rief Roger. »Wozu braucht ein Künstler guten Ruf? Damit kann er keine Bilder malen!«
»Also gut, lassen wir das«, sagte Schneider Hinds. »Es handelt sich auch um den guten Ruf des Mädchens. Das müssen Sie bedenken.«
Die ganze Grausamkeit des Künstlers kam jetzt in Rogers Wesen zum Vorschein. Was ging ihn das an? War es seine Sache, das zu bedenken? Wenn sie bereit war, ihm zu sitzen, war das ihre Sache.
Schneider Hinds schüttelte den Kopf.
»Ich kenne ein Mädel,« sagte er, »die Ihnen vielleicht sitzt. Es läßt sich manches gegen sie sagen, aber so schlecht, daß ihr daran nichts liegt, ist sie nicht.«
»Schlecht!« brüllte Roger.
Es war völlig unmöglich, ihm begreiflich zu machen, daß kein Mädchen in der Gegend die Sache in dem Licht betrachten würde, in dem er sie sah. Aber da Tom Hinds auf seinen Bedingungen bestand, mußte er sie annehmen. Die Bedingung war, daß Roger das Mädchen selbst fragen sollte, ob sie ihm sitzen wollte, und wenn sie dazu bereit war, es nicht einmal seiner Frau sagen durfte.
»Laetitia?« sagte Roger. »Was liegt ihr daran? In London habe ich Hunderte von Modellen gehabt!«
Schneider Hinds war unerbittlich.
»Entweder Sie machen es so«, sagte er, »oder ich verschaffe sie Ihnen nicht.« Bei diesem Ton wurde Roger fügsam wie ein Kind. Also ja, er wollte das alles tun; und nun, wer war sie, und wo war sie, und was war, wenn sie dann nicht die richtige Figur hatte?
»Ja, das müssen Sie beurteilen,« sagte Tom Hinds, »ich kann die Leute nicht mit den Augen auskleiden, wie Sie es können. Aber ich glaube, sie wird schon die Rechte sein.«
»Also, dann werden Sie noch heute hingehen und sie fragen?«
Aber Schneider Hinds war viel zu klug und vorsichtig, um das zu übernehmen. Das Zwinkern in seinen Augen war höchst betrüblich für Roger, er sah es kommen, daß er den bedenklichen Schritt selber machen mußte.
»Sie wollen doch nicht, daß ich hingehen und sie fragen soll?« rief er einigermaßen betroffen aus.
»Nein, ich will das durchaus nicht,« sagte Hinds leichthin, »es wäre mir, offen gestanden, viel lieber, Sie täten es nicht.«
»Also wollen Sie es tun?« Seine Stimme bekam einen kläglichen und ärgerlichen Ton.
»O nein. Ich nicht. Ich habe damit nichts zu tun. Ich will ja das Bild nicht malen – ausgenommen Sie wollen, daß ich es male. Wenn Sie wollen, daß ich das Bild male, dann meine ich, wäre es allerdings auch meine Pflicht, das Mädel zu fragen.«
Roger unterlag und gab nach, nicht weil er es für recht und billig hielt, sondern weil ihm nichts anderes übrigblieb. Nun sagte ihm Schneider Hinds, um wen es sich handelte; es war ein Mädchen, das in einem etwa drei Meilen entfernten Dorf in einem Haushalt beschäftigt war. Roger kannte sie vom Sehen; sie sah sehr gut aus. Seine unruhigen Augen, die immer nach Gegenständen zum Malen aussahen, waren ein- oder zweimal in der Dorfstraße von Sterrenden auf sie gefallen. Sie konnte auch eine gute Figur haben. Jedenfalls hatte sie ein hübsches Gesicht. Das ließ es ihn wenigstens hoffen.
»Ich nehme an, Sie sind sich darüber klar,« sagte Hinds, für den die ganze Sache ein Teil der Komödie war, die das Leben für seine besondere Unterhaltung in Sterrenden aufführte, »ich nehme an, Sie sind sich darüber klar, daß Sie das Mädel um den letzten Fetzen Anständigkeit bringen, der noch an ihr ist? Und wenn sie die Fetzen abnimmt, damit Sie sie in ganzer Figur malen können, wird sie sie wahrscheinlich nie wieder antun.«
Und mit lustigem Zwinkern in den Augen beobachtete er, wie dieser Gedanke in Rogers Gewissen Wurzel schlug und ihm zu schaffen machte. Der Mensch in Roger kämpfte mit dem Künstler, aber es war ein ungleicher Kampf, der nur mit halbem Herzen geführt wurde. In seinen Absichten war nichts Unmoralisches, und ihre Moral war schließlich nicht seine Sache. Im nächsten Augenblick sprach er die heidnischesten Ansichten aus. Ein kalter Ausdruck von harter Grausamkeit war in seinen Augen. Da er jedes Wort, das Tom Hinds sagte, für aufrichtig hielt und ernst nahm, sah er sich in Gefahr, um einiger moralischer Grundsätze willen das zu verlieren, was seine Künstlerseele jetzt mit ganzer Kraft begehrte. Er berief sich sogar auf die Bibel und fragte, ob er seines Bruders Hüter sei, um sich damit eine Immunität zu sichern.
Tom Hinds stand in Kniehosen und in dem Rock, den er vermutlich selber für sich zugeschnitten und genäht hatte, auf der Straße und hörte zu, während Roger ihm die ganze Gewissenlosigkeit einer Künstlerseele enthüllte.
Und als er mit einer letzten Anstrengung, zu seinem Ziele zu gelangen, sagte: »Und was liegt daran, wenn sie ihre Anständigkeit verliert? Mein Bild ist wichtiger und wird mehr Gutes in der Welt wirken als ein Dienstmädchen von zweifelhaftem Ruf, oder etwa nicht?!«, als er so schamlos jedes Anstandsgefühl und jeden Sinn für sittliche Verantwortung preisgab, da drehte Schneider Hinds sich um und mußte sich innerlich totlachen über die Erbarmungslosigkeit dieses Mannes, der mit jedem Sperling Mitleid hatte, der fiel, aber gelassen und mitleidslos einen Mitmenschen vom Pfade der Tugend straucheln und fallen sehen konnte.
»Ich werde sie Ihnen schicken«, rief er, den Kopf über die Schulter zurückgewendet. »Ich werde sie Ihnen ins Atelier schicken.«
Wenn man zweiundzwanzig Jahre alt ist, gibt es wenig, was den Strom des Lebens einzudämmen vermöchte. Moralische Schranken mögen ihn eine Weile aufhalten, aber wenn sie nicht einfach weggespült werden, so werden sie unvermeidlich abgebröckelt und unterhöhlt von den stürmischen Wogen, die in der Flutzeit der Jugend über ihre Ufer schwellen.
Bis drei Uhr morgens erging sich Jimmy zur großen Bestürzung seiner Familie auf den Hügelkämmen, wo nur verstreute Schafherden, die im Mondlicht weideten, ihm Gesellschaft leisteten. In der Einsamkeit der Wildnis rang er mit diesem neuen Erlebnis, das plötzlich wie ein Gießbach in sein Dasein eingebrochen war.
Der Gedanke einer platonischen Freundschaft erschien ihm ebenso außerordentlich wie lockend. Er bot Ausblicke auf Wege, die in einem gefährlichen Dunkel lagen. Diese wollte er nicht sehen und schloß seine Augen, er stählte seinen Geist gegen alles andere durch die aufregende und verführerische Hoffnung, die ihm den Anblick von Heiligtümern versprach, zu denen die schattenhaften Wege zu führen schienen.
Ihre Hand durfte er nie wieder berühren. Es war sicherlich leicht, Lebewohl zu sagen, ohne ihr die Hand zu geben. Sie war eine verheiratete Frau. Es war daher besser, ihre Hand nicht zu berühren. Der sanfte Druck, den er heute gefühlt hatte, sollte auch der letzte sein. Er wollte ihn nie vergessen, aber er fühlte bestimmt, daß er ihre Hand nicht wieder berühren durfte. Als sein Geist diesen strengen Grundsatz, den er damit für sich aufgestellt hatte, genauer zu untersuchen begann, da fand er sich plötzlich auf einem jener Wege, die in eine verlockende Dunkelheit führten, und mit Aufgebot seiner ganzen Willenskraft kehrte er um.
Es sollte eine platonische Freundschaft sein, und diese Freundschaft sollte sein ganzes Leben erfüllen. Dieser Bestimmung mußte er sich stets klar bewußt bleiben. Das war das Wesentliche. Er mußte auf dem geraden und engen Pfad fortschreiten, den er vor sich sah. Alle anderen Wege waren ihm verboten.
Die Schafe knabberten an dem Gras auf den Hügelabhängen. Das Mondlicht fiel wie rieselndes Wasser über die Hügelkämme. Noch nie im Leben hatte er die Herrlichkeit der Nacht so tief empfunden. Unten im Tal schwebten die fernen Höfe und Häuser in einem grauen Mondnebel. Dies also war für ihn hinfort die Farbe des Lebens. Die Männer, die er kannte, auch er, wie er sich bisher zu kennen geglaubt hatte, verlangten im allgemeinen nach einer kräftigeren und lebendigeren Farbe. Aber in seinem neuen Erlebnis, in dieser platonischen Freundschaft zu einer verheirateten Frau, hatte er eine dauerndere Schönheit gefunden. Lebendig und kräftig war sie nicht. Im Geist zeigte sie die bleiche Farbe des Mondlichts. Aber es war etwas Dauerndes.
Kein anderer Mensch als sie sollte je davon erfahren. Solange sie lebten, sollte es ein Geheimnis zwischen ihnen bleiben. Keinen Augenblick zweifelte er an Laetitia. Ohne Frage nahm sie die Freundschaft an, die er ihr bieten wollte. Während er so über die Hügel hinschritt, spielte er sich gleichsam selbst eine Generalprobe der ganzen Szene vor: die Worte, mit denen er ihr seine Freundschaft darbringen wollte, das Schweigen, in dem sie sie annahm.
Mit der Zeit würde ihr Mann wohl sterben. Er war ja ein paar Jahre älter als sie. Wenn er das hörte, dann würde er, wo immer in der Welt er sich auch befinden mochte, zurückkommen nach Sterrenden und sie bitten, ihn zu heiraten. – Aber war das platonische Freundschaft? Wo blieb die platonische Qualität, auf die er mit Recht so stolz war?
Das Leben war wirklich ungewöhnlich kompliziert. Was hatte Heiraten mit platonischer Freundschaft zu tun? Wie war ihm nur dieser Gedanke gekommen? Er verbannte den Gedanken aus seinem Geist. Heiraten! Er konnte und wollte niemals heiraten. Diese Freundschaft war keine Ausflucht, kein bloßer Vorwand. Sie war eine Realität, erhabener und größer als alles, was er bisher empfunden.
Warum hatte er an Roger Campions Tod gedacht? Roger Campion brauchte nicht zu sterben. Roger Campion mochte hundert Jahre alt werden – ihre Freundschaft blieb immer die gleiche.
Warum aber hatte er daran gedacht?
Das Leben war sehr kompliziert.
Er verließ die Hügel und schritt ins Tal hinab, stieg in sein Schlafzimmerfenster ein und ging zu Bett.
Der Weg bis zu Roger Campions Haus betrug vier Meilen. Am nächsten Morgen ging Jimmy zu Fuß dahin. Er hatte in Betracht gezogen, daß eine Frau schließlich manches im Hause zu tun haben mochte, und daß er stören mußte, wenn er erschien, bevor sie damit fertig war. Auf seinem Rad konnte er in zehn Minuten dort sein, dann mußte er aber bis beinahe zum letzten Augenblick warten. Und er konnte nicht warten. Darum ging er zu Fuß. Mit jedem Schritt kam er näher zu ihr, und ganz abgesehen davon glich die grüne Erde heute einer Wunderwelt. Irgend etwas war mit ihm geschehen, so daß sein Ohr auf das Lied jedes Vogels gestimmt war und sein Auge alles in der Natur in zauberhafter Klarheit sah.
Die Seele eines Dichters war an diesem Morgen in ihm, während er so zwischen den Hecken hinschritt. So sehr war sie in ihm, daß sein Geist nach poetischem Ausdruck verlangte und die Verse sich unwiderstehlich in ihm zum Rhythmus seiner Schritte auf dem Wege formten:
»Laetitia im gelben Kleid
Entzückt durch ihre Lieblichkeit.«
Offenbar war es Herricks Geist, der an diesem Morgen unsichtbar neben ihm hinschritt.
»Beseligt such' im Morgengrauen
Ich ihrer Augen Glanz zu schauen.«
Der Glanz ging noch, aber der Geist blieb nicht bei ihm. Bei den zwei letzten Versen ließ Herrick ihn unerbittlich allein zwischen den Hecken gehen, und er mußte sich an die Masse seines eigenen Herzschlags und an seine eigene Inspiration halten.
»Der Druck von ihrer zarten Hand
Vereint uns wie durch Zauberband.«
Es war dieser Druck der Hand, den sein Gefühl nicht ausschalten konnte und der Herrick vertrieben hatte. Aber solche Knittelverse zu machen, setzte bei einem jungen Leutnant in Seiner Majestät Marine immerhin einen auffällig ekstatischen Seelenzustand voraus. Da er Herrick nie gelesen, noch von ihm gehört hatte, stellte er keine Vergleiche an, die eine störende Selbstkritik zur Folge gehabt hätten. Die Knittelverse drückten genau das aus, was er empfand. Und das war das Beunruhigende daran.