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Es herrschte die volle Stille und Dunkelheit der Nacht.
Auch das Schloß lag still und dunkel da. Kein Fenster in dem großen schönen Gebäude war erleuchtet; kein Laut drang aus seinem Innern heraus. Eben so lautlos und tief finster war es rund umher, auf dem weitläufigen Hofe, in dem Parke, der unmittelbar hinter dem Schlosse nach allen Seiten sich weit ausdehnte. Nur an einer einzigen Stelle sah man Leben und Bewegung.
Ein Nebenpförtchen an der Rückseite des Schlosses führte vermittelst einer kleinen schmalen Freitreppe in den Park.
Oben auf der Freitreppe stand eine Mannesgestalt. Der Mann hatte sich an den Pfosten der Thür, fast in die Thür, hineingedrückt. So konnte, wer auch nahe vorbeikam, ihn in der Dunkelheit nicht gewahren. Er stand wie auf Wache, er wartete auf etwas. Er war zuletzt ungeduldig geworden. Da bewegte er sich, aber vorsichtig, leise, unhörbar. Er lauschte durch die Thür nach innen; er bog den Kopf vor, um oben nach einem Fenster hinauf zu sehen.
Die Fenster blieben dunkel. Aber im Innern des Gebäudes mußte er etwas gehört haben. Er trat einen Schritt weit aus der Thüre heraus.
Im Augenblicke nachher hörte man in der Thür sich leise einen Schlüssel drehen.
Der Mann trat zu ihr zurück.
»Amalie!« flüsterte er.
Die Thür wurde von innen geöffnet.
Eine Frauengestalt trat hervor, schnell, rasch, eilig.
»Endlich!« sagte sie.
Sie ergriff die Hand des Mannes. Sie wollte mit ihm die Stufen der Treppe hinunter eilen.
»Einen Augenblick!« sagte leise der Mann.
Sie stand.
Er wandte sich nach der Thür zurück, die offen geblieben war. Er zog sie zu, er verschloß sie; den Schlüssel steckte er zu sich.
»Wozu die Vorsicht?« fragte die Frau.
»Wir sind um so sicherer.«
»Sicher?« rief die Frau. »Ich bin frei. Endlich, endlich! Und nun fort! Fort für immer! Für alle Zeit!«
Sie rief es laut.
Wenn das Herz jubelt und aufjauchzen muß, dann kann der Mund nicht leise reden. Sie umschlang den Mann, sie flog mit ihm die Treppe hinunter. Sie eilten in ein Bosket, das wenige Schritte vor ihnen sich ausbreitete. Zwischen den Bäumen und Gesträuchen machte die Frau Halt. Sie zog ein Kästchen hervor. Sie übergab es dem Mann.
»Hier, Max. Verwahre es wohl.«
»Was ist darin, Amalie«?«
»Unser Vermögen. Nein, Deines. Es gehört ja Alles Dir. Es ist eine halbe Million, in Banknoten, in Juwelen.«
»Amalie!« sagte der Mann zweifelnd, ungewiß. Ihre großen dunkeln Augen blitzten durch das Dunkel der Nacht.
»Du hältst mich für eine Diebin?« rief sie stolz. »Es ist Alles mein! Noch mehr gehörte mir.«
Der Mann steckte das Kästchen zu sich.
»Verzeihe mir, Amalie.«
Er wollte weiter. Jetzt hielt sie ihn auf.
»Halt, Max! Drei Worte vorher. Liebst Du mich?«
»Amalie!« sagte der Mann wieder, aber vorwurfsvoll
»Du hast Recht, Max,« rief sie. »Aber wirst Du mich immer lieben? – Antworte noch nicht. Schwöre nicht! Du willst es, Du sollst es! Du sollst mir schwören, daß Du mich immer lieben, daß Du mich nie und nimmer verlassen willst, es möge kommen und geschehen was wolle, oder Du sollst –. Doch vorher höre mir zu! Erst dann will ich Deinen Schwur oder, Max, Deine That.«
Sie war in Aufregung, in Leidenschaft. Es war eine heftige, glühende Leidenschaft, aber es war auch etwas Großes, Hohes darin.
So fuhr sie fort:
»Ich liebe Dich, Max, wie nie wieder ein Weib Dich lieben kann. Ich mußte Dich so lieben, ich muß es immer und immer. Ich mußte Dein, Du mußtest mein sein, oder der Wahnsinn hätte mich erfassen müssen. Du bist mein, wir gehören einander. Ich mußte Abschied von allem Andern nehmen, das in diesem Leben mein war, dem ich angehöre – dem ich angehörte. Ich mußte es, denn nur Dir allein, nur Dir ganz wollte, konnte, mußte ich angehören. Ich habe den Abschied genommen, heute, so eben, in dieser Stunde, auch von meinem –. Ach, Max, es war ein schwerer Abschied, das Herz blutete mir – aber Du siehst mich an Deiner Seite voll Liebe, voll Glück in meiner Liebe. Aber auch in Deiner Liebe, Max. Könnte sie mir einmal fehlen, könnte sie erkalten, könnte ich Dir gleichgültig werden, könntest Du mich verlassen – Max, wie ich jetzt wahnsinnig werden könnte vor Glück, vor Liebe, vor Seligkeit, so würde dann der furchtbarste Wahnsinn des furchtbarsten Elends, die Raserei der Verzweiflung mich ergreifen. Und nun schwöre mir, Max, schwöre mir Liebe, Treue, schwöre mir, daß Dein Herz mich lieben soll bis zum Tode, über den Tod hinaus, über Deinen, über meinen Tod. Und kannst Du es nicht schwören, kannst Du dem eigenen Herzen nicht vertrauen, ist es Dir Wahnsinn, jetzt schon Raserei der Liebe, was ich von Dir fordere, dann – hier, nimm dies, stoße mich nieder, stoße mit dem Herzen, das mich noch liebt, mir das Messer in das Herz, das immer und ewig nur Dich, nur Dich allein lieben kann. Laß mich jetzt sterben, da Du mich noch liebst, in Deinen Armen, an Deinem Herzen. Und nun wähle, Max! Aber prüfe Dich, schwöre nicht falsch – o, tausendmal lieber tödte mich.«
Sie hatte einen Dolch hervor gezogen; sie wollte ihn seinen Händen aufdringen. Ihre Augen flammten, ihr Gesicht war bleich, ihr Busen wogte. Aber kein Weib konnte schöner sein, als sie es war, in oder trotz dieser Aufregung und Leidenschaft. So leuchtete sie wie ein wunderbares Bild der Schönheit in der dunklen Nacht. Und an dem schönen Weibe hingen trunken die Blicke des jungen Mannes.
»Behalte den Dolch, Amalie,« sagte er. »Ich schwäre Dir, was Du verlangtest. Liebe und Treue bis zum Tode, über den Tod hinaus, so wahr Gott meiner Seele gnädig sein wolle.«
»Und so sei Gott Deiner Seele gnädig!« sprach sie feierlich.
Dann ergriff die Gluth der Leidenschaft sie wieder.
»Mensch, Mensch, wie liebe ich Dich! So hat nie ein Weib einen Mann geliebt! So kann nie wieder ein Weib lieben!«
Sie schlang ihre beiden Arme um seinen Nacken, sie preßte ihn an sich, ihre Lippen auf seinen Mund. Und der junge Mann umschlang sie, das hohe, schlanke und doch so üppige, schöne Weib, und seine Lippen brannte auf den ihrigen.
»Und nun fort!« rief sie dann. »Wir gehören uns für unser Leben. Uns kann nichts mehr trennen.«
Sie sprach es ruhig, groß, edel. Konnte dieses Weib mit der wilden, unbändigen Leidenschaft edel sein?
Sie eilten weiter in den Park hinein. Der junge Mann machte den Führer. Er suchte verborgene, zwischen Spalieren sich windende, durch Gebüsche sich schlängende Pfade auf. Er war aufmerksam auf Alles. Sie mußten Gefahr befürchten. Sie sprachen nicht davon.
Sie eilten in Stille und Dunkel der Nacht durch den weiten Park. Sie kamen an das Ende des Parks. Eine Hecke umschloß ihn. Sie gingen an ihr entlang. Hinten, wo sie sich bog, war ein Pförtchen. Nach dem Pförtchen lenkten sie ihre Schritte. Sie gingen langsamer, leiser, vorsichtiger. An den Park gränzte die kleine Stadt. Unmittelbar jenseits der Hecke lief ein Weg, der um den ehemaligen Stadtwall führte. Der Wall war schon vor Jahren abgetragen und mit den Gärten vereinigt, die zu den äußersten Häusern der Stadt gehörten. In dem Wege jenseits der Hecke konnten Menschen sein. In den Gärten konnte noch waches Leben herrschen. Die Mitternacht war zwar vorüber, aber es war eine warme, würzig duftende Frühlingsnacht. In einigen Häusern sah man noch Licht.
Nach einem der Lichter zeigte die Frau. »Das Haus Deiner Mutter, Max!«
»Und, Amalie, die Wiege unserer Liebe!«
»Von dort aus sahst Du mich zum ersten Male.«
»Und ich liebte Dich, wie ich Dich sah.«
»Und auch ich hatte Dich gesehen, und Dein Bild, Deine edle Gestalt, Deine Augen voll Muth, voll Treue, voll ächter Manneskraft, das Alles erfüllte mein Herz, meine ganze Seele, war seitdem mein Wachen, mein Träumen, mein Leben.«
»War es anders mit mir, Amalie?«
»Und ich mußte Dein werden, Max, von dem Augenblicke an. Das stand fest in meiner Seele. Und ein Anderes war plötzlich auf einmal klar in mir geworden. Ich war bisher nur unglücklich gewesen, tief, schwer unglücklich, aber das Schmachvolle meiner Fesseln hatte ich nicht gefühlt. Auch das, das allein, stand auf einmal vor mir, brennend, mit Flammenzügen mich verzehrend. Ich fühlte die wildeste Gluth der Scham in meinem Gesichte brennen. Ich konnte vor Deinem edlen Bilde die Augen nicht aufschlagen. Aber ich mußte sie doch wieder zu Dir erheben. Deine hohe Gestalt, Dein blitzender Muth, Deine Mannesehre, die aus Deinem ganzen Wesen sprach, sie richteten in dem Augenblicke, da sie mich niederdrückten, zugleich mich wunderbar wieder auf, und mit anderen Flammenzügen stand es auf einmal wieder in meinem Herzen geschrieben: nur er, nur er kann mich aus dieser Schmach befreien, und er muß, er wird es, wenn ich nicht im Wahnsinn mir den Dolch in die Brust stoßen soll. Und Du hast mich befreit, gerettet, die Entehrte, Verworfene!«
»Die Entehrte? die Verworfene?« sagte der junge Mann. »Was macht Dich so ungerecht gegen Dich, Amalie. Du warst die Gattin eines Verworfenen. Konnte das Dich verworfen machen? Dich, Reine, Edle –«?«
In der schönen Frau zuckte plötzlich etwas heftig auf.
»Max!« rief sie. Aber als sie mehr sagen wollte, zitterte ihre Stimme, und sie mußte nach ihrem Herzen greifen, als wenn ein furchtbarer Schmerz es ihr zersprengen wollte. In ihren Augen standen Thränen. Ihr Schritt war langsamer geworden. Sie mußte ihn ganz hemmen. Sie nahm sanft die Hand des jungen Mannes; sie legte sich weich an seine Brust und sagte mit ruhiger, klarer, inniger Stimme:
»Nicht wahr, Du theurer Mann, ich bin Dein und Du bist mein und so soll es immer bleiben?«
Und der junge Mann drückte fast feierlich einen Kuß auf ihre Stirn und erwiederte ihr fest und treu: »So ist es, Amalie, und so soll es bleiben, immer und immer.
Sie blieb ruhig. Er wurde stiller und glücklicher an ihrer Seite. So gingen sie weiter. Er sollte noch glücklicher werden.
Sie waren nur noch wenige Schritte von dem Pförtchen entfernt, durch das sie den Park verlassen mußten. Sie waren gerade dem Hause gegenüber, nach dem vorhin die Frau gezeigt hatte, als dem Hause der Mutter des jungen Mannes. Sie konnten es noch deutlicher sehen. Nur ein einziges Fenster war darin und nur schwach erhellt.
Nach dem Fenster richtete die Frau wieder ihren Blick.
»Deine Mutter schläft dort, Max?« fragte sie ihren Begleiter.
»Es ist das Stübchen meiner Schwester,« antwortete der junge Mann. »Und –« wollte er fortfahren, aber er brach ab.
»Und sie schläft nicht, Max?« sagte die Frau.
»Sie schläft nicht.«
»Aber sie arbeitet!«
»Sie arbeitet – für ihre Mutter.«
Der junge Mann sagte es wehmüthig und doch so stolz.
»Max!« sagte die Frau.
»Was wünschest Du, Amalie?«
»Ich leite die Scheidung gegen meinen Mann ein. Wir werden dann eheliche, treue Ehegatten werden«
»Wir werden es mit Gottes Hülfe werden, Amalie.«
»Wir sind reich; Du trägst eine halbe Million bei Dir. Wir suchen den schönsten Fleck der Erde auf, um uns darauf niederzulassen. Er soll uns zur Heimath der Liebe, des Glückes werden, und damit er das ganz werde, darf Deine Schwester nicht mehr arbeiten; und Deine Mutter auch nicht mehr. Sie werden uns folgen, sie werden bei uns leben.«
Auch die Augen des jungen Mannes waren feucht geworden. Er drückte warm die Hand der Frau. »Edles Herz!« rief er.
Edles Herz! – Durfte er es jenem wild leidenschaftlichen Herzen zurufen, der Frau, die sich ihm eine Entehrte, eine Verworfene genannt hatte? Aber hatte nicht jenes Herz auch so still, so weich, so klar werden können? Und hatte er nicht schon ihr sagen müssen, daß sie keine Verworfene ist, weil sie die Gattin eines Verworfenen sei? Aber hatte es dann nicht doch auf einmal so heftig in ihr aufgezuckt?
»Edles Herz!« rief er. Du denkst an sie, und Du hast Dein Kind, Dein einziges, Dein hülfloses Kind verlassen müssen, das jener Unmensch um Deinetwillen –«
Die Frau unterbrach ihn.
»Mache mir das Herz nicht schwer, Max.« Ihre Stimme zitterte doch wieder.
»Nein, nein,« rief er. »Aber muß ich Dir denn nicht sagen, daß Du das schwerste Opfer gebracht hast, das eine Frau bringen kann, das Opfer des Mutterherzens, und daß Du mir das Opfer gebracht hast, und daß mein Herz nie Dir dankbar genug dafür wird sein können?«
»Liebe mich nur, Max,« sagte die Frau. »Liebe mich nur immer mit Deinem braven treuen Herzen.«
»Und das werde ich.«
Sie hatte es wieder ruhig und innig gesprochen. So hatte er ihr geantwortet. Sie hatten sich an den Händen angefaßt. Hand in Hand gingen sie schweigend weiter. Der junge Mann war ganz glücklich in seiner Liebe zu dem schönen Weibe, das mit der vollen Gluth des kräftigen und edeln Herzens – hatte er ihr Herz anders als edel kennen gelernt? – ihn wieder liebte.
Und sie – ja auch ihr Herz war nur glücklich, selig, mit jener Kraft, mit jener Gluth konnte, mußte es so sein, trotz des Opfers, dessen Erinnerung auf einen Augenblick ihr Glück hatte trüben wollen.
Sie gingen, Hand in Hand, still, glücklich, weiter. Sie erreichten das Pförtchen. Sie machten Halt an ihm. Die Frau zog einen Schlüssel hervor. Der junge Mann nahm ihn, um das Pförtchen aufzuschließen.
Vorher spähte er durch das Gitter in den Weg auf der andern Seite. Es war Alles still dort. Es schien Alles sicher zu sein. Er wollte den Schlüssel in das Schloß des Pförtchens stecken. Aber der Schlüssel ging nicht hinein.
»Der Schlüssel paßt nicht,« sagte er zu der Frau.
»Aber es ist der rechte. Ich habe immer damit aufgeschlossen.«
Er versuchte den Schlüssel noch einmal. Es war noch einmal vergeblich. Sie nahm ihn. Auch ihr Versuch schlug fehl.
»Was ist das?«
Sie untersuchten das Schloß.
»Ach, es steckt ein Schlüssel darin – auf der andern Seite.«
»Mein Mann!« rief die Frau.
»Es wäre sein Schlüssel?« fragte der junge Mann.
»So kann es nur sein, und dann wäre er in der Nähe und –«
Sie hatte ihre Stimme gedämpft, sie schwieg ganz.
»Du erwartetest ihn vor zwei Uhr Morgens nicht zurück,« sagte der junge Mann.
»Er kommt nie früher.«
»Und wir haben noch nicht ein Uhr. Hätte ein Verdacht ihn früher zurückführen können?«
»Unmöglich – und doch, wer kann es wissen?«
»Warum hätte er dann den Schlüssel in der verschlossenen Thür zurückgelassen?«
»Auch ich begreife es nicht.«
»Kehren wir um,« sagte der junge Mann entschlossen.
»Wohin?«
»Nach der andern Seite des Parks. Ich kenne dort eine Oeffnung in der Hecke.«
»Aber wir sind dort weiter von der Gränze entfernt, und wenn mein Mann wirklich in der Nähe ist und wir verfolgt werden –«
»Gerade auf jener Seite wird er uns nicht vermuthen.«
Die Frau hatte keine Einwendungen mehr. Sie folgte dem jungen Manne. Sie war von der Hecke zurückgetreten. Sie horchten noch eine Weile nach ihr hin. Sie hörten nichts. Sie kehrten nach der Mitte des Parks zurück. Dann schlugen sie sich rechts einem kleinen Gehölze zu. Sie gingen eilig, sie sprachen im Gehen nur über das Nächste.
»Durch das Pförtchen hätten wir in gerader Richtung die Gränze gewinnen können; wir wären in zehn Minuten da gewesen«
»Und jetzt?« fragte die Frau.
»Müssen wir einen Umweg von fast einer halben Stunde machen. Aber wir haben den Vortheil, immer im Walde zu bleiben. Das Parkgehölz, in dem wir gehen, schließt sich unmittelbar an den Gränzwald an. Nur eine Hecke, vielmehr ein Zaun trennt sie.«
»Und in dem Zaun kennst Du eine Oeffnung?«
»Ich habe sie selbst gemacht, um unbemerkt in den Park und zu Dir kommen zu können. Sie ist kaum zu sehen. Zudem verdeckt ein Flieder sie, der dort unmittelbar an dem Zaune steht, und in der Nähe ist weder Weg noch Steg.«
»Wir wären also sicher?«
»Vollkommen. Du mußt nur länger und unbequemer in der finstern Nacht auf dem unebenen Waldboden gehen.«
»Dein Arm wird mich desto länger und sicherer stützen.«
Sie lächelte ihm freundlich zu. Sie legte schon jetzt ihren Arm fester in den seinigen. Er drückte ihre Hand. Sie waren Beide wieder ruhig; sie waren nur einen Augenblick besorgt gewesen. Sie erreichten den Zaun des Parks. Sie sahen an dem Zaun einen Flieder vor sich. Er blühte schon. Die weißen Blüthen leuchteten ihnen hell durch die Nacht entgegen. Sie waren das Einzige, was in der doppelten Dunkelheit der Nacht und des Waldes zu unterscheiden war. Die tiefste Stille herrschte in dieser Dunkelheit, an dem abgelegenen, von Weg und Steg entfernten Orte. Es konnte Einem unheimlich werden, in der Dunkelheit, in der Stille, in der Abgelegenheit.
»Sind wir hier ganz sicher?« fragte die Frau.
»Vollkommen,« wiederholte der junge Mann. »Ich bin hier noch nie einem Menschen begegnet.«
Sie gingen auf den weißen Flieder zu. Sie erreichten ihn. Sie blieben an ihm stehen. Sie horchten. Die tiefste Stille blieb um sie her. Es war wie eine Todtenstille.
»Komm,« sagte der junge Mann.
Er flüsterte es doch unwillkürlich leise, kaum hörbar. Sie gingen an dem Flieder vorüber. Sie standen vor einer schmalen Oeffung in dem Zaune.
»Du zitterst, Amalie,« sagte der junge Mann zu seiner Begleiterin.
»Nein,« erwiederte sie.
Sie zitterte doch.
»Einen Augenblick,« sagte er.
»Was willst Du?«
»Ich will nachsehen, ob drüben Alles sicher ist.«
Sie hielt ihn nicht zurück. Der Zaun war hoch und dicht. Um zu sehen, ob es auf der andern Seite sicher sei, mußte der junge Mann in, durch die Oeffnung treten. Er trat in sie. Er erhob den Fuß, um weiter zu gehen, einen halben Schritt nur. Er wurde zurückgehalten.
Eine derbe, kräftige Faust hatte ihn an der Brust ergriffen. Eine breite Riesengestalt stand vor ihm.
»Halt!« rief der Mensch.
»Mein Mann!« taumelte die Frau zurück.
Der junge Mann lag am Boden. Die kräftige, derbe Faust hatte ihn in die Höhe gehoben, fast wie ein Spielwerk, in der Luft ihn geschüttelt, ihn dann gewaltsam niedergeworfen. Auf den Niedergeworfenen setzte der Angreifer seinen Fuß. Auf seiner Brust kniete er dann nieder. Die ganze Last seines schweren Körpers drückte auf den jungen Mann, benahm ihm Athem, Kraft, fast das Bewußtsein.
Der Angreifer lachte höhnisch über ihm, blickte hämischer zu der leichenblassen Frau hinüber, die in der vollen Bewußtlosigkeit des plötzlichen Entsetzens da stand, an den schwachen Zweigen des Flieders ihre schwankende Gestalt zu halten suchte.
»Ha,« lachte der Mensch – der Gatte der schönen, leichenblassen Frau, – »da habe ich Euch ja doch gefangen. Die Falschheit sieht scharf, die Hinterlist kann mit ihren Augen die Nacht durchbohren, aber die Eifersucht sieht schärfer und weiter als beide. Ihr sollt mir nicht entgehen. Und damit Ihr es ferner nicht könnt, komm her, Metze, und sieh', wie ein nichtswürdiger Buhle seinen Lohn empfängt.«
Er hatte ein Messer in der Hand; er hielt es hoch empor, um es der Frau zu zeigen, und es dann in das Herz des Buhlen zu stoßen. Er war ein häßlicher Mensch, der Gatte der schönen, leichenblassen Frau. Groß und breit wie sein Körper, war auch das plumpe, gemeine, von Wein, Zorn und wilder Lust hochgeröthete Gesicht. Die wilde Lust war Mordlust. Mit ihr kniete er auf seinem Opfer. Der junge Mann unter ihm konnte sich nicht rühren. Der Last und der Kraft des Menschen, der auf ihm lag, waren seine plötzlich überwältigten und gelähmten Kräfte nicht gewachsen. Der Gedanke eines Widerstandes wäre der Gedanke der Ohnmacht, der Verzweiflung der Ohnmacht gewesen.
»Komm heran, Weib, Metze!« rief noch einmal, befahl der mordlustige Mann, freilich auch der beleidigte Gatte.
Und die Frau gehorchte. Sie kam heran, aber sie flog. Sie war noch leichenblaß, aber ihre Augen blitzten.
Sie gehorchte dem entsetzlichen Menschen, aber in der Hand den Dolch, den ihr vorhin der geliebte Mann ihres Herzens hatte in die Brust stoßen sollen. Sie hatte ihn aus dem Busen hervorgerissen. Er blinkte in ihrer Hand, blitzender, als ihre Augen. Mit ihm kam, flog, stürzte sie heran, warf sich auf den Mörder des Geliebten.
Und er blitzte nicht mehr in ihrer Hand.
Er steckte in dem Herzen des Mörders, des Gatten.
Sie riß ihn wieder heraus und er blinkte wieder, aber von dunkelrothem Blute, und dunkelrothes Blut spritzte hoch empor aus dem Herzen, in das er hineingestoßen war.
Der hatte morden wollen, er war selbst gemordet.
Der Ermordete sank ohne einen Laut neben dem nieder, den er hatte ermorden wollen.
Die Mörderin aber rief : »Mörder, da hast Du Deinen Lohn!«
Dann sprach sie zu dem Geliebten: »Stehe auf, Max. Gehen wir weiter.«
Der junge Mann erhob sich.
»Wohin?« fragte er. »Wohin?« sagte sie.
Ihre Augen blitzten nicht mehr. Ihr Gesicht war noch tiefblaß, aber es hatte feste Züge. Es glich einem schneeweißen Marmorgesichte. Mit den festen Zügen, mit dem ruhigen Ausdruck blickte sie auf den Ermordeten. Mit fester, ruhiger Stimme sprach sie dann zu dem Geliebten:
»Sieh' nach ihm, Max, ob er todt ist.«
Der junge Mann bückte sich nieder zu dem Gemordeten.
»Er ist todt,« sagte er.
»Wohl, Max, so beantworte mir zwei Fragen.
»Frage, Amalie.«
»Von welcher Hand ist er gefallen?«
»Amalie, Du hast mir das Leben gerettet.«
»Beantworte meine Frage. Wer hat den Mann da gemordet?«
»Amalie, es war kein Mord. Es war Nothwehr. Kein Richter in der Welt kann es anders beurtheilen, Dein eigenes Gewissen nicht.«
»Max, Max, Du kannst meine Frage nicht beantworten. Giebt es eine deutlichere Antwort, daß ich Mörderin bin? Und nun antworte mir auf meine zweite Frage, aber offen, offener, bei Deiner Ehre, bei Deiner Seligkeit. Kannst Du die Mörderin, die Mörderin ihres Gatten noch lieben, Max? Kann sie noch Deine Gattin werden?«
Auch der junge Mann war ruhig geworden.
»Sieh' mir in das Auge, Amalie,« sagte er. Die Sterne des Nachthimmels lassen Dich darin lesen. Was siehst, was liest Du in ihnen? Siehst Du ein einziges anderes Gefühl, einen einzigen anderen Gedanken darin, als die treueste, innigste, dankbarste Liebe des Mannes, der Dir jetzt Alles zu danken hat, dem Du das Leben gerettet hast, für dessen Leben Du Dein eigenes Leben wagtest, mehr als Dein Leben einsetztest? Du scheutest einen Mord nicht, um mich zu retten. Du nahmst ihn auf Dich, aus Liebe zu mir. Du wolltest ihn auf Dich nehmen. Denn ich wiederhole es Dir, Amalie, das ist kein Mord hier. Gegen einen Mörder übt man nur Nothwehr aus. Kein Gesetz in der Welt bestimmt es anders. Du bist keine Mörderin, aber Du bist meine Retterin, an die mich jetzt, wenn es möglich wäre, noch festere, noch unauflöslichere Bande fesseln. Liest Du es in meinen Augen, Amalie, was meine Worte zu Dir sprechen?«
Er sah sie mit voller Liebe an. Sie las in seinen Augen die volle Liebe. Sie reichte ihm die Hand.
»Du liebst mich, Max,« sagte sie. »Und so gehen wir.«
»Wohin?« fragte er noch einmal.
»Zum Schlosse zurück.«
»Wie?«
»Führe mich. Gieb mir Deinen Arm. Ich bin das schwache Weib und Du bist der starke Mann. Meine Kräfte wollen mich verlassen. Hier bleiben dürfen wir nicht. Führe mich, auf dem Wege erkläre ich Dir Alles.«
»Und der Todte?« fragte der junge Mann.
»Er muß bleiben, wie er da liegt, ganz so.«
Sie nahm seinen Arm. Sie mußte sich fest darauf stützen. So kehrten sie in das Innere des Parkes, zu dem Schlosse zurück. Den Todten ließen sie liegen, wie er da lag. Sie gingen zurück durch die Dunkelheit und Stille der Nacht und des Waldes. Im Gehen sprach die Frau:
»Ich handelte im Stande der Nothwehr, Max, sagst Du? Ist es Deine wahre Ueberzeugung?«
»Bei Gott, Amalie. Hätte ich anders gehandelt, hätte ich anders handeln können, wenn Dein Leben so bedroht gewesen wäre? Hättest Du anders handeln dürfen, wenn Jemand das Leben Deines Kindes so bedroht hätte?«
»Aber wir waren im Unrechte gegen ihn, Max. Ich war seine Gattin.«
»Und gab unser Unrecht ihm das Recht, mich zu tödten?«
»Gab sein Unrecht mir das Recht?«
»Er war der Angreifer; nicht Du, nicht ich haben ihn angegriffen. Du hast nur seinen Angriff abgewehrt, den Angriff gegen mich, den Wehrlosen. Du thatest nur, was ich gethan hätte, was ich für mich hätte thun dürfen, thun müssen, wenn mir dazu die Kräfte zu Gebote gestanden hätten. Und was das Mittel der Abwehr betrifft, gab es in unserer Nähe ein anderes? Kein Gesetz verordnet anders, kein Richter kann anders entscheiden.«
»Du magst Recht darin haben, Max,« sagte die Frau. »Ich kenne Eure Gesetze und Eure Gerichte nicht. Aber ich habe doch nun einmal einem Menschen das Leben genommen, und es war mein eigener Gatte, der Vater meines Kindes. Und in meinem Innern spricht laut eine Stimme, lauter als die Stimme aller Eurer Gesetze und Gerichte sein kann, daß ich ein schweres, ein blutiges Unrecht gethan habe.«
»Es ist die Aufregung des Augenblicks, Amalie, der ungewohnte Anblick des Blutes. Es zeugt von der Bravheit Deines Herzens, von der Reinheit, von der Aengstlichkeit Deines Gewissens. Aber wo nicht einmal die Welt verdammen kann, da wird, da muß auch Dein Herz, Dein Gewissen Dich wieder frei sprechen.«
»Ich will Dir auch das zugeben,« sagte die Frau. »Aber höre mir weiter zu, Max. Worauf soll, worauf muß die Welt ihr Urtheil über uns gründen? Der Todte dort wird gefunden werden. Was werden die Gerichte thun, wenn sie den Leichnam finden? Werden sie nicht einen Mord annehmen und zu allererst nach dem Mörder forschen?«
»Gewiß.«
»Und wenn wir Beide nun auf einmal verschwunden sind, und wenn die Zeit des Mordes zusammentrifft mit der Zeit unseres Verschwindens, was wird man dann annehmen? Wird man uns nicht für die Mörder halten?«
»Amalie –«
»Wird man oder wird man nicht?«
»Man wird.«
»Und was wird man dann weiter thun?«
»Man würde uns mit Steckbriefen verfolgen, uns nachsetzen –«
»Und uns einholen und als Verbrecher, als Mörder zurückbringen, Max, oder auch nicht einholen, nicht zurückbringen, aber in beiden Fällen uns als die Mörder verurtheilen und verdammen. Meinst Du nicht, Max?«
»In beiden Fällen, Amalie?«
»Zweifelst Du in der That daran, Max? Nimm an, Du seiest in dieser Sache der Richter, Du solltest urtheilen über das angeklagte Paar, über die Frau, die mit ihrem halben Vermögen heimlich dem Manne entlaufen ist, über den jungen Mann, der mit ihr durchgegangen, in die weite Welt geflohen ist, Ehre, Stellung, Verwandte, Freunde, Alles verlassend. Du hättest als Richter das Paar mit Steckbriefen verfolgen lassen, sie wären in dem Momente ergriffen, als sie auf einem Schiffe Europa verlassen wollten, um für immer dem Arme der Gerechtigkeit sich zu entziehen. Sie werden vor Dich geführt. Sie können, sie wollen nicht leugnen, den Mann umgebracht zu haben; aber Verbrecher, Mörder wollen sie nicht sein. Der Todte war der Verbrecher; er wollte sie morden. Sie wehrten sich nur gegen ihn. Sie mußten es; sie waren im Stande der Nothwehr. Sie, Zwei gegen den Einen! – ›Haben Sie Beweise?‹ würde der Richter uns fragen. Hätten wir Beweise, Max? – Du hast keine Antwort. Jetzt schon nicht?«
Der junge Mann hatte keine Antwort.
Die Frau fuhr fort:
»So laß uns annehmen, wir werden nicht gefangen, nicht zurückgeführt, nicht vor den Richter gestellt. Wie steht dann unsere Sache? Wird dann nicht die Welt uns erst recht verdammen? Wir wären fort, meinst Du vielleicht? Aber ist nicht Deine theure, alte, kranke Mutter hier? Ist nicht Deine Schwester hier, das edle Kind, die die Nächte durch arbeitet für die kranke, alte Mutter? Und, Max, werden nicht auch sie uns verdammen müssen, den eigenen Sohn und Bruder, wie sehr er ihre Freude, ihr Stolz, ihr Alles war? Wir wollten ihnen eine glückliche Zukunft bereiten, sie sollten uns folgen; werden sie je mit Mördern Gemeinschaft haben können?«
Der junge Mann hatte wieder keine Antwort.
Die Frau aber war immer klarer, sicherer und muthiger geworden, und so sprach sie weiter:
»Max, ich liebe Dich über Alles. Ich liebe mit Dir, in Dir Deine theuren Verwandten, Deine Ehre, Deinen edlen Namen. Für meine Liebe ist mir kein Opfer zu schwer. Auch Du liebst mich. Kannst auch Du Deiner Liebe ein Opfer bringen?«
»Der Liebe zu Dir, jedes,« sagte der junge Mann. »Fordere.«
»Ich kehre in das Schloß zurück. Ich war nur eine Stunde fort. Alles schlief, als ich ging. Sie schlafen noch. Niemand sah mich gehen. Niemand wird mich zurückkommen sehen. Niemand kann ahnen, daß ich fort war. – Weiß Jemand, daß Du hier bei mir bist?«
»Kein Mensch in der Welt.«
»Und kein Mensch in der Welt weiß, oder hat nur eine Ahnung davon, daß wir uns kennen, daß wir nur ein einziges Mal uns gesehen haben. Nur der Todte hatte den Verdacht, und er hatte Recht, die Eifersucht sieht schärfer, als jedes andere Auge. So thut nur noch Eines Noth: es darf auch ferner Niemand wissen, Niemand ahnen, daß wir uns jemals gesehen haben. Wir müssen uns trennen. Das ist das Opfer, das wir bringen müssen. Ich bleibe als Wittwe hier. Du kehrst nach drei Tagen, wenn Dein Urlaub abgelaufen ist, in Deine Garnison zurück. Dein Name kommt nicht über meine, der meinige nicht über Deine Lippen.«
Sie machte eine Pause. Es schien ihr schwer zu werden, das auszusprechen, was sie weiter zu sagen hatte.
»Und dann, Amalie?« fragte der junge Mann.
Sie faßte sich ein Herz.
»Und dann, Max, sehen wir uns in diesem Leben nicht wieder.«
»Amalie!«
»Es muß so sein!«
»Und Du liebst mich? Und Du fragtest mich, ob ich Dich noch liebe, ob Du noch meine Gattin werden könntest?«
»Ja, ich liebe Dich, und ich fragte Dich so. Und gerade darum muß es so sein, wie ich es aussprach. Ich bin keine Mörderin, sagtest Du. Ich habe nur im Stande der Nothwehr für Dich, für die Rettung Deines Lebens gehandelt! Ja, es ist so, und darum bleibe ich hier, und von Dir und von mir soll kein Mensch etwas erfahren. Wäre ich eine Mörderin, meinst Du, ich könnte mit dem Bewußtsein des schwersten Verbrechens noch eine einzige glückliche Stunde meines Lebens haben? Selbst an Deiner Seite, an der Seite des Mannes, den ich über Alles liebe, von dem ich in jeder Stunde denken müßte: jetzt bin ich ihm die gemeine, dem Henker verfallene Mörderin, die er ohne Abscheu, ohne Grauen nicht mehr ansehen kann. Wäre ich eine Mörderin, Max, mein Weg könnte nur ein einziger sein, er ginge von hier zum Gerichte, um mich als die Mörderin zu stellen, den Schein der Mitschuld von Dir abzuwälzen und mich dem Beile des Henkers zu überliefern.
Aber ich habe den Mann nicht mit kaltem Blute erschlagen; ich bin keine gemeine Mörderin, Du hast Recht, und auch ich fühle es jetzt, daß ich jenes entsetzliche Beil des Henkers nicht verdient habe. O, ich habe ja so viel, so schwer und so lange tragen, leiden und dulden müssen, und so Schmachvolles, und nun wollte er Dich mir rauben, Dein schönes edles Leben –. Nein, nein, ich habe jenes Beil nicht verdient, ich habe zu viel gelitten und erduldet, als daß ich der Gerechtigkeit der Menschen und ihrer Gesetze noch verfallen müßte. Aber etwas Anderes habe ich verdient, haben wir Beide verdient, und wir Beide müssen es auf uns nehmen. Ich habe freiwillig meinem Gatten, dem Vater meines Kindes das Leben genommen, und wir Beide haben durch Verrath an an ihm uns in die Lage gebracht, daß ich so handeln mußte. Dafür müssen wir eine Buße auf uns nehmen. Und diese Buße kann nur sein, daß wir unserer Liebe jenes Opfer bringen, daß ich von Dir fordere; wir müssen unsere Liebe selbst zum Opfer bringen. Nein, nicht unsere Liebe, aber das Glück der Liebe. Wir lieben uns, wie wir uns je geliebt haben. Du hältst mich noch würdig, Deine Gattin zu werden. Und ich – o Max, Du bist und bleibst mir der treueste, der beste, der edelste Mensch, den ich kenne. Aber wir müssen uns trennen, trennen für immer, für dieses Leben. Unser Glück sei jenes Bewußtsein unserer gegenseitigen reinen, treuen Liebe; aber auch unser Opfer selbst sei es, unser Muth, unsere Kraft, daß wir eine solche Buße auf uns nehmen konnten. – Weißt Du Besseres, mein armer Max?«
Die Frau fragte das doch mit gebrochener Stimme. Sie hatte einen großen Entschluß gefaßt. Sie hatte ihn gefaßt mit ihrem ganzen glühenden, aber wahrhaftig edeln Herzen. Er hatte sie gehoben. Aber wenn ihr auch die volle Kraft ihres Innern blieb, die äußeren Kräfte wollten ihr versagen.
Und der junge Mann? »Armer Max!« hatte die Frau zu ihm sagen müssen. Und auch Besseres wußte er nicht.
»Es ist ein großes Unglück über uns herein gebrochen, Amalie,« sagte er. »Aber wir selbst haben es mit frevelnder Hand über unsere Häupter beschworen. So müssen wir es tragen, so müssen wir büßen.«
»O Du theurer, Du edler Mann!« rief die weinende Frau.
Aber sie mußten sich trennen. Sie hatten das Schloß wieder erreicht. Sie trocknete ihre Thränen. Sie hatte wieder die Besonnenheit ihres großen Entschlusses.
»Wir müssen hier scheiden, Max,« sagte sie. »Es wird eine strenge Untersuchung der Gerichte eingeleitet werden. Da muß Alles sein, wie es war. Nichts darf vermißt werden. Gieb mir die beiden Schlüssel, gieb mir auch das Kästchen zurück«
Er gab ihr Alles.
»Und nun lebe wohl, Mann meiner Seele. Umarme mich nicht. Aber Deine Hand lege noch einmal in die meine, in die blutige. Lebe wohl, Max.«
Ihre Stimme versagte ihr. Wie mußte ihr das Herz bluten! Sie riß ihre Hand aus der seinigen. Sie stürzte zu dem Schlosse, vor dem sie standen.
»Amalie, Amalie!« rief er ihr nach. »Lebe wohl, Du geliebtes Weib!«
Sie hatte die kleine Freitreppe erreicht. Sie schloß leise die Thür auf. Sie verschwand durch sie. Sie schloß sie fast unhörbar hinter sich zu.
Der junge Mann stand allein. Um ihn her war noch die volle Dunkelheit und Stille der Nacht. Auch in dem Schlosse hörte und sah man nichts. – Er wartete noch eine Weile. Es blieb still und dunkel um ihn, auch im Schlosse. Nur oben über der kleinen Treppe schien hinter einem Fenster sich etwas zu bewegen. Es war das Fenster, zu dem der junge Mann ungeduldig hinaufgeblickt hatte, als er auf das Erscheinen der schönen Frau wartete. Es schien ein weißes Gesicht zu sein, was sich dort bewegte. Es schien dem jungen Manne zuzuwinken, als wolle sie ihm sagen, daß Alles sicher und in Ordnung sei.
Der junge Mann ging auf das nahe Bosket zu. Er verschwand nach wenigen Schritten darin.
Niemand hatte ihn gesehen.
Der junge Offizier stand an der Hecke des Parkes.
Es war nicht in jener Gegend, in der er mit der Geliebten hatte durch das Pförtchen entfliehen wollen. Es war auch nicht an der andern Stelle, an der die Geliebte, um ihm das Leben zu retten, dem eigenen Manne das Leben genommen hatte. Fern von beiden Gegenden hatte er den Platz ausgesucht, an dem er den Park verlassen wollte.
Er wandte sich noch einmal um, nach der Richtung, in welcher das Schloß lag, von dem er kam. Seine Augen konnten es in der Dunkelheit der Nacht und in der Entfernung nicht sehen. Seine Liebe sah es desto deutlicher; sie war mitten darin.
»Welch' ein großes, welch' ein edles Herz! Das Unglück drückte sie nicht nieder. Es konnte sie nur erheben. Das Unglück? War es denn nicht ein Verbrechen? Ein Mord? Nein, nein! Es war nur ein großes, ein entsetzliches Unglück. Aber wir haben es selbst heraufbeschworen! War nicht das ein Verbrechen? Aber es war kein Mord. Jener Tod ist nur ein Unglück. Hatte denn Einer von uns an Blut, an Widerstand gedacht? Hatte ich sie aufgefordert, ihren Gatten zu tödten, um mich von ihm zu befreien? Und kann ihre Angst, ihr Schreck ihre Verzweiflung, als sie mich unter den Mörderhänden sah, ihr zum Verbrechen angerechnet werden? Nein, nein und immer nein! Wir sind keine Verbrecher. Und das Unglück? Müssen wir denn für unser ganzes Leben daran tragen? Auch sie, auch sie? Ach, wie sie mich liebt! Und ich sie! Und wir sollten für immer unglücklich werden? Wir sollten uns nie wieder sehen dürfen? Das Verbrechen, die Schuld, kann keine Zeit auslöschen. Aber das Unglück kann, muß sie mit sich nehmen, und den tiefsten Schmerz kann und muß sie heilen. Nie sollten wir uns wieder sehen? Mit aller dieser Liebe in unseren Herzen nicht? O, es war ein großer, ein edler Entschluß, der Entschluß eines erhabensten Herzens, das von dem Unglücke getragen, gehoben wird. Aber das Unglück muß ja in der Zeit verschwinden, und dann –. Nein, nein, wir sind keine Verbrecher, keine Mörder! – Lebe wohl, Du Weib meines Herzens, lebe wohl. Wir sehen uns wieder!«
Er wandte sich zu der Hecke zurück. Er war mit einem Satze hinüber. Er war ein kräftiger, gewandter junger Mann.
Er war auf einem offenen Felde. Er durchschritt es. Er kam an ein kleines Gebüsch. Er ging daran vorüber. Er gelangte in einen Feldweg. Der Weg führte zu der Stadt. Er schlug ihn ein, nach der Stadt hin. Er erreichte diese.
Es war eine kleine, offene Landstadt, ohne Thor und ohne Mauern. Er trat in sie hinein. Es war zwei Uhr Morgens, in der ersten Hälfte des Monats April. Die Nacht herrschte noch mit ihrem vollen Dunkel; nur die Sterne an dem klaren Himmel warfen ihr Licht herunter, wohl schimmernd, aber nicht erhellend. Auch die Straßen des Städtchens waren dunkel. Sie hatte kein anderes Licht, als jenen Schimmer der Sterne, der sie nicht erhellte.
Der junge Offizier, der in sie hineingetreten war, suchte dennoch für seinen Schritt die dunkelsten Stellen auf; er ging dicht an den dunklen Häusern vorüber, als wenn sie ihm schützend ihren Schatten leihen sollten. Auch die volle Stille der Nacht herrschte noch in dem Städtchen, und der junge Mann trat nur leise auf, sein Schritt war fast unhörbar, und wenn er zufällig hart auf einen Stein trat, daß es einen hallenden Laut gab, dann mußte er plötzlich und unwillkürlich um sich blicken, ob Niemand da sei, der ihn gehört habe.
»Warum erschrecke ich denn?« fragte er sich. »Bin ich denn auf bösen Wegen? Habe ich, haben wir etwas verbrochen? War es denn nicht Nothwehr? Kein Gesetz und kein Gericht der Welt kann es anders ansehen. Nur der Beweis fehlt uns. Der fehlende Beweis kann das Gewissen nicht beschweren. Er ist nur ein äußerer Druck. Und auch er wird verschwinden.«
Er ging weiter; aber wenn ihm auch der Schritt wieder leichter geworden war, leise und vorsichtig blieb er, wie vorher.
Es kam ihm Jemand in der Straße entgegen.
Er hemmte schnell seinen Schritt ganz.
»Wo verberge ich mich?. Der Mensch darf mich nicht sehen. Aber warum darf er mich denn nicht sehen? Warum muß ich mich vor ihm verbergen? Bin ich ein Dieb? Ein Verbrecher?«
Er sprach es fast zornig. Er richtete sich stolz höher auf. Aber er verbarg sich doch. Er war doch froh, als er gerade neben sich einen engen, tiefen, stockdunklen Zwischenraum zwischen zwei Häusern sah, in den er hineinschlüpfen konnte. Und er stand lange darin, bis der Vorübergehende längst fort war, und er stand mit angehaltenem Athem da, daß er das Klopfen seines Herzens hören konnte.
Er erreichte die Straße, in welcher das Haus seiner Mutter lag. Die Brust wurde ihm freier, seine Gedanken, sein ganzes Wesen. Seine Augen konnten wieder etwas Anderes, als nach dem Dunkel suchen, das ihn aufnehme, und nach den Steinen, deren Wiederhall sein Fuß zu vermeiden habe. Und sie sahen etwas Anderes.
»Was ist denn das?«
Er war erschrocken. Er stand wieder still. Seine Augen starrten nach dem Flecke hin, den sie getroffen hatten.
»Und welche Stille!« sagte er leise.
Er wollte weiter gehen. Er hatte kaum zwanzig Schritte zu dem Hause seiner Mutter. Seine Augen suchten das Haus.
»Auch dort!« sagte er. Er schüttelte sich, als ob es ihm eiskalt über den Körper laufe.
»Ostermorgen!« stöhnte er.
Der Tag graute. Der junge Offizier hatte weite Umwege machen müssen, um, ohne Gefahr gesehen zu werden, die Stadt und das Haus seiner Mutter erreichen zu können. Hinten am Horizont tauchten grau-gelbliche Wolken auf. Sie warfen ihren blassen Schein in die Straße und ließen die Gegenstände in ihr erkennen.
Es war Ostermorgen. Da hatten die Leute in dem kleinen Städtchen am Abend vorher, bis in die Mitternacht hinein, und manche wohl noch länger, zu dem Osterfeste die Häuser gescheuert und festlich geputzt, und Mauern, Fenster und Thüren, Klinken und Knöpfe an den Thüren, Alles war so sauber und so blank, und vor jeder Hausthür war die Schwelle und der Stein, über den man hinaus in die Straße trat, bis in die Straße hinein mit feinem, schneeweißem Sande bestreut,und der feine weiße Sand leuchtete so festlich und so feierlich in den heraufdämmernden, stillen Ostermorgen hinein. Auch vor dem Hause der Mutter des jungen Mannes.
Ostermorgen!« rief er entsetzt, und es war ihm eiskalt geworden. Tag der Auferstehung! Tag der Freude, des Festes und – des Mordes! »O, mein Gott, bin ich denn ein Mörder? Hat sie den Mann gemordet, und bin ich ihr Helfershelfer? – Nein, nein! Kein Gesetz, kein Richter –! Aber was sind alle Gesetze, alle Richter, gegen das Gefühl, das mir da in der Brust brennt? Ostern! O, da sind sie Alle so fromm, so still und so klar, so ruhig und so glücklich, und in meinem Herzen – Mord, Mörder, Mörderin! ruft es darin? Ich sollte mit der Schwester zur Kirche gehen. Sie freute sich so sehr darauf. Ich hatte mich mit ihr darauf gefreut; ich wußte ja noch nicht –. Kann der Mörder in die Kirche gehen? Ja, ja, ich bin ein Mörder! Ich fühle es an diesem Schrecken, an dieser Todesangst. Und was nun weiter?«
Er stürzte wie bewußtlos zu dem Hause der Mutter. Die Thür war verschlossen. Er wollte die Klingel ziehen. Da kehrte das Bewußtsein in ihm zurück. Aber es war das Bewußtsein der Angst.
»Die Magd würde mich hören! Und morgen, wenn der Todte gefunden wird –«
Ueber der Thür öffnete sich ein Fenster.
»Bist Du da, Max?« fragte leise eine weibliche Stimme hinunter.
»Ja.«
»Klingle nicht. Die Mutter schläft. Ich werde Dir öffnen.«
Das Fenster verschloß sich wieder.
»Meine Schwester!« sagte der junge Offizier. Es war, als wenn ihn ein neues Entsetzen ergriffen hätte. »Sie ist so ängstlich! Fast noch mehr als die Mutter. Wenn sie in meinem Gesichte läse! Sie darf nicht.«
Er nahm sich zusammen. Die Schwester öffnete die Thür.
»Tritt leise ein, Max, damit die Mutter nicht erwacht.«
Sie hatte ihn nicht angesehen. Sie war in dem Augenblick nur für den Schlaf der alten kranken Mutter besorgt. Damit er diese bei seiner Rückkehr nicht aufwecken sollte, hatte – sie gewacht.
Sie verschloß die Thür wieder. Sie ging leise mit ihm die Treppe hinauf. Sie wohnten oben. Er wollte sich oben von ihr trennen, um in sein Schlafzimmer zu gehen. Sie ließ ihn nicht.
»Du mußt vorher mit mir gehen, Max. Ich habe Dir etwas zu zeigen.«
Sie sagte es so geheimnißvoll glücklich.
»Was ist es, Ernestine?«
»Ich habe das Schlummerkissen für die Mutter fertig bekommen. Du mußt es besehen. Morgen vor der Kirche schenken wir es ihr Beide. Du hast das Material gekauft; ich habe die Arbeit gemacht. Wie wird sie sich freuen! Wie freue ich mich schon jetzt! Du nicht auch, Max?«
»Gewiß. Aber Du hast wohl die ganze Nacht daran gearbeitet?«
»Nun ja. Aber wo warst Du denn die ganze Nacht, Herr Bruder?«
»Die Nacht war so schön –«
»Ei, ei! Doch davon nachher.«
Sie hatte ihn in ihr Stübchen gezogen. Es war dasselbe Stübchen, in welchem der junge Mann und die schöne Frau früher das Licht hatten brennen sehen. Das Licht brannte noch. In seinem Scheine standen die Geschwister beisammen.
Ernestine war ein hübsches, frisches Mädchen von siebenzehn bis achtzehn Jahren. Der Ernst des Lebens war oft an sie herangetreten; man sah es dem feinen Gesichte an; es trug schon in dem frühen Alter Züge der Innigkeit, der Weichheit und zugleich des Nachdenkens, die unter frohem Scherz und Spiel sich so nicht hatten bilden können. Aber was auch, selbst Schweres und Bitteres, ihr hatte begegnet sein mögen, es hatte ihr einen frischen und sicheren Muth nicht nehmen können. Man sah ihr das so recht an dem frühen Ostermorgen an. Sie hatte die ganze Nacht durch gearbeitet, um das Geschenk für die Mutter zu vollenden; sie hatte dann noch lange gewacht und auf die Rückkehr des Bruders gewartet, damit er den Schlaf der Mutter nicht stören solle. Ihre Wangen waren wohl etwas blaß geworden und ihre Augen waren müde; aber doch war sie glücklich und fröhlich, daß sie ihn mit der Nachricht empfangen konnte, sie sei mit der Arbeit noch fertig geworden, und sie mußte, ehe sie sich zur Ruhe begab, dem Bruder noch die fertige Arbeit zeigen.
In ihrem Glücke, in ihrer unbefangenen Fröhlichkeit sah sie auch den Bruder nicht genauer an.
Er war bleich. Sein Gesicht war eingefallen. Die Züge waren erschlafft, der Blick war wie erloschen. Man sah kein Unglück in dem Gesichte, nicht den Schrecken, nicht die entsetzliche Angst, die das Innere des jungen Mannes verzehrten. Er hatte das Alles gewaltsam zurückzudrängen, in sein Inneres zu verschließen gewußt. Aber man sah dem Gesichte dieses gewaltsame Zusammennehmen an und man konnte es nur mit Schrecken, mit Entsetzen ansehen; lange konnte die Fassung des jungen Mannes nicht vorhalten; brach sie zusammen, welches furchtbare Elend, welche Verzweiflung, welche Verzweiflung des Verbrechens mußte dann zum wahnsinnigen Ausbruch kommen! Auch des Verbrechens! Es gab nichts Schreckliches, das man nicht fürchten mußte, wenn man in das Gesicht sah.
Wie hatten wenige Minuten den kräftigen jungen Mann so verändern können?
Das wachende, das strafende, das ächtende Gewissen ist mächtiger als Zeit, als Gram, als Elend.
»Ist es nicht schön, Max?« fragte die Schwester den Bruder. Sie hielt ihm das Schlummerkissen hin, an dem sie die Nächte hindurch gearbeitet, genäht, gestickt hatte.
»Es ist recht schön, Ernestine.«
»Aber Du bewunderst es nicht! Ich glaube, Du siehst es nicht einmal an.«
»Gewiß, gewiß –«
»Nun, ich werde Dir nicht böse darum. Es ist spät. Du wirst sehr schläfrig sein, der Ruhe bedürfen. Aber morgen mußt Du mir meine Arbeit gehörig bewundern.«
»Ich werde, Ernestine.«
»So gehe jetzt. Willst Du das Licht mitnehmen?«
»Ich danke Dir. Es wird ja schon hell.«
»So schlafe wohl.«
»Gute Nacht, Ernestine«
»Noch Eins, Max.«
»Was ist es?«
»Schlafe nicht zu lange. Um neun Uhr mußt Du mit mir zur Kirche gehen.«
Der junge Mann fuhr zusammen.
»Zur Kirche?«
»Nun ja. Es ist Ostern. Und die Mutter wünscht es. Sie sprach noch am Abend davon. Und ich bin eitel darauf, an Deiner Seite hinzugehen. Du mußt Deine beste Uniform anziehen. Wie werden alle die Leute Dich bewundern, und ein klein wenig mich mit.«
Alle die Leute! Vor allen den Leuten sollte er sich zeigen! Morgen, wenn der Todte gefunden, wenn der Mord entdeckt war! Morgen, wenn alle die Leute, die zur Kirche kamen aus der Stadt, aus allen Gegenden der Nachbarschaft, von dem Morde und nur von dem Morde sprachen, und von dem Mörder, den Keiner kannte und den Jeder in Jedem suchte, dann sollte er, der Mörder, mit allen Schrecken, mit aller Todesangst des Mörders, mit dem Kainszeichen in dem Gesichte, vor alle die Leute treten, in die Kirche, in seiner glänzenden Uniform, an der Seite der Schwester, des fröhlichen, weichen, reinen, unschuldigen Kindes! Vor dem reinen, unschuldigen Kinde stand er. Er drohte zusammenzubrechen bei dem Gedanken. So sah ihn das Mädchen, die ihm bisher noch nicht in das Gesicht gesehen hatte.
»Max!« schrie sie auf.
Ihr zum Tode geängstigtes Herz hatte nur dies eine Wort. Sie war zu dem Bruder gestürzt. Sie hatte krampfhaft seine Hände ergriffen. Ihre Lippen zitterten, ihr Gesicht war todesbleich. So starrte sie in das todesbleiche Gesicht des Bruders. Er wollte sich von ihr losreißen. Sie hielt ihn fester.
»Max, Max, was ist Dir?«
»Morgen, Ernestine.«
»Nein, heute! Gleich! Ich wäre todt bis morgen.«
»Aber was hast Du denn, Kind?«
»Was hast Du? Wie siehst Du aus? So entsetzlich, so – so –«
»Wie ein Mörder!« – zitterten ihr die Worte auf den Lippen und die Lippen konnten sie nicht aussprechen?
Er hörte sie dennoch. Er mußte sich noch einmal, er mußte sich kräftiger zusammennehmen. Er vermochte es noch einmal.
»Ich begreife Dich nicht, Ernestine. Ich bin müde, schläfrig. Du sagtest es ja selbst. Aber Dich hat das Nachtarbeiten überreizt. Mir ist nichts. Und nun laß uns schlafen gehen.«
Er sprach ruhig. Sie war arglos. Nur eine plötzliche Angst hatte sie so schnell aufgeregt. Mißtrauen, zumal gegen den eigenen Bruder, war ihr fremd. Sein Anblick hatte es nur für einen flüchtigen Augenblick in ihrem Innern können aufkommen lassen. Sie bat ihn schon in dem Augenblick nachher in ihrem Innern um Verzeihung.
»Wie hattest Du mich so erschrecken können, Max! Du sahst so bleich, so verstört. Verzeihe mir!«
Er hörte nicht auf sie.
Draußen auf der Straße war ein Geräusch entstanden. Menschen gingen dort hin und her, sprachen mit einander, schienen eilig aus einander, weiter zu gehen.
Der junge Offizier horchte hin.
»Lösche das Licht aus,« unterbrach er auf einmal seine Schwester.
Sie stand neben dem Lichte, das auf dem Tische brannte.
»Warum?« fragte sie verwundert.
Er hatte es schon rasch ausgeblasen.
»Aber was hast Du, Max?«
Er antwortete ihr nicht. Er horchte nach der Straße hinunter. Da hörte sie ebenfalls das Geräusch draußen.
»Was ist es, Max?«
»Nichts! Laß uns schlafen gehen.«
Er wollte das Stübchen verlassen. Er stand wie festgebannt. Unten wurde die Hausthür geöffnet.
»Gott der Gerechtigkeit! Schon?« murmelten seine Lippen.
Es mochte ihm vor den Augen dunkeln wollen. Aber sein Blick traf noch die Schwester. Zehn Schritte vor ihm schlief seine alte, kranke Mutter.
»Muth!«
Er richtete sich empor mit seiner letzten Kraft.
Ein Schritt kam die Treppe herauf. Er konnte ihn ruhig herankommen hören. Er lauschte nach ihm, ohne zu beben.
Die Schwester zitterte.
»Wer kann da kommen?«
Er hatte seine volle Geistesgegenwart wieder.
»Die Magd!« sagte er. »Ich kenne ihren Schritt.«
Jetzt erkannte auch die Schwester ihn.
»Was ängstigt mich denn Alles!« mußte sie lächeln.
Aber der Bruder hatte eine Bitte an sie, und er konnte sie wie die gleichgültigste von der Welt vorbringen.
»Wolltest Du nicht zu ihr hinaus gehen, Ernestine?«
Sie ging hinaus. Draußen sprach sie mit der Magd. Der Offizier wollte horchen. Sie sprachen draußen zu leise.
»Was ängstige ich mich denn?« redete er sich Muth ein. »Niemand sah uns! Niemand hat nur eine Ahnung von den Verhältnissen. Amalie ist der Muth und die Festigkeit selbst. Soll ich den Verräther machen? Ich war einen Augenblick ein Thor, ein schwacher, feiger Thor. Der Ostermorgen! Die feierliche Stille! Pah, gar der weiße Sand! Es ist vorüber!«
War es vorüber? War es der feste, sittliche Muth, der ihn wieder erhoben hatte, der einer augenblicklichen Schwäche hatte weichen können, nun aber nicht mehr von ihm lassen sollte? Oder war er in jene Gewissensphase getreten, in welcher Angst und Verzweiflung sich mit dem letzten Schutzmittel, einem kalten, harten, starren Trotze, zu umgeben suchen? Er spottete über die feierliche Stille des Morgens, über den weißen Sand. Von der Schwester, von der kranken Mutter sprach er nicht. War es eine feste, dauerhafte Schranke, hinter die er sich zurückgezogen hatte?
Die Schwester kehrte in das Stübchen zurück.
Sie sah erschrocken aus.
Die Gesichtszüge des Bruders wurden um so ruhiger, fester.
»Was war es, Ernestine?«
»Der Baron ist todt.«
Er hatte die Nachricht erwartet, er hatte keine andere erwarten können. Alles Blut wich ihm dennoch aus dem Gesichte.
»Der Baron?« konnte er kaum über die angeklebte Zunge hervorbringen.
Die Schwester hatte nicht auf ihn geachtet. Sie war zu sehr erfüllt von dem Schrecken der Nachricht.
»Der Schloßherr von drüben!« antwortete sie. »Er ist ermordet gefunden.«
»Ermordet?« war wieder das Einzige, was der junge Mann hervorstammeln konnte.
»Soeben haben sie ihn gefunden, Leute, die vorbeikamen. Der Mord muß vor ganz kurzer Zeit verübt sein.«
»Und der Mörder?« fragte er.
Er hatte sich wieder gefaßt. Nur zum Erschrecken bleich war er noch im Gesichte, und der Blick seiner Augen – es war jener entsetzliche Blick, der den schuldbewußten Mörder nicht verlassen kann; er sieht immer und immer den blutigen Mord vor sich, er sieht, wie Jeder in ihm den Mörder sucht.
»Der Mörder?« sagte das Kind. »Man weiß nichts von ihm –«
Da sah sie ihn an; das schneeweiße Gesicht, die Augen, in denen der blutige Mord und der Mörder zugleich standen.
»Max!« schrie sie wieder auf.
Er mußte die festeste Kruste jenes Trotzes um sein Herz legen.
»Was ist Dir, Ernestine?« fragte er.
»Du fragst nach dem Mörder, Max?«
»Wie sollte ich nicht?«
»Bruder, Bruder –«
»Aber Ernestine, ich begreife Dich nicht!«
Er sprach so ruhig. Er konnte ihr in das Auge sehen. Und wenn er bleich war, war sie es denn nicht auch? Wie konnte sie dem entsetzlichen Verdacht Raum geben, der plötzlich in ihr aufgestiegen war? Aber wie konnte sie ihn von sich werfen? Hatte sie nicht jenen Blick seiner Augen gesehen? Hatten nicht schon vorher die schrecklichsten Ahnungen sie ergriffen? War er nicht so verstört zurückgekommen? Hatte er nicht ihr Rede und Antwort verweigert? Er hatte vor der Magd sich nicht wollen sehen lassen. Er hatte das Licht ausgelöscht, damit die Menschen unten auf der Straße es nicht sehen sollten. Und – sie wußte noch mehr.
Ihr Bruder – der Mörder? Er doch ein Mörder? Aber entsetzlicher als die entsetzlichste Gewißheit ist die Ungewißheit. – Sie faßte sich. Auch das Kind konnte es. Sie mußte wissen, ob der Bruder ein Mörder war, oder ob er es nicht war. Ihr Schreck, ihre Angst waren auf einmal einer bewunderungswürdigen Ruhe und Klarheit gewichen, oder vielmehr, sie hatten sich darin aufgelöst. Sie stand vor einer entscheidenden, vor der entscheidenden Frage ihres Schicksals.
Denn war nicht das Schicksal ihres Bruders zugleich das ihrer Mutter, zugleich ihr eigenes? Wenn der Bruder ein Mörder war, was war sie dann, was war ihre Mutter?
»Max,« sagte sie, »Du bist seit vier Wochen hier bei uns auf Urlaub.«
»Was willst Du damit, Ernestine?«
»Du warst die ersten acht Tage der fröhlichste, der unbefangenste Mensch.«
»Ich denke, ich war es immer.«
»Du warst es nur die wenigen Tage. Da wurdest Du zerstreut, unruhig, träumerisch. Die Mutter und ich sprachen oft darüber. Aber Du warst seit drei Jahren nicht bei uns gewesen. Du sahest, wie wir manches entbehren mußten, wie ich arbeitete; Du hattest wohl vorher keine Ahnung gehabt. Es konnte Dich bekümmern –«
»Und es bekümmerte mich, Ernestine, recht tief im Herzen. Ich mußte mir Vorwürfe machen, wie ich dagegen in der Residenz ein so gutes Leben führte.«
»Auch die Mutter sagte, das werde es sein. Und ich ließ sie dabei, obwohl ich daran denken mußte, wie Du von Deiner geringen Lieutenantsgage noch sogar Ersparnisse machtest, die Du so oft uns zukommen ließest. Ich ließ die Mutter in ihrem Glauben, aber ich hatte einen andern Verdacht.«
»Du einen Verdacht gegen mich, Ernestine?«
»Ich sah Dich eines Abends in dem Schloßparke drüben.«
Der junge Offizier mußte plötzlich die Augen niederschlagen.
»Warum kannst Du mich nicht ansehen, Max?«
»Warum sollte ich es nicht, Ernestine?«
»Ich sah Dich nur das eine Mal dort. Ich sah auch nur einmal die Frau. Ich sah Euch auch nicht beisammen. Aber Dich sah ich heimlich drüben in den Gebüschen schleichen. Und sie warf brennende Blicke nach meinem Fenster, und, Max, ich erbebte. – Warum schweigst Du, Max?«
»Was sollte ich Dir sagen?«
»Warum fragst Du nicht, weshalb ich erbebte? Ich will es Dir dennoch sagen. Jene Frau war jung, schön, fremd, seit zwei Jahren hier aus weiter, unbekannter Gegend hergekommen; Niemand kannte sie, nur wenige Menschen sahen sie kaum; man wußte nichts von ihren früheren Schicksalen, nichts von ihrem gegenwärtigen Leben. Das Alles gab ihr den Reiz des Geheimnisses, der Neugierde. Aber Eins wußte man von ihr: sie mußte unglücklich, tief unglücklich sein. Ihr Mann war ein roher, gemeiner Mensch. Die an ihn Gefesselte mußte man für um so unglücklicher halten, je weniger man eben von ihr sah und hörte. Zu jenem Reize des Geheimnisses kam das Mitleid. Du warst jung, Max; Du hast ein lebhaftes, offenes, leicht empfängliches Herz. Da hatte ich Dich, da hatte ich den Blick der Frau gesehen. Da sah ich Dich noch immer träumend, unruhig. Mußte ich nicht für Dich erbeben? Ich mußte in's Klare kommen. Ich beobachtete Dich ferner, ich sah nach der Frau aus. Ich sah Dich nicht wieder drüben. Die Frau sah ich gar nicht wieder. Du wurdest wieder ruhig, fröhlich, glücklich. Freilich war es ein so eigenes geheimnißvolles Glück. Es wollte mir manchmal in das Herz schneiden, wenn ich plötzlich dabei doch wieder an die Frau denken mußte. Aber ich sah nichts mehr, was auch nur im Geringsten einem Verdachte hätte Nahrung geben können. Da bist Du heute die ganze Nacht aus dem Hause entfernt. Gegen Morgen kommst Du verstört zurück. Eine halbe Stunde später kommt die Nachricht, daß der Mann jener Frau todt, ermordet ist, daß der Mord vor kaum einer Stunde verübt sein kann. Die Nachricht erfüllt Dich mit Entsetzen. Du suchst Dich zu verbergen. Du suchtest es schon, als Du das ungewöhnliche Sprechen und Gehen auf der Straße hörtest. Du kannst von Deiner Angst, von Deinem Entsetzen Dich nicht erholen. Max, ist Dir der Mord des Mannes fremd?«
Das junge Mädchen hatte so ruhig und klar, und doch so innig und herzlich gesprochen. Aber sie hatte zu einem Herzen gesprochen, das sich mit jener harten Kruste des Trotzes der Verzweiflung gepanzert hatte. –
»Siehst Du mich ängstlich, entsetzt, Ernestine?« fragte der junge Offizier. »Siehst Du mich nur unruhig?«
Sie sah wohl keine Angst und Unruhe mehr in ihm. Aber das reine, unschuldige Herz sieht klar und scharf.
»Max, ist das nicht ein Beweis gegen Dich? Könntest Du, wenn Du unschuldig wärest; bei meinem Verdachte gegen Dich so ruhig bleiben. Bei dem Gedanken, daß unsere brave Mutter morgen denselben Verdacht fassen möchte?«
»Ach, Du hältst mich schon schuldig, überführt!« wollte er sophistisch ausweichen.
Sie hielt ihm die Hand hin.
»Gieb mir die Hand, wenn Du es nicht bist.«
Er wollte ihr die Hand geben. Sie zog die Ihrige zurück. Ein anderer Gedanke hatte das Kind ergriffen.
»Komm mit mir zur Mutter. Gieb ihr die Hand, wenn sie nicht von Blut befleckt ist.«
»Ernestine!«
»Komm, komm!«
Sie wollte ihn mit sich aus dem Stübchen fortreißen. Er widerstand ihr. Er zitterte. Er war wieder leichenblaß geworden.
»Ah, siehst Du?« rief sie. »Du bist der Mörder!«
Er hatte kein Wort der Erwiderung, des Leugnens.
Aus ihren Augen drang ein Strom von Thränen. Sie mußte sich auf einen Stuhl werfen. Eines Wortes war auch sie nicht mächtig. Er stand schweigend. Ein furchtbarer Kampf zerriß sein Inneres.
»Max,« sagte sie unter ihren Thränen zu ihm, »sprich zu mir. Bist Du unschuldig, so sage es, damit mich diese Angst nicht tödtet. Bist Du schuldig, so sage es mir um Deinetwillen. Du mußt dann fliehen, fort von uns, in die Welt, zu Menschen, die Du nicht kennst, die Dich nicht kennen, die Dich nie kennen dürfen, denen Du nie ein Wort sagen darfst. Dann theile noch vorher mir Deine Schuld mit, theile sie mit mir, damit sie Dich nicht ganz erdrückt, wenn Du sie ganz behalten mußt. O, Max, ich drang ja nicht um meinetwillen in Dich, nicht aus Neugierde. Es war ja die tiefste Angst meines Herzens, das Dich so unendlich liebt, das die Angst, die Schuld mit Dir theilen, Dir wollte tragen helfen.«
Konnte er dem Kinde widerstehen? Kann der Trotz überhaupt lange widerstehen? Der junge Offizier war ein braves und muthiges Herz. Der Reinheit, der Unschuld, dem Jammern des Kindes konnte er ein freches Leugnen nicht ferner entgegensetzen. Und wie ihm das klar wurde, da hatte er seinen ganzen Muth wieder.
»Höre mir zu, Ernestine,« sagte er. »Du sollst Alles von mir erfahren.«
»Gottlob!« sagte sie für sich. Sie bebte, aber sie konnte ihm ruhig zuhören, wie er ihr erzählte.
»Ja, Ernestine, ich liebe jene Frau und sie liebt mich. Sie ist unglücklich, sie ist edel. Sie ist meiner Liebe würdig, wie ich es der ihrigen bin. Sie ist als Mädchen von sechszehn Jahren an ihren Mann verkauft, den rohesten gemeinsten Menschen. Sie hatte ihrem Vater nach Californien folgen müssen. Er wollte sich dort ein Vermögen suchen. Er fand nur größeres Elend. Da lernte der Vater den Freiherrn kennen. Dieser hatte mehr Glück gehabt. Er hatte in dem Goldlande Reichthümer gefunden. Sie hatten ihn noch roher, übermüthiger, gemeiner gemacht, als er vielleicht vorher gewesen war. Jede seiner Leidenschaften mußte er befriedigen, da er es konnte. Mit dem Vater hatte er das sechszehnjährige Mädchen kennen gelernt. Sie war ein Bild der Schönheit, der Heiterkeit. Sie mußte sein werden. Er kaufte sie dem Vater ab, der arm war. So war sie sein Eigenthum, das Eigenthum der Rohheit, der Gemeinheit. Er wurde um so brutaler gegen sie, einen desto höheren Preis er ihrem Vater für sie bezahlt hatte. Er ging mit ihr nach Europa. Er kaufte sich hier an. Er lebte hier roh und gemein, wie früher; er behandelte seine Frau wie früher. Sein Umgang waren die gemeinsten Menschen, in den gemeinsten Häusern. Wenn er betrunken zu Hause kam – Aber, Ernestine, wozu Dir die Mißhandlungen der armen Frau erzählen? Sie durfte nicht mehr in ihrer unglücklichen Lage bleiben. Ich mußte sie daraus befreien. Heute Nacht wollte ich mit ihr entfliehen. Große Vorbereitungen hatten wir nicht treffen dürfen, um nicht seinen Verdacht zu erregen. Die unglückliche Frau muß doch nicht vorsichtig genug gewesen sein. In dem Augenblick, als wir den Park verlassen wollten, stand er plötzlich vor uns. Als ich ihn kaum sah, hatte er mich schon niedergeworfen, kniete er auf mir, wollte er mir ein Messer in die Brust stoßen. Ich lag wehrlos unter ihm. Ich konnte mich nicht rühren. Es war um mich geschehen. Da zog die Frau einen Dolch, und, um mir das Leben zu retten, erstach sie den Mann.«
Der junge Offizier schwieg.
»Und weiter?« fragte seine Schwester.
»Wir gaben unsere Flucht auf. Das entsetzliche Ereigniß hatte keine Zeugen. Unsere Flucht war keinem Menschen in der Welt bekannt. Wurde sie bekannt, so waren wir als Mörder verrathen, angeklagt. Blieben wir hier, so blieb über dem Geschehenen das tiefste Dunkel.«
Die Schwester hatte sich gesetzt, tun dem Bruder zuzuhören. Sie erhob sich. Sie ging schweigend in dem Stübchen auf und ab. Dann trat sie vor ihn.
»Und um dem Buhlen das Leben zu retten, erstach, ermordete sie ihren Mann.«
»Ernestine, unsere Liebe ist die reinste!«
»Dem Geliebten dann!«
»Sie rettete mir das Leben!«
»Um Mörderin zu werden!«
»Es war Nothwehr, Ernestine. Er wollte mich ermorden.«
»Den Räuber seiner Frau!«
»Die er auf den Tod mißhandelte!«
»Den Mörder einer Ehre!«
»Hatte der Mensch Ehre?«
Das Mädchen wurde strenger.
»Max, Du schaffst mit allen Deinen Sophismen den Mord nicht aus der Welt. Du wolltest dem Manne die Frau entführen. Er trat Dir entgegen, dem Raube zu wehren. Ihr erschlugt ihn. Das sind einfach die Thatsachen. Wenn ein Dieb in ein Haus einbricht, um zu stehlen, und der Eigenthümer setzt sich ihm zur Wehre, um seine Habe zu vertheidigen, und der Dieb erschlägt ihn, hat der Dieb im Stande der Nothwehr gehandelt?«
Der junge Offizier hatte keine Antwort.
»Und was nun weiter?« fragte die Schwester.
Er konnte auch darauf nicht antworten.
Doch. Ein Entschluß war plötzlich in ihm entstanden.
»Ist sie eine Mörderin, Ernestine, so hat nur die Liebe zu mir sie dazu gemacht, so darf sie nicht dafür büßen; ich muß es, ich allein. Und so muß, so will ich handeln.«
»Und was willst Du thun?« fragte sie.
»Sie soll fort. Und wenn sie in Sicherheit ist, stelle ich mich den Gerichten als Mörder. So lange bewahren wir das Geheimniß.«
Die Schwester schüttelte den Kopf.
»Es ist nichts,« sagte sie.
»Was aber sonst?«
»Ich weiß es noch nicht. Denken wir darüber nach. Nur Eins: verrathe Dich der Mutter nicht. Und nun gehen wir Jeder in unsere Kammer. Zur Kirche kommen wir nicht. Beten wir hier um so inbrünstiger zu Gott um Kraft und Erleuchtung!«
Am Nachmittage saß ich, der Schreiber dieser Zeilen, in meinem Arbeitszimmer.
»Das Dienstmädchen trat herein.
»Fräulein Ernestine!« meldete sie.
»Führen Sie sie zu den Kindern.«
»Das Fräulein wünscht den Herrn zu sprechen.«
Fräulein Ernestine lebte mit ihrer alten, kränklichen Mutter in dem Städtchen, in dem ich damals als Criminalrichter angestellt war. Die Mutter war Offizierswittwe. Ihr Mann war früh gestorben, Mutter und Tochter lebten ärmlich von einer kleinen Pension der Ersteren. Um der Mutter Bequemlichkeiten zu verschaffen, gab die Tochter Unterricht im Zeichnen und in der Musik; auch meinen Kindern. So war sie in mein Haus gekommen. So hatte ich sie kennen gelernt, und wir Alle liebten das heitere, liebenswürdige, bescheidene Kind, das schon so früh sich einem Berufe widmen mußte, für den sie nach ihrem Stande nicht bestimmt war.
Was mochte sie von mir wollen? Ich konnte es nicht errathen. Um so mehr glaubte ich ihren Besuch annehmen zu müssen.
»Führen Sie sie her,« sagte ich zu der Magd.
Ich legte meine Acten zurück. Ich bedurfte ohnehin des Ausruhens.
Es war ein unruhiger, arbeitsvoller Ostermorgen für mich gewesen. An dem heiligen Tage, der die Andern zur Andacht und Erholung rief, hatte ich vom frühen Morgen an unablässig inquiriren müssen.
Mit dem Grauen des Tages war mir die Anzeige gemacht, daß der Freiherr – so eben an dem Zaune seines Parkes ermordet gefunden sei. Leute, die vom Lande früh nach der Stadt zur Kirche gegangen waren, hatten die Leiche zuerst gesehen. Der Anzeige mußte die sofortige Untersuchung folgen. Sie bestätigte den Tod, die Vermuthung eines Mordes, aber weiter nichts.
Der Todte hatte einen Stich in der Brust, der das Herz getroffen und sofort den Tod herbeigeführt hatte. Der Stich rührte von einem Messer her. Bei der Leiche wurde ein Messer gefunden, aber mit ihm war die Verletzung nicht beigebracht. Ein anderes Messer, eine andere Waffe war nicht da; noch weniger sonst eine Spur, die auf den Thäter oder nur auf die Umstände der Tödtung hätten führen können. Keine Spur, nur daß ein Mensch am Orte der That gewesen sei; keine Fußtritte, keine anderen Zeichen. Auch auf anderem Wege war nichts zu ermitteln.
Der Verstorbene führte ein wüstes Leben. Er hielt sich gern die Nächte mit gemeinen Gesellen in einem verrufenen Hause auf. Er war auch die Nacht vorher da gewesen, aber nicht anders, wie immer. Nach Mitternacht hatte er sich entfernt, ebenfalls wie gewöhnlich; auch allein, auch halbbetrunken. Auf jene Gesellen fiel kein Verdacht; auch auf sonst Niemanden.
Im Schlosse wußte man von gar nichts. Die sämmtlichen Bewohner hatten ruhig geschlafen. Er hatte den Schlüssel zum Parkpförtchen nächst der Stadt und zu einer Hausthür nach dem Park hin bei sich. Sie waren auch bei der Leiche gefunden. Die That blieb unerklärlich. Auf den Thäter konnte man nicht einmal rathen.
Die freundliche Ernestine trat zu mir in mein Zimmer. Aber ich mußte bei ihrem Anblick erschrecken. Sie war blaß wie der Tod; sie zitterte; sie konnte nicht sprechen.
»Fräulein Ernestine, was ist Ihnen?«
Ein Strom von Thränen drang aus ihren Augen. Sie fiel auf einem Stuhle fast nieder.
Mit welchen Vorsätzen von Muth, vom Zusammennehmen aller ihrer Kräfte mochte das arme Kind zu mir gekommen sein! Wie zerrannen sie alle an dem Zagen ihres Herzens! Sie konnte sich doch wieder sammeln. Das arme, zagende Herz mußte es ja.
»Herr Criminalrath,« begann sie leise, zögernd, ohne Einleitung – die Angst drängte sie; »Herr Criminalrath, wenn ein Dieb von Dem, den er bestehlen wollte, überfallen wird und getödtet werden soll, darf er sich wehren?«
»Wie kommen Sie zu der Frage, liebe Ernestine?«
»Beantworten Sie sie mir.«
»Sie müßten mir vorher nähere Umstände mittheilen.«
»Setzen Sie den Fall, es wäre ein Dieb hier in Ihr Zimmer gekommen. Er wollte Sie bestehlen. Sie stellten sich ihm entgegen. Dürfte er sich gegen Sie wehren?«
»Gewiß nicht.«
»Und warum nicht?«
»Weil ich das Recht habe, mein Eigenthum gegen den Dieb zu schützen.«
»Und wenn er Sie nun getödtet hätte?«
»So wäre er ein Mörder.«
»Wenn Sie nun aber ihn hätten tödten wollen?«
»Es würde nichts ändern. Ich habe das Recht, zur Vertheidigung meines Eigenthums auch das Leben des Räubers anzugreifen. Aber wozu die Fragen, Fräulein Ernestine?«
»Wenn nun aber der Dieb sie nicht gesehen, Sie gar nicht hier vermuthet hätte, und auf einmal, während er ruhig am Einpacken war, fallen Sie von hinten über ihn her; darf er sich auch dann nicht wehren?«
»Auch dann nicht.«
»Selbst wenn Sie ihn tödten wollten?«
»Wenn ich ihn tödten wollte? Müßte ich einen Angriff ja von seiner Seite erwarten –«
»Nein, nein! Sie hätten ihn niedergeworfen. Sie knieten auf ihm. Sie wären ihm an Kräften überlegen. Er wäre gar nicht im Stande, sich zu wehren. Sie wollten ihn dennoch tödten, aus Rache, aus Haß, – dürfte er sich auch da nicht wehren?«
Ihr Blick heftete sich mit der Angst des Todes auf mein Gesicht. Sie wollte meine Antwort darin lesen, ehe meine Lippen sie aussprechen konnten.
Eine furchtbare Ahnung hatte mich ergriffen, eine um so schrecklichere, je unbestimmter sie war.
Von einem Verhältnisse ihres Bruders zu der Frau des Erschlagenen wußte ich nichts, wie in der ganzen Untersuchung mit keinem Worte daran gedacht war.
»Fräulein Ernestine!« mußte ich ausrufen, »wie kommen Sie zu den Fragen? An mich? Gerade heute?«
»Antworten Sie mir!« rief sie. »Ich beschwöre Sie. Wenn Sie den Dieb niedergeworfen hätten, und er könnte sich nicht gegen Sie wehren, Sie wollten aber dennoch ihn tödten, dürfte er um sein Leben gegen Sie kämpfen, und dürfte er, um das eigene Leben zu retten, Sie tödten?«
»Aber, mein Gott, Fräulein Ernestine, der Mann soll sich ja gar nicht wehren können!«
»Aber wenn ich nun hinzukäme und den Mann retten wollte, und das nicht anders könnte, als, indem ich Sie tödtete?«
»Sie, Ernestine?«
»Wenn der Mann mein Bruder – mein Vater wäre?«
»Großer Gott, Kind, Kind!«
»Antworten Sie mir!«
»Man müßte Sie von Strafe freisprechen.«
»Müßte man?«
»Sie hätten ein Menschenleben gerettet, das unrechtmäßig angegriffen war.«
»Ach!«
Sie fiel ohnmächtig auf den Stuhl zurück.
Ihre Kräfte waren erschöpft. Nur die entsetzlichste Angst hatte sie noch aufrecht halten können.
Sie kam wieder zu sich.
Sie hatte zu mir kein anderes Wort gesprochen, als ich mitgetheilt habe. Aber ich wußte Alles.
Sie sah mich mit einem glücklichen Blicke an.
Sie wollte sprechen.
Ich kam ihr zuvor.
»Kein Wort weiter, liebe Ernestine. Für Alles, was Sie mir noch würden sagen können, fehlt der Beweis, und der Richter, wenn er Nothwehr annehmen soll, muß einen sehr strengen Beweis fordern.«
Sie sah mich voll an mit ihren braven, treuen Augen, als wenn sie mir sagen wolle: »Sieh' mir in diese Augen. Liest Du eine Lüge darin?«
»Ja, ja, meine gute Ernestine,« mußte ich ihr auf den Blick erwidern, »ich, Ihr Freund, glaube ja der Unschuld und der Treue. Aber gerade darum darf der Richter kein Wort weiter von Ihnen vernehmen. Doch noch Eins. Wann ist der Urlaub Ihres Bruders zu Ende?«
»In drei Tagen.«
»Lassen Sie ihn keine Minute früher abreisen.«
Als sie ging, mußte sie doch wieder bitterlich weinen. Aber bittere Thränen waren es nicht. –
Die Untersuchung über den Tod des Freiherrn führte zu keinem Resultate. –
Fast drei volle Jahre waren seit dem Tode des Freiherrn verflossen.
Seine Wittwe war mit ihrem Kinde in dem Schlosse wohnen geblieben. Sie hatte still und eingezogen gelebt. Sie hatte mit Niemandem Umgang gehabt. Nur das Fräulein Ernestine war mit ihr bekannt geworden. Das Fräulein, die meinen Kindern auch ferneren Unterricht ertheilte, erzählte es mir selbst.
Sie war, etwa ein Jahr nach jenen Begebenheiten, in dem Gärtchen hinter ihrem Hause gewesen. In dem offenen Wege zwischen dem Gärtchen und dem Parke hatte das Kind der Freifrau, ein allerliebstes Mädchen von fünf Jahren, mit ihrer Bonne gespielt. Durch eine Unvorsichtigkeit der Wärterin hatte sich das Kind blutig gefallen. Das Blut hatte stark geflossen, die Bonne den Kopf verloren. Ernestine war zur Hilfe hinzugeeilt. Aus dem Parke war die Freifrau herbeigekommen. So waren die Frau und das Fräulein zusammengetroffen und mit einander bekannt und dann Freundinnen geworden.
Sie waren Freundinnen geblieben.
Niemals hatte die Frau nach dem Bruder des Fräuleins gefragt. Niemals hatte diese von ihr ihm erzählt.
Aber mir erzählte sie, welch' ein Engel der Güte, der Milde und des Leidens die Frau sei, des stillen, gottergebenen Leidens.
Und der Bruder Ernestinens? Er war in seine Garnison zurückgekehrt. Er hatte seitdem seine Mutter nicht wieder besucht. Er hatte zum Oefteren geschrieben, an Mutter und Schwester; aber wie die Freifrau nicht nach ihm, so hatte er niemals, auch nur mit einem Worte nach ihr gefragt.
So waren beinahe drei Jahre verflossen.
Da wurde das Fräulein Ernestine nachdenklich, unruhig, gedrückt.
Eine Zeitlang konnte sie es auf dem Herzen behalten, was sie drückte.
Dann mußte sie mich wieder allein sprechen.
»Mein armer Bruder geht zu Grunde.«
»Ich denke, er ist Hauptmann geworden, Fräulein Ernestine.«
»Aber die Briefe sprechen einen Gram aus, der ihm an dem Leben nagt.«
»Und warum?«
»Er schreibt kein Wort davon, niemals, aber –«
»Ach! Und was macht die Freifrau drüben?«
»Der Gram zehrt auch sie auf. Sie gleicht einem sterbenden Engel, den man ohne Weinen nicht ansehen kann.«
»Hm, Fräulein Ernestine, wie lange ist Ihr Bruder nicht hier gewesen?«
»Seit jener Zeit nicht, Herr Criminalrath. Es werden im nächsten Monate drei Jahre.«
»Und seitdem lebt die Freifrau in der strengsten Wittwentrauer und Wittwenabgeschiedenheit?«
»Sie wissen es.«
»Fräulein Ernestine, lassen Sie Ihren Bruder herkommen.«
»Und?«
»Das Weitere überlassen wir dann dem Lenker der menschlichen Schicksale oben. Lieben sich die Beiden noch, dann haben sie nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig gebüßt, und die Buße sühnt.«
»O, das sagen Sie mir, als Criminalrichter?«
»Als Mensch, Fräulein Ernestine.«
Mein Ausspruch hatte sie glücklich gemacht.
Ihr Bruder kam. Er und die Freifrau sahen sich wieder. Ernestine konnte es mir nicht ohne Thränen erzählen, wie der tief, erregte, blasse Mann und die zum Skelett abgemagerte Frau sich angeblickt, Jeder mit Vorwürfen gegen sich selbst und mit der innigem, klar und still gewordenen Liebe zu dem Anderen; wie die Frau dann so bitterlich geweint, wie er endlich gewagt, ein Wort an sie zu richten, nur ein Wort des Trostes, der Aufrichtung; wie sie dann Beide gewagt, einander in die Augen zu sehen, sich die Hände zu reichen.
Aber sie hatten schwer gebüßt, und die Buße sühnt.
Nach einem Jahre wurden sie Gatten.
Sie zogen nach Italien, wie es schon früher ihr Plan gewesen war.
Ernestine und ihre Mutter gingen mit ihnen.
Ernestine schrieb mir noch oft von ihrer stillen, glücklichen Liebe.
Und nun; hat noch Jemand einen Stein aufzuheben?
Gegen den Mann und die Frau, die gebüßt und gesühnt hatten?
Wer steht, der sehe zu, auf daß er nicht falle!
Gegen den Criminalrichter, gegen mich?
Ich beuge mich in Demuth.