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Kurze Zeit nach dem Stückchen Glück, das dem Obersten Altamont in Epsom zufiel, führte dieser Herr seine beabsichtigte Tour ins Ausland aus, und der Chronikschreiber der vornehmen Welt, der nach London Bridge hinuntergeht, um dort von den vornehmen Leuten Abschied zu nehmen, welche England verlassen, berichtete, daß unter der Gesellschaft an Bord des ›Soho‹, der am vergangenen 199 Sonnabend nach Antwerpen gesegelt, sich Sir Robert Hodge nebst Gemahlin und Töchtern, Herr Justizrat Kewsey nebst Frau und Fräulein Kewsey, der Oberst Altamont und Major Coddy u. a. befunden hätten. Der Oberst reiste mit einem Aufwand und wie es sich für einen Gentleman schickte; er erschien in einem reichen Reisekostüm, trank fleißig Grog während der Reise und war nicht seekrank, wie mehrere von den anderen Passagieren. Begleitet war er von seinem Leibdiener, dem getreuen irischen Legionär, der ihm und Kapitän Strong eine Zeitlang in ihrer Wohnung in Shepherds Inn aufgewartet hatte. Der Chevalier nahm mit seinem scheidenden Freunde, dem Obersten, und einem oder zwei anderen, die viele Male Altamonts Wohl auf Kosten dieses freigebigen Herrn tranken, an einem reichlichen Abendessen in Blackwall Teil. »Strong, alter Junge,« sagte der würdige Stubennachbar des Chevaliers, »jetzt ist Ihre Zeit gekommen, wenn Sie ein bißchen Geld brauchen. Halten Sie sich nur an mich! Sie sind ein guter Kerl und haben sich als guter Kerl zu mir bewiesen, und eine Zwanzigpfundnote mehr oder weniger in der Tasche wird mich nicht besonders genieren.« Aber Strong erwiderte: »Nein, ich brauche gar kein Geld, ich bin gut, ganz gut auf dem Strumpfe, das heißt, nicht so gut, daß ich imstande wäre, Ihnen Ihr letztes Darlehen zurückzuzahlen, Altamont, aber doch so, daß ich noch einige Zeit zu leben haben werde«, und so, mit einem ziemlich herzlichen Gruße, schieden die beiden. Hatte der Besitz von Geld Altamont wirklich ehrenwerter und liebenswürdiger gemacht, als er bisher gewesen, oder nur bewirkt, daß 200 er in Strongs Augen liebenswürdiger schien? Vielleicht war er wirklich besser, und das Geld machte ihn besser. Vielleicht war es auch die Schönheit des Reichtums, die Strong sah und vor der er Achtung fühlte. Aber er argumentierte in seinem Innern: »Dieser arme Teufel, dieser unselige Ausgestoßene, dieser wiedergekehrte verbannte Verbrecher ist ein zehnmal so guter Mensch, wie mein Freund, der Baronet Sir Francis Clavering. Er ist gerade und rechtschaffen in seiner Art. Er hält zu einem Freunde und tritt kühn seinem Feinde entgegen. Der andere hat niemals den Mut gehabt, eins von beiden zu tun. Und was ist es, das den armen Kerl so ins Pech gebracht hat? Er war nur ein bißchen toll und bediente sich der Namensunterschrift seines Schwiegervaters. Viele haben Schlimmeres getan, und es ist ihnen nichts Uebles dafür geschehen, und sie tragen die Nase hoch. Clavering ist so einer. Doch nein, der trägt sie nicht hoch, selbst in seinen besten Tagen tut er das nicht.« Und Strong ließ sich vielleicht die Lüge gereuen, die er dem freigebigen Obersten erzählt hatte, daß er nämlich kein Geld brauche; aber es war eine Lüge zugunsten der Ehrlichkeit, und der Chevalier konnte es nicht übers Herz bringen, ein zweitesmal von seinem vogelfreien Freunde zu borgen. Außerdem würde er sich schon forthelfen können. Clavering hatte ihm etwas versprochen; zwar konnte er Claverings Versprechungen nicht viel trauen, aber der Chevalier war von hoffnungsvoller Gemütsart und wartete auf die Gelegenheiten, wo er seinen Gönner ertappen und einige von jenen wundersamen Zahlungen und Geldzuflüssen erlauern konnte, in deren 201 Beschaffung für seinen Prinzipal Herrn Strongs hauptsächlichstes Geschäft bestand.
Er hatte gemurrt, daß ihm Altamont in seiner Wohnung in Shepherds Inn zum Gesellschafter gegeben, aber er fand dieses Logis jetzt ohne seinen Partner noch düsterer als mit ihm. Das einsame Leben gefiel seinem Geselligkeitstriebe nicht; und außerdem war er in extravagante und luxuriöse Gewohnheiten verfallen, indem er einen Bedienten unter seinem Befehl hatte, der ihm seine Gänge lief, seine Toilette arrangierte und sein Essen kochte. Es war jetzt ein recht großartiger und rührender Anblick, den stämmigen und hübschen Herrn eigenhändig seine Stiefel putzen und seine Hammelkoteletten braten zu sehen. Es ist schon vorher erwähnt worden, daß der Chevalier eine Frau hatte, eine spanische Dame aus Vittoria, die, nachdem sie ein paar Monat mit dem Kapitän, dem sie mit einer Schüssel ein Loch in den Kopf geschlagen, zusammengelebt hatte, zu ihren Freunden zurückgekehrt war. Er begann jetzt nachzudenken, ob er nicht zurückreisen und seine Juanita besuchen solle. Der Chevalier wurde tiefsinnig nach der Abreise seines Freundes, des Obersten, oder, um seinen eigenen malerischen Ausdruck zu brauchen, »er war auf dem Hunde«. Diese Momente einer gedrückten Stimmung und diese Intervalle üblen Geschicks passieren beständig in dem Leben der Helden: Marius in Minturnae, Karl Eduard in den Hochlanden, Napoleon vor seiner Einschiffung nach Elba; welcher große Mann wäre nicht berufen worden, dem Mißgeschick entgegenzutreten?
Von Clavering waren eine Zeitlang keine 202 Zuschüsse zu erhalten. Die fünfundzwanzig Pfund oder der ›Pony‹, den der exemplarische Baronet von Herrn Altamont erhalten hatte, waren aus Claverings Verwahrung so schnell entflohen, wie viele andere Ponys vordem. Er war mit einer auserwählten Gesellschaft lustiger Leutchen den Fluß hinabgefahren, die der Polizei ein Schnippchen schlugen und in Essex landeten, wo sie Billy Bluck gegen Dick, den Fiakerknecht, aufstellten, auf den der Baronet wettete und der dreizehn Gänge hintereinander durchaus die Oberhand hatte, bis Billy ihn durch einen unglücklichen Puff auf die Gurgel totschlug. »Es ist immer mein Unstern, Strong,« sagte Sir Francis, »die Wette war drei gegen eins auf den Fiakerknecht, und ich dachte, ich wäre meiner dreißig Pfund so sicher, als ob ich sie schon in der Tasche hätte. Und, verdamm' mich, ich bin meinem Bedienten Lightfoot jetzt vierzehn Pfund schuldig, die er mir geborgt und für mich bezahlt hat, und er tritt mich, der vermaledeite unverschämte Halunke; ich wünschte, beim Himmel, ich wüßte einen Weg, um einen Wechsel unterschrieben zu bekommen oder ein bißchen Geld aus meiner Frau Gemahlin herauszuquetschen! Ich will Ihnen die Hälfte davon geben, Ned, auf Seele und Ehre, ich will Ihnen die Hälfte davon geben, wenn Sie jemand auftreiben können, der uns ein Wechselchen von fünfzig Pfund auszahlt.«
Aber Ned sagte ernsthaft, er hätte sein Ehrenwort als Gentleman gegeben, keinen Anteil an irgendwelchen zukünftigen Wechselgeschäften nehmen zu wollen, die der Gatte unternehmen möchte (der gleichfalls sein Ehrenwort gegeben hätte), und der Chevalier 203 versicherte, daß er wenigstens sein Wort halten und lieber sein ganzes Leben lang eigenhändig seine Stiefel wichsen würde, als sein Versprechen zu brechen. Und, was noch mehr ist, er schwor, daß er es Lady Clavering hinterbringen würde, Sir Francis stände im Begriffe, sein Ehrenwort gegen sie zu brechen, sobald er nur merkte, daß dies Claverings Absicht wäre.
Auf diese Nachricht schrie und fluchte Sir Francis seiner Gewohnheit nach mit großer Zungenfertigkeit. Er sprach vom Tode als seiner einzigen Zuflucht. Er bat und flehte seinen lieben Strong, seinen besten Freund, seinen lieben alten Ned, ihn nicht von sich zu stoßen; und als er seinen teuersten Ned verließ, verfluchte und verwünschte er, als er die Treppen von Shepherds Inn hinabstieg, Ned als den allergottlosesten Schuft und Verräter, Halunken und Feigling unter der Sonne und wünschte, Ned läge im Grabe und noch an einem schlimmeren Orte, nur möchte er, daß der verdammte Schuft so lange lebte, bis Frank Clavering seine Rache an ihm genommen hätte.
In Strongs Wohnung traf der Baronet auf einen Herrn, dessen Besuche, wie gezeigt worden, jetzt in Shepherds Inn sehr häufig waren, Herrn Samuel Huxter aus Clavering nämlich. Dieser junge Mensch, der in seiner Kindheit im Clavering Park die Wallnüsse abgeschlagen und den Baronet zu Hause mit vier Pferden durch die Straßen fahren und mit gepuderten Bedienten in der Kirche prunken gesehen hatte, besaß einen unermeßlichen Respekt vor dem Parlamentsmitgliede und empfand ein ungeheures Entzücken, seine Bekanntschaft zu machen. Er stellte sich ihm, unter 204 vielem Erröten und Zittern, als Claveringer vor, Sohn des Herrn Huxter am Markte – Vater behandelte Sir Francis' Parkhüter, den Coxwood, als seine Flinte sprang und ihm drei Finger wegriß – bin stolz, Sir Francis' Bekanntschaft zu machen. Die ganze Vorstellung nahm Sir Francis sehr gnädig auf. Und der ehrliche Huxter erzählte den Leuten im Bartholomäusspital von Sir Francis und erzählte Fanny in der Portiersstube, daß doch am Ende nichts über einen vollblutadligen, einen regelrechten guten altenglischen Gentleman ginge, einen aus der alten Zeit! Worauf Fanny erwiderte, daß sie Sir Francis für ein abscheuliches Geschöpf hielte, sie wüßte nicht warum, aber sie könnte ihn nicht ausstehen, sie wäre überzeugt, daß er gottlos, gemein und niederträchtig wäre, sie wußte das; und als Sam darauf erwiderte, Sir Francis wäre sehr leutselig und hätte ihm sehr freundlich einen halben Sovereign abgepumpt, brach Fanny in ein Gelächter aus, zerrte an Sams langem Haar (das gerade nicht von untadeliger Reinlichkeit war), krabbelte ihm das Kinn und nannte ihn einen Dummkopf, einen großen Dummkopf, einen alten einfältigen Dummkopf und sagte, Sir Francis täte von allen Leuten Geld borgen und Muttchen hätte ihn bereits zweimal abgewiesen und hätte drei volle Monate auf sieben Schillinge warten müssen, die er sich von sie geborgt hätte.
»Mußt nicht sagen, ›täte borgen‹, sondern borgt, auch nicht ›von sie‹, sondern von ihr, Fanny,« entgegnete Herr Huxter – nicht, um die Fehler in ihrer Beweisführung, sondern um die grammatikalischen Irrtümer in ihrer Mitteilung zu verbessern. 205
»Gut also, borgt und von ihr, da hast du es, du Einfaltspinsel,« und die Schülerin machte ein so niedliches Gesicht, daß der Grammatiklehrer schnell besänftigt war und ihr bereitwillig auf der Stelle noch hundert Stunden für den Preis gegeben hätte, den er für die eine nahm.
Natürlich war Frau Bolton dabei, und ich glaube, Fanny und Herr Sam hatten sich inzwischen auf ungemein familiären und vertrauten Fuß gestellt, und die Zeit hatte der ersteren gewisse Tröstungen gebracht und gewisse Schmerzen gelindert, die verteufelt bitter sind, wenn sie sich zuerst einstellen, aber ebensowenig ewig währen wie Zahnausreißen oder irgendein anderer Schmerz.
Wenn ihr dasitzt, umgeben von Hochachtung und Liebe, glücklich, geehrt und geschmeichelt in euren alten Tagen, eure Schwächen mit Milde behandelt, eure geringsten Worte mit Freundlichkeit aufgenommen, eure geschwätzigsten alten Geschichten zum hundertsten Male mit gebührender Langmut und dem nie fehlenden hypokritischen Lächeln angehört werden, die Frauen eures Hauses euch fortwährend umschmeicheln, die jungen Leute, wenn ihr zu reden beginnt, stillschweigen und aufmerksam zuhorchen, die Diener ehrfurchtsvoll um euch herumstehen, die Pächter, mit der Mütze in der Hand, bereit sind, an die Stelle von Euer Gnaden Gäulen sich zu spannen, sobald der gnädige Herr auszufahren beliebt – da ist euch wohl oft plötzlich der Gedanke gekommen, ihr nachdenklichen Erdengötter, daß diese Hochachtung und diese Ehren zum größten Teile mit eurem Lehen auf euren Nachfolger übertragen werden, 206 daß eure Dienerschaft vor eurem Sohne sich so tief verbeugen und die Pächter ihm so laut Hurra zurufen werden als euch, daß der Kellermeister ihm den (durch ein bißchen Liegen noch besser gewordenen) Wein holen wird, der jetzt in eurem Keller liegt, und daß, wenn eure Nacht gekommen und das Licht eures Lebens niedergegangen ist, die Sonne des Glückes und der Schmeichelei eurem Erben scheinen wird, so sicher, als der Morgen nach euch und ohne euch beginnt. Menschen kommen und sonnen sich in dem Strahlenkranze von Staatspapieren und Aeckern, der um ihn erglänzt; die Ehrfurcht ist mit dem Gute auf ihn übergegangen, von welchem er mit all seinen Vorteilen, Vergnügungen, Ehrenbezeigungen und Untertätigkeitsverhältnissen auf Lebenszeit Besitz nimmt. Wie lange wünscht oder erwartet ihr von den Leuten betrauert zu werden? Wieviel Zeit verwendet jemand auf den Kummer, ehe er sich wieder der Freude hinzugeben beginnt? Ein vornehmer Mann sollte seinen Erben allzeit als lebendes memento mori bei seinen Festlichkeiten haben. Wenn er sehr am Leben hängt, muß die Gegenwart von jenem ihm ein steter Stachel und eine Warnung sein. »Mach dich bereit zur Abreise,« sagt der Nachfolger zu Euer Gnaden; »ich warte darauf, und ich könnte ebensosehr daran hängen, wie du.«
Was hat diese Bezugnahme auf den Leser mit irgendeiner der Personen dieser Geschichte zu tun? Wünschen wir Pen zu entschuldigen, weil er einen weißen Hut trägt und weil er nicht mehr so tief um seine Mutter trauerte? All die dahinfließenden Jahre, der ganze Gang des Schicksals, all die Ereignisse des 207 Lebens, so stark sie ihn auch bewegen oder so heftig sie ihn aufregen mögen, können nie jenes geheiligte Bild aus seinem Herzen verdrängen oder jene segensvolle Liebe aus seinem Heiligtum verbannen. Wenn er dem Unrecht nachgibt, so werden jene teuren Augen traurig auf ihn blicken, wofern er ihnen zu begegnen wagt; wenn er gut handelt, Schmerz erduldet oder Versuchungen bekämpft, wird die stets gegenwärtige Liebe ihn, das weiß er, mit Beifall und Mitleid begrüßen, wenn er fällt, Fürsprache für ihn einlegen, wenn er leidet, ihn aufheitern; mit ihm sein und ihn allezeit begleiten, bis der Tod überwunden und Kummer und Sünde nicht mehr sind. Ist dies bloße Träumerei oder nutzloses Moralisieren von Seiten eines geschwätzigen Erzählers? Kann nicht auch ein Mann von Welt seinen Moment erfassen, um sich ernstem Nachdenken hinzugeben? Fragt eure eigenen Herzen und Gedächtnisse, Bruder und Schwester, ob wir nicht in den Toten leben und (um mit Ehrfurcht zu sprechen) Gott durch Liebe beweisen?
Von diesen Dingen sprachen Pen und Warrington oft in späten Tagen in manch einer ernsten und freundschaftlichen Unterhaltung, und die Mutter von Pendennis wurde in seinem Gedächtnisse verehrt und dort heilig gesprochen, wie es solche fromme Frau verdiente. Glücklich der, welcher während seines Lebens einige solcher Frauen kennen lernt! Eine gütige Fürsorge vom Himmel war es, die uns solches sandte und uns jenes rührende und staunenswerte Schauspiel von Unschuld, Liebe und Schönheit zu bewundern gab.
Aber wie es gewiß ist, daß, wenn im Laufe solcher 208 sentimentaler Unterhaltungen irgendein außenstehender Fremder, z. B. Major Pendennis, in Pens Wohnung getreten wäre, Arthur und Warrington in ihrer Rede innegehalten und einen anderen Gesprächsgegenstand gewählt und sich über die Oper oder die letzte Debatte im Parlament oder über die Verheiratung des Fräulein Jones mit Kapitän Smith oder sonst noch was unterhalten haben würden, so wollen wir uns vorstellen, daß sich das Publikum bei diesem Punkte ins Mittel schlägt und dem vertraulichen Gespräche zwischen Autor und Leser Halt gebietet und uns ersucht, unsere Bemerkungen über diese Welt wieder aufzunehmen, mit der beide gewiß besser bekannt sind, als mit jener anderen, in die wir soeben einen Blick getan haben.
Als Arthur Pendennis sein Besitztum antrat, benahm er sich zuerst mit einer Bescheidenheit und Seelenruhe, die ihm seines Freundes Warrington Lob eintrug, obschon Arthurs Onkel ein wenig geneigt war, auf die Philisterhaftigkeit seines Neffen zu schmälen, daß er nicht mehr Aufwand und Ansprüche machte, jetzt, wo er die Regierung seines Königreiches angetreten hätte. Er hätte es gern gesehen, wenn Arthur eine schöne Wohnung genommen hätte und jeden Tag auf prächtigen Mietspferden oder in schöngebauten Kabriolets im Parke herumgeritten oder herumkutschiert wäre. »Ich bin zu zerstreut,« sagte Arthur mit einem Lachen, »um in London ein Cab zu lenken; die Omnibusse würden mich in Stücke zerfahren, oder ich würde den Kopf meines Pferdes in die Wagenfenster der Damen hineinrennen lassen, und Sie würden es doch nicht 209 gern sehen, daß ich mich durch meinen Bedienten umherfahren ließe wie ein Apotheker, Onkel?« Nein, Major Pendennis würde es auf keine Weise gern gesehen haben, daß sein Neffe wie ein Apotheker erschien. Der erhabene Repräsentant des Hauses Pendennis durfte sich nicht so erniedrigen. Und als Arthur, seine Rede weiter verfolgend, sagte: »Und doch glaube ich, daß mein Vater recht stolz war, als er sich zum ersten Male in seinem Gig sehen ließ,« ließ der alte Major sein »Hm« und »He« vernehmen, und sein runzliges Gesicht errötete tief, als er antwortete: »Du weißt, was Bonaparte sagte, Neffe: ›Il faut laver son linge sale en famille‹. Es ist nicht gerade nötig, Neffe, daß du dich damit rühmst, daß dein Vater ein – ein Mediziner war. Er stammte aus einer uralten, aber gesunkenen Familie und war gezwungen, das Vermögen der Familie wieder aufzubauen, wie so mancher Mann von guter Familie es vor ihm getan hat. Du bist wie der Kerl im Sterne, Neffe, wie der Marquis, welcher kam, um seinen Degen wiederzufordern. Dein Vater gewann ihn für dich zurück. Du bist ein Mann mit Landbesitz, weiß Gott, und ein Edelmann, vergiß nie, daß du ein Edelmann bist.«
Da wendete Arthur schlau auf seinen Onkel den Beweisgrund an, den er von dem alten Herrn so oft auf sich selbst hatte anwenden hören. »Wer nimmt sich in der Gesellschaft, die ich durch Ihre Einführung zu besuchen die Ehre habe, die Mühe, nach meinem elenden bißchen Vermögen oder meinem bißchen Adel zu fragen, Onkel?« fragte er. »Es würde abgeschmackt von mir sein, den Versuch zu machen, es 210 den vornehmen Leuten gleich zu tun, und alles, was sie von uns verlangen können, ist, daß wir ein gebührendes Benehmen und gute Sitten besitzen.«
»Aber trotzalledem würde ich doch Mitglied von einem oder ein paar besseren Klubs werden,« antwortete der Onkel, »ich würde gelegentlich ein Diner geben und mir meine Gesellschaft passend wählen; und ich würde aus dieser abscheulichen Dachstube im Tempel ausziehen, Neffe.« Und so einigte sich Arthur mit ihm dahin, daß er in das zweite Stockwerk in Lamb Court herunterzog, während Warrington sein altes Quartier behielt und die beiden Freunde entschlossen waren, sich nicht voneinander zu trennen. Halte und bewahre, o Leser, diese Freundschaften deiner Jugend; nur in dieser großherzigen Zeit werden sie geschlossen. Wie verschieden sind die Intimitäten späterer Zeiten, und um wie vieles schwächer ist der Griff und Druck deiner Hand, nachdem sie dir zwanzig Jahre im Verkehr mit der Welt geschüttelt worden ist und tausend ebenso gleichgültige Hände gedrückt und fallen gelassen hat! Wie du nach dem zwanzigsten Jahre selten deine Zunge dazu gewöhnen kannst, eine neue Sprache zu sprechen, so weigert sich das Herz ziemlich zeitig, neue Freundschaften anzunehmen; es wird zu hart, dem Eindrucke nachzugeben.
So hatte Pen viele Bekanntschaften und gewann, da er von fröhlicher und leicht zugänglicher Gemütsart war, täglich deren mehr, aber keinen Freund wie Warrington; und die beiden jungen Leute fuhren fort, fast so gemeinsam zu leben, als die Ritter vom Tempel, indem sie, wie jene ein Pferd ritten (Pens Pferd 211 nämlich stand Warrington immer zu Diensten) und ihre Wohnung und ihren Diener gemeinschaftlich hatten.
Herr Warrington hatte die Bekanntschaft von Pens Freunden vom Grosvenor Place während ihrer letzten unglücklichen Saison in London gemacht und sich nicht zufriedener über Sir Francis und Lady Clavering und Ihrer Ladyschaft Tochter ausgesprochen als das Publikum im allgemeinen. »Die Welt hat recht,« sagte Georg, »in dem, was sie über diese Leute sagt. Die jungen Männer lachen und führen freie Reden in Gegenwart dieser beiden Damen und über sie. Das Mädel sieht Leute, die zu kennen sie kein Recht hat, und spricht mit Männern, mit denen kein Mädchen näheren Umgang haben sollte. Sahst du, wie jene beiden Wüstlinge sich neulich im Park über Lady Claverings Kutsche lehnten und Fräulein Blanche unter den Hut guckten? Keine gute Mutter erlaubte ihrer Tochter, solche Leute zu kennen, oder würde ihnen Zutritt in ihre Zimmer gestatten.«
»Die Begum ist die unschuldigste und gutmütigste Seele auf Erden,« unterbrach ihn Pen. »Sie hat nie etwas Unrechtes von Kapitän Blackball gehört oder die Gerichtsverhandlungen gelesen, in denen Charles Lovelace eine Rolle spielt. Meinst du etwa, daß ehrbare Damen die Chronique Scandaleuse fleißig lesen und sie sich so gut merken, wie du alter Murrkopf?«
»Würdest du es etwa gern sehen, wenn Laura Bell diese Kerle kennte?« fragte Warrington, während sein Gesicht sehr rot wurde. »Würdest du es zugeben, daß irgendein Frauenzimmer, das du liebst, mit ihrer Gesellschaft befleckt würde? Ich zweifle durchaus nicht, 212 daß die arme Begum von ihrer Lebensgeschichte nichts weiß. Es scheint mir, als wüßte sie auch von einer großen Anzahl besserer Dinge nichts. Es scheint mir, daß deine wackere Begum überhaupt keine eigentliche Dame ist, Pen. Es ist zweifelsohne nicht ihre Schuld, daß sie nicht die Erziehung einer Dame erhalten noch sich die Bildung einer solchen angeeignet hat.«
»Sie ist so moralisch wie Lady Portsen, die die ganze vornehme Welt auf ihren Bällen hat, und so gebildet wie Frau Bull, die das Englische polizeiwidrig verhunzt und doch ein halbes Dutzend Herzöge an ihrem Tische sieht,« antwortete Pen ziemlich verdrießlich. »Warum sollten wir heikler sein als die übrige Welt? Warum sollen wir die Sünden ihrer Väter an diesem harmlosen guten Geschöpfe heimsuchen? Sie war nie anders als gütig zu dir oder irgendeiner anderen sterblichen Seele. So weit sie es versteht, tut sie ihr Bestes. Sie macht nicht mehr aus sich, als sie ist. Sie gibt einem die besten Diners, die sie kaufen, und die beste Gesellschaft, die sie bekommen kann. Sie bezahlt die Schulden von jenem Lumpenkerl, ihrem Mann. Sie verhätschelt ihren Buben wie die tugendhafteste Mutter in ganz England. Ihre Ansicht über literarische Dinge will freilich nicht viel besagen, und ich vermute, daß sie nie eine Zeile von Wordsworth gelesen noch je in ihrem Leben etwas von Tennyson gehört hat.«
»Auch Frau Flanagan, die Aufwärterin, hat nicht mehr davon gelesen oder gehört,« brummte Pens Mentor, »und ebensowenig Betsy, die Hausmagd, und doch habe ich kein Wort des Tadels gegen sie. Aber ein Mann mit hochstrebendem Geiste schließt keine 213 Freundschaft mit derartigen Leuten. Ein anständiger Mann wählt derartige Leute nicht zu seiner Gesellschaft oder bereut es hinterher bitterlich, wofern er es tut. Willst du, der sich anschickt, ein Mann von Welt und ein Philosoph zu werden, mir etwa weismachen, das Heil des Lebens bestehe darin, drei Gänge zu verschlingen und von Silber zu essen? Getraust du es dir selbst zu gestehen, daß das Streben deines Lebens guter Claret ist, und daß du mit aller Welt speisen würdest, vorausgesetzt, du kriegtest einen gemästeten Ochsen bei ihm zu essen? Du nennst mich einen Zyniker – aber, der Tausend, was für ein ungeheuerlicher Zynismus ist es, den du und die übrigen von euch Weltmenschen sich gestatten! Lieber wollte ich von roten Rüben leben und in einem hohlen Baum schlafen, oder ein Hinterwäldler oder ein Wilder werden, als mich zu dieser Zivilisation erniedrigen und mich zu dem Glauben bekennen, daß ein französischer Koch das würdigste Ding im Leben ist, wofür man leben und sterben müsse.«
»Weil du dein Vergnügen an einem guten Beefsteak und einer Pfeife hinterher findest,« fuhr Pen heraus, »gibst du dir die Miene, über Leute erhaben zu sein, deren Geschmack auf bessere Lackstiefel gerichtet ist und die sich der Welt nicht schämen, in der sie leben. Wer läuft denn umher und bekennt eine besondere Bewunderung oder Hochachtung oder Freundschaft oder Dankbarkeit selbst gegen die Leute, mit denen er täglich zusammentrifft? Wenn A. mich in sein Haus ladet und mir sein Bestes vorsetzt, so nehme ich seine guten Dinge für das, was sie wert sind und für nichts mehr. Ich erkläre nicht, es ihm in Freundschaft 214 zurückzuzahlen, sondern in der Konventionsmünze, die in der Gesellschaft gilt. Wenn wir uns trennen, so trennen wir uns ohne irgendwelchen Kummer. Wenn wir uns begegnen, so sind wir ganz leidlich vergnügt, einander zu sehen. Wenn ich bloß mit meinem Freunde leben sollte, so würde dein schwarzer Rüssel, mein alter Georg, das einzige Gesicht sein, das ich einmal zu sehen bekomme.«
»Du bist deines Onkels Schüler,« antwortete Warrington ziemlich wehmütig, »und du sprichst wie ein Weltling.«
»Und warum sollte ich denn nicht?« fragte Pendennis. »Warum nicht die Welt anerkennen, auf der man steht, und sich den Bedingungen der Gesellschaft unterwerfen, in der und von der wir leben? Ich bin älter wie du, Georg, trotz deines graugesprenkelten Backenbartes und habe viel mehr von der Welt gesehen, als du in deinem Dachstübchen hier, wo du dich einsperrst mit deinen Büchern und deinen Träumereien und deinen Ideen aus deinem einundzwanzigsten Jahre. Ich sage dir, ich nehme die Welt, wie sie ist, und da ich zu ihr gehöre, so will ich mich ihrer nicht schämen. Wenn die Zeit aus dem Gelenke geraten ist, habe ich da irgendwie den Beruf oder die Kraft, die Sache in Ordnung zu bringen?«
»In der Tat, ich meine nicht, daß du viel von beiden hast,« brummte Pens Ankläger.
»Wenn ich bezweifle, ob ich besser bin als mein Nächster,« fuhr Arthur fort, »wenn ich zugestehe, daß ich nicht besser bin, so bezweifle ich auch, ob er besser ist als ich. Ich sehe Leute, die mit Ideen von allgemeiner 215 Reform beginnen, die, ehe ihnen der Bart gewachsen ist, ihre lauten Pläne zur Regeneration des Menschengeschlechts auspredigen und die nach ein paar Jahren nutzlosen Schwatzens und ruhmeseitler Versuche, ihre Genossen zu leiten, ihre Pläne aufgeben; und wenn sie entdeckt haben, daß die Leute sie nicht mehr hören wollen, wie sie denn auch in der Tat nicht im mindesten wert wären, gehört zu werden, ruhig in Reih und Glied versinken, indem sie anerkennen, daß ihr Ziel unerreichbar ist, oder Gott dafür danken, daß es nie in die Praxis übertragen worden. Die wütendsten Reformler werden ruhig und sind bereit, sich mit den Dingen zu vertragen, wie sie sind; die lautesten radikalen Schreier werden stumme, schweigsame Leute, sobald sie eine Stelle erlangen, die wütendsten Liberalen verwandeln sich, wenn sie keine Gewalt mehr in Händen haben, in schlafmützige Konservative oder in gründliche Tyrannen oder Despoten im Amte. Sieh mal Thiers, Guizot an, als sie zur Opposition gehörten und wie sie im Amte waren! Sieh die Whigs, wie sie dem Lande so Schönes versprechen, und die Whigs, wie sie die Macht erreicht haben! Würdest du sagen, daß die Aufführung dieser Leute eine verräterische Handlung ist, wie die Radikalen brüllen, welche ihrerseits ebenfalls nachgeben würden, wenn sie nur jemals zur Macht zu kommen hoffen dürften? Nein, bloß daß sie sich den Umständen anbequemen, die stärker sind als sie selbst, daß sie vorwärts schreiten, wie die Welt der Reform entgegenschreitet, aber freilich im Schritt der Welt (und die Bewegungen des ungeheuren Körpers des Menschengeschlechts müssen notwendigerweise langsam 216 sein), daß sie diesen Plan als unausführbar übergehen, weil sie Opposition dabei finden, daß sie jenen als unreif bei Seite legen, weil er gegen das Gefühl der Mehrheit ist, daß sie ebensosehr gezwungen sind, Hindernisse und Schwierigkeiten in Rechnung zu bringen, als auf Reformen und Fortschritte zu denken, daß sie endlich genötigt sind, sich zu unterwerfen, zu warten und sich zu vergleichen.«
»Der Sehr Ehrenwerte Herr Arthur Pendennis könnte nicht besser sprechen oder mit sich selbst nicht zufriedener sein, wenn er erster Lord des Schatzes und Kanzler des Schatzkammergerichtes wäre,« sagte Warrington.
»Mit sich selbst zufrieden? Warum mit sich selbst zufrieden?« fuhr Pen fort. »Es scheint mir, daß mein Skeptizismus respektvoller und bescheidener ist, als die revolutionäre Glut anderer Leute. Mancher Patriot von achtzehn Jahren, mancher sprudelnde Klubredner würde die Bischöfe morgen aus dem Hause der Lords jagen und die Lords nach den Bischöfen hinauswerfen und den Thron nach den Peers und der Richterbank in die Themse stürzen. Ist dieser Mann bescheidener als ich, der ich diese Einrichtungen nehme, wie ich sie finde, und auf die Zeit und die Wahrheit warte, sie zu entwickeln oder zu stärken oder (wenn du willst) zu zerstören? Ein Einpauker an der Universität oder ein Speichellecker bei einem Edelmann, der eines Morgens als Se. Hochwürden der Herr Bischof mit seidener Schärpe und einem Pfaffenhute mir unter die Nase tritt und sich die Miene gibt, als wollte er mir den Segen erteilen, ist immer noch derselbe Mensch, dessen wir 217 uns von Oxbridge her erinnern, wo er vor den vornehmen Herrchen zu Kreuze kroch und die armen Teufel unter den Studenten im Auditorium anschnauzte. Ein Gesetzgeber durch Erbschaft, der seine Zeit mit Jockeys, Spielgaunern und Balletmädeln verbringt und der berufen ist, über mich und andere Leute, die besser als er sind, zu herrschen, weil sein Großvater eine glückliche Spekulation mit Staatspapieren machte oder ein Kohlen- oder Zinnbergwerk auf seinem Besitztum fand oder weil sein alberner Urahn zufällig den Befehl über zehntausend Leute, so tapfer wie er selbst, führte, die zwölftausend Franzmänner oder fünfzigtausend Indianer überwältigten, solch ein Mensch, sage ich, flößt mir nicht mehr Respekt ein, wie der erbittertste Demokrat gegen ihn fühlen kann. Aber, so wie er ist, ist er ein Teil der alten Gesellschaft, zu der wir gehören, und ich unterwerfe mich Sr. Lordschaft in schweigender Untertätigkeit, und er nimmt bei jedem Gastmahl seinen Platz vor den Besten von uns ein und bleibt dort, bis einmal seine Zeit kommt. Ich habe kein Verlangen danach, ihm mit der Guillotine den Kopf abzuschneiden oder ihn auf der Straße mit Kot zu bewerfen. Wenn man solch einen Menschen eine Schande seines Standes nennt und einen anderen, der gut, mild, gebildet und edlen Herzens ist, der seine großen Mittel dazu verwendet, daß er jedwede gute und wohltätige Anstalt und die Kunst und die anmutige Seite des Lebens in der gütigsten und gnädigsten Weise beförderte, eine Zierde seines Standes nennt, so ist die Frage nach dem Nutzen und der Berechtigung des Standes, dem sie beide angehören, davon nicht im 218 geringsten weder auf die eine noch die andere Art berührt. Da ist er, da ragt er unter uns hervor, dieser Stand, ein Teil unserer Sitten und Gewohnheiten, das Glaubensbekenntnis vieler von uns, emporgewachsen in Jahrhunderten, das Symbol einer höchst verwickelten Ueberlieferung, da steht Mylord der Bischof und Mylord der erbberechtigte Gesetzgeber – was die Franzosen beides transactions nennen – da repräsentieren sie in ihrem gegenwärtigen Zustande geharnischte Barone und Anführer mit zwei Schwertern (von denen die erbberechtigten Herren Lords zum großen Teile gar nicht einmal abstammen) und Priester, welche vorgeben, eine absolute Wahrheit und durch göttliche Gnade fortgeerbte Macht zu besitzen, welche absolute Wahrheit unsere Vorväter auf dem Scheiterhaufen verbrannten und dort leugneten, und welche göttliche übertragbare Macht noch immer gedruckt existiert – gleichviel, ob man sie glauben oder nicht glauben will, ziemlich nach Belieben, und hiervon, sage ich, will ich mich bequemen, einzugestehen, daß es existiert, aber nichts weiter. Wenn man sagt, ehe die Buchdruckerkunst erfunden und die Dampfkraft geboren ward, wo der Gedanke noch in den Windeln lag und in Furcht gejagt wurde und die Rute bekam, und die Wahrheit unter ihren Vormündern geknebelt, eingesperrt und verschleiert und ihr nicht erlaubt wurde, ihre Stimme zu erheben oder hervorzublicken oder unter der Sonne zu wandeln; ehe die Menschen Erlaubnis hatten, sich zu versammeln oder miteinander zu verhandeln oder sich gegeneinander auszusprechen – wenn mir irgend jemand sagt (wie gewisse ehrliche Seelen es 219 tun), daß diese Einrichtungen in Ewigkeit bestehen und, nachdem sie doch fortwährenden Aenderungen und Modifikationen unterlegen, einer weiteren Entwickelung oder einem weiteren Verfall nicht mehr unterworfen sind, so lache ich und lasse den guten Mann reden. Aber ich würde Duldung üben gegen derartige Leute, wie ich Duldung für meine eigene Meinung beanspruche, und wenn diese Einrichtungen absterben müssen, so wollte ich lieber, sie stürben eines anständigen und natürlichen als eines plötzlichen und gewaltsamen Todes.«
»Du würdest dem Jupiter geopfert haben,« versetzte Warrington, »wenn du zu den Zeiten der Christenverfolgung gelebt hättest.«
»Vielleicht würde ich das getan haben,« sagte Pen mit einiger Wehmut. »Vielleicht bin ich ein Feigling, vielleicht habe ich keinen festen Glauben, aber das ist ja meine Sache. Was ich hier argumentiere, ist, daß ich nicht zum Verfolgen geneigt bin. Stelle einen Glauben oder ein absolutes Dogma auf, und Verfolgung wird die logische Folge davon sein; und Dominicus verbrennt einen Juden oder Calvin einen Arianer oder Nero einen Christen oder Elisabeth oder Marie einen Papisten oder Protestanten; oder ihr Vater vielleicht beide, je nach seiner Laune, und zwar ohne die mindesten Gewissensbisse zu fühlen, ja, im Gegenteil, mit dem bestimmten Bewußtsein erfüllter Pflicht. Stelle ein absolutes Dogma auf, und den Tod verhängen oder erdulden wird leicht und notwendig; und Mahomeds Krieger, die mit dem Geschrei: Paradies! Paradies! auf den Speeren der Christen sterben, sind nicht mehr 220 oder minder lobenswert, als dieselben Leute, wenn sie eine Stadt voll Juden abschlachten oder die Köpfe aller Gefangenen abschneiden, die nicht anerkennen wollten, daß es nur einen Propheten Gottes gibt.«
»Vor ganz kurzem erst, junger Freund,« sagte Warrington, der die Bekenntnisse seines Freundes weder ohne Mitgefühl noch ohne Spott angehört hatte, denn seine Gemütsverfassung veranlaßte ihn, sich beiden hinzugeben, »fragtest du mich, weshalb ich mich vom Streben der Welt fernhielte und dem harten Ringen meines Nächsten zusähe, ohne irgendwie an dem Kampfe teilzunehmen? Ei, als was für ein bloßer Dilettant gibst du dich in diesem Bekenntnisse zu allgemeinem Skeptizismus zu erkennen und als was für einen teilnahmlosen Zuschauer! Du bist sechsundzwanzig Jahre alt und schon so blasiert wie ein Roué von sechzig. Du hoffst nicht viel, kümmerst dich um nicht viel, glaubst nicht viel. Du zweifelst an anderen Leuten ebenso sehr, wie an dir selbst. Wäre die Welt aus solchen procuranti gemacht wie du, so würde sie unerträglich sein, und lieber wollte ich in einer Wildnis leben unter Affen und auf ihr Gekreisch hören, als in einer Gesellschaft von Menschen, die alles ableugnen.«
»Ob nun die Welt aus heiligen Bernharden oder heiligen Dominicusen zusammengesetzt wäre, sie würde gleich widerwärtig sein,« antwortete Pen, »und nach ein paar Dutzend Jahren ganz und gar aufhören zu existieren. Möchtest du wohl, daß jeder Mann sich den Kopf scheeren ließe und jedes Weib im Kloster 221 wäre, – um in vollster Ausdehnung dem asketischen Prinzipe zu huldigen? Möchtest du, daß Konventikellieder in jeder Gasse jedweder Stadt der Welt gewinselt würden? Möchtest du, daß alle Vögel des Waldes eine Note sängen und mit einem Gefieder flögen? Du heißest mich einen Skeptiker, weil ich anerkenne, was ist, und indem wir dies anerkennen, sei es nun Fisch oder Vogel, Priester oder Pastor, das heißt, sei es irgendeines der unendlich verschiedenen Dinge der Schöpfung Gottes (dessen bloßen Namen ich mit Ehrfurcht ausspreche und mich ihm nie, ohne von fern schon seine Erhabenheit zu empfinden, nähere), indem wir uns, sage ich, dem Studium und der Anerkennung jener Mannigfaltigkeit unter den Menschen hingeben, so wächst hierdurch gerade unsere Ehrfurcht und Bewunderung vor dem Schöpfer, Regierer und Ordner all dieser Gemüter, die so verschieden und doch so eins sind, indem sie zu gemeinschaftlicher Anbetung sich versammeln und, jedweder nach seinem Maße und seinen Mitteln, mit denen er sich dem göttlichen Mittelpunkt aller Dinge nähert, seine Anerkennung durch Lobgesang und Verehrung darbringt, und indem jedweder (um auf das Gleichnis von den Vögeln zurückzukommen) das Lied singt, was die Natur ihm gelehrt.«
»Und so sind denn in deiner Philosophie der Hymnus eines Heiligen oder die Ode eines Dichters oder der Gassenhauer eines Diebes in Newgate alle so ziemlich dasselbe?« fragte Georg.
»Selbst auf diesen spöttischen Einwurf könnte eingegangen werden, gehörte er nur hierher,« entgegnete Pendennis, »aber das tut er leider nicht; und 222 man könnte dir antworten, daß der weiseste und beste aller Lehrer, die wir kennen, der nie müde Helfer und Tröster, selbst dem elenden Aufschrei des Räubers am Kreuzesstamme ein erbarmendes Gehör und eine gewisse Hoffnung verheißen hat. Hymnen von Heiligen! Oden von Dichtern! Wer sind wir, daß wir das Recht haben, die den Menschen verliehenen Umstände und Gelegenheiten, die Mittel, Gutes und Böses zu tun, ja auch nur zu beurteilen, abmessen und das Gesetz, nach dem ihnen ihre Strafe oder ihr Lohn zugeteilt werden soll, aufstellen zu wollen? Wir sind ebenso hochfahrend und gedankenlos in der Beurteilung der Sittlichkeit der Menschen wie in der Beurteilung ihrer Verstandesfähigkeiten. Wir bewundern diesen Mann als einen großen Philosophen und erklären jenen für einen Dummkopf, ohne einen von beiden oder den Betrag von Wahrheit in einem von ihnen zu kennen oder über die Wahrheit überhaupt irgendwie sicher zu sein. Wir singen das Tedeum für einen Helden, der eine Schlacht gewonnen hat, und das Deprofundis für den anderen, der aus dem Gefängnis ausgebrochen und später von der Polizei eingefangen worden ist. Unser Maßstab von Lohn und Strafe ist höchst parteiisch und unvollständig, abgeschmackt ungleich, äußerst irdisch, und dabei wünschen wir doch, es auf die andere Welt ausdehnen zu können. In jene andere und erhabene Welt streben wir die Menschen zu verfolgen und schicken ihnen unsere ohnmächtigen Parteiurteile der Verdammung oder Lossprechung nach. Wir nehmen unsere elenden kleinen Maßruten, um den unermeßlichen Himmel zu messen, als ob im Vergleich 223 hiermit Newtons oder Pascals oder Shakespeares Geist irgendwie erhabener gewesen wäre als der meine, als ob der Strahl, der seine Reise von der Sonne her macht, mich eher erreichen würde, als den Mann, der mir die Stiefeln wichst. Aus dieser Höhe gemessen, sind der Längste und Kleinste unter uns gleich winzig und erbärmlich niedrig, daß ich sagen muß, wir sollten uns gar nicht auf das Zählen und Messen einlassen, und es ist eine Gemeinheit, den Unterschied auszurechnen.«
»Hier ist der Fehler deines Gleichnisses, Arthur,« sagte der andere, jetzt zufriedener; »selbst wenn wir in der allgemeinen Arithmetik bis fast ins Unendliche vermehren und ebenso bis ins Unendliche vermindern können, so muß der große Rechner alles mitrechnen, und das Kleine ist nicht klein und das Große nicht groß, wenn man es mit seiner Unendlichkeit vergleicht.«
»Ich ziehe diese Berechnungen nicht in Frage,« versetzte Arthur, »ich sage bloß, daß die deinigen unvollständig und voreilig sind, daß sie falsch in ihren Folgen sind und sich bei jedweder Anwendung in größere Irrtümer erweitern. Ich verdamme den Mann nicht, der Sokrates mordete, und den, der Galilei verdammte. Ich sage bloß, man verurteilte Galilei und mordete Sokrates.«
»Und doch gabst du erst einen Augenblick vorher zu, daß es sich gebührte, sich die gegenwärtige und ich glaube jedwede andere Tyrannei gefallen zu lassen.«
»Nein, aber daß ich, wenn mir ein Gegner droht, den ich mir ohne Blutvergießen und Anwendung von Gewalt vom Halse schaffen kann, ihn lieber durch 224 Warten und Hunger bezwingen, als im Gefechte besiegen wollte. Fabius bekämpfte Hannibal durch Zaudern. Wie aber war es mit seinem römischen Beigeordneten, von dem wir im Plutarch lasen, als wir Knaben waren, der die zögernde Art des anderen verletzte, seinen Mut bezweifelte, den Feind angriff und zum Lohne für seine Hast geschlagen wurde?«
In diesen Spekulationen und Konfessionen Arthurs sieht der Leser vielleicht Anspielungen auf Fragen, die ohne Zweifel ihn selbst beschäftigt und durch ihre Schwierigkeit außer sich gebracht haben, und die er sich auf eine Weise gelöst hat, sehr verschieden von der Lösung, auf die unser Freund gekommen ist. Wir werfen uns nicht zum Verteidiger der Richtigkeit seiner Ansichten auf, welche, wie die Leser gefälligst in Betracht ziehen wollen, in dramatischer Form vorgetragen werden, wobei der Verfasser für dieselben keine größere Verantwortlichkeit hat, als für die Aussprüche, die irgendein anderer Charakter in der Geschichte äußert; unser Bestreben ist bloß, der Entwicklung des Innern eines weltlich gesinnten und egoistischen, aber nicht unedlen oder bösartigen, oder die Wahrheit nicht hören wollenden Menschen zu ihren letzten Folgerungen zu begleiten. Und man wird sehen, daß der klägliche Standpunkt, auf den seine Logik ihn gegenwärtig gebracht hat, ein Standpunkt allgemeinen Skeptizismus und spöttischen Gehenlassens der Welt, wie sie eben ist, oder, wenn man es so nennen will, ein mit Spott gemischtes Glauben an alles eben Vorhandene ist. Der Geschmack und die Gewohnheiten solch eines Mannes bewahren ihn davor, daß er zu einem prahlerischen 225 Demagogen wird, und seine Liebe zur Wahrheit und seine Abneigung gegen Heuchelei halten ihn ab, derartige tölpelhafte Vorschläge zutage zu fördern, mit denen viele Schreier von Weltverbesserern beständig bei der Hand sind, oder, was noch mehr ist, bei dem Argumentieren von Fragen offenkundige Lügen zu äußern oder die Gegner zu beschimpfen; denn er würde eher sterben und verhungern, als dergleichen anwenden. Es lag nicht in der Natur unseres Freundes, daß er imstande gewesen wäre, gewisse Lügen auszusprechen, aber er war auch nicht stark genug, gegen die Lügen anderer mit etwas anderem als einem höflichen Lächeln zu protestieren, da sein Grundsatz der war, daß er allen Parlamentsakten Gehorsam schulde, solange sie nicht widerrufen waren.
Und wohin führt dieses bequeme und skeptische Leben einen Menschen? Freund Arthur war ein Sadducäer, und der Täufer mochte in der Wildnis den Armen mit lauter Stimme predigen, und diese mochten mit ganzer Inbrunst und frömmstem Glauben auf des Predigers erhabene Rede und seine Verkündigungen von Gottes Zorn und Wehe und Erlösung lauschen; unser Freund der Sadducäer wendete sein wohlgenährtes Maultier mit einem Achselzucken und Lächeln von der Menge weg; ging heim zum Schatten seiner Terrasse und sann über Prediger und Zuhörerschaft nach und wandte sich zu seiner Rolle von Platos Schriften oder zu seinem vergnüglichen griechischen Liederbuche, das von Honig und Hybla, von Nymphen und Quellchen und Liebe plappert. Wohin führt, sagen wir, dieser Skeptizismus? Er führt einen 226 Menschen zu einer schmachvollen Vereinsamung und Selbstsucht, die – sozusagen – umso schmachvoller ist, weil sie so gutgelaunt, so ohne alle Gewissensbisse und so heiter ist. Gewissen! Was ist Gewissen? Warum Gewissensbisse annehmen? Was ist Treu und Glauben im öffentlichen oder Privatverkehr? Mythen samt und sonders, eingewickelt in eine ungeheure Tradition. Wenn du die Lügen der Welt siehst und anerkennst, Arthur, wie du sie denn nur mit zu verhängnisvoller Klarheit zu sehen vermagst, und dich ihnen ohne einen weiteren Einwand als ein Gelächter unterwirfst, wenn du, versunken in behagliche Selbstgenügsamkeit, die ganze unglückliche Menschheit, ungerührt von ihrem Stöhnen bei dir vorüberziehen läßt, wenn der Kampf für die Wahrheit stattfindet und alle Ehrenmänner auf dem Platze sind und in Waffen auf die eine oder die andere Seite treten, du aber Lust hast, auf deinem Balkon zu liegen und fern vom Tosen und der Gefahr deine Pfeife zu schmauchen, so wäre dir besser, du wärest gestorben oder nie gewesen, als daß du solch selbstgenügsamer Schurke bist.
»Die Wahrheit, Freund,« sagte Arthur unerschütterlich; »wo ist sie denn, die Wahrheit? Zeig sie mir doch mal! Das ist die Frage zwischen uns. Ich sehe sie auf beiden Seiten. Ich erblicke sie auf der konservativen Seite des Hauses und bei den Radikalen und selbst auf den Ministerbänken. Ich sehe sie in diesem Manne, welcher Gott nach Parlamentsbeschlüssen dient und dafür mit einem Bischofstalare und fünftausend Pfund Einkommen jährlich belohnt wird, und in jenem Manne, der, verhängnisvoll getrieben von der 227 unbarmherzigen Logik seines Glaubensbekenntnisses, alles, Freunde, Ruf, die teuersten Bande, die ihm am meisten am Herzen liegenden Wünsche, die Hochachtung eines Heeres von Geistlichen, die anerkannte Stellung eines Führers aufgibt und, von der Wahrheit gezwungen, zum Feinde übergeht, in dessen Reihen er hinfort als namenloser gemeiner Soldat dienen wird – ich sehe die Wahrheit in diesem Manne, wie ich sie in seinem Bruder sehe, dessen Logik ihn zu einer ganz anderen Schlußfolgerung treibt, und welcher, nachdem er ein Leben in vergeblichem Bemühen, ein nicht zu rechtfertigendes Buch zu rechtfertigen, verbracht hat, es zuletzt in Verzweiflung hinwirft und, mit tränenden Augen, die Hände zum Himmel erhoben, erklärt, daß sein Verstand sich dagegen auflehnt und er alles widerruft. Wenn die Wahrheit bei all diesen Leuten ist, warum sollte ich mich da auf die Seite eines von ihnen stellen? Einige sind berufen, zu predigen; so lasse man sie predigen. Von diesen Predigern gibt es indes, meines Dünkens nach, zu viele, die diese Gabe zu besitzen meinen. Aber wir können doch einmal nicht alle Pastoren in der Kirche sein, das ist klar. Einige müssen stillsitzen und hören oder meinethalben auch einschlafen. Haben wir nicht alle unsere Pflichten? Der oberste Waisenjunge tritt die Bälge, der Schulmeister prügelt die anderen Jungen auf dem Orgelboden, der Küster singt das Amen vom Pulte, und der Pförtner mit dem Stabe öffnet die Tür für Se. Ehrwürden, der im seidenen Gewande nach dem Betkissen hinraschelt. Ich habe nicht Lust, die Jungen durchzuwalken oder immer Amen zu sagen oder in 228 Gestalt des Pförtners mit dem Stabe als Kämpfer und Streiter der Kirche zu handeln; aber ich will an dem Orte meinen Hut abnehmen und auch mein Gebet sprechen und dem Geistlichen die Hand schütteln, wenn er draußen über den Grasplatz wandelt. Weiß ich nicht, daß sein Dortsein ein gesetzlicher Akt ist, und daß er vermöge Parlamentsbeschlusses vor mir steht? Daß die Kirche, die er innehat, einst für eine andere Art Gottesdienste errichtet wurde? Daß gleich die nächste Tür die Methodistenkapelle ist? Und daß Bunyan, der Kesselflicker, brüllend auf dem nahen Gemeindeanger die Botschaft von der Verdammnis verkündet? Ja, ich bin ein Sadducäer, und ich nehme die Dinge, wie ich sie finde, und die Welt und die Parlamentsbeschlüsse der Welt, wie sie sind; und da ich ein Weib zu nehmen beabsichtige, wenn ich sie finde, – nicht um mich toll und töricht zu verlieben und mich ihr wie ein Narr zu Füßen zu werfen – nicht um sie als Engel anzubeten oder zu erwarten, einen solchen in ihr zu finden, sondern um gutmütig und freundlich zu ihr zu sein und von ihr wiederum Gutmütigkeit und Annehmlichkeit zu erwarten. Und so, Georg, kannst du dich, wenn du ja hörst, daß ich mich verheirate, darauf verlassen, daß es meinerseits kein romantisches Verhältnis sein wird, und solltest du von irgendeinem guten Plätzchen bei der Regierung hören, so wüßte ich eben von keinen besonderen Skrupeln, die mich abhalten würden, dein Anerbieten anzunehmen.
»O Pen, du Halunke! Ich weiß, was du meinst,« fuhr hier Warrington heraus. »Dies ist also die Meinung deines Skeptizismus, deines Quietismus, deines 229 Atheismus, mein guter Junge. Du bist im Begriffe, dich zu verkaufen, und der Himmel helfe dir dabei! Du willst einen Handel eingehen, der dich erniedrigen und dich auf Lebenszeit unglücklich machen wird, und es nützt nichts, daß man noch darüber spricht. Wenn du dir's einmal in den Kopf gesetzt hast, so wird dich der Teufel nicht daran hindern.«
»Im Gegenteil, er ist auf meiner Seite, nicht wahr, Georg?« fragte Pen lachend. »Wie gut doch diese Zigarren sind! Komm, wir wollen ein kleines Schmäuschen im Klub einnehmen. Der Chef ist in der Stadt, und er wird mir was Gutes zum besten geben. Nein, du willst nicht? Sei kein Murrkopf, alter Junge, ich gehe morgen nach dem – nach dem Landhause hinunter.«