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Wer heute von Bern nach Luzern fährt, sieht linker Hand über Worb auf kurze Zeit am Westabhang der Emmentaler Berge ein mittelalterliches Schloß von gar trotziger Gestalt und etwa einen Büchsenschuß mittagwärts auf gleicher Höhe, zwischen mächtigen alten Bäumen, ein elegantes Lustschlößchen, wie nur das 18. Jahrhundert sie auszudenken wußte. Kaum erblickt, sind dem Reisenden die beiden Schlösser entschwunden, und Bauernhöfe, Wälder und Wiesen fesseln seine Aufmerksamkeit, sofern er es nicht vorzieht, die Nase in ein Buch zu stecken. Die Schlösser und Bauernhäuser stehen eben da, das grüne, blühende Land liegt links und rechts in seiner Schönheit, mit Fleiß und Verstand bebaut, gewiß; aber mehr denkt sich der Fahrgast nicht dabei. Es fällt ihm nicht ein, sich Gedanken darüber zu machen, daß all das, was sein Auge ergötzt, in Leid und Freud erstanden ist, daß ein jeglich Haus eine Chronik von Hoffnungen und Enttäuschungen darstellt und dem Wanderer eine Predigt hält über das uralte Sprichwort, daß alles eitel, alles auf Gottes Gnade angewiesen ist. Solchem nachzusinnen hatte noch Zeit, wer zu Fuß oder in der Postkutsche die Länder durchmaß. Die Eisenbahn schon reihte der Schicksale 174 so viele und so rasch aneinander, daß der Mensch sie nicht mehr voneinander zu scheiden vermag, und des Autofahrers Aufmerksamkeit folgt vollends innerhalb der Zäune dem ewig grauen Band der Landstraße, das auch der Tod gerne zu Streifzügen benützt. — Ach, daß wir noch Aug' und Ohr und Geduld hätten für die Häuser und Äcker!
Vergeßt einmal auf eine Stunde Geld und Sorgen, damit ich euch erzähle, wie das junge Schloß zu Worb neben das alte zu stehen kam!
Am Neujahrstag des Jahres 1714 war's, da trat der Junker Franz Ludwig von Graffenried zu Bern an der Vordern Gasse in die Stube seines Großvaters, des alt-Gubernators von Aelen und Mitherrn zu Worb, Herrn Anton von Graffenried. Durch die Buzenscheiben fiel ein kaltes Licht, denn draußen, auf der Gasse, lag frisch gefallener Schnee. Durch dieses seltsam tote Licht flackerte der warme Schein eines Kaminfeuers. Seltsamer noch war die Mischung der Düfte, welche den Raum erfüllte. In gesunden Tagen war das große, tiefe Zimmer mit dem eigentümlichen Geruch von alten Büchern, von Pergament und Leder durchdrungen, und das Knittern von alter Eselshaut wetteiferte mit dem Knistern glimmender Buchenklötze; denn Herr Anton liebte genealogischen Studien, durch die er sich einen Namen gemacht. Heute nun mischte 175 sich in diesen Duft ein anderer. Der Herr alt-Gubernator, von argem Katarrh gequält, war eben erst aufgestanden, zum erstenmal seit drei Wochen, in denen er sich mehrmals dem Tode nahe gefühlt. Sein Lager war noch nicht zurechtgemacht, sondern nur durch den Vorhang des Alkovens verhüllt. Die Mägde hatten heute dringendere Arbeit, wie der Bratenduft verriet, der hinter Junker Franz hereingedrungen war, und nun, vermischt mit den heilkündenden Dünsten der Medikamente, dem Kamin zuschlich.
Hier stand nun also der Knabe — er mochte seine zwölf Jahre zählen — festtäglich gekleidet vor dem im Lehnstuhl hustenden Greise, dessen kahles Haupt auf die majestätverleihende Perücke wartete, welche ihm gleich darauf von der noch recht jugendfrischen und schönen Frau alt-Gubernatorin, gebornen Susanna Lombach, entstäubt und mit neuem Puder versehen, aufgesetzt wurde. Wenn der alte Herr hustete, tönte es, als rieben sich in seiner Brust ein Dutzend Bachkiesel. Als Stille eintrat, küßte Junker Franz seinem Großvater die strenge Hand und wünschte ihm ein durch Gottes Fürsehung mit Frieden, leiblichem Wohlbefinden und Gedeihlichkeit in allem vorhabenden Fürnehmen reich gesegnetes Jahr. «Ich danke dir, mein lieber Franz», antwortete der Greis. «Nun aber will ich deinen Segenswunsch noch lateinisch hören.» Junker Franz geriet nicht in Verlegenheit. Er hatte erwartet, daß der 176 Großvater dies von ihm verlangen werde, und brachte die Übersetzung leidlich an Mann. Die Korrekturen nahm er entgegen, wie er es gewohnt war. Unterdessen war auch Franzens Mutter, Frau Regina, geborne von Tscharner, eingetreten. Der Herr alt-Gubernator erhob sich, begrüßte seine Schwiegertochter aufs höflichste und tauschte mit ihr die üblichen Glückwünsche. Darauf lud er sie ein, sich zu setzen und reichte ihr einen Brief, indem er beifügte: «Ich weiß nicht, ob Ihr in dieses Schreiben schon Einblick getan.»
Es blieb einige Minuten sehr still. Dem Knaben fiel auf, daß des Großvaters sternklare Augen in neugieriger Spannung auf der Lesenden ruhten. In der Hand seiner Mutter begann der Brief zu zittern, beinahe zu flattern. Ihre Brust wogte, und kaum hatte sie den Brief zurückgegeben, stürzten ihr Tränen über die blassen Wangen. Sie barg ihr Gesicht im Taschentuch und schluchzte, während der alte Herr zu ihr sagte: «Ich erwarte, daß der Inhalt dieses Briefes unter uns bleibt, bis der Lebenswandel des Schreibenden die Aufrichtigkeit seiner Gefühle beweist.»
Darauf winkte der alte Herr seiner Gemahlin, Platz zu nehmen, befahl dem Knaben, sich zu setzen, und ergriff eine auf dem Kaminsims bereit gelegte Pergamenturkunde. Durch die Tränen seiner Mutter erschüttert, heftete nun 177 Franz seine großen, harmlosen Bubenaugen auf den Großvater, dessen feierliches Gehaben ihm für einen Neujahrsmorgen sehr ungewohnt vorkam und nicht eben Erfreuliches zu verheißen schien. Er wußte zwar, daß man in den letzten Wochen mehrmals um das Leben des alten Herrn gebangt hatte; aber nun ging's ja wieder bergauf mit ihm. Es lag — das fühlte der Knabe — ein Geheimnis in der Luft. In der Verwandtschaft wurde getuschelt. Den Dienstboten war Schweigen auferlegt, und Franz war wiederholt vorgekommen, als betrachteten ihn Ratsherren, in deren Nähe ihn der Zufall führte, mit irgendwelchen Hintergedanken.
«Mein lieber Franz», begann nun der Großvater, oftmals durch Husten unterbrochen, «du wirst dich nicht wundern, daß ein Mann von meinen Lebenskonditionen den Wunsch hegt, sein Haus zu bestellen und alles, was Gott in seine Hand gegeben hat, also in Ordnung zu bringen, daß er mit reinem Gewissen und in der Gewißheit von hinnen gehen darf, daß die Erfüllung seiner vor dem Angesichte des Ewigen gefaßten Entschlüsse ihrer Vollstreckung unfehlbar entgegengehen. Und, um es gleich zu sagen: Du, mein lieber Großsohn, stehst inmitten dieser meiner Entschlüsse, so nicht in Willkür gefaßt, sondern durch Gesetz und Recht und die dermalen in unsrem Hause obwaltenden Verhältnisse meinem Gewissen abgezwungen worden. Da du erst fünf 178 Jahre alt warest, als dein Herr Vater uns verließ, sind die von unsern Altvordern zum ewigen Gedächtnis erlassenen Verordnungen dir bis dato unbekannt geblieben, als deren wichtigste ich dir mitzuteilen habe das Vermächtnis meines in Gott selig entschlafenen Herrn Vaters, wonach die Herrschaft Worb mitsamt Wickartswyl und Trimstein auf ewige Zeiten in Händen derer von Graffenried bleiben soll. Jeglicher Verkauf in andere Hand soll geahndet werden mit einer Buße von zweitausend Pfund an die ehrenwerte Gesellschaft zu Pfistern. Maßen nun dein Herr Großoheim, Junker Caspar, der heutige Oberherr zu Worb, aller Voraussicht nach dermaleinst ohne männliche Leibserben diese Zeitlichkeit mit dem ewigen Leben vertauschen wird und ich selber am nächstbesten Tag, wann Gott, dem Allmächtigen es gefällt, kann abberufen werden, ist es vonnöten, daß die Sukzession in der Herrschaft Worb beizeiten geordnet werde.
Mein Anteil an den Herrschaftsrechten besteht nicht allein in dem Neujahrskapaun, so im Bratofen auf uns wartet, in den hundert Eiern, den zwo Hammen und dem Buchenholz, das da sprätzelt, das sollst du wissen, mein lieber Franz, sondern im privilegio, mit zu Gericht zu sitzen und teilzuhaben an all der väterlichen Fürsorge für die Untertanen, wie sie einem getreuen Herrn und Haushalter wohl anstehet. Solche Obliegenheit erfordert es aber, daß ein zur Ausübung 179 dieser Rechte von Gott und Rechtes wegen Berufener wohl ausgestattet seie mit Weisheit, Kenntnis und Tugend aller Art. Darum so will ich dich, als meinen für den Fall meines, so Gott will, seligen Abscheidens vorbezeichneten Erben und Nachfolger in der Herrschaft, mit allem nötigen Wissen und sonstigen Tugenden wohl ausstatten lassen. Dieweil nun deine Frau Mutter mit deinen Schwestern auf etliche Zeit ins Welschland ziehet, gan Sales im Ryftal, so wirst du hier in meiner besondern Obhut und Erziehung zu einem würdigen Herrschaftsherrn verbleiben und wird meine liebwerte Frau, deine Stiefgroßmutter, an dir Mutterstelle vertreten. Gott behüte dich, daß du ob solcher deiner Distinktion nicht übermütig werdest, sondern in Bescheidenheit deiner hohen Verantwortung eingedenk bleibest!
So erzeige dich denn deines Berufes würdig durch Fleiß und sonderbaren Gehorsam!»
Junker Franz hatte mit gespannter Aufmerksamkeit zugehört. War ihm auch nicht neu, daß er Aussichten hatte, einst Herr von Worb zu werden, so machte die Feierlichkeit der Erklärung doch großen Eindruck auf ihn. Es war etwas wie eine vorzeitige Proklamation, die offenbar Geltung hatte, denn die beiden Damen hatten sich von der Rede kein Wort entgehen lassen und schienen mit ihren Blicken den Knaben zu fragen, ob er denn auch wirklich die Tragweite der großväterlichen Verfügung erfaßt habe. Was nun 180 aber seine Gedanken zunächst in Anspruch nahm, waren seine Aussichten für die allernächste Zukunft. Also Trennung von den vier Schwesterchen, die eine Art Hofstaat für ihn gebildet und sich seinen Launen meist willig gefügt hatten. Er konnte sehr artig mit ihnen umgehen, zuweilen aber auch den Tyrannen spielen. Und je anspruchsvoller er es trieb, desto mehr wurde er von den vieren bewundert. Daß er nun allein in Bern bleiben sollte, dazu im Hause des gestrengen Herrn Großvaters, war nicht eben die schönste Überraschung des Neujahrstages. Einen Trost bildete die Stiefgroßmutter, kurzerhand Grand'maman genannt. Sie war noch frisch und lebensdurstig, viel zu jung für ihren im 73. Jahre stehenden Mann. Der Knabe begann auch schon das Gewicht ein wenig zu fühlen, das ihm unter den Alterskameraden seine Bestimmung zum Herrschaftsherrn geben mußte. Wohl schwebte da noch etwas Geheimnisvolles in der Luft, das mit den ungewöhnlich ernsten Mienen der drei erwachsenen Personen zusammenhängen mußte, vielleicht auch mit den Tränen der Mutter. — Warum sollte denn eigentlich der Vater nicht aus Amerika zurückgerufen werden, wenn die Herrschaft ledig wurde?
Ein tieferes Grübeln über diese Frage ließ aber der immer deutlicher werdende Bratenduft nicht zu. Zudem sah sich Franz von seiner Mutter mit der Mahnung «dankst du deinem Herrn 181 Grandpapa nicht?» an des alten Herrn Knie herangeschoben.
« Merci beaucoup, mon Grandpapa», sagte er etwas mechanisch und küßte abermals die noch von Seife duftende, behaarte Hand. Diese Hand entfaltete jetzt einen umfangreichen Pergamentbogen voll wunderschön geschriebener Buchstaben. Franz entzifferte nur den reich verschnörkelten Ingreß: «In Gottes, des Allmächtigen Namen — Amen.» Dann fing der Text an: «Ich Antonius...»
«Hier», kam der Großvater seines Enkels weiterem Lesen zuvor, «steht geschrieben und versiegelt, was ich dir sagte. Diese Urkunde verwahre ich für dich. Und wenn es einmal nötig werden sollte, deine Rechte geltend zu machen gegenüber... gegen...» Da brach der Herr alt-Gubernator plötzlich ab, erhob sich keuchend und hustend und verschloß das Dokument mitsamt dem von den Tränen der Mutter benetzten Brief in seinem hübsch eingelegten Schrägbureau. Leise ächzten die Scharniere, und das Klappbrett mit dem von steifen Palmzweigen umrankten Wappen der Graffenried legte sich, Schweigen gebietend, wie eine Grabplatte auf das Geheimnis.
Dem jungen Herrn wurde befohlen, zu seinen Schwestern im oberen Stockwerk zu gehen und mit ihnen zu spielen, bis zum Mittagessen gerufen würde. Die Frau alt-Gubernator begab 182 sich in Küche und Speisezimmer, um auch ganz sicher zu sein, daß sie mit ihrem Neujahrsschmaus Ehre einlegen werde, und überließ es der Schwiegertochter, an der Toilette ihres Gemahls die letzte Hand anzulegen. Dem alten Herrn verschaffte es ein gewisses Behagen, sich von der Dame bedienen zu lassen, die auch heute, als Mutter von fünf Kindern, noch immer etwas sehr Begehrenswertes an sich hatte. Obwohl ein Gelehrter und staatsmännisch feiner Kopf, schien er von dem keine Ahnung zu haben, was im Herzen seiner Schwiegertochter vor sich ging, während sie sein Jabot knüpfte und ihm die Kniebänder schnürte. Es müßte einer nichts von einem bernischen Staatsmann an sich haben, überlegte sie, während sie dem Prustenden und dazwischen geschmeichelt Lächelnden in die Schnallenschuhe half, würde er nicht ob aller scharfsinnigen Aufmerksamkeit für Staat und Amt blind gegen die Seelennot seiner Allernächsten. Wie könnte er es sonst mit so selbstverständlichem Schweigen geschehen lassen, daß ich mit meinen Tränen seine Schuhe benetze? Sie war sich nicht klar, sollte sie diesen Mann, in dessen klugen Händen ihr ganzes Schicksal lag, hassen oder verehren. Sie tat beides in raschem Wechsel der Stimmung. So würden Götter sein, wenn sie vom Weibe geboren wären, dachte sie weiter. Im Begriff, sie aus Kränkung zu erwürgen, wäre unsereins schon gleich wieder bereit, sich ihrer Manneslaune 183 vorbehaltlos zu fügen. — Verbitterung über ihre Abhängigkeit und sieghafte Freude an der eigenen Entschlossenheit, alles dran zu geben für das Wohlergehen ihrer Familie, kämpften in Frau Reginas Brust, als sie endlich unter dem wuchtvollen Mittagsgeläute der Münsterglocke den Herrn Schwiegervater an die silberglänzende Tafel begleitete.
Es war eine freundschaftliche Aufmerksamkeit ihrer jungen, froheitsdurstigen Stief-Schwiegermutter, daß sie Frau Salome von Steiger mit ihrem Mann, dem Venner zu Obergerwern, zum Mittagessen gebeten hatte. Frau Salome, Reginas Schwägerin, offen und verstehend, konnte es ebensowenig wie diese verhindern, daß der Herr alt-Gubernator seinen eigenen Sohn, Reginas Gatten, während dessen Abwesenheit in Amerika hier in Bern hatte in Geltstag fallen lassen, was seine Streichung aus dem Rate der Zweihundert ohne weiteres nach sich zog. Man wußte ja freilich, daß das aus sorgfältiger Erwägung für die Zukunft der Familie und nicht bloß aus väterlicher Entrüstung über des Sohnes mißlungene Spekulationen geschehen war. Aber, so fragten sich die Frauen immer wieder, gab es denn keinen andern Weg?...
Nun — man saß jetzt zu Tisch und war froh, daß die erwartungsvollen Augen der Kinderschar lebenden Glanz in die Stube brachten. Sie waren um so lustiger, als das Essen der Tyrannei ein 184 Ende gebot, mit der vorhin Franz im Kinderzimmer sich breitgemacht hatte. Der junge Herr schien auch jetzt ein ganz anderer zu sein, als er erst heute früh noch gewesen. Dazu kam den kleinen Schwestern vor, als gingen die Alten alle mit Fränzel um, wie wenn er heute Geburtstag hätte. Und als man endlich vom Tisch aufstand, zeigte es sich, daß der junge Herr noch gar nicht soviel Wein zu ertragen vermochte, ohne übermütig zu werden. Eigentlich waren die Damen geneigt, sich darüber zu entrüsten. Wie konnte nur der alte Herr so töricht sein, einem zwölfjährigen Knirps zwei recht große Becherlein des feurigen Sales de Rivaz einzuschenken! Aber sie sagten nichts, wohl wissend, daß auch das zur politischen Pädagogik gehöre. Was sollte ein Staatsmann ausrichten, der nicht von Jugend auf zur «Standhaftigkeit» auch nach den schwersten diners erzogen war?
Abends freilich, als er zu Bett gebracht war, überkam den präsumptiven Herrn zu Worb, Wickartswyl und Trimstein ein weinerliches Grübeln. Warum — warum war denn heute nie und mit keinem Wort von seinem Vater die Rede gewesen? — Er lebte ja noch, also mußte doch er vorerst Herr werden zu Worb?
O glückliche, schnell vergessende Jugend, die du es verstehst, ohne Bedenken zuzugreifen und ganz dir zu eigen zu machen, was dir erreichbar ist! — Als rings um das Schloß Worb alle Obstgärten 185 in ihrer Blust prangten und das ganze Land zu Füßen des Berges zwischen den dunklen Wäldern wie mit gelbem Blütenstaub bedeckt schien, ritt an einem himmelblauen Maienmorgen Junker Franz von Graffenried in Begleitung seines Oheims, des Venners Sigismund von Steiger, durch den Taleinschnitt von Enggistein hinauf, gegen Wickartswyl. Leuchtenden Auges wies er mit der Reitgerte nach den schneebedeckten Bergspitzen, die jenseits des Talkessels von Biglen hinter den Forsten auftauchten. Steiger nickte zustimmend, als der junge Reiter gleich einem Wetterkundigen sagte: «Wir taten gut, heute zu kommen. Die Berge scheinen zu nah, als daß das Wetter so bleiben könnte.» Der Onkel ließ den Jungen vorausreiten. Er sollte nicht merken, wie sehr ihn der köstliche Eifer unterhielt, mit dem Franz die Gegend erklärte. Er trug auch Sorge, daß der Neffe im Wahn blieb, er habe den Ritt durch das Gebiet seiner künftigen Herrschaft, der ihm von Tante Salome vorgeschlagen worden, veranlaßt. Das mußte man dem Junkerchen lassen, er versäumte nichts, um sich mit Land und Leuten vertraut zu machen. Jeden freien Tag seit Jahresanfang hatte er zu Besuchen im Schloß oder zu Streifereien in der Umgegend benützt. Man kannte ihn bereits in den Dörfern und Gehöften und zeigte ihm allenthalben ein freundlich Gesicht. Was Wunder, daß er schon jetzt in die Rolle hineinwuchs, die er dereinst zu spielen hatte! Ein schöner Traum 186 beherrschte ihn. Die weisen Lehren des politisch denkenden Großvaters und das aufmerksam belauschte Schalten und Walten des Herrn Caspar, des gegenwärtigen Oberherrn, gewannen bei diesen Streifzügen in des Junkers Kopf Gestalt und weckten in seinem Wesen einen väterlich herablassenden Zug, der aus manchem wetterharten Bauerngesicht ein leises Lächeln herausholte. Er blickte in eine wahrhaft ideale Zukunft und war fest entschlossen, seine Herrschaft zu einem Lande der Glücklichen zu machen. Fast beunruhigte ihn zuweilen die Befürchtung, daß man ihn zu lange bevormunden würde. Eifersüchtig hütete er seine utopischen Pläne, und wenn er in stillen Stunden voraussah, daß diese Ratsherrn einmal mit unerbittlicher Hand Korrekturen darin anbringen würden, so drängte sich ihm des Archimedes letztes Wort schon jetzt auf die Zunge: «Verwischt mir meine Kreise nicht!»
Das Dörflein Wickartswyl konnte jedes Herrschaftsherrn Gemüt mit Genugtuung erfüllen. Da gab es keine armen Schuldenbäuerlein. Stolz und hoch reckten sich die Giebel der Häuser, und die Misthaufen glichen goldglänzenden Burgen, deren Wallgräben den braunen Reichtum kaum zu fassen vermochten. Berühmt war der schöne Viehstand, berühmter noch waren die junonischen Gestalten der Bauerntöchter von Wickartswyl, die in gediegener Tracht einherschritten. Es entstand kein müßiges Festgetümmel auf der Dorfstraße, wenn 187 der Herrschaftsherr kam, auch jetzt nicht. Die Bauern ehrten den Herrn durch ihren Fleiß, der sich nicht stören ließ.
Junker Franz hatte das feine Ohr des geborenen Regenten. Er vernahm das Seufzen, das in diesem musterhaften Fleiße der Bauern lag. — Wann wird der Bauer das Seufzen verlernen? — Und es gehörte in seine Pläne, dieses Seufzen zum Verstummen zu bringen. Groß, weit und frei sollte der Raum sein, darin seine Herrschaftsleute sich bewegten. «Aber ich will sie in das gelobte Land führen — ich — ich — ich.» So dachte er auch jetzt angesichts des Dorfes.
Als die beiden Reiter das erste Haus erreicht hatten, machte sich der Venner an seinem Sattelgurt zu schaffen uud ließ den Neffen vorangehen. In seinem Eifer, die Augen mit dem reichen Blustschmuck des Dorfes zu tränken, beachtete Junker Franz das Zurückbleiben des Begleiters nicht. Keck erhobenen Hauptes, Zufriedenheit zur Schau tragend, ritt er weiter, als ihm plötzlich, aus dem grünschimmernden Schatten der Dorflinde hervortretend, ein fremdartig aussehender, klingelhagerer, großer und gebieterisch blickender Mann in bescheidenem Kleide seine derbe Hand entgegenstreckte und sagte: « God bless you, Francis».
Dem Junker schoß alles Blut zum Herzen. Jeden Gruß vergessend, blickte er starr in das energische, gelbliche Gesicht. Seine Überraschung und Ernüchterung hätte nicht größer sein können, 188 wenn in diesem Augenblick die Bauernhäuser links und rechts in Staub sich aufgelöst hätten.
Stumm noch war der Mund, groß geweitet blickten des Knaben Augen, als der Mann fortfuhr: «Kennst du deinen Vater nicht wieder?»
Ja, doch. Er kannte ihn wieder trotz der sieben Jahre, die seit ihrem letzten Beisammensein verstrichen waren und den Vater auf das herbste verändert hatten. Jäh fuhr Franz eine Erinnerung durch den Kopf. Schon bald nach Neujahr war das gewesen. Auf dem Heimweg von der Schule, den die Studentlein gewöhnlich ganz unnötigerweise über den Kirchhof nahmen, hatte einer der Kameraden dem andern zugeraunt: «Dort steht dem Franz sein Vater, siehst du, dort bei dem Baum?» Er, Franz, hätte es offenbar nicht hören sollen, denn die Kameraden taten so, als müßte er sich des vermeintlichen Vaters schämen. «Dummes Zeug», hatte er in das Gespräch eingegriffen, «mein Vater ist seit sieben Jahren in Amerika, er ist Landgraf von Carolina.» Immerhin hatte er einen Blick nach dem Manne geworfen, und — bei Gott! — das war derselbe gewesen, der hier stand. Er hatte ihn seit jener Begegnung nicht wieder gesehen; aber blitzschnell jagten sich jetzt in Franz die Erinnerungen an allerlei geheimnisvolles Reden und Tun von Großeltern und Mutter und Onkel Steiger. Der arme Junge war total verwirrt, fand keine Worte; aber die Gewalt dunkler Gefühle nötigte ihn aus dem Sattel. Er sprang ab, 189 küßte dem Fremden, den er aus unerklärbarem Trieb als seinen Vater anerkannte, die Hand und warf sich, in Tränen ausbrechend, an seine Brust. Trotz der tiefen Erschütterung seiner Seele fiel dem Knaben der seltsam fremde Geruch auf, der den Kleidern des Vaters entströmte. Herr Christoph von Graffenried war nicht minder erschüttert als sein Söhnlein. Ein rasender Schmerz durchzuckte ihn. Wie einer, der das glühende Eisen, mit dem er in Berührung gekommen, fahren läßt, so löste er den Knaben rasch von sich. Aber er hielt ihn doch mit beiden Händen fest und blickte ihm, halb erfreut, halb gequält, in die verwirrt fragenden Augen. Durch belanglose Fragen suchtchte er sich aus dem Wirrwarr seiner schmerzlichen Gefühle zu befreien. «Wie geht's dir, Francis? — Wie alt bist du jetzt? Was treibst du denn immer? — Wie groß du geworden bist! — Was hast du da für einen Gaul? Wem gehört er? — Schlecht aufgezäumt. Das Gebiß sitzt schlecht. Schau her! Das muß dem Tier wehtun. — Sag, mein Sohn, was suchst du hier? Wo willst du hin?» Da lag dem Jungen schon die Gegenfrage auf der Zunge: «Wie kommt denn Ihr daher, mein Herr Vater?» Aber er schwieg. Blitz um Blitz zuckte durch sein Gehirn. War es denn nicht selbstverständlich, daß der wiedergefundene Vater nun zwischen ihn und den Großvater trat? — Dieser von verhaltenem Feuer glühende Mann, der vom Scheitel bis zur Sohle etwas Gebieterisches und rasch Zugreifendes 190 hatte — der Landgraf von Carolina — der ließ sich doch nicht aus dem Brett wegstellen wie eine mattgesetzte Schachfigur. Schaum und Seifenblasen waren somit des Knaben Pläne. — Plötzlich ausgelöscht war das herrliche Licht, das ihn so hell und warm erleuchtet hatte. Und schon keimte etwas wie Ablehnung und Auflehnung gegen den Vater Landgrafen in Franz. Er ahnte Kampf, Kampf zwischen Vater und Sohn, zwischen Großvater und Vater. Und dann regte sich wieder ein Gerechtigkeitsgefühl, ein Bedauern mit dem Vater, eine Ahnung von unbilliger Härte des Großvaters. Wer war da im Recht? Für wen sollte sich die Liebe regen? Eine heillose Verwirrung tobte in der jungen Brust. Der Junker sah jetzt seinen Vater mit eigentümlich belustigten Augen die Bauernhäuser mustern, die in ihrer unnötigen Grundfestigkeit, Schönheit und Sauberkeit dem Amerikaner ein Lächeln abnötigten. Franz wußte sich dieses Lächeln nicht zu deuten. War es Freude, war es Spott? Es sah eher nach Geringschätzung aus, und schon fühlte sich der Knabe und künftige Herr beleidigt, so, als ob da einer sein eigenes Werk bespöttelte.
Unterdessen hatte sich der Oheim genähert. Seine Verwunderung, den Schwager aus Amerika hier zu treffen, war so ungenügend gespielt, daß in Junker Franz sich sofort ein Verdacht regte. In rascher Kette glitten seine Gedanken rückwärts. Ja, ja, so mußte es sein. Das Zusammentreffen 191 mit dem Vater hier oben, abseits von Bern und Worb, war ohne Zweifel Einfall und Werk der Tante Salome. Somit hatte in alledem, was sich zu Neujahr und seither in des Knaben Umgebung ereignet, der Zufall gar keinen Raum. Ein Spiel wickelte sich offenbar ab, dessen Mittelpunkt er selber war. Es gab da Parteien, an deren Spitze hüben und drüben er und sein Vater vorgeschoben wurden. Es ging um den Anspruch auf die Herrschaft Worb. Darüber, daß das Zusammentreffen kein Zufall war, ließ auch der Vater keinen Zweifel bestehen. Nach ein paar Bemerkungen über das Dorf und die Leute, die nun doch erkennen ließen, daß die Herrlichkeit der Heimat in ihrem Maienschmuck gewaltig zu dem Heimgekehrten redete, bekannte dieser ohne Umschweife, daß er seine Schwester gebeten habe, ihn irgendwie mit Franz zusammen zu führen.
«Ich hoffe, my dear», sagte Herr Christoph mit einem hierzulande ungewohnten Akzent, «daß du mein Verlangen verstehest.»
«Es war auch mein Verlangen», antwortete Franz, nicht ganz sicher, ob er eigentlich damit nicht log, «und ich denke, wir haben ein Recht, uns zu sehen, das uns niemand bestreiten kann.»
Herr Christoph nahm seinen Sohn beim Wort, und es wurde verabredet, daß man sich nun regelmäßig in der Wohnung des Venners treffen wolle, zu einer Stunde, da der Großvater im Rathaus durch Amtsgeschäfte festgehalten sei. «Du sollst 192 die Schicksale deines Vaters kennen lernen», sagte der Landgraf, «mehr ist nicht nötig.»
Nachdem die drei Herren sich in behaglicher Rast dem Zauber des Frühlingstages hingegeben, kehrten sie nach dem Enggistein-Bade zurück, allwo der Venner den Tisch in ausgiebiger Weise decken ließ. Es war nicht so ganz nach des Junkers Wunsch, daß der Venner sich beim Nachtisch entfernte, um Vater und Sohn eine weitere Gelegenheit zu ungestörter Zwiesprache zu geben. Willkommener war ihm das Scharren der aufgezäumten Pferde. Herr Christoph, der zu Fuß gekommen war, blieb zurück. « Good bye, Francis», sagte er beim Abschied, « I hope we will see us again at Berne». Franz erriet den Sinn der ihm fremden Worte und warf einen fragenden Blick auf den Oheim, als sollte dieser entscheiden, ob ein Wiedersehen in Bern statthaft sei. Der Knabe bewahrte auf dem Heimweg Schweigen über seine Unterhaltung mit dem Vater, und der Venner vermutete, daß die beiden nach echter Bernerart ihr Essen mit Schweigen gewürzt hatten. Die Reiter näherten sich schon den Toren der Stadt, als Franz seinen Onkel fragte: «Glaubt Ihr, mein Herr Vater werde Anspruch machen auf die Herrschaft?»
«Darüber wollen wir uns noch keine grauen Haare wachsen lassen», antwortete der Venner auflachend, «Herr Caspar, dein Großonkel, scheint sich dermalen auf seinem Schlosse noch recht wohl zu fühlen.»
193 Weniger wohl als Herr Caspar auf seinem Schlosse fühlte sich ohne Zweifel Junker Franz. Noch ganz von der romantischen Traumwelt seines zarten Alters umwogt, bekam er jählings die Welt zu sehen und zu fühlen, wie sie ist, und das Unbegreiflichste daran schien ihm, daß da nicht Recht gegen Unrecht stand, sondern Recht gegen Recht. Verurkundetes, mit der unnachsichtigen Schärfe staatsmännischer Tradition erwogenes Recht war in Gegensatz geraten zu natürlich menschlichem Gefühl, einem Rechtsempfinden, das doch offenbar vor Gott bestehen durfte. Noch wußte der Knabe keine Begriffe zu formulieren. Desto schwerer litt er unter dem Widerstreit. Sein Innerstes lehnte sich dagegen auf. Ließ sich denn dieser Widerspruch nicht aus der Welt schaffen? Nahmen denn diese Rechte ihren Ursprung nicht beide in des Menschen Brust und letzten Endes in des Schöpfers heiligem Willen? Von Tag zu Tag mehr empfand Junker Franz das Bedürfnis, der Sache auf den Grund zu gehen. Warum war ihm verboten, seinen Vater zu sehen? Tante Salome hatte ihm geraten, sich ganz Grand'maman anzuvertrauen und in der Sache nichts zu tun, noch zu reden, ohne erst deren Rat eingeholt zu haben. Und bald hatte er herausgefunden, daß die Großmutter menschlich-natürlich fühlte, sein Verlangen nach ungehemmtem Verkehr mit dem Vater sehr gut begriff, aber vor der Unbeugsamkeit des Herrn alt-Gubernators zitterte. Sie stand offenbar selber 194 unter dem Konflikt der beiden Rechte, wenn auch vermutlich ohne sich darüber Rechenschaft zu geben.
So sah es in des Knaben Kopf aus, der in der Zeit von wenigen Wochen aus einem harmlosen Kind zu einem vorsichtig berechnenden Menschen heranreifte. Schon ging er darauf aus, durch Verstellung die Leute in Sicherheit zu wiegen, um sie desto besser aushorchen zu können. Eines Tages, nachdem des Herrn Christoph Heimkehr aus Amerika schon allgemein ruchbar geworden, fragte er Herrn Anton, ob es ihm nicht gestattet würde, seinen Vater einmal in Sales-sur-Rivaz zu besuchen. Das war ein Schachzug, der einem Diplomaten seines Alters alle Ehre machen konnte. Er verfolgte damit keinen andern Zweck, als den Herrn Großvater in den Wahn einzuwiegen, daß der Enkel gar nicht um die Anwesenheit seines Vaters in Bern wisse. Aber Junker Franz hatte den Spürsinn des Herrn alt-Gubernators unterschätzt. Einen Plan zu spinnen ist schon etwas; ihn durchzuführen hingegen mehr.
«Was willst du mit deinem Herrn Vater?» fragte Herr Anton mit lauerndem Blick.
«Ei nun», antwortete Franz, «gar nichts Besonderes. Ich denke, es sei doch nichts Ungebührliches, wenn Vater und Sohn ein Verlangen nacheinander tragen.»
Kaum war das heraus, erschrak der Junker über seine eigenen Worte. Der Blick des alten Herrn hatte ihn verwirrt, so daß er nun gar noch 195 errötete, als der Großvater weiter fragte: «Woher meinst du zu wissen, daß deinen Herrn Vater nach dir verlange?»
«Ich denke mir das nur so... Es wäre doch, scheint mir, ganz natürlich.»
«So? — Nun, du scheinst keine schlechte Meinung von deiner grünschnäbelichten Person zu hegen. — Aber sage mir, woher weißt du, daß dein Herr Vater in Sales weilt?»
«Meine Frau Mutter und die Schwestern sind doch dort, und da habe ich mir gedacht...»
«Deine Kombinationen entbehren nicht der Logik, mein kleiner Aristoteles.» Der alte Herr klopfte dem Enkel beifällig auf die Schulter, hatte dabei aber einen so eigenartig belustigten Ausdruck im Gesicht, daß Junker Franz sich durchschaut fühlte. «Nun», fuhr Herr Anton fort, «wenn es Zeit sein wird dazu, so werde ich dich selber mit deinem Herrn Vater zusammenführen. Einstweilen hast du deinen Studien zu leben und dich weiter um gar nichts zu kümmern, verstehst du? — Hier drin» — der Großvater klopfte mit hartem Finger auf den geschlossenen Schreibtisch — «hier drin ist schwarz auf weiß festgelegt, welchen Lauf die Dinge zu nehmen haben. Es war ein Beweis hohen Vertrauens, daß ich dir Einblick in die Urkunde gewährte, die auf deines Ahnherrn unverletzlichen Willen sich stützt, und ich erwarte von dir, daß du in keiner Weise Hand bietest zu irgendwelcher Durchkreuzung meiner Pläne, und 196 ginge sie auch unter Anrufung deiner Sohnesliebe von deinem Vater aus. Deinen Herrn Vater magst und sollst du in Ehren halten, wie das Wort Gottes es befiehlt. Darum aber, daß er durch seine Torheit all seine Rechte und Ansprüche auf Amt und Ehren verwirkt hat, hast du dich nicht zu kümmern. Sapienti sat! — An deine Arbeit! Marsch!»
Mit gehörigem Kratzfuß entfernte sich Franz, nicht völlig im klaren, welche Folgen die Unterredung haben werde. Jedenfalls galt es, doppelt vorsichtig zu sein.
Der alte Herr, der sich übrigens von seinem Winterkatarrh vollkommen erholt hatte und wieder zu jeder Arbeit tüchtig fühlte, stand, den Blick in die Ferne gerichtet, mitten in dem Zimmer, hielt die Hände auf dem Rücken verschränkt und wippte bedächtig in seinen Schnallenschuhen. Sollte es möglich sein, daß der Bengel die Absicht hatte, ihn, den Großvater, durch die gestellte Bitte hinter das Licht zu führen? — Fast nicht zu glauben. Das wäre ja — Herr Anton schmunzelte — das wäre ja recht verheißend. — Allem Anscheine nach aber wurden da Fäden gesponnen — von zarten Händen gesponnen — Salome — vielleicht sogar Susanna. Das Erbarmen weicher Seelen war an der Arbeit. — War wohl Christoph schon mit dem Buben in Fühlung? — Da galt es, rasch zu handeln. — Mit seiner eigenen List mußte der kleine Kabalenschmied geschlagen werden.
197 Einen Moment noch stand der Herr alt-Gubernator da, gesenkten Hauptes, stoßbereit. Dann drehte er sich so entschlossen auf den Absätzen, daß die Schöße seines Justaucorps flogen, und schritt energisch an das Schreibbureau. Das Brett öffnete sich, leise kreischend, und die Feder warf, einer Peitsche gleich, Schriftschleifen von unheimlicher Sicherheit auf einen an Herrn Christoph adressierten Bogen. Der Brief enthielt wenige Sätze. Der am schwersten wog, erteilte in Form väterlichen Rates den Befehl, sich ehestens zu seiner Familie nach Sales zu begeben, um den Gläubigern zu entrinnen, welche sich den offenbar bekannt gewordenen Aufenthalt des Landgrafen von Carolina in Bern zunutze machen würden. Wenige Minuten darauf eilte ein Dienstmädchen mit dem versiegelten Brief nach dem Hause des Herrn Venners v. Steiger.
Frau Susanna von Graffenried, geborne Lombach, saß am Abend auf ihrem breiten, ebenso elegant wie währschaft gearbeiteten Louis XIV-Ruhbett, schön in der Mitte, so daß die rosarote Seide ihrer weiten und verschwenderisch ausgeschnittenen Robe sich in reichen Falten links und rechts auf dem olivengrünen Polster ausbreiten konnte. Die graziöse Frau bildete mit dem Ruhbett eine bildhafte Einheit, die dem an der andern Seite des Tisches ihr gegenüber sitzenden Herrn Gemahl festlich stimmenden Genuß bot. Herr Anton 198 hatte eben die Karten gemischt, hielt nun aber vor dem Austeilen plötzlich inne, so als wollte er diese Glück spendende Aktion an eine Bedingung knüpfen. Im Gegensatz zu den willfährig hellen Augen seiner Gattin hatten die seinen etwas Lauerndes. «Susanna», sagte er strengen Mundes, «um auf das eben Besprochene zurückzukommen, ich erwarte von Eurer Gewissenhaftigkeit wirksamste Unterstützung meiner Absichten. Ihr werdet den Knaben mit Argusaugen hüten, bis mein Sohn die Stadt verlassen hat.»
«Diese Hand», antwortete sie, «wird ihn hinter Schloß und Riegel halten, bis die Stadttore sich hinter Christoph geschlossen haben.»
Befriedigt küßte Herr Anton die dargebotene Hand und begann die Karten auszuwerfen.
Alltäglich ließ er sich nun vom Torwart den Rodel der Passanten vorlegen, was ihm, als einem Mitgliede des täglichen Rates, gestattet war. Er hatte denn auch vor Ablauf der Woche die Genugtuung, eine Eintragung von 4 Uhr morgens zu finden: «Herr Christoph von Graffenried, gan Rivaz im Ryfthal.»
Der Wächter am Murtentor mußte in der nächsten Zeit jede Nacht zwischen 11 und 1 Uhr einem jungen, blitzsaubern Herrchen die kleine Pforte öffnen. Er sah es mit fliegenden Rockschößen die Murtenstraße hinauslaufen und nach einer oder zwei Stunden ebenso eilig, ja manchmal 199 in atemlosem Lauf, zurückkehren. Diese Hast wollte nicht so recht passen zu der tadellosen Kleidung des schlanken Knaben. Nach der neuesten Mode trug er einen zierlichen hechtgrauen Justaucorps, eine geblümte Weste, daran nur die drei mittleren Knöpfe eingeknöpft waren, so daß ein hübsches Halstuch aus dem oberen Teile vorquoll. Die Strümpfe waren ob den Knien korrekt über das Beinkleid gerollt, die langen Haare im Nacken mit einer Schleife zusammengebunden. Die Wohlanständigkeit ersparte dem Junker jeglichen Passierschein, auch bei Nacht.
«Du gütiger Himmel», seufzte die Frau Torwartin, «so jung und schon auf bösen Wegen! Sollte man da nicht Anzeige erstatten?» — «Halt 's Maul, Trini!» bekam sie zur Antwort. «Mit Leuten, denen das Ratsherrenbarett schon über der Wiege hängt, heißt es sorgsam umgehen. Weiß schon, wer dem jungen Herrn zu Gevatter steht.»
Die Frau Torwartin gab sich damit nicht zufrieden. In einer gewitterschwülen Nacht folgte sie auf leisen Sohlen dem hübschen Knaben, kehrte aber bald enttäuscht zurück; denn sie hatte ihn im Lombach-Turm verschwinden sehen, der seine vierhundert Schritt vor der Stadtmauer in einem verwahrlosten Garten stand und von einem Herrn bewohnt war, der sich in der Welt, wie sie war, nun einmal nicht zurechtfinden konnte und deshalb gern einem ähnlich Gesinnten Obdach bot. 200 Eben als die Torwartin wieder der Stadt zustrebte und sich freute, ihrem Manne zu melden, es sei gewiß etwas nicht geheuer da draußen, schoß der erste Blitzstrahl durchs Gewölk. Eine Windsbraut jagte heulend durch die ächzende Lindenallee, und bald darauf klatschten schwere Tropfen in die staubige Straße. Die Frau zog sich den Rock über den Kopf, rannte dem Tor zu, schellte, klopfte und schimpfte; aber die kleine Pforte blieb unerbittlich geschlossen. Schon war kein Faden mehr trocken an ihrem wasserscheuen Leibe, als jemand durch eine Schießscharte rief: «Wer da? — Wetterhex zurück, oder wir geben Feuer!» Als bei Sonnenaufgang die Knechte öffneten, kriegten sie zum Dank ein paar Ohrfeigen. Und dem kaum erwachten Torwart verkündigte die traute Gattin, nachdem sie ihren ansehnlichen Vorrat von Schimpfnamen über ihn ausgeschüttet: «Aber jetzt weiß ich was. — Wart nur! Jetzt weiß ich was. — Aber das ist jetzt meine Sache.»
«So behalt's für dich!» knurrte der alte Soldat und drehte sich auf die andere Seite.
Ja, was geschah denn im Lombach-Turm? Herr Christoph hatte in sich hinein gelacht, als er dem Torwart in den Rodel diktierte, wohin die Reise gehen sollte. Mochten die Gläubiger sich die Füße wundlaufen nach Rivaz! — Und auch Meine gnädigen Herren vom Rat ging es nichts 201 an, wenn der Landgraf, der vor kurzem noch eine Kolonie regiert hatte, in deren Grenzen die Republik Bern mehrmals Raum gehabt hätte, für gut fand, im Lombach-Turm zu rasten, um daselbst seinen Sohn mit his own story vertraut zu machen! Niemand verstand das besser als Herr Sebastian Lombach, der querköpfige Vetter seiner jungen Stiefmutter. Der Turm war seine Burg. Da saßen nun die beiden Herren tagelang in einem hochgelegenen Zimmer, wo ihre Scheitel die Deckbalken streiften, und fröhnten dem Laster des Tabaktrinkens. Sie rauchten aus langen Tonpfeifen Virginia-Knaster, den Herr Christoph mitgebracht, tranken Twanner Wein und schimpften um die Wette über die Regierung M. gnädigen Herren, alles Beschäftigungen, die noch im zwanzigsten Jahrhundert der Würze nicht entbehren.
In diesem verqualmten Asyl erschien nun also jede Nacht des Landgrafen Sohn, wie Frau Susanna es mit ihrem Vetter Sebastian vereinbart hatte. Seine Zierlichkeit durfte in einem staubgesättigten Lehnstuhl sitzen, während der Turmbesitzer längelang auf dem kühlen Ofentritt lag und Herr Christoph von einem geschnitzten Trog am Fenster seine Beine weit ins Zimmer streckte, wenn er nicht etwa vor seinen Sohn hinsprang, um mit größerem Nachdruck auf ihn einzureden.
«Du sollst nämlich selbst urteilen lernen», so hatte er seine Erzählung begonnen, «ob deinem Vater recht oder unrecht geschehen.» Zum erstenmal 202 sprang er schon auf und schlug mit der Faust nach der hohl tönenden Decke, als er im Selbstgespräch fortfuhr: «Was kann ich dafür, daß in meinen Adern nicht jenes Öl pulst, das die Herzen Meiner gnädigen Herren, zuvörderst meines Vaters Herz, in die ewig gleich mahlende Mühle der Tradition pumpen, sondern Blut, lebendiges, heißes, rotes Blut! — Als ich ein Knabe war wie du, ja, jünger noch, übergab man mich einem Schulmeister, der zu Marci Tullii Ciceronis Zeiten Mensch gewesen sein mochte. Er war wohl eben erst aus seiner Gruft erwacht. Die römische Größe war nicht mit ihm ins Grab gekommen. Seine zum Leben erwachte Mumie war nur noch lateinische Grammatik. Das war nun meine Nahrung, mein ein und alles. Ich durfte bei Strafe nicht anders mehr reden denn lateinisch. Das war so eine Art Maulkratten, denn zum Unsinn schwatzen reichte natürlich mein Latein nicht; aber auch sonst zu vielem nicht, was zu sagen mir wohlgetan hätte. — Was würdest du tun, wenn man dir verböte, anders denn lateinisch zu reden, mein Sohn?»
«Davonlaufen», antwortete Franz.
Herr Sebastian zog die Knie an sich und lachte laut heraus, und Herr Christoph schlug sich mit klatschender Hand auf den Oberschenkel. «Hab ich auch getan. — Aber siehst du, das ist dumm. Wer davonläuft, läuft immer seinem Recht davon. Wer ein Mann ist, harrt aus. Ich war 203 bald eingefangen und nun erst recht auf meines Vaters Güte angewiesen. Das war noch kein Unglück; aber es sollte noch anders kommen.
Als ich eben konfirmiert war, wurde mein Vater zum Gubernator in Aelen ernannt. Eine schöne Zeit brach für mich an. Damals gehörte das Salzwerk von Roche einem Herrn Zobel aus Augsburg. Sein Faktor wohnte in unserer Nähe, und ich fand an seiner Tochter eine liebreizende Freundin. Da nun Herr Zobel das Werk zu verkaufen gedachte und mein Vater sich darum bewarb, kamen wir einander immer näher, und bald war es ausgemacht, daß des Faktors Tochter und ich ein Paar werden sollten. Da machten Meine gnädigen Herren von Bern ihr Zugrecht auf die Minen geltend, und wir hatten das Nachsehen. Ob das ein Unglück war für mich, weiß Gott allein. Meiner jungen Braut jedenfalls ist damit Heil widerfahren, wie du sehen wirst.
Bald darauf wollte ein vornehmer Engländer, namens Waller, mich mit nach England nehmen. Es ward aber nichts daraus. Dafür winkte mir eine ehrenvollere Laufbahn. Onkel Daniel, der ältere Bruder deines Großvaters, war Kammerherr und Hauptmann der Leibgarde des Kurfürsten von Sachsen. Der war willens, mir eine Stelle am sächsischen Hofe zu verschaffen, und just, wie man meine Reise dorthin besprach, kam die Nachricht, daß mein Onkel gestorben sei. War es ein Unglück? Gott weiß es. Jedenfalls empfand 204 ich das Scheitern des Planes als ein solches. Ich studierte dann in Genf, bis meines Vaters Dienstzeit in Aelen abgelaufen war, und nun mußte ich mit ihm nach Bern zurückkehren; aber in mir regte sich das Verlangen, in die Welt hinauszukommen, und da ich wußte, daß mir von meiner Mutter her, die ich schon im zartesten Alter verloren hatte, ein Erbe von zwanzigtausend Pfund zugefallen war, glaubte ich etwas wagen zu dürfen, ohne meinem Vater zur Last zu fallen. Aber siehst du, mein Sohn, durch mein Davonlaufen aus der Lateinschule hatte ich das Vertrauen meines Vaters eingebüßt. Sein Gewissen erlaubte es ihm nicht, mich den Versuchungen der Fremde preiszugeben. Ich verstand das nicht, pochte auf mein Recht und meine Tüchtigkeit, und als er mir nichts darauf gab, geriet ich in Verzweiflung, verwünschte mein Schicksal und schmähte Gott, wodurch ich meines Vaters heftigsten Zorn herausforderte. — Ach, wäre er — wäre er damals standhaft geblieben!»
Herr Christoph lief ein paarmal, die Hände verwerfend, im Zimmer auf und ab, ohne zu reden. Dann schlug er Feuer in seine ausgegangene Pfeife, paffte einige Züge und sagte stockend dazwischen: «Aber — irgendeine gute — Seele — vielleicht meine — Stiefmutter — brachte ihn dazu, mich einem jungen Theologen anzuvertrauen, der mich in Kameradschaft zur Vernunft und nach Heidelberg bringen sollte.»
205 «In die Schule des Perkeo», rief Herr Lombach, mit den Füßen strampelnd.
«Nun ja, nach Heidelberg brachte er mich doch...»
«Aber nicht zur Vernunft!» unterbrach ihn der andere.
«Nein. — Aber daß es dazu nicht kam, ist nicht seine Schuld — und auch nicht des Perkeo — sondern meine Tüchtigkeit. — Ja, lache du nur da hinten auf deinem Ofen! Es ist doch so. Und das merke dir, mein Sohn! Das Geschicktsein reizt den Teufel. Er mißt sich gern mit Leuten, die sich ihm gewachsen fühlen.
Ich war kaum in Heidelberg, als ein Geheimrat des Kurfürsten bei mir erschien und mich auf einen bestimmten Tag in das Schloß einlud.»
Der Turmbesitzer setzte sich aufrecht und ließ die Füße baumeln. «Du», unterbrach er seinen Gast wieder, «gelt, du erzählst uns doch nicht etwa Träume?»
«Was wirst du von meinen spätern Erlebnissen erst sagen, wenn dir das schon traumhaft vorkommt? — Das war doch ganz natürlich. Der Kurprinz von der Pfalz war kurze Zeit vorher in Bern gewesen und von Schultheiß und Vennern empfangen worden. Meinen Vater hatte er in besonders freundlicher Erinnerung. Genug, ich wurde in einer Hofkutsche auf das Schloß geholt und vom Kurfürsten und seinem Sohn aufs beste empfangen. Ich hatte mich von dem 206 Geheimrat instruieren lassen und muß meine Rolle gut gespielt haben. — Sie bestand übrigens zunächst in respektvollem Maulhalten und Inklinieren. Dann wurde ich zur Tafel geladen. Auch da hatte ich wenig zu reden, desto mehr aber mit dem Becher Bescheid zu tun. Ich weiß nur noch, daß ich wie in einem richtigen Aarenebel durch den Burghof hinaus wanderte.»
«Ich meine, daraufhin dürften wir, um desto besser deine Erlebnisse nachzuempfinüen, einen Schluck... ich habe zwar keinen Pfälzer, aber mein Seewein ist auch nicht schlecht geraten.» Herr Sebastian stand schon an der Türe, als sein Gast protestierte: «Laß das! Mein Sohn soll nicht...»
«Dein Sohn soll den Kurprinzen spielen, ich übernehme die Rolle des Kurfürsten, und du deine eigene damalige.»
«Laß das bleiben, Sebastian!»
Da hörte man Herrn Lombach schon draußen hantieren und singen: «Laß bleiben, Sebastian! Laß fahren, was dein Herze betrübt und traurig macht... ja, ja, laß bleiben, laß fahren!»
«Nimm dich in acht, Franz», mahnte Herr Christoph, «der Wein ist ein Verräter.» Ohne die Rückkehr seines Wirts abzuwarten, fuhr er fort: «Nun erst wurde mir meine Geschicklichkeit zum Verhängnis. Ich war ein geschmeidiger Tänzer, ein froher Gesell und dazu sprachgewandt, so daß ich in der Hofgesellschaft gern gesehen war. Auch 207 die Laute zu schlagen und zu singen wußt ich. Daß mein Studium dabei zu kurz kam, kannst du dir denken. Wer an meiner Stelle hätte anders gehandelt? — Aber nun merke dir, mein Sohn: wer offene Türen findet, braucht nicht für Neider zu sorgen. Ich tat nichts Schlechtes, aber mein Erfolg bei dem Fürsten und bei den Damen stieg mir zu Kopf. Rasch war ich bereit, Position und Ehre mit dem Degen in der Hand zu verteidigen. Gott weiß, ob nicht im Wallgraben des Heidelberger Schlosses mein junges Leben sein Ende gefunden hätte, wäre nicht auf eine häßliche Verleumdung hin mein Vater eingeschritten. Ich erhielt Befehl von ihm, Universität und Hof sofort zu verlassen, und da mir kein Geld mehr nach Heidelberg gesandt wurde, blieb mir nichts anderes übrig als zu gehorchen. Am nächsten schönen Tage wanderte ich über den Odenwald nordwärts, von Stadt zu Stadt, bis ich drunten in den Niederlanden, an der Universität zu Leyden, wieder Fuß fassen konnte zu ernster Arbeit. — Doch nun genug für heute!»
«Was!» fragte Herr Sebastian, der mit einer Kanne Weins und Gläsern wieder eintrat. «Was soll das? — Ich werde doch den jungen Herrn nicht ohne Trunk ziehen lassen!»
«Laß das! — Ich will es nicht. Er ist's nicht gewohnt.» Herr Christoph blieb fest. Und so wurde Junker Franz mit eindringlicher Mahnung zur Vorsicht nach Hause geschickt. Der Wächter 208 am Murtentor, geschmiert wie die Angeln der ihm anvertrauten Pforten, hielt sich an die getroffene Verabredung, und so konnte der Knabe seinem Großvater am andern Morgen einen guten Tag wünschen, ohne Verdacht zu erwecken. Aber, was er aus dem Munde seines Vaters vernommen, stellte ihn auf eine harte Probe. Sein erstes und dringendstes Bedürfnis wäre es gewesen, die Erzählung weiter zu geben, andere in dasselbe Staunen zu versetzen, das er empfand. Aber nicht einmal seinen Schwestern konnte er erzählen. Er war allein bei den Großeltern, denen er sein Wissen um des Vaters Lebensschicksal sogar verheimlichen mußte. Mit dem Wissen aber ist es wie mit dem Geld. Besitz, den man mit keinem Menschen teilen kann, wird leicht zur Qual. Deshalb fühlte sich der Knabe durch das gemeinsame Wissen mit seinem Vater innig verbunden. Hatte er sich gestern noch mit recht scheuer Erwartung in den Lombach-Turm begeben, so war ihm heute der Vater schon kein fremder Mann mehr.
Die Unmöglichkeit, sich durch Plaudern zu entlasten, steigerte noch die Spannung, mit der er in der folgenden Nacht zum Tor hinaus eilte. Herr Sebastian empfing ihn mit Fruchtsaft und Backwerk, um mit desto größerer Berechtigung selber dem Seewein zusprechen zu dürfen.
«Heute», begann Herr Christoph seine Erzählung, «fahren wir selbander nach England, mein Sohn. — Nachdem ich in Leyden etliche 209 Zeit mit großem Fleiß Jura, Mathematik und Geschichte studiert, gab meines Vaters Wunsch, mich etwas werden zu sehen, meinem Leben eine neue Wendung. Ach Gott, ach Gott! Hätte er mich zu Ende studieren lassen! Aber mein guter Herr Vater hatte ein großes Vertrauen in jenen Chevalier Waller gesetzt und wollte mich unter seine Obhut stellen. Waller versprach, mich bei dem Grafen Carlisle unterzubringen, der jetzt eben als Botschafter nach Konstantinopel gehen sollte. Meine Sprachkenntnisse und die in Heidelberg gewonnene Manierlichkeit würden mir den Weg geebnet haben. Aber in London hatte ich Mühe, Waller zu finden, verlor darüber viel Zeit, und als ich ihn endlich traf, war der Botschafter bereits auf hoher See. Wieder eine Hoffnung zerschlagen! Das macht dir wohl wenig Eindruck, mein Sohn. Aber versetze dich in meine Lage! Eben noch die Aussicht, als junger, lebenshungriger Mann in die weite Welt zu kommen, im Geleit eines großen Herrn, der mir hundert Türen öffnen konnte, und nun auf der Gasse, in der fremden Stadt — ohne jede Hilfe! — Ich war jedoch seit Heidelberg nicht mehr der schüchterne Knabe, der sich von jedem Windstoß, gleich einem dürren Blatt, in einen Winkel fegen läßt. Meiner Fähigkeiten bewußt, reckte ich den Kopf hoch, und so ganz ohne Glück blieb ich nicht, denn ich geriet an einen Landsmann, ja, wahrhaftig, an einen Schlossermeister, namens Engel, aus Twann, 210 der meinen Vater vom Leset im Schaffiser Rebgut her kannte.»
«Schau, schau», sagte da Herr Sebastian zu sich selber — er saß heute abend am offenen Fenster — «auf das hin müssen wir dem Twanner doppelt Ehre antun.» Er hob sein Glas hoch und goß es in einem Schuß hinter die Halsbinde.
«Und dieser Engel wurde mir wirklich zum rettenden Engel. Er verhalf mir fürs Erste zur Unterkunft in der Familie eines englischen Pfarrers und dann noch zur Bekanntschaft mit einem königlichen Kapellmeister. Es schien sich plötzlich alles zu meinen Gunsten fügen zu wollen, denn dadurch, daß ich bei einem geistlichen Herrn Quartier genommen, gewann ich das Vertrauen meines Vaters einigermaßen wieder. Der Pfarrer war Kaplan des Herzogs von Albemarle, und ich hoffte allsogleich, durch ihn in die Umgebung dieses Herzogs zu gelangen. Der gute Pfarrer weigerte sich zwar dessen, weil er nicht ganz ohne Grund fürchtete, ich könnte neuerdings auf Abwege geraten, aber ich war keineswegs gesonnen, das Pfund meiner Weltgewandtheit im Schweißtuch zu begraben, und griff dankbar zu, als der Kapellmeister es übernahm, mich bei dem Herzog einzuführen. In des Herzogs Gesellschaft befand sich der Lord Hunsdon, der eine Bonstetten von Vaumarcus zur Frau hat, und das kam mir auch zustatten. Genau wie seinerzeit am kurpfälzischen Hofe fand ich Gnade bei der lebenslustigen 211 Gesellschaft, war Hahn im Korb bei den Damen und flatterte von Fest zu Fest. Unterdessen mußte mein guter Herr Kaplan seine Befürchtungen meinem Vater mitgeteilt haben, denn abermals kam ein geharnischter Brief, ich solle unverzüglich nach einer Stelle mich umsehen und, wenn das binnen Monatsfrist nicht gelinge, heimkommen. Daß mein Vater nicht Spaß versteht, dürftest du auch schon bemerkt haben, Franz.»
«Sehr wohl», sagte lächelnd der Junker.
«Dennoch. — Ich hatte den Fuß im Steigbügel und war keineswegs gesonnen, ihn zurückzuziehen, um so weniger, als mir die Vorstellung am königlichen Hof in Windsor zugesichert war. Es kam denn auch dazu, sobald mein Herzog dort zum Dienst an der Reihe war. Mein Weg schien gemacht. Der Herzog ernannte mich in aller Form zu seinem Ehrenkavalier.»
«Und setzte mir ein entsprechendes Gehalt aus», warf Herr Lombach dazwischen.
«Du!» antwortete Herr Christoph, mit der Faust auf den Tisch hauend, «greif mir nicht vor! — Nein, das gab's nicht. Speis und Trank, Quartier und Ehren, mehr als genug; aber Geld — nein.»
«Wovon lebtest du denn?» wollte Herr Sebastian wissen.
«Von der Einbildung etwas zu sein. Von was sonst? Die Zehrpfennige aus Bern waren auf ein Mushafen-Traktament berechnet.»
212 «Die Kunst solltest du auch lernen, Franz», wandte sich der Gastgeber an den Knaben. «Donnerwetter auch! Wieviel Lot Illusion braucht's denn für einen Monat?»
«Spaß war's keiner», fuhr Herr Christoph weiter, «und ich weiß eigentlich nicht recht, wie ich's fertig brachte. Aber hört nur weiter! Ich war trotz alledem auf dem besten Weg zum Erfolg. Der Herzog von Albemarle war Großkanzler der Universität von Cambridge. Da er nun einmal verhindert war, der feierlichen Promotion von Doktoren beizuwohnen, schickte er mich und seinen Freund Farwel als Stellvertreter dorthin. Ja, das war ein großer Tag für mich. Ende Brachmonats 1682 war es. Ihr dürft mir glauben, daß ich all meine hofmännische Gewandtheit ins Treffen führte, um die der Feierlichkeit angemessene Würde zu zeigen. Aber beinah hätte mein Erstaunen mich aus der Fassung gebracht, als mir ahnungslosem Menschen vom Senat in aller Form der Doktorhut angeboten wurde. Ihn anzunehmen hinderte mich jedoch meine bernerische Erziehung, die uns verbietet, eine Würde zu bekleiden, zu welcher wir keine innere Berechtigung haben. Dafür wurde mir dann der Rang eines Magisters der freien Künste verliehen, den ich nicht ablehnen durfte, ohne den Senat und meinen Herzog zu beleidigen. Mein Name wurde in das Stammbuch der Universität eingetragen. Da war mir endlich doch die Latein-Fuchserei meiner 213 Knabenjahre noch zustatten gekommen. — Ich galt nun schon etwas. Aber wie bald mußte ich erfahren, daß Geltung und Ansehen eine sehr nüchtern aussehende Rückseite haben. Da geht es einem, wie auf den Bergen. Du siehst über dir eine lockende Stufe. Da oben wird's gut sein und schön, denkst du, und kletterst hinauf. Bist du oben, so erhebt sich ein neuer Rücken, der dir die Aussicht nimmt, und wenn du den nicht erklimmst, so war alle Mühe umsonst. So aber geht es weiter in steter Müh und Not — dein Leben lang. Und je höher du steigst, desto mehr Menschen hängen an deinen Rockschößen.»
«Ziehe den Rock aus!» meinte Herr Sebastian.
«So hängen sie mir an den Hosen», erwiderte Herr Christoph.
«Schenke ihnen die Hosen!»
«So klammern sie sich ans Hemd.»
«Hemd herunter! — Der Mensch ist nur in dem Gewände glücklich, das Gott ihm angemessen hat. Nur was du bist, ist unbeschwerter Besitz.»
«Nein, mein Lieber, in seiner eigenen Haut bleibt keiner von uns unbeschwert.»
«Was willst du denn?»
«Zur Ruhe kommt erst, wer aus seiner eigenen Haut Schuhe für den Nächsten schneiden läßt.»
«Der arme Nächste!» spottete Herr Lombach. «Nun wohl. Aus deiner Haut möchte ich Schuhe haben; sie ist gegerbt.»
214 «Vom Mißgeschick, ja. — Und damit sind wir am Schluß unsres Exkurses. Es hat ja immerhin etwas Tröstliches, zu wissen, daß jedesmal irgendwer aus unsrer bittern Erfahrung seinen Vorteil ziehen kann.»
Herr Christoph war aufgestanden und, nervös an seiner Weste zupfend, auf- und abgegangen. Mit dem Seufzer «Genug davon!» trat er an den Tisch, leerte sein Glas und erzählte weiter: «Jetzt paß auf, Francis! Jetzt greift zum erstenmal die Liebe ernsthaft in meine Lebensgeschichte ein.»
«Ich dachte doch», warf der Junker ein, «das sei schon in Aelen geschehen durch das Mädchen aus Augsburg?»
«Ja, gewiß; nur war ich inzwischen ein Mann geworden, was noch mehr ist als ein Magister der freien Künste. — Ich hatte mein Herz rettungslos an eine sehr hübsche Engländerin verloren, eine Miß Villers. Sie war eine Nichte des Herzogs von Buckingham, war Hofdame und dazu arm wie eine Kirchenmaus. Man hatte es bemerkt, und Mylord, der Herzog von Albemarle fand einen Hauptspaß daran, der Sache Vorschub zu leisten, leider nicht mit Geld, sondern mit der Schaffung von Gelegenheiten sich zu sehen. Der Kapellmeister, der mir seinerzeit so gut geraten, empfahl mir, die Stelle eines Cornets bei der Armee zu kaufen. Damit wäre ich nach englischen Begriffen erst recht gesellschaftsfähig geworden, 215 und das Weitere würde sich wohl gemacht haben. Aber tausend Pfund Sterling — soviel kostete der Einkauf in den Offiziersstand — überstieg bei weitem, was von meinem ererbten Gut noch vorhanden war. Es hätte somit eines tüchtigen Zuschusses von meinem Vater bedurft. Im Vertrauen auf sein Verständnis für meine Situation bat ich ihn darum. Statt des Geldes erhielt ich den Befehl, meinen Koffer zu packen und heimzukehren. Es wurde mir für den Fall, daß ich darauf bestünde, ‹diese Hofgrisette› zu heiraten, mit völliger Enterbung gedroht. ‹Hofgrisette›, ja, so nannte mein erzürnter Herr Vater das Mädchen, das mich zum glücklichsten Menschen der Welt gemacht hätte.»
Herr Christoph trat dicht an seinen Sohn heran und flüsterte ihm ins Ohr: «Im Vertrauen gesagt: ich glaube, mein Herr Vater habe damals weiser geurteilt als ich verliebter Tor. — Aber — aber», so fuhr er laut fort, «was dieser Befehl im Augenblick für mich bedeutete, ahnst du doch vielleicht. Ihn befolgen hieß, das Fräulein der Lächerlichkeit preisgeben und mich unmöglich machen. Trotzdem! — Ich gehorchte. — Ich ging.
Mein Vater mag immerhin geahnt haben, welches Opfer er mir auferlegt hatte, und er suchte, mir andere Wege freizugeben. Er gestattete mir, nach Paris überzusiedeln, wo ich alsbald durch den Marschall von Erlach in die Gesellschaft eingeführt wurde. Meine Talente machten um so 216 bessern Eindruck, als ich in meinem Äußern englisches Wesen angenommen hatte und nach englischer Mode gekleidet war. Der Marschall nahm mich nach Versailles mit und stellte mich dem König vor — jawohl, dem roi soleil. Es taten sich neue Aussichten auf, indem mir Gelegenheit geboten wurde, in die Schweizergarde als Offizier einzutreten. Mein Herr Vater wäre damit einverstanden gewesen; als er aber vernahm, welche Subsidien dazu nötig waren, erschrak er, und da er befürchtete, ich würde in Paris abermals in einen verderblichen Wirbel hineingeraten, befahl er mir heimzukommen, es sei nun ohnehin an der Zeit, mich dem Vaterland zur Verfügung zu stellen und ein der Familientradition entsprechendes Leben zu führen.»
« Prosit!» brummte Herr Lombach, indem er eines Zuges sein Glas leerte.
Herr Christoph folgte seinem Beispiel und antwortete: «Ja, du, Lombach — du bist imstande zu ahnen, was das für mich bedeutete. Aber du, mein Francis, kannst es nicht ermessen.» Der Erzähler sprang auf und reckte sich, die Arme weit ausbreitend. «Paris! — Versailles! — Das Auge Ludwigs mit Wohlgefallen auf sich verspürt! Der Weg in das glänzendste Corps der Welt offen! — Weißt du, mein Sohn, wenn der Sommervogel sich in der Sonnenflut des Paradieses wiegt — das ist gewiß schon etwas. Aber, schätzt er das? Er weiß ja nichts anderes. Wir 217 arme Menschen, wir würdigen es, weil wir schon den Maßstab des Verlusts in uns tragen, der uns erst fähig macht zum Genuß. Wir berauschen uns, um den Schatten nicht zu sehen. Und erst, wenn wir hinausgestoßen sind aus dem Paradies, geht uns seine Herrlichkeit in der marternden Erinnerung auf.»
«Du hast's doch einmal erlebt, aber unsereiner verhungert in seiner Sehnsucht», sprach Herr Sebastian in sein Glas hinein.
«Erlebt, ja. Aber wenn ich die Wahl hätte zwischen Sehnsucht vorwärts und Sehnsucht rückwärts, so wollte ich, bei Gott, lieber mein Leben in unerfülltem Sehnen nach dem Unerreichbaren hinbringen. Es gibt nichts Jämmerliches als nach einem Blick vom höchsten Wipfel mit gebrochenem Flügel ins Gras fallen. Du bist nie oben gewesen, Sebastian Lombach, aber du hast davon geträumt und bei jedem Erwachen Bern um dich herum gesehen, Bern in seiner mergelgrauen — ach Gott! — so unerschütterlichen Rechtschaffenheit. Du kannst also ahnen, was es bedeutet, im Abendsonnenschein der Terrassen von Versailles einschlummern und an der Kreuzgasse erwachen.»
Mit diesen Worten ließ sich Herr Christoph in den Lehnstuhl zurückfallen. Nach einigen Sekunden tiefsten Schweigens fuhr er, da er seines Sohnes Augen in einem mitleidvollen Staunen auf sich gerichtet sah, fort: «Doch, wozu sich an dieser Wegbiegung länger aufhalten, es war ja 218 noch immer nicht das Schlimmste! Ich fuhr also heim und getröstete mich eines frohen Wiedersehens mit meinen Lieben. Ich weiß aber nicht, ob ich den Mut aufgebracht hätte, die Reise bis ans Ziel fortzusehen, hätte ich ein Vorgefühl gehabt von der Eiseskühle des Empfangs. Es war ja so weit alles recht. Das väterliche Haus öffnete mir Tür und Fenster; aber es lag in der Stille ein Ton wie: So? Da kommt der Lump, der solch Loch in meinen Geldsäckel gerissen. Erst brachte ich gar nichts heraus von all meinen glänzenden Erlebnissen. — Gott! Ich hatte doch Könige gesehen, an herzoglicher Tafel gespeist, mit großen Gelehrten in einer Reihe gesessen, und nun hockte ich in Vaters Stube und sah in die Vordere Gasse, wo die Weiber ihre Wäsche auswanden. Es begehrte niemand etwas von dem Erlebten zu hören. In den folgenden Tagen fing ich dann aber ungefragt zu erzählen an, in der Hoffnung, die Meinung aufzuheitern, die man von mir hegte. Man hörte mir wenigstens zu. Mama verriet ihre Neugier durch Fragen; aber der Vater schien in seiner gesuchten Schweigsamkeit immer nur zu sagen: alles recht, aber jetzt bist du in Bern und hast anderes zu tun. Und dieses andere war, daß ich eine Frau zu suchen hatte, die mich an Bern fesseln würde.»
«Suchen ist hübsch gesagt», meinte Herr Sebastian, «warum sagst du nicht: daß ich eine Frau zu lieben hatte, die man mir...?»
219 «Laß das!» unterbrach ihn Herr Christoph. «Ich suchte, fand und liebte. Das ist wahr, denn ich bedurfte eines liebenden Herzens. Ich wollte, es hätte in meinem Leben alles einen so natürlichen Lauf genommen wie meine Heirat. Ich fand mich an der Seite meiner Regina auch bald zurecht im Staatsdienst. Nach einigen Jahren hatte ich sogar das Glück, die Landvogtei Iferten zu erhalten. Froh, endlich eine dankbare Aufgabe gefunden zu haben, zog ich auf. Wie ein kleiner Fürst hielt ich Einzug in dem sauberen Waadtländer-Städtchen. Oh, es war ein schöner Tag, ein herrlicher Tag. Denke dich in meine Lage! Ich hatte doch ein Stück Welt gesehen, ja, mehr gesehen als die meisten meiner Kollegen vom Rate der Zweihundert, hatte den Kopf zum Zerspringen voll von Plänen, das Herz voll warmen, gütigen Blutes und ein liebenswürdiges Volk vor mir, das auf einen weisen Regenten wartete. Was willst du mehr? — Aber schau, es gibt eine gemeine Redensart, die heißt: ‹Glück muß einer haben›. Man vergißt nur immer den zweiten Teil: ‹wenn er hereinfallen will›. Die Verachtung der bernischen Staatsweisheit hat sich nie grausamer gerächt als damals an mir. Der Glücksrausch machte mich blind.
Statt im Amt die undurchdringliche Miene aufzusetzen, wie sie einem Regenten geziemt, und schweigend zu hören, ließ ich mein Herz auf der Zunge spazieren fahren, wollte allenthalben helfen 220 und versprach mehr, als die ganze Republik zu halten vermochte. Meine weltmännische Liebenswürdigkeit machte aus dem Schloß Iferten eine Honigwabe von tausend Zellen. Und im blinden Vertrauen auf das Verständnis der bernischen Regierung legte ich alles Gewicht auf würdige Repräsentation. Der Glanz sollte die Strenge ersetzen. Aber ich Tor rechnete nicht mit der Unbeugsamkeit des Uhrwerks im bernischen Rathaus. Es reisten damals viele große Herren durch Iferten. Es kamen Garnisonen mit vielen Offizieren, und all das zog gesättigt und guter Laune wieder aus dem Schloß. Als ich aber Rechnung ablegte, wurde mir alles gestrichen, was ich ohne besondere Vollmacht ad majorem gloriam reipublicae ausgelegt hatte. Meine Kornrechnungen waren korrekt, aber nicht nach dem Geschmack der Vennerkammer. — Kurz und gut, nach Ablauf meiner Amtszeit kehrte ich mit einer erdrückenden Schuldenlast und, was noch schlimmer war, mit einer alle Kräfte lähmenden Enttäuschung nach Bern zurück. ‹Der Mann kann nicht regieren›, hieß es im Rathaus. Jeden andern hätte dieses Urteil zerschmettert; aber deinen Vater reizte es zum Widerspruch. Mein Ehrgeiz kannte keine Resignation, und ich wollte vor der Welt beweisen, daß ich das Regieren verstünde, nur nicht in alten Schablonen. Doch, genug für heute! Morgen sollst du den dritten Akt des Dramas hören. Gute Nacht, Francis.»
221 Überwältigt von dem Gehörten, eilte der Junker wie in einem bunt bewegten Traume stadtwärts. Erst vor dem verschlossenen Tore erwachte er. Da stand es, vom Mondlicht übergossen, in seiner steinernen Unerbittlichkeit, ein Sinnbild jener Macht, an der all die idealistischen Anläufe des Vaters zunichte wurden. Ein ungeheurer Respekt vor dieser Macht ergriff ihn und etwas wie ein Rausch im Gedanken, daß er mitberufen sei, einst diese Macht zu verwalten. Der Rausch aber war durchzittert von tiefem Mitgefühl für den Vater und jeden, der sich bemühte, einen neuen Kurs in diese Verwaltung zu bringen. Schon war Franz entschlossen, den Tag außerhalb der Mauern abzuwarten, um, im Mondschein wandernd, den Schicksalen seines Vaters nachzusinnen, da öffnete sich die kleine Pforte, denn der Wächter hatte das werdende Regentlein auf der Brücke gesehen. Es schlüpfte, ohne zu widerstreben, in die Stadt, wo es hingehörte.
Nicht wenig erstaunt war Junker Franz, als er in der darauffolgenden Vollmondnacht an der Haustüre des Lombach-Turmes von dessen Besitzer mit den Worten empfangen wurde: «Gut, daß du kommst. Dein Vater ist nicht mehr da.»
Als ob er den Knaben an lautem Sprechen hindern wollte, hielt Herr Sebastian seinem jungen Gaste die Hand vor das Gesicht, indes er selbst scharf lauschend nach der Straße blickte. 222 «Komm», sagte er leise, «ich will dich zu ihm führen. Wir sind nämlich verraten worden. — Das Weib des Torwarts...»
«Verraten? Wieso?»
«Still! Ich werde dir alles sagen.»
Auf der Freiburger Landstraße wanderten sie westwärts, schweigend, bis sie die Wetterfahnen des Schlosses Holligen über den Bäumen glänzen sahen. «Weißt du, mein Lieber, dein armer Vater ist ein gehetztes Wild. Er, der zum Regieren berufen wäre, wie kein zweiter, muß sich aus den Mauern der Stadt flüchten, damit sie ihm nicht zu Kerkermauern werden.»
«Vor wem denn?» fragte Franz.
«Vor seinen Gläubigern. Wie das gekommen, wirst du heut nacht noch erfahren. Ich habe ihn in Sicherheit gebracht im Gartenhaus von Holligen. Wir müssen eilen, denn um Mitternacht bringt man ihm das Pferd, auf dem er seine Reise nach Sales fortsetzen soll.»
Fast taghell lag der Mondschein auf den Nebelschleiern der sumpfigen Wiesen außerhalb des Schloßparks, an dessen Saum im tiefen Schatten flimmernder Silberpappeln der kleine Pavillon stand.
«Gott sei Dank!» flüsterte Herr Christoph, als die beiden zu ihm traten. In einer gewissen Hast und nur mühsam sich zum leise Reden meisternd, fing er zu erzählen an, kaum daß sie sich auf der Wandbank zu seinen beiden Seiten niedergelassen hatten.
223 «Ich habe dir erzählt, Francis, welche Zensur ich von den gestrengen Herren in Bern für meine Amtsführung erhielt. — Also weiter! Es fügte sich, daß just damals in Bern eine Aktiengesellschaft unter der Firma Ritter & Cie. gebildet wurde mit dem Zweck, in Amerika eine Kolonie zu gründen und zwar im Bereich der Silberminen von Virginien. Das war gerade, was ich brauchte. Ich stellte mich sofort in den Dienst der Sache. Es fehlte nicht an Leuten, welche in der Hoffnung auf großen Gewinn Geld einschossen. Und die Regierung...» Einen merkwürdigen, aus tiefster Kehle quellenden Laut ausstoßend, sprang Herr Christoph auf. «Diese verdammt aufmerksame Regierung ergriff die Gelegenheit, um allerhand ihr unlieb gewordene Menschen — darunter solche, die nicht ihres Glaubens waren — abzuschieben. Kannst dir denken, was da zusammenkam. Vielleicht gehörte auch ich zu den Unliebsamen, denn man nahm meine Dienste gern an. Es kam der Sache zugut, daß ich solch gute Beziehungen in England besaß. Ich kann dir heute nicht genau erzählen, wie sich alles entwickelte. Es muß dir einstweilen genügen, zu vernehmen, daß ich die Leitung der Auswanderung und der Ansiedelung übernahm.
Schwer wurde mir freilich der Abschied von meinen Lieben. Aber es konnte einstweilen nicht die Rede davon sein, Mama und euch Kinder mitzunehmen. Erst mußte ich doch mit eigenen 224 Augen das Land meiner Zukunft gesehen haben. Die Ereignisse gaben meiner Vorsicht recht. In Bern allerdings fehlte es nicht an Leuten, welche mir vorwarfen, ich hätte meine Familie den Verwandten aufgehalst und sei davongelaufen. — Ja, ja, so wurde herumgeredet. Ihr könnt euch denken, daß diese Nachrede für mich kein leichtes Gepäck war; aber ich wollte nun einmal den Beweis meiner Tüchtigkeit erbringen und riß mich von euch los.
In England fand ich das freundlichste Entgegenkommen, erhielt Vorschüsse und Schiffe, und die vorteilhafteste Zusicherung von Land im Minengebiet von Virginien. Die Abreise von England gestaltete sich zu einem Fest. Alles war voller Zuversicht. Die Enttäuschungen freilich ließen auch nicht auf sich warten. Statt des zugesicherten Landes in Virginien mußten wir solches in Nord-Carolina übernehmen. Aber ich packte unverdrossen zu und gründete auf der Landspitze zwischen den Flüssen Trent und News die Stadt Neu-Bern. Es ließ sich alles aufs beste an. Die oberste Landesbehörde, die Lords-Propriétaires, ernannten mich zum Landgrafen von Carolina, und ich bin als solcher vom englischen Heroldsamt anerkannt. Nun hatte ich endlich — endlich eine Aufgabe gefunden, für die es sich lohnte, sein Leben einzusetzen. Die Schwierigkeiten waren mir wohl bewußt; aber ich besaß den Mut, sie zu überwinden. Denke dir nur: Ein Land zu beherrschen, das zu den schönsten Hoffnungen berechtigte, 225 unabhängig zu sein von einer ängstlichen, in uralten Gesetzen und Verwaltungsformen festgefahrenen Regierung, umgeben von einem tapferen Völklein, das vertrauensvoll zu mir aufblickte und zu jedem Opfer bereit war, das ich von ihm fordern würde. Wie oft habe ich damals mitten in der Nacht oder auch auf einsamen Ritten laut vor mich hingesprochen: ‹Der Mann kann nicht regieren›, nur um herzhaft lachen zu können. Jawohl, dachte ich, euch will ich zeigen, was Regieren heißt. Ich baute, entwarf einen richtigen Handelsplan. Ich war Richter und Pfarrer und alles, was ein Volk haben muß, in einer Person, aber auch Feldherr, jawohl, denn ihr müßt wissen, daß es galt, die Kolonie gegen ihre Feinde zu verteidigen. Ich verhalf mit meinen Leuten dem rechtmäßigen englischen Generalgouverneur zum Siege gegen einen Usurpator und gewann damit das höchste Ansehen. Es wäre alles gut gekommen, alles; aber wo Treulosigkeit umgeht, werden Götter zu schanden. Hört nur!
Westwärts bewohnten Indianer das Land. Ich gedachte im Frieden mit ihnen zu leben, ihnen meine Märkte zu öffnen. Aber ich sollte erfahren, wie schwer es ist, ein Volk auszusöhnen, das von den Trägern der Zivilisation im Namen des Christentums jahrzehntelang betrogen und mißhandelt worden ist. O, was haben die englischen Kolonisten vor uns an den harmlosen Eingebornen 226 gesündigt! Ich gab mir alle Mühe, den Indianern zu beweisen, daß sie an uns gute Freunde haben sollten. Sie gingen darauf ein, bis eines Tages ein dummer Kerl aus unserer Kolonie in einem indianischen Heiligtum das Standbild des bösen Geistes mit der Axt zerschmetterte, weil es die Berner Farben trug. Aber auch jetzt gelang es mir, gegen eine Entschädigung in Pulver und Blei den Frieden zu erhalten.
Eines Tages nun mußte ich mit dem Generalfeldmesser Lawson, dem verhaßtesten englischen Kolonialbeamten, den Newsfluß hinauffahren. Als wir in die Nähe einer Indianerniederlassung kamen, fing er auf die übermütigste Weise Händel mit ihnen an. Wir wurden gefangen und ins Lager geschleppt. Man wies uns auf durchaus anständige Weise einen Platz auf einer Binsenmatte an, und der ganze Stamm lagerte sich in weitem Kreise um uns. Es wurde in einer Weise mit uns verhandelt, die den Wilden alle Ehre machte, und wir gaben uns Mühe, ihrem Ehrgefühl gerecht zu werden, wobei wir immerhin daran erinnerten, daß die Königin von England irgendeine an uns begangene Gewalttat nicht ungestraft lassen würde. Die Häuptlinge sprachen uns frei. Aber das Unglück wollte es, daß unmittelbar nach dem Urteilsspruch der Häuptling eines benachbarten Stammes eintraf, der sich sehr unversöhnlich gegen die Engländer zeigte. Er verlangte die Aufhebung des Freispruchs, 227 worauf Lawson ihn trotz meinem Abmahnen mit den hochmütigsten Schmähungen überschüttete. Das ganze Lager geriet in eine heillose Aufregung. Wir wurden gefesselt, ausgeplündert und halbnackt mitten in den Kreis der Häuptlinge und Krieger gesetzt. Man riß uns die Hüte und Perücken vom Kopf und warf sie ins Feuer. Die ganze Nacht hindurch hockten wir nun da, mitten im hohen Wald, umstarrt von Waffen. Funkengarben und Rauch der Lagerfeuer fingen sich in den Baumkronen, und um uns einzuschüchtern, umtobten uns die Krieger in wilden Waffentänzen. Schaurig tönten ihre dumpfen Gesänge. Als die erste Morgendämmerung das Laubgewölbe durchschimmerte, wußten wir, daß unser Schicksal besiegelt war. — Gelt, Francis, das hört sich wie ein Märchen an; aber ich kann dir sagen: In jener Nacht habe ich beten gelernt. Ich tat Buße bis auf den nackten Grund meiner armen Seele. Ich schrie zu Gott, ohne Laut zu geben. — Und ich wurde erhört. Seither weiß ich's, daß Gott lebt und erreichbar ist. Das werde ich nie — nie wieder vergessen. Ich wurde abermals freigesprochen, mußte aber, ohne auch nur ein Wort des Abschieds zu ihm sprechen zu dürfen, zuschauen, wie man meinen unbesonnenen Gefährten tiefer in den Wald hinein schleppte, aus dem er nicht mehr zurückkehrte.»
«Der hatte aber den Tod verdient», meinte Junker Franz.
228 «Das weißt du nicht, Kind. Wer von uns hat das Leben verdient? Aber es kamen hernach Augenblicke, die mich beinahe den unglücklichen Lawson um sein Schicksal beneiden ließen. Die Indianer behielten mich im Lager gefangen und zogen auf den Kriegspfad gegen unsere Kolonie. Auf den Knien flehte ich sie an, meine arme Stadt Neu-Bern zu schonen. Sie versprachen es für so lange, als ihre Bürger nicht zu den Waffen griffen. Viele Wochen lang lag ich nun da, nicht schlecht behandelt, aber in grausamer Ungewißheit um das Schicksal meiner Leute. Ich mußte annehmen, daß die englische Regierung den Tod ihres Beamten nicht ungestraft lassen werde. Und von mir wußte ja in der Kolonie niemand, ob ich noch am Leben sei. Es war eine Folter, sag ich euch, wie sie schlimmer nicht auszudenken ist.
Endlich — es mögen mindestens zwei Monate inzwischen verstrichen sein — kam ein Teil der Indianer ins Lager zurück — beutebeladen. Und ich erkannte unter den Beutestücken meinen silbergestickten Staatsrock! — Da wußte ich, was geschehen war. — Als ob ich noch eine besondere Lehre empfangen sollte, mußte ich zusehen, wie die Weiber dem Häuptling meinen Staatsrock aufnötigten. Kaum hineingeschlüpft, streifte der schön gewachsene Mann ihn mit Verachtung ab, warf ihn ins Gebüsch, trat, den entblößten Oberleib dehnend, breit hervor und schwang mit königlicher Gebärde sein Kriegsbeil im Sonnenglanz.
229 Was galt mir nun meine Freiheit noch? — Man ließ mich ziehen, wohl in der Annahme, daß ich nichts mehr fände, womit ich den Indianern gefährlich werden könnte. Von schrecklicher Ahnung gepeinigt, suchte ich meinen Weg dem Fluß entlang. An Lebensgefahr dachte ich nicht, denn der Tod wäre mir Erlösung gewesen.
Beinahe hätte ich vor dem Wall meiner Stadt den Todesstoß von meinen eigenen Leuten empfangen; denn sie wähnten, ich sei längst ermordet, und erkannten mich erst, als ich mit der letzten Kraft ihnen ein paar berndeutsche Worte zurief.
Ich war also, wie man so sagt, gerettet.» Ein bitteres Lachen unterbrach die Erzählung. Es folgte eine Stille, in der man vom Könizbergwalde her den Kauzenruf hörte und von der entgegengesetzten Seite, aus dem mattsilbernen Wall der Allee, den Hufschlag eines langsam schreitenden Pferdes.
«Gerettet! — Heißt es gerettet sein, wenn man immer wieder nackt auf diese Erde geworfen wird, jedesmal um ein paar Stränge ärmer an Nerv? — Die Kolonie, mein Werk, mein erstes und letztes, war zerstört, und wie! Die paar niedergebrannten Wohnstätten und geplünderten Ställe waren es nicht, was mir das Herz zerriß, obschon ihr Anblick schwer genug zu ertragen war, nein, aber der Geist der Kolonie. Was sie einst zusammengehalten und ihr Gedeihen verheißen hatte, glich einem in hundert wertlose Fetzen zerrissenen 230 Bannertuch. Statt daß die gemeinsame Not und Gefahr sie vollends aneinandergeschmiedet hätte, enthüllte sie die ganze Jämmerlichkeit des zusammengewürfelten Haufens. Jetzt erst erkannte ich, daß eine Menge verworfener Subjekte mir nach der neuen Welt gefolgt war. Menschen, die der alten Heimat unwürdig gewesen, hatten das Gift ihrer verfluchten Selbstsucht mitgebracht in den neuen Volkskörper und ihn angesteckt. Jeder benützte die Verwirrung, um ohne Rücksicht auf den hilferufenden Nachbar an sich zu reißen, was er erraffen konnte. In Räuberbanden hatte sich das Völklein aufgelöst.
Eine Satansstimme raunte mir zu: Mach deinem Leben ein Ende und deiner Not! — Aber ich erinnerte mich des Spiels, das die Indianer mit meinem Staatsrock getrieben. Jetzt galt es zu zeigen, daß der nackte Mensch ein Landgraf war und nicht die silbergestickte Puppe. — Das merke dir, mein Sohn! — Seltsamerweise war mein eigener Kornspeicher unangetastet geblieben. Ich brach ihn auf und gab den Leuten Brot, mit der Peitsche in der Hand, ja, aber ich teilte und gab, bis mir nichts mehr blieb. Monatelang lebten sie von meinem Getreide. Es war wie ein Wunder. Viele gewann ich wieder; aber den Schlechten füttert man satt, ohne ihn gut zu machen. Die Nahrung ging zu Ende. Es fehlte an Saatgut, Vieh, Werkzeug. Alles hatten die Indianer und die herumstreichenden Schurken mitgenommen. Es 231 fehlte vor allem — das Geld. Hungernd traf ich die letzten Anordnungen. Dann begab ich mich auf die Reise, um Geld zu beschaffen. Ich wandte mich an den Generalgouverneur, der mir seine Stellung verdankte. Da entriß ihn mir der Tod. Es brach neue Unordnung aus. Ich schrieb nach England, nach Bern um Geld. Jede Antwort blieb aus. Mein Eifer um die Rettung der Kolonie hatte mir das Vertrauen der Mehrheit gewonnen, und sie wollten mich zum Generalgouverneur ausrufen. Aber da erhob sich die Meute meiner Gläubiger und erklärte, ein Verschuldeter dürfe niemals Gouverneur werden. Es ist wahr, die Schulden bedeckten mich haushoch. Ich hatte nicht nur meinen letzten Schilling geopfert, sondern die Kolonie noch mit dem Kredit meines Ansehens getragen, bis endlich alles zusammenbrach. Es blieb mir nichts mehr als ein letzter Notschrei an die Heimat. Den jedoch mußte ich Auge in Auge tun. Also heim! Aber kein Kapitän durfte einen Verschuldeten an Bord nehmen. Zu Fuß mußte ich nach Neuyork wandern, um dort unerkannt auf ein Schiff zu kommen. — Wie es mir in der Heimat erging, wißt ihr. Als ob ich ein Gauner wäre, wich man mir aus. Ich hätte mehr Gehör gefunden, wenn ich unserer Regierung vorgeschlagen hätte, den Staatsfundus ins Meer zu versenken. Hatte man nach meiner Heimkehr aus Paris mich bloß in den stummen Gesichtern lesen lassen: Da kommt 232 der Lump, so ließ man mich's nun hören: Da kommt der Abenteurer, der Weib und Kind im Stich gelassen, und bettelt um Brot. — Ich habe nie um einen Pfennig für mich gebettelt, aber um Brot für mein hungerndes Volk.»
Der Landgraf war, wie nach Atem ringend, aufgesprungen und ins Freie getreten. «Hört!» sagte er, «der Mann mit meinem Pferd ist da. Dort drüben steht er.» Er blickte sich nach allen Seiten um, als suchte er aus der wundervollen Stille der leuchtenden Nacht Rat und Hilfe. Plötzlich griff er mit beiden Händen in die Luft und schrie hinaus: «Mein Gott, mein Gott! Warum ist es so schwer, Mensch zu sein?»
Dann holte er seinen noch im Pavillon liegenden Hut und schritt rasch über die umflorte Wiese der Allee zu. Die beiden andern folgten ihm. Seine letzten lauten Worte mußten zum Schloß gedrungen sein. Ein Hund schlug an. Als sie die Allee erreichten, ging in einem Fenster des Schlosses Licht an. Man hörte die Haustüre knarren, hörte Schritte und aus dem Nebelflor das sich nähernde Gebell mehrerer Hunde.
«Sage mir, mein Sohn Francis, habe ich schlecht gehandelt?»
Schluchzend und den Kopf schüttelnd warf sich ihm der Knabe an die Brust.
«Dennoch geächtet», sagte Herr Christoph resigniert. Er schwang sich in den Sattel, reichte seinem Freund und dem Sohn die Hand und rief 233 dem Knaben, um dessen Schultern Herr Sebastian den Arm legte, zu: «Dennoch! Was im Vertrauen auf Gott geschieht, muß zu einem guten Ende kommen, das vergiß nie, Francis! Behüt dich Gott!»
Unbeweglich standen die beiden am gleichen Fleck, bis der Hufschlag des Pferdes in der Ferne verklang. Dann wanderten sie der Stadt zu. Herr Sebastian ließ den Knaben neben sich herlaufen und weinen. Er wußte nichts anzufangen mit einem heulenden Kinde, und diese seine Junggesellen-Unbeholfenheit verdarb ihm vollends die Laune; denn er fühlte sich dem Verfehmten verpflichtet, sich seines Sohnes anzunehmen. In seinem Innersten zürnte er Frau Susanna, seiner Cousine. Was brauchte sie ihn mit dieser Geschichte zu behelligen? Im Grunde genommen ging ihn der Landgraf ja gar nichts an.
Als sie sich dem Lombach-Turme näherten, raffte er sich auf und sagte: «Nimm's nicht zu tragisch! Es kann alles noch ein gutes Ende gewinnen.»
«Ich möchte nur wissen», ließ sich jetzt der Knabe hören, «ob das wirklich so sein mußte. Konnte denn niemand meinem Vater helfen?»
«Natürlich hätte ihm geholfen werden können», gab Herr Sebastian ingrimmig zur Antwort. «Dein Großvater wäre dazu wohl in der Lage; aber er ist ein Ge...» Der «Geizhals» blieb ihm in der Kehle stecken. So etwas sagt man einem Kinde nicht, und dazu war Herr Sebastian 234 der Richtigkeit seines Urteils nicht so unbedingt sicher. «Weißt du», lenkte er plötzlich ab, «an deiner Stelle würde ich mich an Grand'maman halten.» Damit überließ er den kleinen Junker seinem Schicksal und griff bereits unter dem Rock nach dem unbestechlichen Grobian von Hausschlüssel, mit dem er sich in seinen Turm einzuschließen pflegte.
Grand'maman dachte keineswegs daran, ihrem Herrn Gemahl mit Fürbitten für dessen Sohn lästig zu werden. Sie wußte, daß das aussichtslos war. Ihr Verständnis für die Situation bekundete sie auf ganz andere Art, indem sie bald nach des Landgrafen Abreise wieder einmal beim Kartenmischen innehielt, mit einem schalkhaften Zug um ihre hübschen Mundwinkel an dem Herrn alt-Gubernator vorbeischielte und sagte: « Réflexion faite, finde ich es eigentlich recht unökonomisch, daß man Christoph nach Sales ziehen ließ. Seine Familie ist zahlreich genug. Nichts ist gräßlicher als solch ein gesundheitstrotzender Mann, der vom Morgen bis zum Abend müßig herumsitzt. — Und die arme Regina...»
«Ah — ah, meine Angebetete!» Herr Anton rückte mit seinem Stuhl vom Tisch ab und setzte sich in Positur zu einer mit Nachdruck zu führenden Rede. «Man tut mir Unrecht — schweres Unrecht. Ich bitte Euer Liebden wohl zu unterscheiden zwischen Dingen, für welche wir als die 235 von Gott mit obrigkeitlicher Befugnis Ausgestatteten verantwortlich sind, und solchen, die von einer gütigen Vorsehung als unantastbares Recht in das freie Belieben der einzelnen Kreatur gestellt sind. Man scheint noch immer nicht zu verstehen, daß das wohlerwogene Interesse der Familie und meine Verantwortung für deren dauernde Fortun und Reputation mich gezwungen haben, meinen eigenen Sohn seinem nicht unverschuldeten désastre preiszugeben. Wer dem Fasse der Danaiden Schätze anvertraut, auf welche die kommenden Generationen ein Anrecht haben, verdient, daß er unter die ungetreuen Haushalter gezählt wird.»
Mit einer der Beschwichtigung dienenden Kußhandbewegung wollte Frau Susanna einwerfen: «Darüber sind wir einig»; aber ihr Herr Gemahl kam ihr zuvor: «Ich bitte, mich nicht zu unterbrechen», und setzte seine Rede fort: «In das allerindividuellste Naturrecht aber eines Ehemannes und Familienvaters hineinzureden, verbietet mir meine religiöse, moralische und staatsökonomische Überzeugung, denn dem Wachstum der Menschheit Einhalt zu gebieten, oder es zu mehren, bleibt dem Walten der Vorsehung vorbehalten.»
«Und der Weisheit der Männer», lispelte Frau Susanna, rasch ihre Karten verteilend. Der Herr alt-Gubernator heuchelte sprachloses Erstaunen ob dieser Verwegenheit. Auf die graziöseste Weise aber verleugnete seine Gemahlin, daß sie dieses 236 Staunen bemerkt habe, indem sie, die Karten auswerfend, den Partner zum Spiel einlud: « A vous, Monsieur le Gouverneur!»
Er ging darauf ein, konnte sich jedoch nicht enthalten, nach einiger Zeit zu sich selber zu sagen: «Ich habe übrigens guten Grund anzunehmen, daß mein Herr Sohn unter dem Einfluß seines Unglücks Neigung verspürt, sich wieder den ewigen Mächten zuzuwenden, denen er einst in jugendlicher Vermessenheit den Rücken gekehrt hat. Und das verpflichtet mich, meinen Grundsätzen ihm gegenüber konsequent treu zu bleiben, damit er zur Erkenntnis gelange.»
Unter dräuend grauem Himmel war der Landgraf durch das saftig grüne Freiburgerland geritten. Die Einsamkeit des Weges hatte ihm reichlich Zeit gelassen zum Nachdenken. Wachsende Erbitterung hatte ihn ergriffen, wie sie nur der an Leib und Seele gleich feurige Mensch empfinden kann, der, eine Welt voll großer Aufgaben um sich, mit Händen und Füßen im Pflock sitzt. Nein, so zürnte er in sich hinein, es ist noch schlimmer. Wer gefesselt liegt, hat doch die Genugtuung, für irgendeine Sache zu leiden. Ich liege lahm in luftleerem Raum.
Wie er nun unter herb duftenden Nußbäumen, rauschendem Bergwasser entlang, über Chatel St. Denis hinausritt, begann das Gewölk auseinander zu reißen, und es lachten sich, wie nach 237 langer Trennung, der blaue Himmel und der blaue See in der Abendsonne holdselig errötend an. Die Savoyerberge standen in duftig purpurner Ferne, und herwärts des Sees öffnete sich die smaragdene Schale des reifenden Rebgeländes. Des einsamen Reiters düstere Gedanken verloren sich in schleierhaftes Träumen. Und aus diesem Traum erhob sich eine liebe Gestalt in schwellender Schönheit. Weiche Arme holten aus, den Heimkehrenden zu umschlingen. — Leuchtende Augen. — Blühende Lippen. — Harmloses Kinderlachen.
Das Pferd bekam die Sporen zu fühlen und mühte sich, die Erfüllung des Traumes zu beschleunigen. Die Straße fiel und eilte, in der Freude, dem Müden eine herrliche Überraschung zu bereiten, raschen Schwunges um den Bergwall zur Rechten. Der scharfe Schattenriß eines Baumes sprang ins Blaue, wich und gab den Blick frei auf die Goldwogen verschwendende Sonne. Unermeßliche Gewölbe rosiger Wolken überspannten den in sanftem Feuer aufglühenden See. Der Reiter hielt an und — vergaß — vergaß alles, bis in kaum wahrnehmbarem Hauche Schatten in die Rebberge floß. Es erhoben sich Mauern, Dächer, Häuser, und endlich hielt das Pferd, nach dem Brunnen drängend, in kühlem Hofe still.
Da stand auch schon Frau Regina — wie im Wachtraum ersehnt. Schön, holdselig, und hatte 238 blitzende Tränen in den lieben Augen. Und die Mädelchen zupften dem von ihr weich umarmten Vater am staubigen Rock. Das Hündlein wedelte im Hof herum.
O süßes Vergessen! — O wonniges Daheimsein!
· · · · ·
In das dämmernde Traumgewirr des Heimgekehrten drang am andern Morgen das heisere Geräusch schürfender Kärste, das Knarren von Rädern und irgendwoher ein Dengeln. Der Landgraf erhob sich, ging ans Fenster und sah eine schwer befrachtete Barke ihre Furchen in den blauen See ziehen. Das Lager seiner Gattin war längst leer. Man hörte ihren emsigen Schritt im obern Stockwerk. Zärtlich sie zu begrüßen, ging er ihr nach; aber sie hatte keine Zeit für ihn. Alles ringsherum war an der Arbeit. Braune Hände wischten Schweiß von braunen Stirnen. Herr Christoph wurde mit den Kindern spazieren geschickt. Er saß mit ihnen herum wie ein Greis, spielte mit ihnen, kam mit ihnen zu den Mahlzeiten heim und aß, was man ihm vorsetzte. Die Kinder waren tadellos, aber fast ärmlich gekleidet, Frau Regina desgleichen. Es rastete hier niemand als der Landgraf und seine Mädelchen, elf-, zehn-, acht- und siebenjährig. Das Jüngste war acht Monate nach seiner Abreise nach Amerika geboren.
Frau Regina war fröhlich, gönnte sich aber keine Rast. Sie hütete sich, ihrem Mann irgendetwas 239 zu sagen, was nach Vorwurf geklungen hätte; aber ihre Emsigkeit wurde Herrn Christoph von Tag zu Tag unerträglicher. Er wußte sich anders nicht mehr zu helfen, als indem er nach einem Karst griff und den Weinberg jäten ging. Er tat sinnlose Arbeit, die nichts eintrug und den Winzer kränkte. Was sollte das bedeuten? Ein Herr hat doch wahrlich anderes zu tun. — O ja, Herr Christoph wußte, daß er zu anderem auf der Welt war, daß aber auch seine Frau eine andere Aufgabe hatte, als um die Unabhängigkeit von der Güte ihres Schwiegervaters zu ringen und nachts das Lager ihres mit allen Hunden gehetzten, zum Müßiggang verurteilten Gemahls in herausfordernder Ergebung zu teilen.
Das war mehr, als ein Mann zu ertragen vermag. Es war schlimmer als das Leben auf einer Galeere. — Auf dem väterlichen Rebgut herumhocken, während der Vater selbst, an des Sohnes Tüchtigkeit verzweifelnd, in eiserner Anspannung das Letzte versuchte, um den Makel von der Familie abzuwälzen! — Nein, das durfte so nicht weitergehen.
Es schien Herrn Christoph mehr zu sein, als was ein Mann ertragen kann. Er mußte aber erfahren, daß es nicht nur ein paar Tage solcher Demütigung bedurfte, um aus einem an Leib und Seele feurigen einen weisen Mann zu machen, sondern Jahre. Zu selbiger Zeit standen einem 240 Manne aus adeligem Stamm in der Heimat keine Wege offen, wenn er nicht die hergebrachten des Staats- oder des Kriegsdienstes einschlagen konnte. Also blieb der Landgraf von Carolina, von seinem tapfern, hochgemuten Weibe umsorgt und geliebt, freiwillig Arbeiter in des Vaters Weinberg und wußte nicht, wann ihm die Stunde der Erlösung schlagen würde. Es war nur eins, was ihm den Kopf über dem schwarzen Wasserspiegel der Verzweiflung hielt: Sein Glaube an den Gott, der ihn im Lager der Indianer erhört hatte. Demütigung, im Glauben an ihre Zweckmäßigkeit ertragen, kann tief in den Staub beugen, aber einen Mann nicht brechen.
Von seinem Sohne vernahm Herr Christoph wenig. Dann und wann ein Brieflein, durch Frau Salome von Steiger mit großer Vorsicht besorgt. Die Briefe waren in höflicher und korrekter Form abgefaßt. Man konnte sie nicht lesen, ohne an die drei eingeknöpften Westenknöpfe des jungen Schreibers zu denken. Im ersten Briefe vibrierte noch die schmerzliche Erinnerung an die Nacht von Holligen. In den folgenden wich die Herzlichkeit schon ganz der Höflichkeit und Ehrerbietung, und seither grünte zwischen den wohlgesetzten Zeilen das Gejät einer nach Anerkennung lüsternen Staatsweisheit, die dann nach und nach immer saftiger wucherte.
«Man hat ihn mir geraubt», sagte Herr Christoph mit herzbewegendem Seufzen, als er den 241 letzten Brief zusammenfaltete und in den Hosengurt versorgte, um, die Lippen hart aufeinander pressend, weiter zu ackern.
«Wir werden ihn dir zurückgeben», sagte Frau Regina, welche die Klage gehört hatte. Und sie hielt Wort. Sie wußte den Seufzer durch die Zeilen ihres nächsten Briefes an Frau Salome weiterklingen zu lassen und wurde verstanden. Frau v. Steiger und ihr Mann setzten es gegen das Ehrenwort, ihn auf waadtländischem Boden nirgends aus dem Wagen steigen zu lassen, durch, daß Junker Franz sie auf ihr Rebgut bei Rolle begleiten durfte. Und auch sie hielten Wort. Zwischen Regina und Salome ward auf das genaueste vereinbart, wann der Wagen an dem Weinberge vorüberfahren sollte, in welchem Herr Christoph arbeitete. Der Kutscher fuhr auf ein verabredetes Zeichen langsam und hielt, wie von ungefähr, an, damit Frau Salome ihrem Neffen das Gut von Sales zeigen konnte. Ein großer, schlanker Arbeiter stand auf den Stiel seiner Hacke gestützt und blickte träumend in die Ferne. Er fiel durch Haltung und Gestalt auf. Nach kurzer Rast holte er tief Atem, faßte sein Werkzeug und tat, wie unter den Augen eines Aufsehers, Hieb um Hieb in die Erde.
In diesem Augenblick erkannte Junker Franz seinen Vater. Ein leiser Schrei entfuhr ihm. Er wollte aus dem Wagen springen; aber mit eisernem Griff hielt ihn der Venner zurück, und schon rollte der Wagen weiter.
242 «Laßt mich!» wehrte sich der Junker. «Ich will meine Eltern grüßen.»
«Wir haben dem Großvater unser Wort gegeben. Wir halten es», wehrte Herr v. Steiger ab.
Und weiter ging die Fahrt. «Bleibe Kavalier!» befahl Frau Salome dem erschütterten jungen Mann. «Du darfst meine Pläne nicht durchkreuzen!»
Für den Augenblick ergab sich Franz; aber in den folgenden Tagen brach immer wieder die Wunde auf, welche der Anblick des Vaters ins Herz des Sohnes gerissen hatte, so daß die Frau Vennerin ihrem Bruder in Sales schreiben durfte: «Wir haben ihn dir zurückgegeben.»
In einer Hofstube des Gasthofs zur «Krone» in Bern ging es an einem Spätnachmittag des folgenden Jahres laut zu. Wer eintrat, sah zuerst nur Schemen von Menschen, denn der in Rauch aufgelöste holländische Knaster rang mit dem sinkenden Tageslicht. Es saßen da beim Wein junge Männer, deren derbes Reden und Poltern in auffallendem Widerspruch stand zu ihrem modischen Habit. Fast lauter Durchgefallene waren es — prétendants échoués, wie der gebräuchliche Ausdruck sie bezeichnete. Vor vierzehn Tagen hatte die Ratsergänzung und Ämterbesetzung stattgefunden, bei welcher diese Herren leer ausgegangen waren, und jetzt wurde nach und nach enträtselt, wer für den Mißerfolg jedes einzelnen 243 verantwortlich zu machen sei. Einer hatte sich nun schon mit einer Fähnrichsstelle im Regiment Stuppa getröstet. Er trug bereits die Uniform, da er morgen verreisen wollte, und tat, als hätte er schon drei Feldzüge hinter sich, nämlich solche nach hübschen Cocöttchen. Ihrer zwei zerrissen den hochangesehenen und einflußreichen Herrn alt Gubernator von Graffenried in lauter kleine Fetzen. «Habt ihr den Zügel gesehen heute, vor seinem Haus? — Weiß nicht, was die Leute unter den Laubenbogen daran zu begaffen hatten. Die Blache war ganz eingeschrumpft. Nichts drunter.»
«Als Urkunden», schrie ein anderer dazwischen.
«Aufgekaufte Carolina-Schuldbriefe, he?» ein weiterer.
«Kodizille zugunsten seines Erbprinzen.»
«Daß solch ein Greis sich nicht geniert, sich um eine Vogtei zu bewerben, wo Dutzende herumlungern und vergeblich auf ein Amt warten!»
So tönte es um den breiten Tisch herum. Herr Anton hatte trotz seines vorgerückten Alters sich um die Landvogtei Murten beworben und sie erhalten, weil dieser Posten eines erfahrenen Mannes bedurfte und weil es im wohlverstandenen Interesse mancher Leute lag, den alten Herrn in seinen Bemühungen um die Befriedigung der Gläubiger seines Sohnes zu unterstützen. Heute war Frau Susanna mit ihrer Kammerjungfer und häuslichem Kleinkram vorausgefahren. Der Zügelwagen mit strenger Auswahl des Unentbehrlichen 244 war ihr gefolgt, und in zwei Tagen sollte der heute durch Ratsgeschäfte noch zurückgehaltene Herr Landvogt in Murten Einzug halten.
Noch waren in der «Krone» die jungen Herren eifrig an ihrem Zerkleinerungsgeschäft, als wieder ein Schicksalsgenosse eintrat und, kaum daß er vernahm, wer da in der Hechel lag, in die Rauchschwaden hineinrief: «Wißt ihr das Neueste? — Gestern ist der alte Caspar auf Schloß Worb zu den Vätern eingegangen.»
«Was du nicht sagst? — Und jetzt?»
«Wem fällt die Herrschaft zu?»
«Herrn Anton natürlich.»
Das wurde bestritten; aber nach kurzem Disput ward doch festgestellt, daß Herr Anton der rechtmäßige Herr zu Worb sei. «Was wird er nun tun? Auf Murten verzichten?»
«Ei bewahre!» antwortete einer, der auf der Hochschule unlängst ein philosophisches Kolleg gehört, «er wird die Rolle von Buridans Esel spielen, wie noch keiner sie gespielt, und genau in der Mitte zwischen Murten und Worb verhungern. Was wetten wir?»
Ein Beifallsgewieher, in dem auch die geheimste Regung von verstehendem Mitgefühl für den Verleumdeten unterging, schlug über dem Haupte des Witzbolds zusammen.
Der Aufzug auf das Amt in Murten hatte zur vorbestimmten Zeit und mit der üblichen, 245 unerläßlichen Feierlichkeit stattgefunden, denn in Meiner gnädigen Herren Landen wurde auf Ordnung gehalten, geschweige denn auf einer gemeineidgenössischen Vogtei, wenn dort Bern an der Reihe war. Herr Anton hatte nicht einmal der Bestattung seines älteren Bruders beiwohnen können, sintemal das Wort «Lasset die Toten ihre Toten begraben» als unerläßlicher Bestandteil christlicher Lehre für den Staatshaushalt in besonderer Weise Geltung hatte.
Noch war aus den gefangeneren Winkeln des Murtener Schlosses der erkaltete Duft vom Aufzugsmahl nicht völlig gewichen, als Herr Christoph von Graffenried, einem bündigen Befehle seines Vaters folgend, daselbst eintraf. Ein wundervoller Frühlingstag warf die zierlichen Schatten der knospenden Kastanienbäume auf die weißgetünchten Mauern, und zwischen dem Gezweige der Allee hindurch fiel der Blick des Einreitenden auf die silbern glitzernde Blaufläche des Sees. Hätte nicht seine Seele nach irgendeiner Lebenswende gelechzt, wäre Herr Christoph wohl vor der Pforte des Schlosses, das sich mit der ihm nur zu bekannten Herrschergebärde über das sonnenwarme Dächergewirr und das lenzende Land erhob, wieder umgekehrt. Ihm war, als brächen alle Wunden, die er je empfangen, wieder auf, als er die hoch oben an der Hofmauer hängende Glocke zum Bellen brachte. In der Audienzstube, wohin er geführt wurde, warf die durch das offene Fenster einfallende 246 Sonne ein großes Schattenkreuz auf die roten Backsteinplatten des Fußbodens. Und das war gut; denn es ist eine harte Sache, zum zweitenmal in der Rolle des verlorenen Sohnes vor der Schwelle seines Vaters zu stehen; aber das Kreuz erinnert immer wieder daran, daß das schwerste Leiden der Menschen Kinderspiel bleibt gegenüber dem, was ihr Erlöser getragen.
Während der Landgraf von Carolina hier auf den Landvogt von Murten wartete, stand in einem Zimmer auf der Seeseite des Schlosses sein Sohn in gebührendem Respekt vor dem Großvater, der ihn, weil nunmehr durch sein neues Amt auf sechs Jahre hier festgehalten, in aller Form zum Herrn von Worb einsetzte und auf das allergründlichste mit der erdrückend schweren Verantwortung dieser Würde vertraut zu machen suchte. Es war eine Philippika von erschütterndem Ernst, die jedoch gerade durch ihr Erinnern an die hohe Verantwortung den Herzschlag des Jünglings zu einem dröhnenden Triumphmarsch gestaltete.
«Dieweil du nun aber erst nach Ablauf meines Amtes als Landvogt hieselbst deine Volljährigkeit erlangen wirst, habe ich wohlerwogene Vorsorge getroffen.» Damit verließ Herr Anton das Zimmer, um gleich darauf mit seinem Sohne wieder einzutreten. Aufs tiefste erschüttert standen sich der Landgraf und sein Sohn gegenüber.
Eine für beide gleich peinliche Minute verrann, bis Junker Franz auf seinen Vater zueilte und 247 ihm unter brennenden Tränen die Hand küßte. Herr Christoph nahm des Jünglings Haupt in beide Hände und wollte ihn auf die Stirne küssen. Er stockte, tat es dann aber doch mit Inbrunst, nachdem er den ersten Widerwillen überwunden, den ihm des Jünglings Allongeperücke, das Ornat des werdenden Staatsmanns aus dem «Äußern Stande», eingeflößt. Nun wohl, sagte er sich in blitzschneller Überlegung, er geht den üblichen Weg und wird sich damit viel Not und Leid ersparen.
Herr Anton ließ den beiden wenig Zeit zur Hingabe an Gefühlsregungen. «Christoph», sagte er mit einem Ton, der unumstößliche Tatsachen verkündet, «ich brauche dir Vorangegangenes nicht in Erinnerung zu rufen. Hier steht der junge Herr zu Worb, Trimstein und Wickartswyl. Seine Herrschaftsrechte selber auszuüben verbietet ihm seine Minderjährigkeit. Ich verfüge deshalb, um dir eine Gelegenheit zur Rehabilitation zu geben, daß du in deines Sohnes, als des rechtmäßigen Herrn, Namen diese Rechte — und Pflichten — und — Pflichten ausübest, bis Franz volljährig wird. — Gott gebe euch beiden Weisheit und Verstand! — Vergeßt nie und zu keiner Stunde, daß Schultheiß und Rat der Republik über euer Tun und Lassen wachen werden!»
Sohn und Enkel verbeugten sich gegen Herrn Anton. Daß sie beide wie von einem Keulenschlag getroffen waren, kam ihnen erst nach und nach zum Bewußtsein.
248 Es ging recht schweigsam zu, als man sich um die nicht zu verachtenden Reste des Einzugsmahles zu Tische setzte und im dunklen Drange nach etwelcher Betäubung dem Weine vom jenseitigen Ufer des Sees tüchtig zusprach.
Es wurde vom Landvogt angeordnet, daß Herr Christoph nach Sales zurückkehren solle, um sich dann in acht Tagen mit Vater und Sohn von Bern aus zum Antritt der Herrschaft nach Worb zu begeben.
Als am Abend die Frau Landvögtin ihren Stiefsohn in einer Fensternische sitzen sah, die Hände in den Taschen, die Beine steckensteif gestreckt, das Haupt finster gesenkt, als ob die ganze Lenzesherrlichkeit draußen ihn gar nichts anginge, während Junker Franz ihr eben noch durch eine heimlich belauschte Parade vor dem großen Salonspiegel ein Lächeln abgenötigt hatte, trat sie dicht an ihn heran, legte ihm ihre schöne Hand auf die Schulter und sagte: «Christoph, ich habe dir vom Gesicht abgelesen, daß du deinem Vater zürnst.»
Herr Christoph war bei der Annäherung der Dame aus alter Gewöhnung aufgestanden und hörte nun, nachdem sie ihn sitzen geheißen, mit unfreundlich gespanntem Blick zwar, aber doch in korrekter Haltung zu. Frau Susanna fuhr fort: «Du weißt, daß ich mir Mühe gebe, dich zu verstehen; aber nun wünschte ich sehr, daß du ein Gleiches tätest gegen deinen Vater.» Da riß 249 ihn der Widerspruchsgeist jäh von seinem Sitze auf.
«Nein», kam die Stiefmutter seiner Antwort zuvor, indem sie ihm mit der Hand bedeutete, nur ruhig sitzen zu bleiben. «Nein, mein Lieber, du tust es nicht und hast es, wie mir scheint, nie getan, sonst wäre es dir von Jugend auf leichter gefallen, ihm zu gehorchen. Glaube nur nicht, daß er sich einen Schleck daraus mache, dich zu kujonieren. Er ist im Grunde seines Herzens der gutmütigste Mensch, den es gibt.» Da Herr Christoph unter hämischem Grinsen mit der Hand eine wegwerfende Bewegung gemacht, ergriff Frau Susanna diese derbe Rechte mit beiden Händen; aber er riß sich aus der zärtlichen Fessel los, wandte sich halblinks ab und blickte starr zum Fenster hinaus. Nun stand sie auf und redete fest auf ihn ein. «Es ist so. Anton hat ein gutes, wohldiszipliniertes Herz; aber jede weiche Gefühlsäußerung scheut er, er bringt sie nicht heraus, weil er fürchtet, daß er sich damit aller Kraft und Haltung beraube. Solche Menschen sind total verloren, wenn ihnen zum Beispiel der Tod ein Liebes entreißt. Sie stehen unter dem ehernen Gesetz der Haltung, auf das sie eingeschworen sind. Darum auch treiben sie es mit der Pflichterfüllung auf die Spitze, messen alle andern an diesem Maßstab und gelten deshalb als harte Pedanten. — Wüßtest du nur, Christoph, was deinen armen Vater der Entschluß 250 gekostet, den er euch heute mitgeteilt hat! — Und warum hat er in seinem hohen Alter diese Landvogtei noch auf sich genommen? Warum gibt er sie nicht ab, um nach Worb zu ziehen? — Weißt du warum?»
«Weil er sich nichts versagen kann», knurrte Herr Christoph.
«Schnöder Undank, Christoph! — Er weiß, wie ihm die Bewerbung um Murten von allen jüngeren Kollegen übel genommen wird. Das alles hat er auf sich genommen, weil er, so lange er noch zu atmen hat, sein Äußerstes tun will, um alle Schuld abzutragen und das Ansehen des Hauses unbefleckt seinen Nachkommen zu erhalten. Das ist das ganze Geheimnis. Und wenn du ehrlich abwägst, was du dafür getan, gegen das, was er getan...»
Da warf Herr Christoph beide Fäuste hoch und rief: «Ist es allein meine Schuld, daß all meine Arbeit, all mein Wagemut an der Dummheit und Feigheit meiner Kolonisten zu schanden wurde?»
«Sei still, Christoph, die Demütigung, welche in diesem Mißerfolg steckt, ist dir nicht von Menschen auferlegt. Darum sollst du dir jetzt auch nichts aus dem machen, was die Menschen von der Sache denken. Gehe du nur tapfer deinen Weg, er wird schon wieder ansteigen, wenn es Zeit ist. In Gefahr bist nicht du, sondern dein Sohn, der nun über sein Vermögen in der Probe 251 steht. In deiner Hand liegt es, ihn mit dir bergauf zu führen.»
Auf einmal hörte Herr Christoph, der die letzten Worte mit tief gesenktem Haupte vernommen hatte, die Türe einklinken, und als er aufsah, war er allein.
Am andern Morgen war Herr Christoph schon weit weg, als das erquickliche Rauschen eines kühlen Regenschauers die landvögtliche Familie weckte. Düstern Antlitzes und müde traf er bei einbrechender Nacht in Sales ein. Seine Gemahlin quälte ihn nicht mit neugierigen Fragen; aber sie wußte auch, daß Gleichgültigkeit des Nächsten selbst den Verschlossensten tief verwundet. Darum legte sie an einem der folgenden Tage ihre schönen Arme um des Gatten Hals und bat mehr mit dem Blick als mit den Lippen: «Darf ich gar nichts von deinem Kummer wissen?» Und dann kam's. Erst stockend und verworren und endlich in breitem, tiefem Erguß, alles, alles, manchmal aufbrausend, dann nach und nach in Resignation übergehend. Und zuletzt klang es aus in die bittere, fast hilflos tönende Frage: «Und nun sage mir, Regina, gehört das wirklich dazu, daß der Landgraf von Carolina erst noch vor allem Volk der Herrschaft Worb als der Beauftragte seines Kindskopfs von Sohn lächerlich werden muß?»
Nach kurzem Besinnen antwortete Frau Regina: «Daran darfst du nun gar nicht denken. 252 Regieren wirst du und nicht dein Sohn. Kümmere dich nicht um den Schein, sondern lehre sie den Mann erkennen, der für sie denkt und sorgt. Es wird sich bald zeigen, wer größeren Schatten wirft, ob du oder das Kind, in dessen Namen du handelst.» Da erinnerte sich Herr Christoph jenes Tages, an dem er den Indianer seinen silbergestickten Staatsrock in den Busch werfen sah, und seine Augen begannen zuversichtlich aufzuleuchten, so daß Frau Regina sich nicht enthalten konnte, die schönen Sterne zu küssen.
Die Herrschaftsleute zu Worb, Wickartswyl und Trimstein wußten im ersten Jahre von Junker Franzens Regiment nicht so recht, an wen sie sich halten sollten. Der junge Herr zeigte sich nicht selten in den Dörfern und bot, wenn er auf seinem hübschen Apfelschimmel geritten kam, das Bild eines wirklichen kleinen Grandseigneurs, das seinen Eindruck nicht verfehlte, denn der Bauer, wenn er sich einen Herrn überhaupt gefallen lassen soll, erwartet, daß dieser nach etwas aussehe und ihm das Gehorchen nicht allzu schwer mache. Junker Franz war leutselig und knauserte nicht mit artigen Komplimenten, wo die Schönheit einer Bauerntochter solche irgendwie rechtfertigte. Damit gewann er deren Gunst, aber auch die Sympathie ihrer Eltern, denen die Aufmerksamkeit des Junkers schmeichelte. Die immer noch nach dem Lehrpult duftende ökonomische 253 Weisheit des angehenden Staatsmannes nahmen sie gerne in Kauf. «Lose choschtet nüt», pflegten sie unter sich zu sagen, «me cha nüschti mache, wie me wott.»
Anders verhielt es sich mit dem Landgrafen, den sie auch etwa den Amerikaner nannten. Der machte wenig Worte, hatte sehende Augen und bewies bei jeder Gelegenheit klaren Verstand. Man brauchte nicht lange mit ihm verkehrt zu haben, um deutlich herauszufühlen, daß praktisches Anfassen ihm mehr galt als hübsche Aufmachung. Er war weder durch harmonisches Kühergeläute, noch durch glänzendes Pferdegeschirr oder farbensprühenden Gartenflor hinter das Licht zu führen. Obwohl geduldig in schwerer Zeit, verstand er wenig Spaß. Kurz, er war ein Herr am rechten Platz. Die Leute erwiesen ihm nach Überwindung des ersten Mißtrauens gern alle schuldige Ehre, worüber sie freilich auch nicht vergaßen, daß sein Sohn der kommende Mann sei.
Junker Franz konnte es nicht entgehen, daß sein Vater mehr und mehr das Vertrauen der Leute gewann, ja, daß er sehr ernst genommen wurde, während man offenbar ihn selber einstweilen als harmlosen Genießer einschätzte. Er ahnte wohl, daß dieses Verhältnis nicht eben geeignet war, einer glatten Erfüllung der großväterlichen Verfügungen Vorschub zu leisten; aber dem jungen Blut fehlten die schlaflosen Nächte, um sich darüber klare Rechenschaft zu 254 geben. Einstweilen gefiel er sich in der Rolle des präsumptiven Herrn zu Worb und spielte diese mit besonderer Freude an der äußersten Grenze des Herrschaftsgebiets gegen Norden. Dort stand nämlich über steilem Bord ein Bänklein am Waldrand, von dem aus man einen herrlichen Blick auf das Schloß Utzigen, seine Gärten und weiter ins Worblental genoß. Fräulein Kätheli Daxelhofer, des Herrn zu Utzigen Tochter, war sozusagen von der Wiege her mit Junker Franz befreundet, wie es die Nachbarschaft der Schlösser so mit sich brachte. Bedeutung erlangte diese Freundschaft erst jetzt, im Hinblick auf die kommende Gestaltung der Herrschaftsverhältnisse. Kätheli war als eine echte Daxelhofer selbstbewußt, klug und prachtliebend. Um glücklich zu sein, mußte sie einen Mann finden, der etwas vorstellte in der Welt. Man brauchte also nicht weit zu suchen. Und da sie nicht viel auf Reiten hielt, erlangte jenes Bänklein bald Bedeutung. Auf diesem einsamen Luginsland rückte man sich näher. Das junge Glück gewann zusehends an Tiefe. Dabei wurde aber Junker Franz immer klarer, daß er es nur als wirklicher Herr zu Worb bleibend an sich fesseln konnte. Von dem Landgrafen dachte man im Schloß Utzigen, wie die meisten Leute in Bern von ihm dachten. Man kannte ihn fast nur als den Urheber von Fatalitäten.
Wenn das Wohlgefallen, welches solche Herrschaftskinder 255 aneinander finden, geheim bleiben soll, so dürfen sie sich nicht an jedem hellen Frühlingstag auf einem Luginsland treffen. Was sich da anbahnte, gab bald in Schloß und Hütte den Gegenstand zu lebhaften Erörterungen. Nur die sprachen nicht gern davon, die es nächst dem jungen Paar am meisten beschäftigen mußte. In der Verwandtschaft des Junkers von Worb sah man mit immer ängstlicher werdender Spannung dem Tag entgegen, da dieser die Volljährigkeit erlangte.
Frau Salome v. Steiger ließ sich keine Gelegenheit entgehen, um auf die Tüchtigkeit ihres Bruders hinzuweisen. Ihr Mann dagegen erblickte gerade in dieser Tüchtigkeit einen gefährlichen Konfliktstoff, und auch Frau Regina begann im Gedanken an die weitere Entwicklung der Dinge sich heimlich zu sorgen. Aller Blicke richteten sich auf den Landvogt von Murten. Von einem Ostermontag zum andern — das war der einzige Tag des Jahres, an welchem die ganze Verwandtschaft sich in Bern traf — wuchs die Spannung auf irgendwelche Andeutungen des alten Herrn. Er wich jedoch dieser Neugier mit undurchdringlichem Schweigen aus. Die einzige Person, welche in blindem Vertrauen auf die erprobte Staatsweisheit und Gerechtigkeitsliebe des Herrn Anton getrost in die Zukunft blickte, war Grand'maman.
Je näher der Termin rückte, desto mehr richteten 256 sich die Blicke auf Junker Franz. Immer deutlicher wurde allen, daß bei diesem die Entscheidung lag, denn die Rechtstitel waren in seiner Hand. Machte er sie geltend, so mußte Herr Christoph weichen, es wäre denn, daß Herr Anton auf seinen Entschluß zurückkäme. Aber wie wäre das denkbar? — «Aus diesem Munde», meinte der Venner v. Steiger, «ist kaum ein anderer Spruch zu vernehmen als ‹Was ich geschrieben habe, bleibt geschrieben›.»
So brach das Jahr an, in welchem Junker Franz seine Volljährigkeit erlangen sollte. Des Landvogts von Murten Amtszeit ging zu Ende. Zum sechstenmal fuhr er mit seiner Gemahlin nach Bern, um der Ämterbesetzung beizuwohnen und mit seinem Nachfolger die Übergabe der Landvogtei zu bereden. Das geschah in des Abtretenden Wohnung an der Vordern Gasse, dieweil Herr Anton sich auf der Reise erkältet hatte und nun ernstlich krank zu Bette lag. Noch hatte man sich keiner schlimmen Wendung versehen, als der Kranke befahl, seine Kinder und den Enkel von Worb herbeizurufen. Der Bericht des Arztes lautete schlecht. «Lungenentzündung», erklärte er trocken, «und das Herz ist aufgebraucht.» Der Patient machte sich auf alles gefaßt und wünschte, sein Haus zu bestellen. In der bangen Erwartung, daß das Haupt der Familie, der strenge, aber mit seiner Gewissenhaftigkeit alles im Gleichgewicht und Senkel haltende kluge Haushalter 257 bald seine Augen für immer schließen werde, blieben die nächsten Verwandten im Hause.
Ein bedrückend stiller Abend rötete die Gasse, als Junker Franz sich bemühte, mit dem geringst möglichen Geräusch im Krankenzimmer das Kaminfeuer anzufachen, während seine Mutter und Grand'maman im Alkoven den Kranken umsorgten. Der junge Herr war niedergekniet und starrte in die Glut. Er wollte sich zwingen, nun nicht an die Entscheidung zu denken, welche aller Wahrscheinlichkeit nach in den nächsten Tagen fallen mußte; aber immer von neuem überfiel ihn der fast unerträgliche Gedanke, daß das Schicksal seines Vaters in seine Hände gelegt sei. Es war so weit. Herr zu Worb! Das Ziel war ganz nahe, der Traum seiner ganzen Jugend nahte der Erfüllung. Und nun sollte der erste, über den er gewissermaßen Recht zu sprechen hatte, sein eigener Vater sein. Da war das fideikommissarische Vermächtnis des Ahnherrn, und da sprach das Herz...
Mitten in diese Überlegungen hinein rief Frau Regina: «Franz, Grandpapa verlangt nach dir.»
Der Junker schnellte auf und trat in den Alkoven. Der alte Herr sagte leise, aber deutlich und bestimmt: «Mein lieber Franz, du bist zwar eingeweiht in die Bestimmungen über Worb, aber Du hast das Dokument noch nicht in Händen. — Gebt es ihm!» Mit dem letzten Wort wandte er sich an Frau Susanna, die den Enkel an das 258 Schreibpult führte, dieses öffnete und Franz die ihm bekannte Urkunde überreichte. Gleichzeitig schob sie ihm mit einem bedeutsamen Blick jenen Brief in die Tasche, den er damals — vor zehn Jahren war es gewesen — in seiner Mutter Hand hatte zittern gesehen.
Mit der Urkunde trat der Junker an des Großvaters Bett. Er küßte dem Greis ehrerbietig die Hand, und Herr Anton sagte: «Vergiß nie deine Verantwortung! — Laß den barmherzigen Gott dein Berater sein durch dein Gewissen! — In allem!»
Da der Kranke die Augen schloß und sehr müde zu sein schien, zogen sich Frau Regina und ihr Sohn in das Nebenzimmer zurück, wo auch Herr Christoph und seine Schwester Salome sich aufhielten. Von beiden, wie von der Mutter aufmerksam beobachtet, trat Franz an den Tisch, auf dem eine Kerze brannte, zog den Brief aus der Tasche und begann zu lesen.
Einen Augenblick war Herr Christoph im Begriff aufzustehen, um zu sehen, was sein Sohn da lese; aber Frau Salome legte ihm die Hand auf den Arm und hielt ihn mit abmahnendem Blick zurück. Es währte nicht lange, so fing der Brief auch in Franzens Hand zu zittern und zu flattern an. Mit seltsamem Zucken um den Mund las der junge Mann lautlos für sich:
«Mein hochverehrter Herr Vater!
Erweiset mir die Güte, das, was hinter uns 259 liegt, in Vergessenheit geraten zu lassen und, da ich mich seither gebessert habe, für heute und die Zukunft eine bessere Meinung von mir zu fassen. Ich gebe zu, daß ich Euch durch meine Flucht und meine Schulden schweren Kummer gemacht habe; aber meine Landvogtei habe ich doch in Ehren und zur Zufriedenheit Meiner gnädigen Herren und Obern bedient und hierin nichts begangen, was Eurer Ehre Abbruch getan hätte. Auch habe ich es meines Wissens an Respekt und Gehorsam Euch gegenüber nie fehlen lassen. Verzeihet mir also das Vergangene und rührt nicht immer wieder an das, was ich bitter bereue. Gewährt mir, mein hochverehrter Herr und Vater, Euer Wohlwollen wieder, werde ich doch alles anwenden, um Euch zufrieden zu stellen und mich durch Gehorsam, Respekt und Unterwerfung als den verlorenen und wiedergefundenen Sohn zu erweisen. Erzeiget Euch mir also auch als der gütig verzeihende Vater und gönnet fortan Euer Wohlwollen wieder
Eurem reumütigen Sohn
Christoph.»
Unwillkürlich schweiften des Junkers Blicke in den dunklen Hintergrund der Stube, wo sein Vater, vom Licht abgewendet, neben Frau Salome an die Wand gelehnt saß und deren Angesicht betrachtete, als spiegelte es Haltung und Ausdruck des Lesenden.
Wann hatte Herr Christoph diesen Brief geschrieben? 260 Franz rechnete nach. Ja, es stimmte, nach seiner Rückkehr aus Amerika, da ihm nichts mehr übrig geblieben war als der Weg zum Vater, zu dem Vater, der selbst um der Familienehre willen ihm alle Landungsbrücken zur alten Heimat abgebrochen hatte. An die Güte dieses Vaters glaubte er dennoch. Verdiente dieser Glaube nicht Erhörung? — Konnte der Landgraf von Carolina mehr von sich abstreifen als hier geschehen, um nur noch Mensch und Kind zu sein?
Da lag nun auf dem Tisch neben dem mit Tränenspuren gesiegelten Brief die Pergamenturkunde, welche zugunsten des Enkels dem Sohne sein natürliches Recht vorenthielt. Dort saßen dieser Sohn, seine Frau und seine Schwester. Franz fühlte ihre Blicke auf sich gerichtet, in einer Stille, durch welche die schlürfenden Atemzüge des Sterbenden leise rasselten.
Junker Franz nahm in die eine Hand den Brief, in die andere die Pergamenturkunde und ging in das Krankenzimmer hinüber, wo in atemloser Spannung Grand'maman an der Öffnung des Alkovens stand. Sie schien ihn zu erwarten, streckte sie doch ihre linke, zum Warten mahnende Hand gegen den jungen Mann aus, während sie vorgebeugt den Kranken beobachtete.
«Es muß sein.» Ob Franz dies aussprach, hätte nicht einmal er selber sagen können. Er trat entschlossen neben der Frau Großmutter an das Bett, und da der Kranke die Augen aufschlug, 261 ein paar staunende, wie in dunklem Gewölbe von hellem Licht überfallene Augen, benützte er dieses Erwachen, um zu sagen: «Mein Herr Großvater, hier stimmt etwas nicht. Diese beiden Dokumente widersprechen sich.» Ein sichereres Mittel, um den alten Herrn zu völligem Erwachen zu bringen, als der Hinweis auf einen Mangel an Übereinstimmung in seinen Papieren hätte niemand finden können.
Die Augen des Greises weiteten sich noch mehr, während er Anstrengungen machte, sich aufzurichten. Seine Frau schob ihm die Kissen unter, so gut es gehen wollte.
«Stimmt nicht?» fragte Herr Anton. «Was denn?»
«Diese Urkunde», antwortete Junker Franz, «beginnt mit den Worten: ‹In Gottes, des Allmächtigen Namen›, während dieser Brief hier meines Wissens unbeantwortet geblieben ist. Ich meine, das erste, was wir Menschen als im Namen Gottes geschehend tun dürfen, ist Vergeben.»
Starr blickte Herr Anton auf seinen Enkel. Nach einigen mühsamen Atemzügen sagte er vor sich hin: «Und für die meisten das Einzige... Ich habe ihm vergeben... Wo ist er?»
Herr Christoph und die beiden Frauen waren, von Franz unbemerkt, in das Zimmer getreten und Zeugen des Gesprächs geworden. Nun trat Herr Christoph vor, von dem Kranken mit Staunen betrachtet, aber alsbald erkannt. Er kniete 262 am Bette nieder. Herr Anton legte ihm die Hand auf den Scheitel und wiederholte: «Ich habe dir vergeben — alles. — Vergib auch mir!»
Herr Christoph, unfähig ein Wort zu sprechen, küßte seinem Vater mehrmals die Hand.
Tiefe Stille herrschte. Es hörte nur jedes sein eigenes niedergezwungenes Schluchzen.
Bald aber wandte sich des alten Herrn Antlitz gegen Franz mit der lächelnd gesprochenen Frage: «Stimmt es jetzt?»
Auf das Nicken des Enkels hin fuhr Herr Anton fort: «Mit dem, was ich euch lasse, tut, was ihr wollt. Nur an die letztwillige Verfügung meines Vaters, daß Worb im Besitz der Familie bleiben müsse, dürft ihr nicht rühren.»
Erschöpft lehnte er den Kopf seitwärts ins Kissen und schloß die Augen. Frau Susanna legte ihm sacht die herabgesunkene Hand auf die Decke. Die andern wichen alle aus dem Alkoven zurück. Da faßte Junker Franz seinen in Erschütterung stehenden Vater um die Schultern, zog ihn zum Kamin, warf die Urkunde ins Feuer und küßte ihn mit Inbrunst auf beide Wangen. Den Brief nahm Herr Christoph, faltete ihn zusammen und steckte ihn in die Tasche. «Zu meiner selbst und meiner Kinder Warnung», sagte er und erwiderte des Sohnes Zärtlichkeiten.
Noch einmal wurde dann Junker Franz von allen aufs dankbarste umarmt und geküßt. Das geschah frühmorgens, als der erste Tagesschimmer 263 die Stube erhellte, in welcher soeben Herr alt Landvogt Anton von Graffenried sein an Mühsal reiches Leben in friedlichem Schlafe beschlossen hatte.
Am Tage nach seines Großvaters Begräbnis ritt Junker Franz über Utzigen nach Worb hinaus. Käthelis Eltern weilten noch in Bern. Ihre Tochter gab freudig klopfenden Herzens Befehl, den jungen Herrn von Graffenried in den kleinen Saal zu führen, war aber auf das Peinlichste überrascht, als sie ihn in einer ganz ungewohnten Erregung eintreten sah. Statt in der zwischen ihnen schon üblich gewordenen zärtlichen Galanterie auf sie zuzueilen, blieb er an der Türe stehen und sagte, den Hut verlegen von einer Hand in die andere nehmend: «Nun weiß ich nicht, was werden soll. — Vielleicht ist alles aus.»
Käthelis Lippen zuckten. Sie erbleichte und richtete ein paar große, fragende Augen auf Franz.
«Laß uns sitzen», fuhr er fort, «ich will dir alles erklären.» Und dann erzählte er ihr, was sich beim Tode seines Großvaters begeben. «Hättest Du», so schloß er, «an meiner Stelle anders handeln können? — Weißt du, seinen eigenen Vater in der Rolle des verlorenen Sohnes zu sehen — in solcher Demut und Zerknirschung...»
Kätheli war wohl bewußt, was diese Wendung 264 für sie bedeutete. Franz hatte mit seinem großen Verzicht alles ins Wanken gebracht, was die Voraussetzung ihrer Heirat bildete, denn der Herr zu Utzigen pflegte mit soliden Grundlagen zu rechnen, Träume und Schäume galten ihm nichts. Gleichzeitig aber fühlte sie eine andere, größere Macht sich regen. Jetzt erst wurde ihr klar, daß sie Franz liebte, daß sie von ihm sich nie mehr würde trennen können.
«Franz», sagte sie, «anders durftest du gar nicht handeln. Du hast's recht gemacht. Und dir will ich gehören. Tue weiter, was dein Gewissen dir befiehlt! Die Liebe wird uns den Weg schon bahnen.»
Der Junker dankte ihr mit stürmischer Umarmung und ritt dann, in seinen Entschlüssen gefestigt, nach Worb.
Sein Vater folgte ihm dorthin eine Woche später. In der Allee vor dem Schloß begegneten sich die beiden. Sie grüßten sich in der frohen Stimmung von Menschen, zwischen denen eine Schranke gefallen ist, an die man sich nicht gern erinnerte. Und doch verrieten ihre Blicke, daß immer noch eine große Frage über ihnen schwebte: Das Wie nun weiter?
Beide trugen das Verlangen nach einer raschen Lösung. Beide waren zu jedem Entgegenkommen bereit, wie es der Frieden des Hauses verlangen würde.
265 Im hohen Gewölbe der alten Linden schimmerte das erste Grün. Die Vögel zwitscherten, und im Dorf zu Füßen der Burg klangen die Schmiedehämmer, plätscherte das Mühlrad. Herr Christoph setzte sich auf die Mauer, welche den steilen Hang krönte, und fragte ohne weitere Einleitung: «Sage mir, mein Sohn, wie war denn das eigentlich gemeint mit dem Verbrennen der großväterlichen Verfügung? — Wolltest du damit sagen, daß...?»
«Ich wollte damit sagen...» Junker Franz hielt inne, weil ihm die Frage des Vaters plötzlich zum Bewußtsein brachte, daß er durch die im Schwung hoher, edler Gefühle vollbrachte Vernichtung der Urkunde noch keineswegs zum Verzicht gezwungen war. Aber schon regte sich in ihm das Gefühl der Scham. Dieses Zögern mußte ihn in den Augen des Vaters herabsetzen. Darum wiederholte er rasch: «Ich wollte damit sagen, daß nun alles seinen natürlichen Lauf zu nehmen habe, daß Ihr, mein Herr Vater, die Herrschaft Worb als das Euch von Gott und Rechts wegen zukommende Erbe antreten sollt. — Kommt einmal meine Zeit, so will ich es aus Eurer Hand empfangen.»
«Hast du dir das überlegt?»
«Auf das genaueste.»
«So verspreche ich dir, daß die bittern Erfahrungen meines Lebens der Herrschaft und einst dir zum Segen werden sollen. — Aber, mein 266 Lieber, wie sollen nun die Herrschaftsleute das verstehen? Sie wissen doch, daß ich nur dein Statthalter war.»
«Fürs erste», antwortete Franz mit einer Bestimmtheit, die erkennen ließ, daß er sich alles zurecht gelegt hatte, «soll von der Kanzel verkündigt werden, daß Ihr Herr zu Worb, Wickartswyl und Trimstein seid. Und damit es den Leuten besser in die Augen falle, sollt Ihr das Schloß bewohnen. Ihr seid euer genug auch ohne mich.» — Es darf dem Leser verraten werden, daß Grand'mamans Befürchtungen durch die Tatsachen vollauf gerechtfertigt worden waren, indem Frau Regina dem Landgrafen noch fast so viele Kinder geschenkt hatte, als seither Jahre verstrichen waren. Ihrer zwei davon hatten die Wallfahrt schon in der Wiege beschlossen, also daß im Schloß Worb außer dem Junker Franz noch wohlgezählte zehn Kinder standesgemäß unterzubringen waren. Es schrie und zappelte auch in diesem Augenblick in allen Fenstern der Burg.
Herr Christoph ahnte einen tiefern Grund für den überraschenden Vorschlag. Belustigt fragte er: «Wo aber wirst du dein Haupt niederlegen?»
«Außerhalb Schußweite», antwortete Franz lachend. «Das sei vorerst mein Anteil am Erbe, daß ich mir an guter Stelle ein Nest baue, das mir erlaubt, von Euch das Regieren zu lernen, ohne Euch ins Gehege zu kommen.»
267 «Ein Nest? — Nester pflegen die Vögel in der Zeit ihrer Minne anzulegen.»
«Und ich will ihrem Beispiel folgen. Von einem Mitgliede des souveränen Rats von Bern wird ja verlangt, daß es einen eigenen Hausstand führe und eines Weibes Herr sei.»
Da lachte Herr Christoph, wie er seit den schönen Tagen von Paris nicht mehr gelacht hatte. Er holte aus dem Schloß eine Kugelbüchse, lud sie und führte den Sohn an das Ende der Allee. «Wo willst du bauen?» fragte er, indem er ihm das Gewehr gab.
Junker Franz legte an, zielte auf einen blühenden Kirschbaum und schoß. Wo der kleine Blütenzweig in Gras fiel, sollte der Grundstein zu seinem Hause gelegt werden.
Den blühenden Zweig trug der Junker frohen Laufes nach Utzigen. Er ward dort über Erwarten gut aufgenommen, denn auch Käthelis Eltern wußten den hochgemuten Entschluß eines treuen Sohnes zu würdigen, und zwei Jahre später hielt er mit seiner Erwählten Einzug in das hübsche neue Schloß zu Worb.
* * *