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Laß ihn herein kommen Charlotte,« sagte die ältere Schwester, »ich bin gefaßt. Ach, das ist ein schwerer Abend!«
Sie mußte dennoch immer von Neuem nach Fassung ringen. Was Alles stürmte heute auf die arme Frau ein, die so Vieles, so Schweres gelitten hatte und noch litt. Aber sie konnte, wenn auch nur mühsam, ihre edle Gestalt aufrecht halten, ihrem feinen Gesichte den Ausdruck der Ruhe geben, und auch den Sturm zur Ruhe bringen, der immer und immer in ihrem Inneren wieder hoch empor schlagen wollte.
Sie hatte einen klaren, festen, sicheren Entschluß gefaßt.
»Auch er kann mich nur vergeblich bitten, ich darf ihm nicht verzeihen. Es wäre ein Verbrechen meinerseits, das ich zu dem seinigen hinzufügte.«
»Aber sei nicht hart gegen ihn,« bat die jüngere Schwester, »er ist doch jetzt ein armer Mensch.«
»Das ist er, und gerade darum nehme ich die schwere Last auf mich, ihn zu sprechen. Er soll noch so lange traurige Jahre in dem Kerker zubringen – ich will ihm sagen, warum ich ihn nicht davon erlösen darf. – Ich will ihm den Trost in seinen schweren Leiden mitgeben, wenn er dessen würdig, wenn er ein Anderer geworden ist. Und hätte er sonst zu mir kommen können? Geh', führe ihn her.«
Charlotte ging und nach wenigen Minuten zurück kehrend, ließ sie einen Mann in die Stube treten. Sie selbst blieb draußen.
»O Herr im Himmel, gieb mir Kraft!« hatte unmittelbar vorher, mit gefalteten Händen die arme Frau zum Himmel hinauf gerufen.
Sie mußte sich dennoch fast krampfhaft an einer Stuhllehne halten, als der Mann eintrat.
Auch er bebte.
Es war eine hohe Gestalt; aber der Rücken war gekrümmt, schon jetzt, nach den wenigen Jahren der Kerkerhaft! Das schöne und edel geformte Gesicht war eingefallen und von einer tiefen Blässe überzogen. Es war nicht die Blässe der Gefängnißluft; die Gesundheit des Mannes war angegriffen schwer angegriffen.
Das war der ehemals, noch vor wenigen Jahren so schöne, kräftige, gewandte Rittmeister Fritz von Bilau.
Und der stolze Freiherr?
Er konnte das Auge nicht erheben, als er in das einfache Stübchen zu der Tochter des Müllers trat. Dennoch mußte er sie ansehen, – sie, die bleiche Trauergestalt der unglücklichen Frau, die durch ihn so endlos unglücklich geworden war.
»Luise!« sagte er leise.
Sie zuckte zusammen bei dem Tone seiner Stimme, bei dem Namen auf seinen Lippen. Welche Erinnerungen, süße und wehe, welche Wunden, mußten in ihrem Herzen aufbrechen!
»Luise! – Darf ich sie noch bei diesem Namen nennen?«
Sie sah schweigend vor sich nieder.
»Ich darf es? Sie haben mich ja nicht zurück gewiesen. Sie wollten mich anhören. O, möchten Sie auch meine Bitte erhören.«
Sie blickte auf und sah ihn strenge an.
»Ihre Mutter war schon hier,« sagte sie.
»Meine Mutter?«
»Heute, vor wenigen Stunden Und wenn Sie dieselbe Bitte an mich richten wollen, die Ihre Mutter hatte – ich mußte sie ihr abschlagen, ich muß sie auch Ihnen verweigern.«
»Sie war für mich gekommen?«
»Für Sie. Sie stellte das Verlangen an mich, den König um Ihre Begnadigung zu bitten.«
»Sie schlugen es ihr ab?«
»Man bot mir Geld.«
»Großer Gott!« –
»Was konnte sie anders bieten?«
»Luise. – Nein, sie konnte Ihnen nichts Anderes bieten. Aber ich, ich kann mit der einen Bitte eine zweite verbinden.«
»Nein, nein!« rief sie abwehrend.
»Luise, seit einigen Wochen ist Ihre Hand wieder frei. Ich erfuhr es. Es duldete mich nicht ferner in meinem Kerker, ich mußte zu Ihnen, ich mußte von Angesicht zu Angesicht vor Ihnen stehen. Nur so konnte ich hoffen, Ihre Verzeihung zu gewinnen, und nur so konnte ich wagen, Ihnen diejenige Genugthuung anzubieten, die allein Ihrer würdig, die allein im Stande ist, mir die Ruhe und den Frieden meines Lebens wieder zu geben. Luise, reichen Sie mir Ihre Hand, werden Sie meine Gattin.«
Sie war ruhig geblieben
»Herr Baron,« sagte sie, »ich sah diesen Antrag von Ihrer Seite voraus, Sie konnten mit keinem andern vor mich treten; Ihre Mutter hatte ihn mir sogar schon gemacht. Ich schlug ihr dennoch ihre Bitte ab. Ihr war er der Preis für das Leben ihres Sohnes. Ich will nicht untersuchen, ob er Ihnen nicht zugleich eine Handlung der Großmuth ist – ich habe immer nur eine Antwort darauf, ich kann nie die Ihrige werden.«
Der Baron senkte das Haupt.
»Ich habe die Antwort verdient; ich hätte sie vorher sehen können,« sprach er.
Aber dann erhob er sich doch.
»Luise,« sagte er, gleichfalls ruhig, aber in tiefer Trauer, »nein nicht mehr Luise, ich darf den Namen nicht wieder aussprechen. Aber noch wenige Worte an Sie bin ich mir schuldig. Madame, es war nicht der Preis für mein Leben, den ich Ihnen anbot; es war kein Akt der Großmuth, den ich ausüben wollte, meine Worte kamen aus meinem Herzen. Ich hatte ein schweres, entsetzliches Verbrechen gegen Sie begangen, roh, übermüthig, gemein; ich war damals nicht anders. Schon eine Stunde nach meiner That war ich nicht mehr der vorige Mensch, ein wilder furchtbarer Schmerz hatte mich gefaßt. Es war nicht die Angst über mein Verbrechen; Ihr Bild, nur Ihr Bild stand vor mir, Ihre Thränen, Ihr Unglück, Ihr Elend, und ich konnte nichts wieder gut machen; es war unmöglich, Sie waren das Weib eines Andern. Sie konnten mich nur verachten, verabscheuen. Ich hatte Sie früher geliebt. In dem wilden Leben der Residenz hatte jedes bessere Gefühl zurück treten müssen. Jetzt war mein ganzes Leben von der Liebe wieder erfaßt. Jetzt, da ich Ihrer unwürdig war, da ich Sie für immer verloren hatte. Ich war unglücklich. Ich war unglücklicher als Sie. Ich entfloh. Ich konnte nicht vor mir selber entfliehen. Ich fand eine Genugthuung, eine Aufrichtung darin, mich meinem Richter zu stellen, mein Urtheil zu empfangen. Es war hart, ich fand es nicht zu hart. Ich trat meine Strafe an. Ich war vernichtet, innerlich, äußerlich, ich wollte nur sterben. Mir selbst den Tod zu geben, ich hatte nicht mehr den Muth dazu, und – Ihr Andenken Ihr Bild hielt mich zurück, das immer und immer vor mir stand, das ich täglich tausendmal um Verzeihung bat, das mir nicht verzeihen wollte, und von dem ich nicht scheiden konnte, ohne das Wort Verzeihung gehört zu haben. So habe ich beinahe vier schreckliche Jahre gelebt. Da vernahm ich den Tod ihres Mannes. Eine Schranke war gefallen. Die Liebe schlug mächtiger in mir und belebender. Ich konnte, ich wollte wieder leben. Ich bin hierher geeilt, die Hoffnung, den Muth des Lebens haben Sie mir genommen. Sie konnten sie mir nicht wieder geben, und ich kann und darf ohne Sie nicht leben. Ich kehre in mein Gefängniß zurück. Hoffentlich nur für kurze Zeit, meine Tage werden jetzt gezählt sein! Aber geben Sie mir für diese kurze Zeit für die Ruhe und den Frieden meiner letzten Stunde ein Wort mit, sprechen Sie das Wort Verzeihung aus.« –
Er war doch wieder bewegt, sehr bewegt geworden. Er sah sie bittend, liebend an. Er liebte sie. Sein Blick, der Ton seiner Stimme, sein ganzes Wesen zeigte es.
Und sie? Hatte nicht ihr Schluchzen auf die Frage der stolzen Baronin: »Luise, Sie lieben ihn noch –« die unzweideutigste Antwort gegeben, wie sehr sie liebe?
Seine Worte hatten sie tief ergriffen und erschüttert. Dennoch gewann sie ihre Ruhe und Klarheit wieder.
»Herr Baron« sagte sie, »ich glaube jedes Ihrer Worte; darum bin ich auch Ihnen eine Erklärung schuldig. Es war nicht Eigensinn, nicht Trotz, wenn ich die Hand ausschlug, die Sie mir anboten Aber Sie haben diese einer Beschimpften angeboten, einer durch Sie und für immer Beschimpften. Nicht Ihre Hand, nicht Ihr Name, nicht Ihr Adel, nichts kann diesen Schimpf von mir nehmen, und mit ihm kann ich nie wieder in die Welt zurücktreten. Das ist der Grund meiner Weigerung.«
Auch der Mann vor ihr war wieder ruhiger geworden.
»Ich unterwerfe mich diesem Grunde,« sagte er. »Ich könnte Ihnen Manches darauf erwidern; ich könnte Ihnen ein entferntes Land, in einem andern Welttheile vorschlagen. Aber ich will durch nichts Aeußerliches auf Ihren Entschluß einwirken; er darf nur ein freier sein.«
»Ich ehre das,« erwiderte sie, »und kann um so klarer und reiner aus meinem Herzen das andere Wort aussprechen, um das Sie mich baten. Ich verzeihe Ihnen, Herr Baron, ich verzeihe Ihnen aus dem Grunde meines Herzens. Und –« Sie war wieder bewegt und weich geworden, und in dem bewegten weichen und liebenden Herzen war auf einmal ein fester, großer Entschluß gereift.
»Und,« fuhr sie fort, »ich werde noch in der heutigen Nacht dem Monarchen mein Begnadigungsgesuch für Sie einreichen.«
»Luise!« rief der erbleichende, der erbebende Mann.
Er hatte den Namen nicht mehr aussprechen wollen.
Der Blässe folgte eine glühende Röthe.
»Und das andere Wort, Luise?« rief er, »das erste?«
Sie schüttelte den Kopf und sagte: »nein!«
Da deckte wieder Leichenblässe sein Gesicht, er drohte in einander zu sinken.
»So lassen Sie auch jenes. Ich kehre in mein Gefängniß zurück und will darin sterben. Ohne Sie kann ich nicht leben.«
»Fritz!« rief Sie.
»Luise!« rief auch er, noch einmal hoffend.
Er sah nur in ein von Schmerz zerrissenes Gesicht.
»Ich kann nicht,« preßten die bleichen Lippen hervor, »ich bin eine Beschimpfte. Du, Du hast mich beschimpft, für immer.«
Er schwankte zu der Stube hinaus.
Die arme Frau sank zum zweiten Male erschöpft aus ihren Stuhl. Ihre Kraft war gebrochen: ein Strom von Thränen stürzte aus ihren Augen.
»Fritz, Fritz!« rief sie dann, und sie streckte beide Arme nach der Thür aus, durch die der Geliebte gegangen war.
»Es ist nicht möglich, ich konnte nicht!« sagte sie wieder und sie bedeckte mit beiden Händen das weinende Gesicht.
Aber dann mußte sie aufspringen in namenloser Angst in wilder Verzweiflung.
»Auch ich kann nicht mehr leben. Auch ich nicht ohne ihn. Ja, ich liebe ihn, ich habe immer nur ihn geliebt. Ich liebe ihn über Alles, über mein Leben. Ich muß, ich muß sterben. O komm, o komm, Tod. O, erlöse mich!«
Ihre Schwester kam zu ihr.
»Arme, arme Schwester, wie schwer leidest Du!«
Die beiden Schwestern weinten wieder mit einander.
Plötzlich wurden sie wieder durch ein Ereigniß von außen aus ihrem Schmerze aufgeschreckt.
»Horch, was ist das? Welch ein Brausen? Der Sturm wüthet ärger; das ist eine schreckliche Nacht.«
»Das ist kein Sturm, Luise.«
»Was sollte es anders sein?«
»Das ist – das ist der Tod.«
»O, wäre er es! Wäre es der Erlöser!«