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Der Criminalrath hatte nun Ruhe zum Actenlesen. Er ging hinunter in sein Bureau und ließ sich die Untersuchungsacten vorlegen, in denen am folgenden Tage Verhöre zu halten waren, um sich auf diese vorzubereiten. Es war dunkler Abend, als er damit fertig wurde.
Als er sich dann in seine Wohnung begeben wollte, trat der alte Sekretär zu ihm ein.
»Er habe dem Herrn Criminalrath noch eine dringende Mittheilung zu machen.«
Der brave Beamte war dabei sehr verlegen.
»Ich muß jetzt selbst als Angeber zu Ihnen kommen, Herr Criminalrath. Der Gerichtsdiener Braun war bei mir. Er hatte Ihnen heute Mittheilungen machen wollen. Er hatte bemerkt, daß es Ihnen unangenehm sei, daß Sie schon gegen ihn eingenommen seien; da hatte er nicht den Muth gehabt. Das hatte ihn nachher wieder gedrückt; er hatte es für seine Pflicht gehalten, offen zu Ihnen zu reden; er konnte aber den Muth dazu nicht wiederfinden. So kam er zu mir und bat mich, statt seiner mit Ihnen zu reden.«
»Und er theilte Ihnen mit, was er mir hatte sagen wollen?« fragte der Criminalrath.
»Er theilte es mir mit.«
»Und Sie halten es für erheblich, und besonders für wahr?«
»Für erheblich allerdings, und was die Wahrheit betrifft, so bemerkte ich schon heute, daß Braun noch nie auf einer Unwahrheit ertappt ist.«
»Erzählen Sie,« sagte der Criminalrath.
Der Sekretär erzählte, was Braun ihm mitgetheilt hatte.
Auch dem Gerichtsdiener war es vom ersten Augenblicke an zweifelhaft gewesen, daß die Mamsell Laura, wie sie allgemein auf dem Weißenstein genannt wurde, die Nichte des Gefangenwärters Hartmann sei. Mit dem alten finsteren Mann darüber zu sprechen, hatte er nicht gewagt, auch er nicht. Desto mehr hatte er, der Mann, der gern denuncirte, auf sie geachtet, und da war ihm bald Allerlei verdächtig geworden. Schon gleich nach ihrer Ankunft war es ihm aufgefallen, daß die schöne Mamsell dem Herrn von Detting ihre besondere Aufmerksamkeit bewies, um seine Aufmerksamkeit zu erregen.
Adalbert Huber wurde doch über und über roth, als der Sekretär das erzählte, und er mußte seinen Augen verschiedene andere Richtungen gehen.
Der Sekretär fuhr fort:
Daß die Mamsell sich keine Hoffnung darauf machen könne, gnädige Frau von Detting zu werden, darüber glaubte Braun im Klaren zu sein. Eine bloße Liebschaft mit ihm anfangen konnte sie auch nicht wollen; der alte Hartmann hätte es nicht gelitten, und auch an der Mamsell glaubte er etwas zu bemerken, das er zwar nicht näher bezeichnen konnte, das ihm aber gegen die Annahme sprach, sie sei eine leichtfertige oder gar schlechte Person. Welchen Zweck verfolgte sie dann, hier durch ihre geheimnißvolle Anwesenheit? Welchen Zweck konnte sie namentlich bei der großen Pflichttreue und Ehrenhaftigkeit des alten Hartmann verfolgen? Er wußte es nicht; er suchte vergeblich, es zu ergründen. Nur über eines schien er gewiß und beruhigt zu sein; was sie auch hier wollen möge, es betraf nicht den Dienst auf dem Weißenstein. Seine Beobachtungen setzte er dennoch fort, und da wurde er doch nach allen Seiten wieder irre.
Zuerst überraschte er sie an einem späten Abend, als sie ganz allein aus dem Gange kam, der zu den Gefängnissen führte. Er hatte unmittelbar vorher hinten in dem Gange eine Thür auf- oder zuschließen gehört; er meinte, es sei eben die in die Gefängnisse führende Thür gewesen. Sie trug eine Blendlaterne; es war die Laterne, mit welcher der alte Hartmann zuweilen am späten Abende oder in der Nacht zu den Gefängnissen ging, um nachzusehen, ob dort Alles in Ordnung sei. In dem Scheine der Laterne sah Braun einen Bund Schlüssel, den sie trug; es war der Bund Gefängnißschlüssel, die sich im Besitze des alten Hartmann befanden. Die Ueberraschte erschrak, als sie plötzlich Braun vor sich sah; sie wollte die Schlüssel verbergen; dann aber, als Braun sie fragte, was sie so spät hier in dem Gange mache, erzählte sie ihm mit ihrer vollen Keckheit und Gewandtheit, ihrem Ohm, der schon zu Bette gelegen, sei es plötzlich vorgekommen, als habe er in der Richtung der Gefängnisse ein Geräusch vernommen; er habe aufstehen wollen, um zu sehen, was es sei; sie habe dem alten Manne gewehrt, der schon seit einigen Tagen unwohl sei, und sie habe selbst Laterne und Schlüssel genommen und sei hieher gegangen; sie habe aber Alles in Ordnung gefunden. Das war nun auch dem Gerichtsdiener Braun wie ein offenbares und dazu schlecht oder vielmehr frech erfundenes Märchen vorgekommen. Aber was sollte er anders dazu machen, als schweigen und weiter beobachten? Er fand sie aber nie wieder in dem Gefängnißgange; wenigstens nicht allein. Mit dem alten Hartmann sah er sie zwar manchmal zu den Gefängnissen gehen oder aus diesen zurückkommen; aber Hartmann nahm auch, wenn etwas zu tragen war, die alte Christine mit.
Dagegen fiel ihm bald etwas Anderes auf.
Braun hatte sich jeden Morgen in das Wohnzimmer des Herrn von Detting begeben müssen, um diesem die Terminsacten des Tages zu bringen und seine Befehle einzuholen. Am zweiten oder dritten Morgen nach jenem Abende fand er seinen Chef in einem ganz absonderlichen Zustande; der zarte Herr mit den überhaupt schwachen Nerven lag auf seinem Sopha abgespannt, als wenn er sich nicht rühren könne, und dann gleich wieder unruhig und aufgeregt, als wenn er fort, in die weite Welt müsse. Dem Gerichtsdiener befahl er, alle Verhöre für heute abzubestellen, und sich dann den ganzen Tag nicht wieder sehen zu lassen und auch in den Bureaus zu sagen, daß Niemand ihn heute belästige.
Am andern Tage hatte der Herr von Detting den Minister um seine Versetzung von hier gebeten, und er hatte dann bis zur Ankunft seines Nachfolgers keine ruhige Stunde mehr gehabt.
Was an jenem Morgen oder in der Nacht vorher geschehen war, hatte Braun niemals ermitteln können.
Aber Mamsell Laura war von diesem Tage an wie umgewandelt gewesen, fortwährend unruhig, träumerisch, ängstlich, mit scheuen Blicken den Leuten ausweichend; alle ihre gute, kecke und freche Laune war verschwunden.
Sie hatte sie erst heute wieder bekommen.
Das Heute war der Tag nach dem späten Abende, an dem der Criminalrath Huber auf dem Weißenstein eingetroffen war.
Adalbert Huber wurde nicht wieder roth; er war zu sehr mit seinen Gedanken beschäftigt.
Der Sekretär hatte noch etwas zu erzählen. Es betraf die verflossene Nacht, den eingelieferten Gefangenen Stiehler, den Braun schon eben in dieser Nacht auf dem Weißenstein gesehen haben wollte.
Braun hatte nur noch Weniges darüber beifügen können. Er hatte in der Nacht keinen Schlaf gehabt, war auf ein Geräusch aufmerksam geworden, das er unten in der Nähe der Wohnung Hartmann's gehört hatte, war an ein Fenster getreten und hatte unten auf dem Hofe einen Menschen gesehen, der an den kleinen steinernen Stufen vor der hohen Eingangsthür wie auf Wache gestanden hatte.
Während Braun mit sich überlegt, ob er zu dem Menschen hinunter gehen solle, kommen aus dem Hause drei andere Personen. Eine von ihnen kennt er; es ist die Nichte Hartmann's. Sie trägt die kleine Blendlaterne Hartmann's. In deren Scheine sieht er, daß die beiden Anderen ein Herr und eine Dame in Reisekleidern sind; der Herr ist eine hohe Gestalt, die Dame kann er nicht näher unterscheiden. Er sieht in dem Lichte auch die Gesichtszüge des Menschen, der an der Thür gestanden hatte, und er konnte ihn bei seiner heutigen Einlieferung wieder erkennen. Er hielt ihn für einen Diener oder Wegweiser des Herrn und der Dame.
Alle Drei entfernten sich mit der Mamsell Laura in der Richtung des Hinterpförtchens. Die Mamsell kehrte nach einer Weile allein zurück. Sie mußte die Fremden durch das Pförtchen hinausgelassen haben, wie sie sie wahrscheinlich durch dasselbe hereingelassen hatte.
Das waren die Mittheilungen Braun's, wie der alte Sekretär sie dem Criminalrath überbrachte.
Der alte Herr entfernte sich. Er hatte gesagt, was er auf dem Herzen hatte; ein Rath war von ihm nicht verlangt; er wollte wohl keinen aufdrängen; er wußte auch vielleicht keinen.
Der Criminalrath saß noch lange in tiefem Nachdenken.
Sein Abendessen wurde ihm gebracht, nicht von Mamsell Laura; die alte Christine trug es herein, deckte den Tisch, räumte nachher wieder ab. Laura hatte er nicht wieder gesehen, seitdem sie ihm den Kaffee gebracht hatte und dann unter Thränen und Schluchzen fortgestürzt war. Den Kaffee hatte er nicht angerührt; das Geschirr war in seiner Abwesenheit abgeholt, ob durch sie oder die alte Christine, wußte er nicht; es war ihm auch gleichgiltig. Und doch beschäftigte nur sie, Laura, seine Gedanken.
»Was hat sie vor? Warum hat sie meinen Vorgänger von hier vertrieben? War sie schon mit der Absicht hierher gekommen? Oder hatte sie später etwas mit ihm? Auch die Spukgeschichte hat sie ihm gemacht. Was will sie wieder mit mir? Was kann sie so unglücklich machen? Unglücklich ist sie. Das Weinen kam aus dem Herzen. Hätte sie den Herrn von Detting geliebt? Aber sieht sie denn aus nach unglücklicher Liebe? Und wer waren die Fremden in der vorigen Nacht? Ein Herr und eine Dame! Der Stiehler ihr Bedienter oder Führer?«
Auf einmal schien in den Wirrwarr seiner Gedanken ihm ein Licht zu kommen.
»Unten in den Gefängnissen muß es sitzen! Sie kann jeden Augenblick in den Besitz der Schlüssel zu ihnen kommen. Braun überraschte sie auf der Rückkehr von einem heimlichen nächtlichen Besuch in denselben. Ah, und kann nicht auch der Spuk nur aus ihnen herausgekommen sein? Das Schlafzimmer liegt gerade über ihnen! Der erdige Modergeruch ist da unten zu Hause! Ein Gefangener muß da unten sein, der – ihr nahe steht, dessen Schicksal ihr an das Herz geht. Aber wer könnte es sein? Ich sah doch heute alle Gefangenen. Wer könnte unter den Räubern, Dieben und Mördern, unter all' dem rohen, gemeinen, verkommenen Gesindel ihr nur irgend ein Interesse einflößen? – Aber sah ich sie denn Alle?«
»In die Gefängnisse!« rief er auf einmal. »Jetzt! Auf der Stelle! Es ist zwar schon der späte Abend. Aber –«
Er sah auf seine Uhr. Es war schon zehn vorbei, beinahe halb eilf.
»Aber gerade darum! Kein Mensch erwartet jetzt mehr meinen Besuch dort. Ist etwas, wie es nicht sein soll, es kann mir nicht entgehen.«
Er machte sich schnell fertig zu dem Gange, stieg eine Treppe hinunter zu der Wohnung des Gefangenwärters Hartmann, klopfte an dessen Wohnstube.
Die alte Christine öffnete ihm.
»Ist der Herr Hartmann zu Hause?«
»Zu Befehl, Herr Criminalrath.«
»Schon zu Bette?«
»Er wollte gerade in seine Schlafkammer gehen.«
»Sagen Sie ihm, ich müsse auf der Stelle einen nothwendigen Besuch in den Gefängnissen machen; er solle mich begleiten. Ich warte hier auf ihn. Eilen Sie!«
Die alte Magd kehrte in das Zimmer zurück.
Der Criminalrath blieb vor der Thür im Gange.
Er hatte dabei einen Nebenzweck.
»So kann Niemand vor uns zu den Gefängnissen und mich ankündigen.«
Er mußte nicht lange warten. Schon nach drei Minuten öffnete sich die Thür wieder.
Aber nicht der alte Gefangenwärter Hartmann erschien darin.
Mamsell Laura trat heraus mit der kleinen Blendlaterne und dem großen Schlüsselbunde, und gegen die Nacht- und Gefängnißluft in einen dichten Shawl gehüllt.
»Sie, Mamsell Laura? Was soll das?«
»Mein Ohm ist unwohl. Ich führe Sie in die Gefängnisse!«