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Auf der Plattform zu Tunbridge rauchte Pen, sich vor Ungeduld bis zur Ankunft des nächsten Abendzuges nach London verzehrend, eine volle halbe Stunde, die ihm als sechs Stunden erschien; aber selbst dieser ungeheure Zeitraum verfloß, der Zug kam an, der Zug eilte weiter, die Lichter Londons kamen in Sicht – ein Herr, der seine Reisetasche im Zuge vergaß, stürzte auf einen Fiaker zu und sagte zu dem Kutscher: »Fahren Sie so schnell als Sie können nach Jermyn Street.« Der Kutscher, obwohl ein Hansomfuhrmann, sagte: »Danke schön« für das Trinkgeld, das in seine Hand gedrückt wurde, und Pen lief die Treppe des Hotels zu den Gemächern der Lady Rockminster empor. Laura war allein im Empfangszimmer und las mit bleichem Gesicht bei der Lampe. Das bleiche Gesicht blickte auf, als Pen die Tür öffnete. Dürfen wir ihm folgen? Die großen Momente des Lebens sind nur ebensolche Momente wie die anderen. Unser Urteil ist 446 in einem oder zwei Worten gesprochen. Ein einziger Blick aus den Augen, ein bloßer Druck der Hände vermag es zu entscheiden – oder auch ein Druck der Lippen, obwohl diese nicht sprechen können.
Als Lady Rockminster, die ihr Nachmittagsschläfchen gemacht hat, aufsteht und sich in ihr Wohnzimmer begibt, dürfen wir mit der gnädigen Frau eintreten.
»Na, auf mein Wort, ihr junges Volk!« sind die ersten Worte, die sie sagt, und ihr Kammermädchen macht verwunderte Augen über ihre Schulter. Und sie darf wohl so sagen, und ihr Kammermädchen darf wohl verwunderte Augen machen, denn die jungen Leute haben alles um sich vergessen, und Pen befindet sich in solcher Stellung, die jede junge Dame, die dies liest, beschreiben gehört oder gesehen hat oder zu sehen hofft oder doch auf alle Fälle zu sehen verdient.
Mit einem Worte, gleich nachdem er ins Zimmer getreten, ging Pen auf Laura mit dem bleichen Antlitz zu, die nicht einmal Zeit hatte zu sagen: »Was, so schnell wieder zurück?« ergriff ihre ausgestreckte und zitternde Hand gerade in dem Augenblick, wo sie von ihrem Stuhle aufstehen wollte, fiel auf seine Knie vor ihr nieder und sagte schnell: »Ich habe sie gesehen. Sie hat sich mit Harry Foker verlobt – und – und nun, Laura?«
Die Hand gibt einen Druck, die Augen strahlen eine Antwort, die zuckenden Lippen antworten, obwohl sprachlos. Pens Haupt sinkt nieder in des Mädchens Schoß, wobei er schluchzend ausruft: »Komm und segne uns, teure Mutter!« und er fühlt zwei Arme, die ihn so zärtlich wie früher die Arme Helenens umschlingen. 447
In diesem Augenblicke tritt Lady Rockminster ins Zimmer und sagt: »Na, auf mein Wort, junges Volk! Beck! Raus mit Ihnen! Was haben Sie Ihre Nase hier hereinzustecken?«
Pen springt mit triumphierenden Blicken empor und hält immer noch Lauras Hand.
»Sie tröstet mich gerade über mein Mißgeschick, Madame,« sagte er.
»Was soll das heißen, daß Sie ihr die Hand küssen? Ich weiß nicht, was Sie noch angeben werden!«
Pen küßte die Hand Ihrer Ladyschaft. »Ich bin in Tunbridge gewesen,« sagte er, »und habe Fräulein Amory gesehen und finde bei meiner Ankunft, daß – daß ein Schurke mich aus ihrem Herzen verdrängt hat,« sagte er mit der Miene eines Tragöden.
»Ist das alles? Das ist es, worüber Sie auf Ihren Knien wimmerten?« sagte die alte Dame, ärgerlich werdend. »Sie hätten diese Nachricht bis morgen bei sich behalten können.«
»Ja, ein anderer hat mich ausgestochen,« fährt Pen fort; »aber warum ihn einen Schurken nennen? Er ist wacker, er ist beständig, er ist jung, er ist reich, er ist schön.«
»Was für Unsinn schwatzen Sie da, mein Herr?« rief die alte Dame. »Was ist denn eigentlich los?«
»Fräulein Amory hat mich abgedankt und den Antrag Harry Fokers, Esquire, angenommen. Ich traf sie, wie sie ihm Liebeslieder vortrillerte, während er zu ihren Füßen lag; Geschenke waren in den letzten zehn Tagen angenommen, Gelübde gewechselt worden. Harry war der Rheumatismus der alten Frau Planter, 448 der die teuerste Laura vom Hause fernhielt. Er ist der beständigste und großmütigste der Männer. Er hat Lady Annas Gatten die Pfarrstelle von Logwood versprochen und ihr ein prächtiges Hochzeitsgeschenk gemacht und sich dann in dem Augenblick, wo er sich frei sah, Blanche zu Füßen geworfen.«
»Und so, weil Sie Blanche nicht kriegen können, machen Sie sich an Laura, nicht wahr, mein Herr?« fragte die alte Dame.
»Er handelte edel,« sagte Laura.
»Ich handelte, wie sie mir geheißen,« sagte Pen. »Ganz gleich wie, Lady Rockminster, aber nach meinem besten Wissen und Vermögen. Und wenn Sie meinen, daß ich Lauras nicht würdig bin, so weiß ich das wohl und bitte Gott, mich zu bessern, und wenn die Liebe und der Umgang des besten und reinsten Geschöpfes in der Welt dies bewirken kann, so werde ich sie wenigstens zum Beistande haben.«
»Hm, hm,« erwiderte die alte Dame hierauf und blickte mit ziemlich besänftigter Miene auf die jungen Leute. »Es ist alles ganz schön, aber ich hätte doch den Blaubart vorgezogen.«
Und nun besann sich Pen, um das Gespräch von einem Thema, das einigen der anwesenden Personen peinlich zu werden anfing, abzulenken, auf sein Zusammentreffen mit Huxter am Morgen und auf die Angelegenheit Fanny Boltons, die er unter dem unmittelbaren Drucke und der Aufregung seiner eigenen vergessen hatte. Und er erzählte den Damen, wie Huxter Fanny zum Range seiner Gemahlin erhoben hätte, und in welcher Angst er wegen der Ankunft seines Vaters 449 wäre. Er beschrieb die Szene mit ziemlichem Humor und bemühte sich, dabei vorzüglichen Nachdruck auf den Teil zu legen, der Fannys Koketterie und unwiderstehliches Bestreben, die Männerwelt einzunehmen, betraf, womit er sagen wollte: »Siehst du, Laura, ich war nicht so schuldig bei dieser kleinen Affäre; es war das Mädchen, das mit mir liebelte und ich, der widerstand. Da ich nicht mehr da bin, so teilt die kleine Sirene ihre Kunstgriffe und Zauberkünste mit anderen. Möge diese Geschichte in deinem Gemüte vergessen sein, ich bitte dich darum, oder strafe mich wenigstens nur ganz mild für meine Verirrung.«
Laura verstand, was der Eifer, mit dem er diese Erklärungen abgab, zu bedeuten hatte. »Wofern du irgendwie unrecht gehandelt hast, hast du es bereut, lieber Pen,« sagte sie, »und du weißt,« fügte sie mit vielsagendem Blick und Erröten hinzu, »daß ich kein Recht habe, dich zu tadeln.«
»Hm!« brummte die alte Dame, »ich hätte doch den Blaubart vorgezogen.«
»Die Vergangenheit ist begraben. Die Zukunft liegt vor uns. Ich will mein bestes tun, um deine Zukunft glücklich zu machen, teure Laura,« sagte Pen. Sein Herz demütigte sich bei der Aussicht seines Glückes, es stand ehrfurchterfüllt vor der Anschauung ihrer süßen Güte und Reinheit. Er liebte sein zukünftiges Weib um so mehr dafür, weil sie sich zu diesem vorübergehenden Gefühle für Warrington bekannt und ihm ihr edles Herz offen dargelegt hatte. Und sie – sehr wahrscheinlich dachte sie: »Wie seltsam ist es doch, daß ich je für einen anderen etwas empfunden; es ärgert mich 450 fast, daran zu denken, daß ich mir so wenig aus ihm mache, daß ich so wenig traurig bin, wo er fort ist. Oh, wie habe ich in den letzten zwei Monaten Arthur lieben gelernt. Ich kümmere mich um nichts, als um Arthur, meine Gedanken sind im Wachen und im Schlafen bei ihm, er ist nie fern von mir. Und denken zu können, daß er mein werden soll, mein! und daß ich seine Gattin und nicht bloß seine Dienerin sein soll, wie ich erst noch diesen Morgen erwartete, denn ich würde Blanche auf meinen Knien gebeten haben, mir zu gestatten, bei ihm leben zu dürfen. Und nun – oh, es ist zu viel. Oh, Mutter! Mutter! daß du hier wärst!« Es war ihr in der Tat zumute, als ob sie Helenes Gegenwart wirklich, obwohl unsichtbar, fühlte. Ein Heiligenschein von Wonne strahlte von ihr aus. Sie bewegte sich mit ganz anderen Schritten und blühte in einer neuen Schönheit. Arthur sah die Veränderung, und die alte Lady Rockminster bemerkte sie mit ihren erfahrenen Augen.
»Was für ein schlauer kleiner Duckmäuser du doch gewesen bist,« flüsterte sie Laura zu, während Pen, in trefflicher Laune, lachte und seine Geschichte von Huxter erzählte, »und wie gut du dein Geheimnis bewahrt hast!«
»Wie können wir dem jungen Paare behilflich sein?« fragte Laura. Natürlich nahm Fräulein Laura Interesse an allen jungen Paaren, wie denn großmütige Liebende stets andere Liebende lieben.
»Natürlich müssen wir gehen und sie besuchen. Ich will Fanny recht lieb haben. Wir wollen sofort gehen. Lady Rockminster, darf ich den Wagen haben?« 451
»Jetzt gehen! Ei, du einfältiges Ding, es ist elf Uhr nachts. Herr und Frau Huxter haben wohl schon ihre Nachtmützen aufgesetzt. Und es ist jetzt Zeit, daß Sie auch gehen. Gute Nacht, Herr Pendennis.«
Arthur und Laura baten noch um zehn Minuten.
»So wollen wir denn morgen früh gehen. Ich werde herkommen und dich mit Martha abholen.«
»Eine Grafenkrone,« sagte Pen, der ohne Zweifel recht vergnügt darüber war, »wird in Lamb Court und Smithfield einen großen Eindruck machen. Bleiben Sie, bitte, Lady Rockminster, wollen Sie sich mit uns zu einer kleinen Verschwörung verbünden?«
»Was meinen Sie mit Verschwörung, junger Herr?«
»Wollen Sie, bitte, morgen ein bißchen krank sein, und, wenn der alte Herr Huxter anlangt, mir gestatten, ihn hereinzurufen? Wenn schon der Gedanke, einen Baronet auf dem Lande zu behandeln, ihn in gute Laune versetzt, welchen Einfluß wird da nicht eine Gräfin auf ihn haben? Wenn er besänftigt ist, wenn er ganz reif ist, wollen wir ihm das Geheimnis mitteilen, die jungen Leute hereinbringen, ihm den väterlichen Segen abzwingen und die Komödie beendigen.«
»Ein Haufen dummes Zeug,« sagte die alte Dame. »Nehmen Sie Ihren Hut, mein Herr. Komm fort, Fräulein. Da – mein Kopf zeigt woandershin. Gute Nacht, junges Volk.«
Und wer weiß, ob die alte Dame nicht an ihre eigenen Jugendtage dachte, als sie mit dem Kopfe nickend und vor sich hinsummend auf Lauras Arm gestützt wegging? 452
Am frühen Morgen kamen Laura und Martha wie verabredet; und die gewünschte Sensation wurde, wie wir hoffen wollen, in Lamb Court erzielt, von wo die drei aufbrachen, um Herrn und Frau Samuel Huxter in ihrer Residenz in Charterhouse Lane ihre Aufwartung zu machen.
Die beiden Damen blickten mit großem Interesse und mit nicht wenig Aufregung von Seiten Fannys einander an. Sie hatte ihren ›Vormund‹, wie sie Pen infolge seines Auftrags zu nennen beliebte, seit dem Ereignisse, das sie mit Herrn Huxter verbunden hatte, nicht gesehen.
»Samuel sagte mir, wie gütig Sie gewesen wären,« sagte sie. »Sie waren immer sehr gütig, Herr Pendennis. Und – und ich hoffe, Ihre Freundin, die in Shepherds Inn krank wurde, befindet sich besser, Fräulein?«
»Mein Name ist Laura,« sagte die andere errötend. »Ich bin – das heißt – ich war – das heißt, ich bin Arthurs Schwester, und wir werden Sie stets liebhaben, weil Sie so gut zu ihm gewesen sind, als er krank war. Und wenn wir auf dem Lande wohnen, werden wir uns hoffentlich öfter sehen. Und ich werde mich stets freuen, zu hören, daß Sie glücklich sind, Fanny.«
»Wir sind im Begriffe, das zu tun, was Sie und Huxter getan haben, Fanny. – Wo steckt Huxter? Was für ein hübsches, schmuckes Heim Sie haben! Welch niedliche Katze!«
Während Fanny auf diese Frage Pens antwortete, sagt Laura zu sich selbst: »Na, nun sehe mir einer! Ist dies das Geschöpfchen, vor dem wir alle solche Angst 453 hatten? Was konnte er nur an ihr sehen? Sie ist ein niedliches kleines Ding, aber was für ein Benehmen? Nun, sie war sehr gut zu ihm, Gott segne es ihr!«
Herr Samuel war ausgegangen, um seinen Papa zu treffen. Frau Huxter sagte, daß der alte Herr diesen Tag im Sommerset-Kaffeehause am Strand eintreffen wollte, und Fanny gestand, daß sie voll Furcht und Zittern wegen der Zusammenkunft wäre. »Wenn seine Eltern ihn verstoßen, was sollen wir dann tun?« sagte sie. »Ich werde es mir nie verzeihen, daß ich meinen Mann ins Verderben gebracht habe. Sie müssen ein gutes Wort für uns einlegen, Herr Arthur. Wenn irgendein Mensch auf Erden das kann, so können Sie den alten Herrn Huxter herumkriegen und beeinflussen.« Fanny sah Pen noch immer im Lichte eines höheren Wesens, das war augenscheinlich. Ohne Zweifel dachte Arthur an die Vergangenheit, als er die feierlich-tragischen Mienen und Blicke, das niedliche Getändel, das niedliche Abängstigen und Kokettieren des jungen Weibchens bemerkte. Sobald die Zusammenkunft beendet war, traten die Herren Linton und Blades ein, die natürlich kamen, um Huxter zu besuchen, und einen schönen Tabaksduft mitbrachten. Sie hatten den Wagen vor der Tür des Bäckers betrachtet und die Grafenkrone mit Ehrfurcht angestaunt. Sie fragten Fanny, wer der ungeheuer feine Stutzer gewesen wäre, der eben fortgefahren sei, und erklärten die Gräfin für eine richtige Gräfin. Und als sie hörten, daß es Herr Pendennis und seine Schwester gewesen wären, bemerkten sie, Pens Vater wäre nur ein Pflasterkasten gewesen, und er gäbe sich eine verdammt vornehme Miene. 454 Sie waren in Huxters Gesellschaft gewesen, in der Nacht, wo er den kleinen Zank mit Pen im Küchenstübchen gehabt hatte.
Als sie durch die Fleetstraße nach Hause zurückkehrten, und als Laura zu Pens unendlichem Ergötzen eben meinte, daß Fanny zwar ganz leidlich, aber wirklich keine Schönheit an ihr wäre, – möglich, daß dies der Fall, aber sie wenigstens könnte nichts davon sehen, – als sie in der Nähe vom Temple Bar festsaßen, sahen sie den jungen Huxter zu seiner Frau zurückkehren. »Der Alte wäre angekommen, wäre im Sommerset-Kaffeehause, wäre in leidlich guter Laune – so etwas von wegen der Eisenbahn – aber er hätte sich doch gefürchtet, von – von der Sache anzufangen. Ob Herr Pendennis es wohl noch versuchen wollte?«
Pen sagte, er wollte den Augenblick gehen und bei Herrn Huxter vorsprechen und sehen, was sich tun ließe. Huxter junior wollte draußen herumlungern, während das furchtbare Zusammentreffen stattfände. Die Grafenkrone auf dem Wagenschlage erfüllte seine Seele ebenfalls mit Staunen, und der alte Huxter selbst sah sie mit Entzücken, als er vom Kaffeehausfenster auf den Strand hinausschaute, den zu überblicken für ihn immer eine Augenweide war.
»Und ich kann mir jetzt wohl einen vergnügten Tag machen, Herr Pendennis?« sagte Herr Huxter sen., als er Pen die Hand schüttelte. »Natürlich wissen Sie die Neuigkeit schon? Wir haben unsere Bill bekommen, Herr Pendennis. Wir werden unsere Zweigbahn haben, unsere Aktien sind auf der Höhe, Herr Pendennis, und wir kaufen Ihre drei Felder am Brawl 455 entlang und zahlen Ihnen einen hübschen Pfennig in die Tasche, Herr Pendennis.«
»In der Tat – eine gute Neuigkeit.« Pen erinnerte sich, daß schon seit drei Tagen ein Brief von Herrn Tatham in seiner Wohnung lag, aber er hatte ihn noch nicht eröffnet, da er von anderen Angelegenheiten in Anspruch genommen war.
»Ich hoffe, Sie beabsichtigen doch nicht, ein reicher Mann zu werden und das Praktizieren aufzugeben,« sagte Pen. »Wir können Sie zu Clavering nicht verlieren, Herr Huxter, obwohl ich über Ihren Sohn sehr Günstiges höre. Mein Freund, Dr. Goodenough, spricht mit hoher Achtung von seinen Talenten. Es ist freilich hart genug, daß ein Mann von Ihrem hervorragenden Wissen in einer Landstadt zurückgehalten werden sollte.«
»Die Metropole hätte die Sphäre meines Wirkens gewesen sein müssen, Herr Pendennis,« sagte Herr Huxter mit einem Blicke auf den Strand. »Aber man nimmt sein Geschäft, wo man es findet, und ich war der Nachfolger meines Vaters.«
»Es war auch meines Vaters Beruf,« sagte Pen. »Ich wünschte manchmal, daß ich ihn auch ergriffen hätte.«
»Sie, Herr Pendennis, haben einen höheren Schwung genommen,« sagte der alte Herr. »Sie streben nach einem Sitze im Senat und nach schriftstellerischem Ruhme. Sie führen die Feder des Poeten, Herr Pendennis, und bewegen sich in den Kreisen der vornehmen Welt. Wir behalten Sie in Clavering 456 fortwährend im Auge. Wir lesen Ihren Namen in den Listen der auserwählten Gesellschaften des hohen Adels. Ei, erst neulich machte meine Frau die Bemerkung, wie seltsam es doch wäre, daß Ihr Name bei einer Gesellschaft vom Grafen Kidderminster nicht erwähnt worden wäre. Welchem Gliede der Aristokratie gehört wohl, bitte, jene Equipage, aus der ich Sie eben heraussteigen sah? Der Gräfin Witwe Rockminster? Wie befindet sich Ihre Ladyschaft.«
»Ihre Ladyschaft befinden sich nicht recht wohl, und als ich hörte, daß Sie in die Stadt kommen wollten, drang ich stark in sie, Sie rufen zu lassen, Herr Huxter,« sagte Pen. Den alten Huxter war es zumute, als ob er, wenn er hundert Stimmen für Clavering hätte, sie allesamt Pen geben würde.
»Da im Wagen ist auch eine alte Freundin von Ihnen – auch eine Dame aus Clavering – wollen Sie wohl mal hinauskommen und mit ihr sprechen?« fragte Pen. Der Arzt war entzückt, inmitten des menschenüberfüllten Strandes in eine Kutsche mit einer Grafenkrone hineinsprechen zu können; er lief, sich verbeugend und lächelnd, hinaus. Huxter junior, der in der Nähe herumlungerte, sah die Begegnung zwischen seinem Vater und Laura, sah, daß die letztere ihre Hand herausstreckte und daß gleich darauf nach einem kurzen Zwiegespräch mit Pen sein Vater wirklich und wahrhaftig in den Wagen sprang und mit Fräulein Bell davonfuhr.
In der Equipage war kein Raum mehr für Arthur, der lachend zu dem jungen Arzte zurückkehrte und ihm erzählte, wohin sein Erzeuger geschafft worden. 457 Während des ganzen Weges schmeichelte und ging ihm diese pfiffige Laura so geschickt um den Bart, daß der alte Herr ihr alles und alles gewährt haben würde, und Lady Rockminster vollendete den Sieg über ihn, indem sie ihn über seine Geschicklichkeit bekomplimentierte und gestand, wie begierig sie gewesen, ihn zu konsultieren. Was Ihrer Ladyschaft Symptome wären? Ob er wohl dem gewöhnlichen ärztlichen Beistand Ihrer Ladyschaft einen Besuch machen sollte? Herr Jones befände sich beruflich außerhalb der Stadt? Er würde entzückt sein, seine allerbesten Kräfte und Erfahrungen dem Dienste Ihrer Ladyschaft zu weihen.
Er war von seiner Patientin so eingenommen, daß er über sie an seine Frau und Familie nach Hause schrieb; er redete zu Samuel, als dieser junge Mann kam, um an dem aus Beefsteaks mit Austernsauce bereiteten Mahle teilzunehmen und seinen Vater ins Schauspiel zu begleiten, von nichts als von Lady Rockminster. Es wäre eine solche einfache Größe und Großartigkeit an Ihrer Ladyschaft, wie er sie noch nie bei einem Frauenzimmer bemerkt hätte. Ihre Symptome schienen nichts Beängstigendes zu haben, er hätteSpir. Ammon. Aromat. mit ein wenig Spir. Menth. Pip. und Orangenblüte verschrieben, was alles sein würde, das nötig wäre. Fräulein Bell scheine auf dem vertraulichsten und freundschaftlichsten Fuße mit Ihrer Ladyschaft zu stehen. Sie wäre im Begriffe, ein Ehebündnis einzugehen. Alle jungen Leute sollten heiraten. Das wären die Worte Ihrer Ladyschaft gewesen, »und dieselbe ließ sich herab, mich über meine Familie zu befragen, und ich nannte Ihrer Ladyschaft deinen 458 Namen, Sam, mein Junge. Ich werde morgen einmal nachfragen, wo ich, falls die von mir verschriebenen Mittel bei Ihrer Ladyschaft die Wirkung gehabt haben sollten, die ich erwarte, ihnen ein wenig Spir. Lavend. Comp. folgen lassen und so meine noble Patientin herstellen werde. Sag mal, welches ist denn das Theater, das am meisten von – von den höheren Klassen der Gesellschaft besucht wird, Sam? Und an welchen Vergnügungsort wirst du heute Nacht einen alten Landdoktor führen, he, Söhnchen?«
Am nächsten Tage, als Herr Huxter sich um zwölf Uhr in Jermyn Street einfand, hatte Lady Rockminster ihr Zimmer noch nicht verlassen, aber Fräulein Bell und Herr Pendennis warteten, ihn zu empfangen. Lady Rockminster hätte eine sehr angenehme Nacht gehabt, und es bessere sich mit ihr nach Möglichkeit. Wie Herr Huxter sich amüsiert hätte? Im Theater? Wohl mit seinem Sohne? Was für ein kapitales Stück es doch wäre und wie bezaubernd Frau O'Leary ausgesehen und ihre Rolle gesungen hätte! Und was für ein guter Mensch doch der junge Herr Huxter wäre! Von jedermann geliebt, eine Zierde seines Standes! Er hat nicht die Manieren seines Vaters, das versichere ich Ihnen, noch jenen Ton der guten alten Zeit, der unter uns mehr und mehr verschwindet, aber nie lebte ein trefflicherer, ehrlicherer Bursche! »Er sollte auf dem Lande draußen praktizieren wie Sie, Herr Doktor,« sagte Arthur, »er sollte heiraten – andere Leute stehen im Begriffe, dasselbe zu tun – und einen eigenen Hausstand gründen.«
»Ganz dieselben Worte, die Ihre Ladyschaft gestern 459 äußerte, Herr Pendennis. Er muß heiraten. Sam sollte heiraten, mein Herr.«
»Die Stadt ist voller Versuchungen,« fuhr Pen fort. Der alte Herr dachte an jene Huri, die Frau O'Leary.
»Es gibt keinen besseren Schutz für einen jungen Mann als eine frühzeitige Heirat mit einem braven jungen Geschöpf, das ihn liebt.«
»Keinen besseren, Herr Pendennis, keinen besseren.«
»Und Liebe ist besser als Geld, nicht wahr?«
»Sicherlich,« meinte Fräulein Bell.
»Ich stimme mit einer so schönen Autorität überein,« sagte der alte Herr mit einer Verbeugung.
»Und – und angenommen, Herr Doktor,« sagte Pen, »ich hätte Ihnen eine Neuigkeit mitzuteilen.«
»Herrgott, Herr Pendennis! Was meinen Sie denn damit?« fragte der alte Herr.
»Angenommen, ich hätte Ihnen zu sagen, daß ein junger Mann, hingerissen von unwiderstehlicher Leidenschaft für ein bewundernswertes und höchst tugendhaftes junges Wesen, – in die sich jedermann verliebt – den Geboten seiner Vernunft und seines Herzens gefolgt wäre und geheiratet hätte. Angenommen, ich hätte Ihnen zu sagen, daß dieser Mann mein Freund ist, daß unsere vortreffliche, unsere wahrhaft noble Freundin, die Gräfin-Witwe von Rockminster, sich ernstlich für ihn interessiert (und Sie können sich wohl denken, was ein junger Mann im Leben zuwege bringen kann, wenn diese Familie sich für ihn interessiert), angenommen, ich sagte Ihnen, daß Sie ihn kennten – daß er hier ist – daß er – –« 460
»Sam verheiratet! Gott im Himmel mal, Herr Pendennis, Sie meinen doch das nicht?«
»Und mit was für einem niedlichen Geschöpfe, lieber Herr Huxter!«
»Ihre Ladyschaft ist bezaubert von ihr,« sagte Pen, indem er so ziemlich die erste Lüge erzählte, die er im Laufe dieser Geschichte erzählt hat.
»Verheiratet! der Schlingel, wirklich?« dachte der alte Herr.
»Sie werden sich Ihnen vorstellen, mein Herr,« sagte Pen, worauf er ging und die Tür öffnete.
Herr und Frau Samuel Huxter erschienen in der Tür, und beide kamen und knieten vor dem alten Herrn nieder. Die kniende kleine Fanny fand Gnade vor seinem Angesichte. Es muß doch irgend etwas Anziehendes an ihr gewesen sein trotz Lauras Meinung.
»Will es in meinem ganzen Leben nicht wieder tun,« sagte Sam.
»Steh auf, Musje,« sagte Herr Huxter. Und sie standen auf, und Fanny kam noch ein bißchen näher und sah so niedlich und mitleidswürdig aus, daß der alte Herr Huxter, er wußte selbst nicht wie, das kleine, zugleich weinende und lachende Ding abküßte und ein Gefühl empfand, als ob er ihm gut wäre.
»Wie heißt du denn, mein Herzchen?« fragte er eine Minute nach diesem Vergnügen.
»Fanny, Papa,« antwortete Frau Samuel. 461