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Demagogische Umtriebe und demagogische Untersuchungen waren zu jener Zeit die Worte des Tages in Deutschland, schon seit fünfzehn Jahren damals.
Die Franzosen hatten Deutschland geknechtet. Napoleon Bonaparte hatte die deutschen Fürsten aus ihren Ländern verjagt oder zu seinen Vasallen herabgedrückt, hatte das deutsche Volk in den eisernen Druck seiner Gewalt mit hineingezogen. Den deutschen Fürsten fehlte der Muth, nur einer Laune des frechen Eroberers sich zu widersetzen. Das deutsche Volk erhob sich, selbst gegen den Willen seiner Fürsten. Es jagte die Franzosen zum Lande hinaus, setzte seine Fürsten wieder auf ihre Throne ein und blieb – in der Knechtschaft, in der Knechtschaft seiner Fürsten, die es zurückgerufen, deren Throne es wieder aufgerichtet, neu befestigt hatte. Das deutsche Volk hatte in zahllosen Kämpfen, in Völkerschlachten, die die Weltgeschichte nicht großartiger und mörderischer kennt, sich hingeopfert, um einen Undank zu erfahren, der gleichfalls beispiellos in der Geschichte dasteht. Was ihm versprochen war, wurde ihm nicht gehalten, eine Mahnung an das Versprechen wurde als Hochverrath bestraft, und die edelsten Männer und Jünglinge Deutschlands wurden für das Wort Freiheit, ja, nur für den Gedanken an Freiheit verfolgt, in die Kerker geworfen, zum Tode und zum Zuchthause verurtheilt.
Das waren die demagogischen Umtriebe, das war die Zeit der demagogischen Untersuchungen.
Fünfzehn Jahre schon hatte diese Zeit gewährt und ihre Opfer gefördert, als am 3. April des Jahres 1833 das bekannte Frankfurter Attentat Es handelt sich hierbei um den sog. » Frankfurter Wachensturm« vom 3. April 1833; dieser war der gescheiterte Versuch von etwa 100 Aufständischen, durch einen Überfall auf die Hauptwache und die Konstablerwache in Frankfurt am Main eine allgemeine Revolution in Deutschland auszulösen. Der Frankfurter Wachensturm gehörte neben dem Wartburgfest 1817 und dem Hambacher Fest 1932 zu den spektakulärsten politischen Aktionen des deutschen Vormärz und bereitete die Märzrevolution von 1848 mit vor. - Anm.d.Hrsg. stattfand. Es war ein Act der Tollkühnheit, des Unverstandes, der daher auch sein Mißlingen, seine Vernichtung in sich selbst trug. Einige fünfzig Verschworene unternahmen ohne irgend eine genügende Vorbereitung einen Handstreich gegen Frankfurt am Main, proclamirten die deutsche Republik, waren nach Verlauf kaum einer Stunde besiegt, wurden zum Theil gefangen genommen, konnten zum größeren Theil durch schleunige Flucht nach allen Seiten hin sich davon machen, um weiter verfolgt, vielfach ergriffen und in Kerker und Banden geworfen zu werden. Die Demagogenverfolgung gelangte in Deutschland zu neuer grausamer und furchtbarer Blüthe.
Am dritten Tage war der Assessor Huber in der Residenz eingetroffen.
Eisenbahnen gab es damals in jenen deutschen Landen noch nicht. Der Assessor hatte mit der Schnellpost fahren müssen. Sie ging langsam genug.
»Wenn es nur keine demagogische Untersuchung ist!« sagte er sich noch im Vorzimmer des Ministers.
Seine Furcht war vergeblich. Der Minister hatte einen anderen Auftrag für ihn.
Einen besonders angenehmen freilich nicht.
Ganz am östlichen Ende der Monarchie lag, einsam und verloren, in ödem, steinigen, dürren Haideland, fern von einer Stadt oder von anderem Verkehr mit Menschen, ein altes, weitläufiges, halb oder zu drei Viertheilen verfallenes Gebäude, das seit mehr als hundert Jahren zu einem Gefängniß für schwere Criminalverbrecher gedient hatte und dadurch zugleich zum Sitz einer Untersuchungsbehörde geworden war.
Der Behörde stand ein Criminalrath vor.
Die Stelle des Criminalraths zu Weißenstein, oder wie man gewöhnlich sagte, wenn man von dem alten Gebäude sprach, auf dem Weißenstein, trug der Minister dem Assessor an, zugleich mit einer nicht unerheblichen Erhöhung seines Einkommens, mit freier Dienstwohnung, allerdings in dem alten Gebäude selbst: und mit der Zusicherung, daß er nach Jahr und Tag, da die Untersuchungsbehörde dann aufgehoben werde, auf eine bessere und angenehmere Stelle befördert werden solle.
»Es würde mir eine Freude machen, wenn Sie annehmen,« sagte der Minister.
Der Assessor wollte ihm die Freude machen.
»Ich habe Ihnen noch nicht Alles gesagt,« kam ihm der ehrliche Minister zuvor. »Sie finden schwere Arbeit auf dem Weißenstein. Der Criminaluntersuchungen sind dort stets viele; sie sind mit mancherlei Unannehmlichkeiten an jenem Ende der Welt verknüpft. Sie fallen Ihnen, als der einzigen richterlichen Person dort zu; das Unterbeamtenpersonal, meist auf dem Aussterbeetat stehend, ist nicht das beste und zuverlässigste.«
»Ich scheue vor Schwierigkeiten nicht zurück, Excellenz,« bemerkte der Assessor.
»Aber dann noch Eins,« fuhr der Minister fort.
»Ich muß Ihnen Auskunft darüber geben, warum ich in meinem Schreiben an Sie Eile und Verschwiegenheit forderte.«
Die Verschwiegenheit hatte der Assessor schon gebrochen. Er fühlte doch einen leisen Stich in seinem Herzen.
Der Minister theilte ihm Folgendes mit:
Gegenwärtig war ein Herr von Detting Criminalrath auf dem Weißenstein. Er war dort seit etwa sechs Wochen, der Nachfolger eines alten Beamten, der über vierzig Jahre Criminalrath auf dem Weißenstein, Junggesell und Sonderling gewesen war und eine ganz eigenthümliche Wirthschaft geführt hatte, in der er, namentlich in den letzteren Jahren, Gottes Wasser über Gottes Land hatte laufen lassen. So war es denn auch wohl kein Wunder gewesen, daß er bei seinem Tode manche Unordnung in seinen Amtsgeschäften zurückließ, und daß sein Nachfolger überhäufte und gewiß vielfach unangenehme Arbeit vorfand.
Der Herr von Detting war indeß ein tüchtiger und thätiger Arbeiter, der gleichfalls vor Schwierigkeiten nicht zurückscheute, mit kräftigen Händen zugriff, den ersten und beschwerlichsten Andrang der Geschäfte in den ersten vier Wochen bewältigte, und dann in der fünften plötzlich und unerwartet an den Minister schrieb, es sei ihm nicht möglich, auf dem Weißenstein länger zu verbleiben; er fühle, wie er dem Wahnsinn verfallen müsse, wenn er nicht auf das schleunigste von dort erlöst werde; er sei schon jetzt gemüthskrank; von Arbeiten sei bei ihm gar keine Rede mehr; er bitte und flehe Seine Excellenz auf das dringendste an, ihm sofort einen Vertreter, oder noch besser, einen definitiven Nachfolger zu schicken. Einen thatsächlichen Grund hatte er für das Alles nicht angegeben; er hatte nur erklärt, es sei ihm auf dem Weißenstein eben Alles und Alles zuwider; er müsse von da fort.
Der Minister war ein wohlwollender Mann; er kannte den Criminalrath von Detting als einen tüchtigen, wahrheitsliebenden Beamten, dessen Unglück er nicht auf sein Gewissen nehmen wollte. Er hatte daher, ohne lange und weitläufig zu untersuchen, den Assessor Huber zu sich beschieden, um diesen auf der Stelle nach dem Weißenstein zu senden, den Herrn von Detting zu erlösen und dabei zugleich in einer Weise zu verfahren, daß kein Eclat entstand, der wiederum in anderer Weise nachtheilig auf das Gemüth des vielleicht nur durch seine überhäuften Arbeiten krankhaft angegriffenen Beamten hätte zurückwirken können.
Das waren die Mittheilungen des Ministers. Er ließ dabei noch einen Umstand durchblicken.
»Ich habe gleichzeitig auf Privatwegen Erkundigungen eingezogen. Ich konnte sie mir nur behutsam und indirect zu verschaffen suchen. Was ich erfuhr, ist daher lückenhaft und dunkel, und zum Theil geradezu einfältig. Unzweifelhaft ist wohl der Aufenthalt auf dem Weißenstein in der einsamen öden Gegend, in dem alten, verfallenen Gebäude, mit seiner Gesellschaft von Dieben, Räubern und Mördern, nichts weniger als ein angenehmer, vielmehr ein sehr melancholischer. Dazu kamen die Stürme, die unter jenem Himmelsstriche beim Ausgange des Winters doppelt wild hausen. Der Herr von Detting soll in der That etwas zur Schwermuth geneigt sein. So erklärt sich sein Zustand und sein Benehmen, und es bedarf nicht weiter der Märchen, von denen die Leute in der Gegend sprechen. Ich will übrigens auch sie Ihnen nicht vorenthalten. Auf dem Weißenstein soll es nicht geheuer sein. Man erzählt von allerlei Spukgeschichten, von Mördern, die mit ihrem Kopfe unter dem Arm umhergehen – im Hofe des alten Gebäudes war früher ein Hinrichtungsplatz – von Kindesmörderinnen mit den ermordeten Kindern im Arm, von eingemauerten Gefangenen, deren Wehklagen man noch nach hundert Jahren höre, wenn der Sturm hauset. Noch in neuerer Zeit, unter dem verstorbenen Criminalrath, soll ein Gefangener in einem alten Thurm vergessen und elend verhungert sein; es wird sogar behauptet, der alte Criminalrath habe den Menschen absichtlich verhungern lassen, und es wird ein alter Gefangenwärter, der noch lebt, damit in Verbindung gebracht. Indeß, das Alles ist Geschwätz und Gerede ohne Grund und Boden, das sich ähnlich an alle alten unheimlichen Orte und Gegenden knüpft und das hoffentlich Ihnen nur Veranlassung zu interessanten Nachforschungen über seine Entstehung und Ausbildung liefern wird.«
»Und meine arme Braut?« fragte sich doch der Assessor. »Darf ich sie in das unheimliche Nest führen?«
Aber durfte er dem Minister die Frage vorlegen? Und durfte er um des Geschwätzes alter Weiber und um Spuk- und Gespenstergeschichten willen sein Glück, seine Carriere von sich werfen?
Er nahm die Stelle an, und der neue Criminalrath Adalbert Huber reiste nach seinem neuen Bestimmungsorte ab, nachdem er in eiligen Zeilen seiner Braut seine Beförderung gemeldet, von den Spuk- und Gespenstergeschichten aber nichts erwähnt hatte.