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Erzählung.
Draußen war ein furchtbares Wetter.
Der Nordwestwind strich scharf durch die Tannen, die oberhalb der Mühle standen, und trieb Regen und Schnee heulend gegen die Fenster in dem Wohnhause des Müllers.
Es war an einem der letzten Tage des Novembers. Der Abend war schon herangebrochen.
In der Mühle befanden sich nur noch wenige Mahlgäste, die sich auch beeilten, bald fort zu kommen, sie hatten weite Wege bis nach Hause. Die Mühle lag einsam in öder Moorgegend und im Dunkel des Abends konnte man bei dem Unwetter doppelt leicht sich verirren, in Abgründe gerathen.
Der Müller trieb seine beiden Knappen an, er griff selbst mit zu, und obgleich er schon weißes Haar hatte, war er dennoch kräftig und rüstig.
Der Wind erhob sich stärker, er wurde Minutenweise zum Sturm und übertönte das Geklapper der Räder in der Mühle.
Der alte Müller trat manchmal mit bedenklichem Gesichte an das kleine Mühlenfenster und schaute in den Sturm und den dunkler werdenden Abend hinein. Er sagte nichts, obgleich er wohl Vieles zu sagen gehabt hätte.
Einer der Gäste – es war gleichfalls ein ältlicher Mann – trat an ihn heran.
»Das ist gerade ein Wetter, Meister, wie damals. Ihr erinnert Euch doch noch?«
»Wie kann man so etwas vergessen?« entgegnete der Müller kurz, »es war auch gerade um diese Jahreszeit, und es sind jetzt einundzwanzig Jahre her. Der Mensch hätte also noch fünf bis sechs Jahre zu sitzen.«
»So ungefähr. Er wurde zu sechsundzwanzig Jahren verurtheilt.«
Ein anderer, jüngerer Mahlgast hatte sich den Beiden genahet.
»Ihr sprecht von dem Menschen, der vor langen Jahren den Moordamm da oben durchstochen hatte?«
»Von dem sprechen wir.«
»Der soll wieder da sein.«
Der alte Müller fuhr auf.
»Aus dem Zuchthause?«
»So sagen die Leute.«
»Es ist nicht möglich, er wurde zu sechsundzwanzig Jahren verurtheilt und hat erst zwanzig gesessen.«
»Die Leute sagen, der König habe ihn begnadigt; er habe sich gut geführt in der Strafanstalt, wahre Reue bewiesen, und da habe der König ihm den Rest der Strafzeit erlassen.«
» Der Reue?« sagte der Müller. »Das war der schlechteste und tückischste Mensch, der mir in meinem langen Leben begegnet ist.«
Noch ein anderer, erst später angekommener Gast war hinzugetreten.
»Wenn Ihr von dem Brandstätter redet,« sagte er.
»Ja,« wurde ihm erwidert.
»Der ist wieder da, bei seinem Bruder, dem Korbmacher, der da hinten allein in der Möhringer Haide wohnt. Er soll in der gestrigen Nacht plötzlich und heimlich in das Haus gekommen sein. Aber von einer Begnadigung habe ich nichts gehört.«
»Dagegen,« sagte wieder ein anderer Gast – das Gespräch war allgemein geworden – »dagegen wurde heute bei uns in Buchholz davon gesprochen, daß vor ein paar Nächten zwei gefährliche Verbrecher aus Spandau ausgebrochen seien.«
»In Spandau saß der Brandstätter,« wurde bemerkt.
Den alten Müller hatte die neue Nachricht ergriffen. Blaß geworden, trat er unruhig an das kleine Fenster, um in das stürmischer gewordene Unwetter hinaus zu schauen. Das Gespräch wurde ohne ihn fortgesetzt.
»Wie war es eigentlich mit dem Durchstechen des Dammes?« fragte der jüngere Mahlgast, »ich war damals noch ein Kind.«
»Wie das war?« sagte der ältere, »der Meister Leuthold hier hatte in der Mühle einen Knappen, mit dem er sich nicht gut stand, den Brandstätter, der jetzt wieder da sein soll. Was sie Alles mit einander hatten, darüber wurde wohl Viel gesprochen. Gewiß ist, daß der Knappe ein schlechter Mensch war, seinen Herrn und die Gäste bestahl, und das Geld mit nichtsnutzigem Gesindel in den benachbarten Dörfern durchbrachte. Sein Herr mußte ihn zuletzt den Gerichten anzeigen, und er kam wegen seiner Diebereien ein paar Monate in's Gefängniß und hatte dann keinen Dienst mehr. Dafür rächte er sich. In einer Nacht – es war gerade ein Wetter wie jetzt, es schneite und regnete und stürmte, und das Wasser stand hoch – da ging der schlechte Mensch mit Hacke und Spaten auf den Damm da oben, der die Mühle gegen das schwarze Moor schützt, stach den Damm durch, und zehn Minuten nachher war von der Mühle und dem Müllerhause nichts mehr zu sehen. Das hohe Wasser war mit einer schrecklichen Gewalt durch den durchstochenen Damm gestürzt und hatte Alles um und niedergerissen.
Es war mitten in der Nacht. In der Mühle hatte Alles geschlafen. Die Müllerin war von dem Brausen des Wassers und dem Erschüttern des Hauses zuerst erwacht, sie hatte ihren Mann geweckt. Beide waren aufgesprungen. Da hatten sie das Wasser gesehen, das schon rund um sie her war. Die Frau griff nach ihrem einen Kinde, das neben ihr schlief, einem Mädchen von drei Jahren. Mit ihm sprang sie fort. Der Mann stürzte fort, das andere Kind zu holen, einen kräftigen Knaben von fünf Jahren, der hinten im Hause bei der Magd schlief.
Als er hin kam, war es schon zu spät; das Wasser hatte die Kammer schon eingerissen. Er hörte die Magd noch um Hülfe schreien; er glaubte auch sein Kind zu hören. Als er hineinspringen wollte, wo er die Stimmen hörte, sah er das Mädchen, sein Kind im Arme, von den Wellen fortgetrieben, in den Wellen untergehen. Er konnte nur noch der Frau nacheilen, die mit dem einen Kinde nichts als das nackte Leben gerettet hatte. Die Leichen des Knaben und der Magd wurden erst am andern Tage aufgefunden. Ein Knappe, der in der Mühle schlief, war wie durch ein Wunder gerettet worden. Der Müller hat seit der Nacht das weiße Haar. Der Verbrecher wurde entdeckt und die Gerichte verurtheilten ihn zum Tode; weil aber das Gesetz nicht ganz klar war, so begnadigte ihn der König zu sechsundzwanzigjähriger Zuchthausstrafe.«
Der alte Mann schloß seine Erzählung.
»Und der Mensch ist jetzt wieder da?«
»Ihr selbst habt es gesagt.«
»Es mag dem alten Leuthold schwer genug an's Herz gehen.«
»Man sieht ihm an, daß es das thut.«
»Wenn der Mensch ausgebrochen wäre, so hat er wohl Grund.«
»Auch wenn er begnadigt wäre. Man kennt solche Reue und Frömmigkeit und Gottesfurcht in den Zuchthäusern. Die schlimmsten Verbrecher werden da gewöhnlich die größten Heuchler, und sie können dreißig, vierzig Jahre lang ihren Haß und ihre Rache in den schlechten Herzen verschließen.« –
Die beiden Knappen des Müllers hatten unterdeß die Arbeit gefördert. Sie hatten wohl nach dem Gespräche hingehorcht, mit großer Aufmerksamkeit sogar, aber sie waren dabei nicht müßig geblieben; nur den Einen hatte der Müller einmal antreiben müssen. Der Bursch, ein häßlicher Mensch mit röthlichen Haaren und störrischem Wesen, hatte sich von seiner Neugierde – oder war es etwas Anderes? – so beherrschen lassen, daß seine Arme völlig feierten. Als der Meister ihn antrieb, arbeitete er desto eifriger. Aber auch in ihm arbeitete etwas, und wäre es Tag oder heller in der Mühle gewesen, man hätte in dem tückischen Gesichte vielleicht lesen können, was es war.
Die Mahlgäste hatten sich nach und nach entfernt. Dann hatte der alte Müller Leuthold, der mit seinen beiden Knappen nun allein war, die Mühle geordnet und gesäubert. Es war Sonnabend, und zum Sonntage mußte Alles blank und rein sein.
»Ihr könnt jetzt gehen,« sagte der Müller, als sie fertig waren, »ich werde abschließen.«
Der eine der Knappen trat an ihn heran, der häßliche mit den rothen Haaren. –
»Erlaubt Ihr mir, Meister, nach Buchholz zu gehen?«
»In den Krug?« fragte der Müller.
»Ja; es wird dort getanzt.«
»Wie lange willst Du ausbleiben?«
»Wie lange darf ich?«
»Um Mitternacht kannst Du wieder hier sein.«
»Gut.«
Der Bursch ging still fort.
Den andern hielt der Müller zurück.
»Ich habe noch ein paar Worte mit Dir zu sprechen, Stephan.«
»Was ist's Meister?«
»Du gehst den Abend nicht mehr aus?«
»Bei dem Wetter nicht, Meister. Aber auch sonst nicht.«
»In, ja, Du bist ein braver und solider Mensch.«
Der Knappe wurde roth bei dem Lobe; er war ein hübscher Bursch, dem der weiße Mehlstaub in dem frischen Gesichte sehr wohl stand.
»Ich bin am liebsten hier,« sagte er leise und nochmals erröthend.
Der Müller achtete nicht darauf.
»Du hast vorhin gehört,« sagte er, »was über den Menschen, den Brandstätter gesprochen wurde?«
»Ja, Meister.«
»Bliebst Du wohl heute Nacht wach mit mir? Morgen ist Sonntag, da kannst Du den Schlaf nachholen.«
»Ich werde die ganze Nacht aufbleiben, Meister. Ihr könnt Euch ruhig schlafen legen.«
»Nein, Stephan. Vier Augen sehen mehr als zwei.«
»Fürchtet Ihr denn wirklich den Menschen, Meister?«
»Hast Du nicht gehört, was sie sprachen? Sage nur den Frauensleuten nichts. Die Sache kann gut gehen, dann hätten sie sich umsonst geängstigt. Morgen werde ich näher erfahren, was es mit dem Menschen eigentlich ist; wenn er aus Spandau ausgebrochen ist, so werden sie ihn Morgen schon unschädlich gemacht haben. Um so mehr muß man heute Nacht auf der Hut sein. Du kannst jetzt gehen.«
Der Müller sah noch einmal in der ganzen Mühle umher, ob Alles in Ordnung und gut verwahrt sei. Dann schloß er die beiden Thüren, die nach außen führten, sorgfältig ab; durch die dritte ging er hinaus. Diese führte unmittelbar in das Wohnhaus, das mit der Mühle zusammengebaut war; man gelangte durch dieselbe in einen kleinen Gang, an dem die Wohnstube und neben dieser die Schlafkammer des Müllers lagen.
Er ging auf seine Wohnstube zu. Sein Gesicht war kummer- und sorgenvoll. Er suchte es aufzuheitern, als er an die Thür der Stube trat. –
In demselben Augenblicke vernahm er etwas, was ihn stutzen machte. Er zog die Hand von dem Drücker der Thür zurück und horchte.
Er horchte nach der Hausthür hin, die gleich rechts von ihm lag.
»Ein Wagen noch?« fragte er sich. »So spät und in solchem Wetter? Aber das ist kein Mahlgast mehr. Die Pferde scharren und es hört sich an wie eine Kutsche. Wer kann das sein? Hier führt kein Weg vorbei. Wer könnte zu mir wollen? Sollte sich Jemand in der Dunkelheit verirrt haben? Der Wagen hält!« –
Vor dem Hause des Müllers hielt ein Wagen, der im raschen Trabe den schmalen aber ebenen Weg, der zur Mühle führte, herangefahren war.
Der Müller öffnete die Hausthür.
Eine herrschaftliche Equipage, mit zwei hellbrennenden Laternen, hielt unmittelbar an der Thür. In dem Scheine sah der Müller zwei stolze Rappen; auf dem Bocke einen Kutscher in weitem Mantel; einen Bedienten, der schon vom Bocke herunter gesprungen war, um den Kutschenschlag zu öffnen. In dem Wagen erhob sich eine Dame, und auf den Arm des Dieners gestützt, stieg sie aus. Sie war in der Mitte der vierziger Jahre, groß, vornehm, stolz in Gesicht und Haltung. Ihre Gestalt war dennoch gebeugt, ihr Gesicht verrieth Sorge.
Als sie den Müller sah, wollte sie sich stolzer erheben, doch vermochte sie es nur halb.
Der Müller erschrak bei ihrem Anblick; er erschrak, wie vor einem Unglück.
»Ist Eure Tochter zu Hause?« fragte ihn die Dame.
»Ja, gnädige Frau. Aber –«
Sie überhörte stolz das Aber.
»Führt mich zu ihr.«
Der Müller hatte sich gesammelt.
»Was wollen Sie von ihr?« fragte er.
»Ich habe ihr eine Mittheilung zu machen.«
»Nein, gnädige Frau,« sagte der Müller entschieden.
»Wie?«
»Sie können, Sie dürfen meine Tochter nicht sehen.«
»Ich muß sie sprechen.«
»Nein, gnädige Frau.«
Der Ausdruck der Sorge in dem Gesichte der Dame trat fast schmerzlich hervor.
»Meister Leuthold, es handelt sich um das Glück, um das Leben eines Menschen.«
»Wessen?« fragte der Müller.
Er sah sie finster, beinahe drohend, bei der Frage an und sie mußte vor dem Blick den ihrigen niederschlagen.
»Meines Sohnes,« konnte sie nur leise antworten.
Der Müller kämpfte heftig mit sich.
Er hatte bittere, zornige Worte auf der Zunge, er konnte sie nicht ganz zurück drängen.
»O, gnädige Frau,« sagte er, »seit vier Jahren muß ich hier tagtäglich ein zerstörtes Menschenglück um mich sehen. Und wer hat es zerstört? – Aber Sie sollen mein Kind sprechen, wenn es sich um das Glück eines Menschen handelt; ich will nicht Böses mit Bösem vergelten. Folgen Sie mir. Ich muß nur erst auf Ihren Besuch vorbereiten; treten Sie so lange in die Stube.«
Er führte sie in seine Wohnstube. Dort ließ er sie allein, indem er eine Treppe hinauf stieg, die zu den oberen Kammern des Hauses führte.