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Auf dem Ruepphof war am andern Morgen eine trübselige Stimmung.
Die Bäuerin ging mit verweinten Augen herum, die Leni rappelte in der Küche mit dem Geschirr, und der Michel wußte nicht, wo er sich vor den lauten und stummen Vorwürfen verschliefen sollte.
Vor dem Vater hatte er allerdings Ruhe, denn der lag im Bett und grübelte vor sich hin, wie er sich beim Gericht am sichersten aus der Verlegenheit helfen könne. Darüber hatte er alles andere vergessen und die Lust verloren, seinen ungeratenen Sohn ins Gebet zu nehmen.
Gleich nach dem Frühstück machte sich der Michel auf den Weg, um in die Kirche und dann in den Pfarrhof zu gehen.
Außer dem Hause war's ihm wohler zumut, und der klare Spätsommermorgen flößte ihm fröhliche Zuversicht ein.
Wie blinkte der Tau in den Grashalmen, wie glitzerte er in den wunderfeinen Spinngeweben, die zwischen den jungen Fichten hingen!
Und wie arbeitsfroh konnte einem zumut werden, wenn die Luft vom Geruch der frischgepflügten Erde voll war!
Mit der drückenden Heimlichkeit war es jetzt aus, und wenn sich die Klarheit auch nicht auf die allerschönste Weise eingestellt hatte, jedenfalls war sie da, und sie wußten daheim, daß er nicht mehr in die Gefangenschaft zurückkehren wolle und könne.
Das letzte war gleich noch das bessere, denn es war unumstößlich und schnitt alle langen Reden ab.
Der Michel hob den rechten Fuß auf und schnalzte mit den Fingern; ganz übermütig war er, wie es ihm so vor Augen stand, daß er frei und ledig war.
»Wüah . . . hö . . . wüah!«
Rechts vom Wege pflügte der Zotzen-Peter, und er schrie wohl so laut, damit ihn der Freund hörte.
Der ging auch gleich seitab auf ihn zu und wartete am Feldrain, bis der Peter herankam.
»Gehst du scho abi?«
»Ja. Z'erscht geh'n i in d' Kircha, und danach muaß i halt eini in d' Pfarrhof.«
»Sag no . . .«
»Na, i lüag nimma lang umanand und sag's an Herrn Pfarra pfeilgrad, daß mit'n Schtudieren gar is, und na bekümmert'n ja dös ander nix.«
Peter sah seinen Kameraden beinahe mit Bewunderung an. Der hatte einmal Schneid, und er schaute so fidel aus, als wenn er auf den Tanzboden ginge.
»Jetzt host amal recht,« sagte er. »Bal du koa G'schtudierter nimma bist, na is ja überhaupts de G'schicht anders. Und woaßt was, na probier'n ma's heunt beim Eitel . . .«
»Du hoscht aba do verzählt . . .«
»Ah, allaweil schiaßt der alt Depp net; der werd amal schlaffa aa. Genga ma halt spater zuawi.«
»Woaßt, wenn jetzt nomal was passieret . . .«
»Ja no, ausprobier'n muaß ma de G'schicht, und d' Schneid derfst dir net abkaff'n lassen.«
»Halt net so g'schwind hinteranand sollt' s sei. Sinscht gibt's ja a schiach's G'red . . .«
»Laß s' red'n! De hör'n scho wieda auf.«
»I will dir was sag'n, Peter, dös überleg i mir no . . .«
»Is recht, und i red amal mit da Nanni, wia ma's am g'scheitern macha, daß der Alt nix spannt . . .«
Ein scharfer Pfiff unterbrach das Gespräch.
Oben auf der Höhe hatte der Kaspar zum Rande hergeackert und die beiden erblickt.
Er drohte mit der Faust und schrie; man verstand aber nicht alles, bloß das Wort »Bazi« drang herunter.
»Dir gib i scho an Bazi . . .« murrte Peter. »Aba jetzt bfüad di Good, sinst koppt da Kaschbar wieda an ganzen Tag . . . wüah . . . öh . . . hott! hott!«
Michel ging langsam auf den Weg zurück.
Dabei sah er auf dem Gangsteig, der vom Lukas zum Bach hinunterführte, ein Weibsbild daherkommen; anscheinend war es jung, denn es ging einen raschen Schritt, und der Rock blähte sich im Morgenwind.
Jetzt trat der Michel auch besser aus, und erst wie er am Bachrand angelangt war, wo der Gangsteig in den größeren Weg einmündete, ließ er sich Zeit, blieb auch am Wasser stehen und sah so angelegentlich hinein, als wollte er die Fische zählen.
Dabei spähte er unauffällig, wie er meinte, nach dem Frauenzimmer, das immer näher herankam.
Es war wirklich die Stasi, und der Michel war schon wieder ängstlich und voller Zweifel, ob er sie anreden sollte, und er sagte in Gedanken eine Anrede her.
Das Mädel lachte aber nicht so freundlich wie damals in Erdweg, sondern zeigte eine ernsthafte oder gar verdrossene Miene.
»Ah! . . .« machte der Michel und lüpfte den Hut . . . »ah . . .«
»Guad Morg'n!« sagte die Stasi und war schon vorüber.
Der Michel hielt Schritt neben ihr und räusperte sich.
»Wia geht's denn, Stasi?«
»Guat.«
»Host . . .« Es fiel ihm nichts mehr Rechtes ein, und außerdem, das Mädel ging so schnell, daß sich eine Unterhaltung schlecht machte.
»Warum laffst denn a so?« fragte der Michel.
»Weil i in d' Kircha geh . . .«
»Da is do no Zeit g'nua. Über a halbe Stund . . .«
»So?«
»Is dir net recht, daß i mitgeh?«
»I ko dir's net vabiat'n. Der Weg is für alle Leut da . . .«
»Ah so . . . No ja, i ko aa hint bleib'n . . . aba gar so unfreundli brauchast d' aa net sei.«
»I hab do nix g'sagt.«
»Grad weil's d' nix sagst; selbigsmal bist d' ganz anderst g'wen.«
»M . . . hm . . . Und desweg'n hast di du so viel bekümmert um mi . . .«
»I? Schau . . . i waar ja gern . . . aba i hab net g'wißt . . . schau, es hat si halt net geb'n . . .«
»Is scho recht, ja. Und für de schlecht'n Weibsbilda laffst Stunden weit umanand. De sell'n woaßt du scho z'finden . . .«
»Ah geh, dös is ja all's net a so . . .«
Stasi blieb stehen und schaute ihren alten Schulkameraden zornig an.
»Wia's di no net schaamst, daß di weg'n so an Schlampen ins G'redt bringst? Da waar i mir do scho z' guat dafür!«
»I kenn s' ja gar it.«
»Net kenna? Und laffst bis auf Riad ummi? Dös muaßt wem andern vazähl'n.«
»G'wiß net, Stasi. Schau, es is halt so a G'spaß g'wen . . . i . . . i . . .«
»Dös is de lüaderlichste in der ganzen Gegend. Was de scho für Stückl g'liefert hat, dös mag mi ja gar it sag'n. Aba natürli, wia s' was schlecht's wissen, da lassen de Burschen zuawi, und da Herr Schtudent muaß aa dabei sei. So was gräuslich's, da tat i mi schaama . . .«
»I bin halt dazua kemma und hab gar net g'wißt, wia und was . . .«
»Ja freili . . . Und auf d' Loata bist im Schlaf aufi g'stieg'n . . .«
»Bal'st mi vazähl'n laßt, nacha sag i dir's ganz aufrichti, wia's g'wen is . . .«
»Mi geht's ja nix o, und i möcht mi scho gar net bekümmern um so was. Waar ma scho g'nua!«
Aus Stasis Augen blitzte die Neugierde, als sie sich so heftig gegen die Mitteilung wehrte, aber das sah der Michel nicht, er wollte sich bloß gegen die schlechte Meinung seiner Spielkameradin wehren.
»Mir hamm halt g'moant, mir möcht'n amal . . . no ja . . .«
»Wer mir? Da Zotz'n-Peter natürli, den kennt ma scho, und vo dem host di du aufred'n lassen. Da hättst do du da G'scheiter sei müass'n.«
»I bin do gar nix bekannt da umanand, schau. Und von dem sell'n Madel hab i meiner Lebtag nix g'hört g'habt . . .«
»Und da habt's ös ausg'macht, daß 's oafach higeht's dazua?«
»No ja . . . a so halt . . . net . . .?«
»Was aba dös für oani is, zu der ma mitt'n bei da Nacht zuawi lafft, dös host dir du net denk'n könna, gel na?«
»Da han i gar net viel nachdenkt über dös . . . Weil da Peter g'sagt hat . . . no ja . . . und weil i halt no gar nia dabei g'wen bi bei so was . . .«
»Und da muaß ma do dabei sei, net? Weil dös scho was is!«
»Intressiert hätt's mi halt, schau . . .«
»Wia ma no so was sag'n mag! Und na bist oafach nüber g'laffa?«
»Ja . . .«
»Und host gar it denkt, wia schlecht daß dir so was o'steht?«
»Denkt han i's scho. I waar aa liaba umkehrt.«
»Dös sagst d' jetzt.«
»Na, Stasi, g'wiß is wahr. Koa Freud hab i an dera G'schicht überhaupts net g'habt, und bei jedem Schritt hab i mir denkt, geh, laß 's guat sei! Kehr um! Aba natürli, na hab i mi do wieda g'schaamt.«
»Über dös hätt'st di net schaama braucha.«
»No ja . . . schau . . . daß ma halt ausg'lacht werd, hab i mir denkt . . .«
»Na . . . ös seid's Leut! Von de Burschen is do oana wia der ander. Mit'n schlecht sei prahlt si jeda, und mit'n Anstand schaamt sie oana.«
Michel nickte beistimmend zu den tüchtigen und richtigen Ansichten der Stasi und dachte, nun habe er seine Beichte würdig beschlossen.
Aber das Mädel hatte seine Scheu vor dem gräuslichen Begebnis ganz verloren und wollte die Partie bis zum Schlusse miterleben.
»Und nacha seid's also ummi?« fragte sie.
»Freili, nacha san ma ummi.«
»Und is z'erscht da Peter aufi dazua?«
»N . . . na . . . da bin scho i aufi.«
»Und hoscht nix g'wißt von ihr und hoscht as nia g'sehg'n g'habt?«
»Na . . .«
»Ja, is dir dös ganz gleich g'wen, was sie für oane is und wia sie ausschaugt?«
»Dös sell net, aba . . . no ja, da Peter hat d' Loata g'holt, und i bin amal aufig'stieg'n, und dös ander, han i mir denkt, dös ander wer i nacha scho sehg'n . . .«
»Ja, wia ma no so sei ko! Und wia's d' as g'sehg'n hoscht, hat's dir da net graust?«
»Na . . . graust net . . . Überhaupts han i s' gar net richti g'sehg'n, weil's ganz dunkel war, und . . . no ja . . . weil's na a so glei dahi ganga is . . .«
»In d' Kamma?«
»Na . . . in d' Kamma bin i wohl net eini kemma. Hat ja scho da Knecht auf mi her g'schlag'n . . .«
»Nacha bischt überhaupts net eini?«
»Na.«
Wenn Michel mehr Erfahrung gehabt hätte, wäre ihm vielleicht aufgefallen, daß die Stasi in ihrer Strenge nachließ und freundlicher wurde.
Aber er merkte es nicht, und er wollte nur das, was an jenem Abend erfolgt war, mit Stillschweigen übergehen.
»Net bischt eini?«
»Na . . .«
»Warum it? Hat's . . . di am End do no g'reut?«
»Na . . . Dös kann i eigentli net sag'n . . .«
Michel war zu ehrlich oder zu wenig vertraut mit der Art, wie man wieder eine Brücke schlagen kann zum Vertrauen und zur Verzeihung eines braven Mädels.
Wie leicht hätte er es gehabt, zu sagen, daß sein besseres Ich im allerletzten Augenblick doch noch gesiegt und ihm den Fuß zurückgehalten habe, als er schon einsteigen wollte.
Aber er blieb ganz unklug bei der Wahrheit.
»Na waarst d' wirkli eini?« fragte Stasi und der Verdruß stieg schon wieder in ihr auf.
Da hatte aber der Michel doch den guten Einfall und sagte.
»I glaab net . . .«
»Warum glaabst it?«
»No ja . . . a so halt . . . überhaupts hat's mi gar it recht g'freut, und i hätt ja a so net g'wißt, was i na sag'n hätt soll'n . . .«
»Geh, hör auf!«
»Na, g'wiß is 's wahr. I hab mi so hart g'redt damit, weil i s' do it kennt hab, und da is mir na gar nix ei'g'fall'n . . .«
»Ja . . . es waar dir scho was ei'g'fall'n . . .«
Michel schüttelte den Kopf und bekam zufällig mit seiner rechten Hand die linke der Stasi zu fassen. Sie zog sie nicht zurück, sondern schlenkerte sie vertraulich mit der seinen hin und her, wie in alten Zeiten, als jedes noch den Schulranzen auf dem Buckel hatte.
»Dös sagst du grad a so,« begann sie wieder. »Du bischt halt a wia de andern, und am End hätt'st du dem abscheilinga Weibsbild recht schö to . . .«
»Mit dem kenn i mi do gar it aus . . . I hab ja no mit koana über so was g'redt . . .«
Stasi sah ihn von der Seite an, und sein unbeholfenes und schüchternes Wesen sagte ihr deutlich, daß er nicht gelogen habe.
»Dös waar a schöner O'fang g'wen!« sagte sie vorwurfsvoll.
»Ja . . . no . . .«
»Aber i woaß scho . . . schuld is grad der Zotzen-Peter. Dem hat dös paßt, daß er di auf so was bringt. Der is ja bekannt für dös . . .«
Michel gab seinen Freund preis.
»Ja, bal der net g'wen waar, mir waar's freili net ei'g'fall'n . . . I hätt mi überhaupts net traut, daß i zu an Madel was sag . . .«
»Trau'n! Bal 's a richtige is, derf ma si trau'n g'nua, aber da muaß ma do an Unterschied macha . . .«
»Aba . . .«
»Was?«
»I moan, weil du sagst, a richtiges Madel, da ko ma do scho gar it higeh dazua . . .«
»Warum it?«
»No ja . . . Da ko ma si do scho gar it trau'n . . .«
»Geh!«
»Hätt'st . . .«
Er blieb stecken.
»Was willst d' sag'n?« fragte Stasi und scklenkerte heftiger mit der Hand.
»Hätt'st du mir dös verlaubt, daß i zu dir kemma waar?«
Sie lachte herzhaft.
»So amal g'wiß net. Daß du grad bei da Nacht daher g'schloffen waarst und ans Kammafenschta klopft hätt'st.«
»Siehgst as . . .« sagte Michel kleinlaut.
»Dös werd aa net sei müass'n. Z'erscht muaß ma do scho red'n mit anand und . . . no ja . . . z'erscht muaß ma do scho ganz anderst bekannt sei mit anand . . . Und überhaupts,« fügte sie hinzu, »bei ins gang dös scho gar it. Was glaabst denn, wann da Vata was spannet? Jessas! Da mag i gar it dro denk'n . . .«
»Ja . . . freili . . .«
»Ma braucht do it an's Kammafenschta kemma; ma ko ja aa so mit anand red'n . . .«
»I hab di nia g'sehg'n, net amal von der Weit'n.«
»Ja no . . . in der Arndt, da hat mi koa Zeit. Aba . . .«
Diesmal blieb Stasi mitten im Satz stecken.
Der Michel half ihr nicht darauf, und sie mußte schon allein die Fortsetzung finden.
»Jetza, wo's nimma gar so viel Arwat gibt, kannt ma si scho amal treffa . . .«
»Aber wo?« fragte der unbeholfene Mensch, statt daß er gleich lichterloh in die Höhe gebrannt wäre.
»No ja . . . da gibt's allerhand Platz. I muaß a so de nächst Woch Tannazapf'n klaub'n, hat d' Muatta g'sagt . . .«
»Tannazapfen . . .?«
»Ja, im Weiherer Hölzl.«
»Da kannt i ja a weng mitklaub'n?«
»Warum net? Du muaßt halt geh, vor d' Muatta kimmt, daß di neamd siecht, z'weg'n der dumma Feindschaft . . .«
»Ah ja, dös wenn net war, nacha kannt i aa hie und da in Hoamgart'n komma.«
»Bei ins werd eigentli von dem gar nix g'redt,« sagte Stasi, »aba dei Vata warmt's allaweil wieda auf, und nacha is halt der inser aa belzi.«
»Aber in's Weiherer Hölzl derf i kemma? Wann denn?«
»Wann? Ja . . . i moan am Deanstag . . .«
»Gilt scho, Stasi . . .«
»Aba dös sag i dir glei, bal's d' no amal mit'n Peter umanand ziahgst, schaug i di fei nimmer o . . .«
»G'wiß nimma . . .«
»Jetzt laß aus, da vorn sehgat ins de alt Puchrainerin; de specht an ganzen Tag aus ihran Fensta, und bfüad di Good, bal oan de in der Reißen hat . . .«
Michel gab ihre Hand frei, vor sie um 's Eck kamen und vom ersten Hause aus gesehen werden konnten.
Er blieb stehen und ließ Stasi allein voran gehen.
Als er ihr nachfolgte, sah er richtig die Puchrainerin wie eine Hexe hinter ihrem kleinen Fenster hocken.
Kaum war er vorbei, so huschte sie aus dem Zuhäusel heraus und schaute dem sündhaften Studenten über den Zaun nach.
Und gegenüber kam die Rauscherin unter die Türe und verfolgte auch den abtrünnigen Menschen mit ihren Blicken.
Gleich nachher standen die zwei Alten beisammen und wisperten sich ihre Meinungen zu.
»Da Herr Pfarrer werd eahm vorg'laden hamm. Moanst it?«
»Freili. Hat ma's ja d' Fräul'n Anna g'sagt, daß da Mesmer gestern zum Ruepp aufi ganga is . . .«
»Jessas! Da werd's was geb'n!«
»I woaß it, Puachrainerin. Da Pfarra is koa scharfa. D' Fräul'n Anna sagt's aa, daß er viel z' lau is . . . Gehst d' jetzt in d' Meß? Na geh i mit.«
Sie gingen miteinander durchs Dorf, und wenn der Wind die Zipfel ihrer Kopftücher faßte, sah es aus, als flatterten ein paar schwarze Zungen in der Luft. –
Nach der Kirche ging Michel in den Pfarrhof; sein Herz war bedrückt, und die fröhliche Zuversicht, die ihn am Morgen erfüllt hatte, war gleich verflogen, als er an der Glocke zog.
Die Pfarrerköchin, die im Dorfe als Verwandte des hochwürdigen Herrn d' Fräul'n Anna genannt wurde, öffnete selber.
Sie war ein rundliches, gutmütiges Frauenzimmer, das bloß als Wächterin aller Heiligkeit ein wenig Schärfe und im Umgange mit den eifrigsten Betschwestern des Ortes richterliche Strenge angenommen hatte.
»Ah, da Herr Schtudent!« sagte sie. »Lassen S' Ihnen doch auch amal im Pfarrhof seh'n?«
»Ja . . . i waar . . . ich wär schon lang kommen, aber i hab halt bei der Arbeit mitg'holfen.«
»Natürli . . . das geht vor . . . no ja . . . wollen S' jetzt zum Herrn Pfarrer nauf?«
»Ich bin so frei, wenn er daheim is . . .«
»Er hat Ihnen doch herb'stellt, net? Freilich is er daheim. Gehen S' nur nauf! 's Zimmer wissen S' ja noch, net?«
Michel machte eine linkische Verbeugung und schlich behutsam über die Treppe hinauf.
Vor der Türe des Studierzimmers schnaufte er noch einmal tief auf und klopfte.
»Herein!«
Der Pfarrer Holderied, ein hochgewachsener, dabei aber ziemlich beleibter Herr, schrieb an seinem Stehpulte und wandte sein freundliches Gesicht dem Eintretenden zu.
»Ahan! Der Studiosus . . . No, Michel, jetzt setz dich amal auf's Kanapee. Die Bücher kannst ja wegschieben . . . so . . . und jetzt laß dich amal anschauen. Groß bist wor'n, und eine Breiten hast d' kriegt. Du mußt ja in deiner Klass' drin stehen, wie der Gulliver unter den Zwergen. In der wie vielten bist d' jetzt?«
»In der siebenten . . .«
»Siebenten . . . also zweiten Gymnasialklass' älterer Ordnung. Da bist d' aber schon ein sehr ausgewachsener Sekundaner . . .«
Michel räusperte sich und setzte zu einer Rede an, die er sich ausgedacht hatte.
»Ich wollte dem Herrn Pfarrer nur mitteilen, daß, indem ich wegen meiner Jahre, indem mir der Herr Rektor gesagt hat, daß ich das Alter überschritten habe und nicht noch einmal repetieren darf . . .«
Der Pfarrer zog die Luft hörbar durch die Zähne.
»Auweh . . . hat's wieder was? Net aufsteig'n dürfen?«
Michel nickte bejahend und wollte fortfahren. »Dadurch, daß mir der Herr Rektor mitgeteilt hat, daß ich zu alt sei . . .«
»Auf deutsch, sie lassen dich nimmer repetieren in Freising? Und mit'n Studium is 's aus?«
»Leider . . .«
»No, leider . . .«
»Oder, wenn der Herr Pfarrer erlauben, möcht ich sagen, ich bin eigentlich froh, indem daß . . .«
»Jawohl! Indem daß du nie dazu paßt hast. Is ja eine Schinderei, an Buben mit G'walt abrichten wollen . . . Da herin, in dem Zimmer hab ich's dei'm Vater g'sagt und hab'n g'warnt. Is ja ein Unsinn. Weil sich's der Alte einbildt, muß der Junge studieren! Sonst braucht's ja nix. Und jetzt sin mir so weit, wie mir vor Jahren hätt'n sei können. Was sagt denn der Vater jetzt dazu?«
»Da Vata? Der weiß no gar nix,« sagte Michel, der sich recht erleichtert fühlte.
»Der muß es aber doch zu allererst wissen . . .«
»I hab g'meint, wenn vielleicht da Herr Pfarrer die Güte haben möchten . . .«
»I? Also i soll ihm diese Hiobspost beibringen? Aber ich mein doch, Michel, das is deine Pflicht und Schuldigkeit, daß du offen mit ihm red'st und ihm Rechenschaft ablegst.«
»Ja aber, entschuldigen Herr Pfarrer, ich glaub, mich laßt er gar net richtig ausreden, und nachher, ich hätt was vor, und da glaubt er mir net, daß es mir Ernst is . . .«
»Vorhaben tust was? No, darf ma das net wissen?«
»Ja, eigentlich weiß ich natürlich auch net, ob es das Richtige is, aber ich mein halt, weil ich jetzt doch so lang in der Schul war, und indem daß ich, das heißt, damit vielleicht doch noch was rausschaut dabei, hätt ich g'meint, ob ich net anderthalb Jahr oder zwei in die landwirtschaftliche Schul gehen sollt.«
»Ein Landwirt willst werden? Das is fei gar net so unvernünftig.«
»Wenn mir der Herr Pfarrer helfen möchten! Ich hab alleweil dazu Freud g'habt, und zu dem andern, da hab ich halt gar net paßt.«
»Das kann ich dir bestätigen, mein lieber Michel. Vom ersten Tag an hab ich g'sagt, es ist Unsinn. Ah! Es ist schon wirklich strafbar dumm, einen jungen Menschen so hermartern! Deine Zeugniss' in den ersten Jahren haben einem das ja gezeigt. Was hab ich dei'm Vater zug'redt, aber nein! Er muß und muß.«
»Vielleicht, wenn der Herr Pfarrer jetzt mit ihm reden . . .«
»Hm . . . No, jedenfalls kann ich amal dei'm Vater sagen, daß 's mit dem Studieren aus und gar is. Die Gewißheit haben wir.«
»Jawohl,« bestätigte Michel.
»Schön. Und damit kommt die Frage, was g'schieht jetzt? Will er nix mehr tun, und du mußt gleich einen Bauernknecht machen, nachher sind die ganzen neun Jahr verloren. Kann und will er dich nach Weihenstephan gehen lassen, so is das ein Ausweg; der beste und vielleicht der einzige. Ich will's ihm vorstellen. Ob's bei dei'm Vater was hilft, natürlich, das weiß ich nicht.«
»Mehr schon, als wann d' Mutter was saget oder ich . . .«
»Bis dato hab ich noch wenig Erfolg g'habt. Das werden wir also abwarten müssen. Tja . . . und jetzt haben wir noch was miteinander z'reden.«
Michel wollte den Pfarrer fragend oder erwartungsvoll ansehen, aber er fühlte, wie er brennrot wurde, und schlug die Augen nieder.
Dem geistlichen Herrn, der sich an das Stehpult lehnte, huschte ein leises Lächeln um die Mundwinkel, und vielleicht hatte er, wie jener Hellene, mehr Wohlgefallen an Jünglingen, die erröten, als an jenen, die erbleichen.
Er trommelte leise mit den Fingern aufs Pult und ließ eine wirkungsvolle Pause herrschen.
Dann fragte er: »Hast d' vielleicht ein bissel eine Ahnung?«
»Ja . . .« kam es leise zurück.
»Mir sind wahre Räuberg'schichten erzählt worden von einem Herrn Studenten, der unsern Burschen beim Fensterln Konkurrenz macht und mit eifersüchtigen Knechten wahre Schlachten liefert. Ist da was Wahres dran?«
»Verzeihen, Herr Pfarrer, ich hab mich allerdings verleiten lassen . . .«
»Verleiten? Das is ein Wort, das ich net gern hör. Da steckt so was drin, als wollt' man die eigene Schuld auf einen andern abwälzen. Ich bin der Ansicht, wenn man was verbrochen hat, muß man selber dafür einstehen.«
Der Vorwurf saß.
Im Michel schoß blitzartig die Erinnerung daran auf, wie gutmütig der Zotzen-Peter bereit gewesen war, alle Schuld auf sich zu nehmen, und er sah sogleich, daß er im Begriffe gewesen war, die Kameradschaftlichkeit auf eine recht jämmerliche Art zu erwidern.
Er verstand, daß sich dieser Rückfall in gewisse unschöne Seminarmanieren kläglich ausnahm, und er gab sich einen Ruck.
»Wenn Herr Pfarrer erlauben, ich möcht es nicht auf einen andern schieben.«
»Das erlaub ich sehr gern. Also g'fensterlt haben wir?«
»Ja . . .«
»Und sind dabei erwischt worden?«
»Ja . . .«
»Den weiteren Verlauf kann ich mir schon denken. Nach Ortsbrauch Prügel hin und Prügel her . . .«
»Ich bin nicht dazu kommen . . .«
»Zum Austeilen? Also bist du bloß leidender Teil geworden?«
»Eigentlich schon.«
»No, dann hast du ja schon eine nachdrückliche Belehrung gekriegt, und das, was ich dir sagen will, hinkt sozusagen hinterdrein. Jetzt sag mir aber, warst du schon öfter in Ried drüben?«
»Nein . . .«
»Oder hast sonstwo so Leiterübungen g'macht?«
»G'wiß net, Herr Pfarrer. Ich hab überhaupt . . .«
»Was überhaupt?«
»Ich hab gar net recht g'wußt, was ich tu . . .«
»So? No, ungefähr wirst ja eine Ahnung g'habt haben. Jetzt laß dir was sagen. Wenn du noch im Sinn hätt'st, ins Gymnasium zurück z' gehen, dann wär' die G'schicht sehr schlimm. Denn wenn ich auch darüber geschwiegen und keine Anzeige gemacht hätte, wär es doch kaum zu vertuschen gewesen. Es gibt Leute, männliche und weibliche, die ihren Eifer damit beweisen wollen, daß sie die Sünden ihrer Nebenmenschen nicht durchgehen lassen, und die unbedingt eine Sühne haben wollen für das, was andere verbrechen. Ich bin überzeugt, daß dein Rektor mehr wie eine Zuschrift kriegt, in der deine Geschichte mit den allergrellsten Farben geschildert wird. Ich weiß das, weil man mir selber die Sache zugetragen hat. Die Leute hier haben in dir schon einen halben Geistlichen gesehen, und auch die Gutmütigen, die Wohlmeinenden haben von dir eine Aufführung erwartet, die unserm Stande entspricht. Die andern, und an denen fehlt's nicht, haben sich natürlich mit einer wahren Freude auf diese Sache gestürzt. Die sind immer dabei, unserm Stand was anzuhängen, und tun ja so nichts, als aufpassen, ob sie nicht ein Mäkelchen an uns finden. Darin sehen sie ihre besondere Frömmigkeit und ein großes Verdienst. Außerdem weißt du ja, dein Vater hat es den Leuten immer unter die Nase gerieben, daß er besser sei wie sie, weil sein Sohn einmal Geistlicher werde. Wenn sie ihm jetzt diese Hoffnung vereiteln könnten, hätten sie noch ein Extravergnügen. Es ist sehr häßlich, daß es solche Charaktere in einer kleinen Gemeinde gibt, aber es gibt sie, und ich weiß davon genug, daß ich es behaupten darf.
Kurz und gut, deine Verfehlung hätt' dir wahrscheinlich oder gewiß die Laufbahn versperrt, denn was im Gymnasium erfolgt wäre, das weißt du ja selber. Jetzt schau amal an! Wann du wirklich selber Lust zu unserm Berufe hätt'st, wär alles verscherzt wegen einer flüchtigen Laune. Weil du nicht die Kraft gehabt hast, einer Versuchung zu widerstehen.
Das kannst du dir für dein ganzes Leben merken. Mit einer einzigen Dummheit, mit einer flüchtigen Schwäche kann die Frucht vieler Jahre verloren gehen und kann ein ganzes Leben zerstört werden. Nun ist der Fall bei dir ja anders und wenigstens in seinen Folgen net so schlimm. Du willst Landwirt werden, und für den Beruf ist die Geschichte nicht so verhängnisvoll, und die Leute werden sie auch anders beurteilen, wenn sie wissen, daß du den geistlichen Rock nicht tragen willst. Aber schön ist sie deswegen auch nicht. Man tut net alles, was einem grad einfallt, man legt sich Rechenschaft ab und verweigert sich das, was man nach der Stimme seines Gewissens als unrecht erkennt. Wenn du Landwirt wirst und auf einem größern Gut lernst, da kommt die Versuchung oft an dich heran. Gibst du nach, dann verlierst du die Achtung von deinen Vorgesetzten und den Respekt bei deinen Untergebenen.
Man muß in jedem Stand ein reinlicher Mensch sein, der seine Pflicht erfüllt. So, das hab ich dir sagen wollen, und jetzt denk nach darüber, und wegen dem andern, da will ich sehr bald mit deinem Vater reden. Ich wünsch dir alles Gute für deine künftige Laufbahn. Und wenn ich dich so anschau, muß ich sagen, du paßt auch besser dafür; als Studiosus warst du mir schon gar zu ausgewachsen. Adje!«
Michel zog nach ehrerbietigen Verbeugungen die Türe hinter sich zu und sah wieder nicht, wie der Herr Pfarrer Holderied von seinem Stehpulte aus ins Grüne hinaussah und lächelte.
Als er durch den gewölbten Gang schritt, schellte die Glocke, und wie er die Haustüre öffnete, stand die Puchrainerin davor.
»Gelobt sei Jesus Chrischtus . . . ah, dös is ja der Michi! Bischt du beim Herrn Pfarrer g'wen? Hoscht d' g'wiß . . .«
Er gab ihr keine Antwort und ging an ihr vorbei ins Freie.
»Der muaß'n schö z'sammputzt hamm,« murmelte die Alte vor sich hin und ging rasch in die Küche, wo sie von Fräulein Anna die aufregendsten Neuigkeiten erwartete.