Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Urs Fankhusers Abenteuer

I.

Auf der Straße von Burgdorf nach Solothurn lag das Wasser in Tümpeln und Geleisen, so daß Urs Fankhuser es vorzog, seine Wanderung auf dem Damm an der Emme fortzusetzen, wiewohl er dort oft über Gräben springen, über gefallene Bäume klettern und über tief hängendes Geäst hinweg turnen mußte und dabei nicht eben rasch vorwärts kam. Aber hier war der Frühling an der Arbeit. Der Fluß ging hoch und brauchte mitgeführte Hölzer als Sturmböcke gegen alles, was dem Wogendrang im Wege stand. Leben war auch im Ufergesträuch, das seine frischen, silbernen Triebe im Winde hin und her schwenken ließ. Oft blieb Urs stehen, um zu schauen, wo es hinaus wolle, wenn eine Tanne dahergeschossen kam, an eine Wehre stieß, sich quer legte und Geäst und Schlamm auffing, bis das Wasser schwoll und den Damm bedrohte. Hei, wie das brauste, donnerte und dahinschoß, sobald die von der Flut selber gebaute Barrikade dem Drucke wich! Es will, sagte sich Urs, es will in die Welt hinaus und bahnt sich den Weg.

Auch in Urs wollte etwas in die Weite, und dieser Drang machte ihn froh; aber er wußte: heute würde er schon bald an eine Wehre kommen, 54 die ihn einstweilen festhielt. Nach einer weitern Wegstunde hob sich vor seinen Augen die hohe zinnengekrönte Mauer des Schlosses Landshut über die Bäume. Und bald lag sie frei vor ihm, in einer ausgedehnten Wiesenfläche. Die auf drei Jochen schräg ansteigende Brücke verriet den breiten Graben, der das Schloß umzog. Der Anblick gab dem jungen Wanderer zu denken. Konnte man sich eine Behausung vorstellen, die von der Welt gründlicher abgeschlossen war? Und in diese vierschrötigen, nur von einem spitzen Turmhelm überragten, rings herum in tiefgrünem Wasser sich spiegelnden Mauern führte ihn mitsamt seiner Sehnsucht ins Weite das Schicksal! Ein Schicksal, um das ihn mancher noch beneidete!

Herr Thüring von Ringoltingen, der reiche und gelehrte Mann, der zwar dem täglichen Rat von Bern angehörte, zurzeit jedoch auf Landshut in der Stille den Musen lebte, brauchte einen Schreiber. Und daß der Ritter von Diesbach, Herr auf Brandis, den jungen Fankhuser von Goldbach ihm empfohlen hatte, durfte sich Urs zur besondern Auszeichnung anrechnen. Man hatte ihm gesagt, Herr Thüring habe die Geschichte von der schönen Melusine und andere Werke französischer Dichter ins Deutsche übersetzt; er sammle dergleichen Werke und wolle sie für seine Bibliothek abschreiben lassen. Das wird nun also mein Los sein, sagte sich Urs, als die 55 Mauern von Landshut immer höher vor ihm aufwuchsen. Wie ein gefangener Vogel werde ich da oben in einer Kammer sitzen und Bogen um Bogen vollschreiben, die vielleicht nicht einmal gelesen werden.

Man hatte ihm aber auch gesagt, daß Herr Thüring sechs Töchter und keinen Sohn habe. Das ließ sich als Trost anhören, konnte aber auch Bedenken erwecken — je nachdem.

Beinah entfiel dem künftigen Sekretarius das Herz, als er sich noch herwärts des breiten Wassergrabens dem schwerbeschlagenen Schloßtor gegenübersah. Er blickte sich um, ob nicht irgendwo ein Mensch zu entdecken wäre, der ihm genauern Aufschluß geben könnte über das mutmaßliche Leben auf dem Inselschloß. Einige hundert Schritte vom Damm überragte die First eines stattlichen Hauses die Bäume an der Emme. Dorthin wandte sich Urs. Durch die noch dünnbelaubten Büsche sah er bald an der hellbeschienenen Hauswand ein paar neubehauene Mühlsteine. Es mußte also wohl die Schloßmühle sein. Einem Bären gleich lag ein mächtiger Hund im Hofe. Der hob nun seinen Kopf mit leisem Knurren, wandte ihn aber alsbald nach der Seite und schien fragend zu seinem Meister aufzuschauen. Ein paar Schritte noch, und Urs erblickte diesen Meister in Gestalt eines hochgewachsenen, blühenden Mädchens, das einer aufgeregt pickenden Schar von Hühnern und 56 Tauben Futter streute. Ein alltäglich Bild — und doch wieder nicht alltäglich, denn das Mädchen warf seine Körner, man darf wohl sagen: mit der Anmut und Hoheit einer Göttin, die große Gaben auszuteilen hat. Und das geschah nicht jemand in die Augen, denn außer dem zottigen Hofhund und dem noch durch das Gebüsch verborgenen Wanderer konnte niemand das Mädchen sehen. Auf das Knurren des Hundes hin änderte sich das Bild. Die Maid raffte den Rest des Futters in der Schürze zusammen und blickte forschend nach dem Feldweg, der den Wanderer in den Hof führte.

«Gott grüß Euch, Jungfer! — Bin wohl am unrechten Ort?»

«Nit, wenn Ihr nach Landshut wollt.»

«Ihr seid doch wohl des Müllers Tochter?»

«Die bin ich.»

«Es eilt mir nit mit Landshut. Ein wenig Rast möcht ich mir gönnen, wenn Ihr's erlaubt.» Urs setzte sich auf die Bank am Hause und schaute dem Mädchen zu, wie es seine Körner streute. Dabei blieb es still zwischen ihnen. Man hörte hinter den offenen Fenstern das schütternde Rollen der Mühle, dazu das Gurren der Tauben auf dem Dach und aus einiger Entfernung das Rauschen des Wassers. Urs schien vor sich hinzuträumen. Wer aber ihn von nahe beobachtet hätte, würde wohl bemerkt haben, daß er mit allen Sinnen der jungen Maid folgte, die sich allerhand zu schaffen machte und ihn dabei doch nicht aus den Augen 57 ließ. Daß sie das Wort zueinander nicht finden konnten, hatte seinen Grund just darin, daß jedes vom Gedanken gepackt war: Zum Kuckuck, wenn wir zwei nicht füreinander geschaffen sind! Erst als Urs Miene machte weiterwandern zu wollen und des Müllers Tochter sich fragen mußte: Kommt er wieder? gelang es ihm, sie ins Gespräch zu ziehen und Aufschluß über die Bewohner des Schlosses zu erhalten.

«Die sechs Töchter!» sagte sie scherzend. «Wenn es Euch um deren eine zu tun sein sollte, junger Herr, dann müßt Ihr Euch sputen. Zwei davon sitzen schon wohlverwahrt hinter Klostermauern, drei sind verheiratet und weggezogen, und die jüngste, die Antonia, die brauchte nur ihre Hand zum Fenster hinauszustrecken, so hätte sie an jedem Finger einen Freier; aber wißt: um das Schloß liegt der tiefe, breite Wassergraben, und dem alten Herrn entgeht nichts. Die letzte, die ihm geblieben, gibt er nit leichten Kaufs. Es wird keiner hereingelassen...»

«Der nit gerufen ist», unterbrach Urs die Müllerstochter und zwinkerte dabei mit den Augen, worauf sie ihn mit einem Schatten auf ihrem Gesicht forschend betrachtete.

«Da», fuhr er fort, «hab ich den Schlüssel zum Tore.» Er zog aus seinem Felleisen einen Brief, versorgte ihn aber gleich wieder. «Aber sagt mir, Jungfer, kennt Ihr den alten Herrn? Kennt Ihr seine Frau?»

58 «Ei der Tausend! Wer hier herum kennt ihn nit! Den grauen Lecker heißen sie ihn. Und ich selber kenn ihn gar wohl. Mein Vater steht doch in seinem Dienste. Der alte Herr kennt sich in allem aus, was das Leben schön machen kann. Sie sagen, das komme daher, daß er ein Poet sei. Weiß eigentlich selber nit so recht, was man darunter versteht; aber das weiß ich: er ist unter seinen grauen Haaren noch so jung wie ein Füllen, und was das bei einem reichen und mächtigen Herrn sagen will, das könnt Ihr Euch wohl denken.»

«Nun wohl, Jungfer, wenn der Poet ewig jung bleibt, so lernt vielleicht auch sein Schreiber etwas von dieser seltenen Kunst, und das sollt Euch nit zum Schaden sein. Ich bin nämlich als Schreiber auf das Schloß geladen, und nun ich weiß, daß Ihr in der Nähe wohnt, ist mir schon nit mehr so unlustig zumute. Behüt Euch Gott, Jungfer Müllerin.»

«Ich wünsch Euch alles Glück, Herr Poeten-Schreiber», rief ihm Agathe nach, «und daß Ihr als ein guter Christ wieder aus dem Schloß von dannen kommt.»

Eine Viertelstunde später verkündete ein vielstimmiges Hundegebell der Müllerstochter, daß ihr Gast den Schloßhof betreten habe. Ja, da stand er nun — ihn deuchte von Gott und allen Heiligen verlassen — in dem rings von hohen Mauern umgebenen Hofe zwischen einem Rudel 59 von Hunden, die ihre Schnauzen dicht an seine Beine heranstreckten und ihn beschnupperten. In einer Ecke brodelte unter hängendem Gezweig ein moosbewachsener Brunnen; sonst rührte sich nichts, seitdem der Torwart davongehumpelt war, um den Besuch zu melden.

Bald darauf erschien auf der Freitreppe des Wohnhauses eine holde Frauengestalt. Sie bedeutete ihm zu kommen; aber er wagte keinen Schritt, da er das Gefühl hatte, die Hunde würden bei der leisesten Bewegung alle miteinander zubeißen. Die junge Dame mochte seinen Blick verstanden haben. Ihre schlanke Hand raffte das schleppende Gewand. Sie kam die Treppe herab, worauf die Hunde sich ihr zuwandten und dann wedelnd auseinanderliefen. Urs hatte ihr Antlitz, das zwischen nachtschwarzen Flechten wie Elfenbein leuchtete, kaum gesehen, so wandte sie sich und schritt ihm voran. Das wird nun wohl Antonia sein, dachte er. Noch erhaschte er auf der Schwelle zu einem niedrigen, mit Büchern und Bildern angefüllten Zimmer einen freundlich neugierigen Blick aus ihren samtdunklen Augen, dann nahm ihn die mächtige, mit dem Haupt die bunten Deckenbalken streifende Gestalt seines neuen Herrn gefangen. — Poet? — Nein, wahrlich, viel besser traf doch da wieder einmal die Bezeichnung aus dem Volksmund zu: Der graue Lecker. In einem rotangelaufenen Gesicht saß ein Paar durchdringender, steingrauer Augen. 60 Die kühn und breit vorspringende Nase ließ vermuten, daß Herr Thüring sich auf Wein verstand, und auch der Schnitt des einst roten, nun stark ergrauten Bartes hatte etwas keck Herausforderndes.

Kaum war der erste Gruß gewechselt, fragte der Herr: «Durst?»

«Nein», antwortete Urs, «ich danke Euer Gnaden.»

«So?» — Herr Thüring zwinkerte listig mit seinen Augen, die rasch Farbe wechselten, je nachdem er in die Helle des Fensters oder ins Dunkle blickte. «Warum seid Ihr denn auf dem Wege zum Schloß umgekehrt und gegen Utzenstorf gegangen? Dort, im Unterdorf, steht das Wirtshaus, wo man meinen Wein ausschenkt.»

Jetzt erst fiel Urs auf, daß man hier durch das Doppelbogenfenster auf das Dorf, aber auch auf die Mühle hinübersah. Im blitzschnellen Gedanken, daß vielleicht an diesem Fenster sein künftiger Arbeitsplatz sein werde, errötete der junge Schreiber, statt zu antworten. Da wieherte der Herr von Landshut leise in den Bart, packte Urs an der Schulter und sagte: «Ich merk's, der Jüngling hat offene Augen; aber hinfür sollt Ihr sie zum Schreiben brauchen, mein Sohn! Seht, hier ist Euer Platz. Hier ist ein Fäßlein Tinte, hier Federn, Papier und Pergament, so viel Ihr braucht. Und hier ist die Historie von Troilus und Cressida. Davon sollet Ihr eine 61 Copia fertigen. Und damit Ihr baß vorwärtskommt, wollen wir das Fenster zumachen, gelt?»

Herr Thüring drückte das Fenster, auf dessen Butzenscheibchen eine Kruste zähen Staubes sich angesetzt hatte, in den Rahmen, und ging, den Schreiber in der Düsternis des eben noch so freundlich von der Nachmittagssonne erhellten Gemaches lassend.

So. — Da saß man nun. — Urs nahm einen Gänsekiel zur Hand und strich sich mit dem Federbart nachdenklich unter der Nase herum. Trotz der Verfinsterung der Stube ging ihm ein Licht auf. Die Poeterei bestand also nicht in einem gekrümmten Rücken, träumenden Augen und Fingern voller Tintenklexe. Wenn sie den Herrn von Ringoltingen einen Poeten nannten, dann mußte offenkundig die Poeterei draußen im freien Feld anfangen, unter den Bäumen, im Sattel, bei perlendem Wein und in schönen Armen. Ja, ohne Zweifel, es mußte einer die Süßigkeit schwellender Lippen nicht bloß vom Hörensagen kennen. Und wenn — ja, wenn das der Poeterei Anfang war und nicht das Kopieren alter Geschichten... dann... Ja, was dann?

Item, er tauchte ein und fing an zu schreiben. — Nein, dieses geschlossene Fenster! Der Herr hatte verboten, es zu öffnen. Aber ein kleines Guckloch wäre doch nicht zu viel verlangt. Ohne erst lang zu überlegen, schnitt Urs mit dem Federmesser die Bleifüllung eines Scheibleins 62 auf, bog das Blei nach innen und suchte das Glas zu lösen, so daß es rasch wieder hineingedrückt werden konnte. Da hielt er's in der Hand, guckte hinaus. Oh, wie das lenzte da draußen! Und stracks nach der Mühle ging der Blick. — So, und nun schnell wieder eingesetzt, das trübe Glas, und — kling, klang war's hindurch und in kühnem Sprung — platsch — im Burggraben. — Hm. Hmhm. — Auch gut. — Man lehnte eben auf dem Sims ein Buch gegen das Loch. — So sah doch der Herr Poeta, wenn er einmal kam, daß man sich nichts aus dem Fenstergucken machte.

Der alte Herr war nicht kleinlich. Er ließ seinen Schreiber arbeiten und pflegte unterdessen der Poeterei in praxi. Urs sah ihn oft mit den Hunden über Feld reiten, selbst wenn der rauhe Wetterwind Regenschauer über die Äcker trieb. Im Schlosse ging es still zu. Bei den Mahlzeiten saß Urs unten am Tisch und tat, was ihm befohlen war: Essen und Schweigen. Frau von Ringoltingen, früh gealtert, führte ein strenges Regiment und hielt alles unter wachsamen Augen.

Um den Durst zu löschen, brauchte man das Schloß nicht zu verlassen; aber der junge Schreiber benötigte bald neue Gänsekiele, wiewohl ein Ikarus aus denen, die da herumlagen, sich vollständige Flügel zur Flucht über den Burggraben hätte herstellen können. Der Müller besaß neben seiner schönen Tochter viele Gänse, wirkliche 63 Gänse, die man täglich übers Feld hinauswatscheln sah. Es war also gegeben, daß man seinen Bedarf an Gänsekielen in der Mühle zu decken suchte, und man nahm immer nur einen oder zwei zur Probe mit, die meist ungeschickt geschnitten wurden und sofort ersetzt werden mußten. Eines Tages aber fragte Frau von Ringoltingen beim Essen mit kalten Augen den Schreiber, wozu man eigentlich Gänse im Schloßgraben halte.

«Ei, gnädige Frau», erwiderte Urs, «ich denke zum Braten.»

Die Antwort gefiel dem alten Herrn sehr gut. Er schenkte seinem Schreiber den Becher voll; aber seiner Frau Gemahlin mußte er doch recht geben und erließ deshalb eine Verordnung an die Musenkanzlei, wonach hinfür an die Copia der Histori von Troilus und Cressida nur noch mit den Schloßgänsen entrupften Federn gearbeitet werden dürfe.

Antonia hatte bei alledem ihre schönen Augen züchtiglich niedergeschlagen und getan, als hätte sie nichts gehört; aber Urs tat ihr leid. Es war ihr nicht entgangen, daß durch das kleine runde Guckloch im Fenster der Bücherei Ursens Sehnsucht einen Weg ins Weite suchte und daß Agathe Petri sich um so mehr auf den Äckern draußen zu schaffen machte, je dichter das Laub um den Mühlenhof herum wurde.

Da nun Herr Thüring von Ringoltingen als ein auch in politischen Dingen erfahrener Mann 64 von Räten und Burgern einer löblichen Stadt Bern in welsche Lande entsandt wurde, geschah es, daß seine Frau Ehegemahlin zu Zeiten des Haushaltes müde ward und in ihrer Kemenate länger der Ruhe pflegte. Es wurde auf Landshut so still, daß man zu jeder Stunde Tages und der Nacht nur noch das Plätschern des Brunnens hörte. Sogar die Hunde wußten nichts mehr zu bellen. Da klopfte es eines Mittags leise an die Tür der Bibliothek, und gleich darauf erschien in der Öffnung das schöne, elfenbeinfarbene Gesicht der Jungfer Antonia. Sie hatte es vor Langeweile nicht mehr ausgehalten und wollte den Herrn Sekretarius bitten, ihr bei dem Ausräumen eines Geschirrschrankes Handreichung zu tun. Aber kaum in dem dumpfen Gemach, vergaß sie diese Bitte. «Wie möget Ihr hier der Poeterei dienen, dieweil draußen der Frühling alle Welt vergoldet!» rief sie. Stracks auf das Fenster zu schritt sie und riß in beiden Bogen die Flügel auf, so daß alsobald der Staub, den sie aufgewirbelt, in breiten Sonnenbahnen aufglühte. Herrlicher Duft flutete herein.

«Oh welches Glück!» rief Urs, aufspringend. Wie ein goldenes Meer lagen die Löwenzahnmatten jenseits des Grabens, und rings um die Mühle schäumte es von blühenden Birnbäumen. Sie konnten sich beide nicht sattsehen. Weit und breit ließ sich da draußen kein menschliches Wesen blicken. Antonia lehnte sich leicht ins Fenster, 65 warf aber verstohlene Blicke nach dem jungen Mann. Sie wollte sehen, wie er nach der Mühle spähe. Er tat es auch; aber von Zeit zu Zeit begegneten sich beider Augen und brachten die Herzen zu schnellerem Schlagen. Die steinerne Säule, welche die Fensterbogen trug, stand zwischen ihnen. Das Fräulein legte seinen rechten, der Schreiber seinen linken Arm um den zierlich behauenen Kreuzstock, und so fügte es sich, daß ihre Hände in unwillkürlichem Suchen sich fanden wie die Spitzentriebe rankenden Efeus. Da überlegte Antonia, daß es weder klug noch schicklich wäre, lange hier zu verweilen.

«Was schreibt Ihr eigentlich?» fragte sie. «Laßt sehen!»

Süßen Glücks voll, breitete Urs die kunstvoll beschriebenen Bogen vor ihr aus, wobei sie noch dichter nebeneinander zu stehen kamen. «Mit ‹Troilus und Cressida› bin ich zu Ende», sagte er. «Nun schreibe ich des Herrn Vaters Verteutschung der Lieder Wilhelms, des Grafen von Poitiers, ins reine. Sehet da:

‹Ich bin, will sie mir Gunst gewähren,
zum Nehmen und zum Dank bereit,
will stets erfüllen ihr Begehren› ...»

«Ich danke Euch, Urs», unterbrach sie ihn unter leichtem Erröten, das sie noch holdseliger erscheinen ließ, «aber ich darf Euch nit länger von der Arbeit abhalten.»

Wieder allein, stand er noch eine Weile am 66 Fenster, das nun offen blieb. Im Kopf und im Herzen war ihm alles durcheinander geraten. Sein Blick ruhte auf den blühenden Bäumen und Feldern. Seine Gedanken flatterten im Blauen herum. Er trat vom Fenster zurück und blickte doch hinaus. « Sie hat mir's aufgetan. Sie — sie!» sagte er halblaut. «Antonia. — Verdammte Geschichte, wenn die Poesia in ihrer lebendigsten Gestalt hereintritt zu ihrem Konterfei auf Eselshaut!»

Er versuchte zu arbeiten; aber es wollte ihm nicht glücken.

Wohlgelaunt kam am Tage nach Peter und Paul Herr Thüring heimgeritten. Er hätte sich wohl die Zeit nehmen dürfen, noch jene Nacht in Bern zu rasten, besaß er doch dort ein stattlich Haus; aber er hatte bei den Mönchen in Romainmôtier kostbare Bücher erhandelt, und nicht anders denn wie ein beschenktes Kind, das läuft, seinen Eltern und Geschwistern den Kram zu zeigen, auf daß sie seine Freude teilen, eilte er heimzu und schlug in nachtschlafender Zeit an das Tor von Landshut. Des Jubelgebells und Gewedels seiner Hunde nicht achtend, eilte er, eine Öllampe hochhaltend, in die Bibliothek, seine Beute alsogleich würdig unterzubringen. Einmal hier, warf er noch einen prüfenden Blick auf die Arbeit seines Schreibers, die, wie ihn deuchte, nicht allzu große Fortschritte gemacht hatte. Schön, sehr schön hatte er kopiert. Als ob er all seinen Fleiß an die Initialen gewendet hätte, sah 67 es aus. Und — was war denn das? Herr Thüring zog einen Papierstreifen hervor, der unter das Manuskript geschoben war, und las:

«So strahlend groß wie Sternennacht», dann durchgestrichen: «abgründicht wie ein Brunnenschacht» und schön hingemalt: «Ist deiner Augen dunkle Pracht.

O weh mir, daß ihr Blick mich traf,
ich finde weder Fleiß noch Schlaf
und weiß mir nit zu helfen mehr,
ersauf in meiner Wonne Meer.»

Herr von Ringoltingen konnte sich nicht entsinnen, diese Verse oder ähnliches in seiner Verteutschung von Wilhelms von Poitiers' Liedern geschrieben, noch irgendwo sonst gelesen zu haben. Ei, ei, dachte er, zu meinem Ursus Fankhuserus ist die Muse zu Besuch gekommen. — — Aber — — in welcherlei Gestalt mag das geschehen sein? — Die Müllerstochter, an der er gar groß Gefallen gefunden, die hatte wohl schöne Augen, große Augen, aber dunkel waren sie nicht. An eine Sternennacht hatten sie ihn, den Schloßherrn, der ihr doch oft tief hineingeguckt, nie gemahnt, noch weniger an einen Brunnenschacht. — Ach, du lieber Gott! — Nein, himmelblau lachten sie in den Tag hinaus. Freilich die licentia poetarum reicht ja weit, und was sie verschuldet, ist nicht tragisch zu nehmen. Das hätte nichts zu bedeuten, wenn nicht in nächster Nähe ein ander Augenpaar schlummerte, auf das die Gleichung 68 stimmte... «Himmelsakerment!» donnerte plötzlich des alten Herrn Stimme, und seine Faust schlug derb auf die eichene Tischplatte. — «Was soll ich nun? Halt! — — Ich hab's.»

Schwerfällig erhob er sich und schritt durch den Gang zurück. Rücksichtsvoll gegen sein Ehegemahl, das der Ruhe nicht minder bedurfte als er, ging er an der Schlafkammer vorüber in die Eßstube. Er holte sich einen Humpen Malvasiers und blieb am Tische sitzen, wo ihn andern Morgens die Magd gewaltig schnarchend fand.

Urs zeigte sich seit des Herrn Heimkunft außerordentlich fleißig. Herr Thüring kam und ging, riß, wenn er sich zum Lesen hinsetzte, das Fenster auf und ließ es auch offen, wenn er die Bücherei verließ. Bei den Mahlzeiten aber beobachtete er auf das sorgfältigste Antonia und den Schreiber, und als er das Ergebnis dieser Überwachung mit dem zusammenlegte, was seine Frau sich gemerkt, fand es sich als über jeden Zweifel erhaben, daß Urs und Antonia in schweigsamer Liebe zueinander verstrickt sein mußten.

Eines Tages nun klappte Herr Thüring, nachdem er sich in der Bibliothek scheinbar in einen Folianten vertieft hatte, diesen plötzlich zu und wandte sich gegen seinen Schreiber:

«Nun, mein lieber Ursus von Goldbach, ich weiß Euren Fleiß und Eure Kunst zu schätzen, und sintemal ich als ehrlicher Christenmensch nit, die Händ im Wams, Euch kann ersaufen lassen, 69 seye es im Schloßgraben zu Landshut oder in einem Meer von Wonne, habe ich erkannt, Euch in die Niederlande zu schicken, in die schöne, reiche Stadt Brügge, mir daselbst Copien zu nehmen von Werken, die nur dort zu finden sind. Und damit die Reise sich baß lohne, bin ich mit meinem Freunde, dem Ritter und Ratsherrn von Hünenberg, eins geworden, daß Ihr seinen Sohn, den Junker Gamaliel, so in den Niederlanden die Freien Künste erlernen soll, dahinselbst begleitet, als ein frommer und tugendlicher Mentor ihn betreut und, wenn es die Not erfordert, beschützt. Insonderheit sollet Ihr ihn vor allem Schaden Leibs und der Seele, so ihm aus torechter Drungenheit zu liederlichen Weibsmenschen erschießen könnte, schirmen.»

Urs hatte, tief errötend, seinen Gänsekiel ins Tintenfaß gesteckt und mit geweiteten Augen seinen Herrn betrachtet. Er fühlte sich verraten, aber — in die Niederlande, das Land der Sehnsucht aller Leute, die sich etwas von der Herrlichkeit dieser Welt träumen ließen! — Das war so schnell nicht zu fassen.

«Nützet Ihr weidlich Eure Reise», fuhr Herr Thüring fort, «so soll es Euch nit gereuen, denn Ihr werdet alsdann gewißlich in meiner gnädigen Herren von Bern Schul eine Stelle als Magister empfahen.»

Es kam genau so, wie der erfahrene Mann es vorausgesehen. Urs verlor ob der unverhofften 70 Aussicht erst recht Fleiß und Schlaf und drohte vollends im Wonnemeer zu versinken. Die wundertiefen Augen Antonias, ja, freilich, die würde er nun bald nicht mehr schauen, aber bei lichtem Verstand betrachtet, kam das ja einer Erlösung gleich, mußte er sich doch eingestehen, daß das Fräulem von Ringoltingen nie und nimmer das Eheweib eines Urs Fankhuser werden konnte, um so weniger, als der Adel der Ringoltingen noch jung und deshalb um so eifersüchtiger gehütet war. Diese erste Liebe mußten sie beide als ein holdselig Abenteuer einem freundlichen Schicksal verdanken und den Schmerz des Verzichtes ohne Murren in Kauf nehmen. Alles wurde überstrahlt von der Aussicht auf die Reise nach Brügge. In diesem so seltenen Glück überhörte Urs, als er nach Sonnenuntergang das Fenster schloß, die nur dem feinen Gehör des Poeten vernehmbare Stimme des Abendwindes, sonst wäre die Frage «Und ich?» tief in sein Herz gedrungen. Aber kaum hatte er sich an den Gedanken der bevorstehenden Studienfahrt ein wenig gewöhnt, so erwachte in seiner betäubten Seele die Erinnerung an die Müllerstochter. Erst jetzt erkannte er, daß alles andere nur ein Rausch gewesen gegenüber den Gefühlen, die ihn mit Agathe verbanden. Mit jedem Tage dringender erhob sich der Wunsch — nein, das war nicht mehr Wunsch, es war eine Herzensnot, sich vor der Trennung noch den Besitz dieses Mädchens 71 zu sichern. In diesem Entschluß bestärkten ihn vollends die Tränen, welche Agathens schönen Augen entstürzten, als er ihr mitteilte, was ihm bevorstand. Noch nie hatte er jemand um ihn weinen gesehen, und so versetzte ihn der Anblick der überquellenden Augen in einen neuen, nie empfundenen Zustand seliger Wonne. Jedem Baum und jedem Zaunpfahl auf dem Wege von der Mühle zum Schloß hätte er es zurufen mögen: «Hörst du? Sie liebt mich.» Er besaß ihr Versprechen: «Du sollst mich haben oder die wilde Emme. Dein will ich warten, und wenn ich darüber ergrauen sollte.»

Aber Urs wußte, daß Agathes Vater ein hablicher Mann war und unter den Söhnen reicher Bauern wählen durfte, wie der Schloßherr unter den Junkern. War ihm das Glück jedoch bisher so hold gewesen, so würde es ihn wohl auch jetzt nicht verlassen. Alles, was er bis heute erlebt, lehrte ihn an dieses Glück zu glauben, das man nur immer am Rockzipfel fassen mußte, wenn es in die Nähe kam. So nahm er denn sein Herz in beide Hände und bat seinen Herrn und Gönner um Fürsprache bei dem Müller.

Hei, wie gellte da das Lachen aus dem grauroten Bart! «Ursus, Ursus», rief der Alte, «Ihr habt bei Gott keinen schlechten Geschmack! Aber was wißt Ihr vom Leben! Wer sich auf die Fahrt macht in Städte, wo Fürsten Hof halten 72 und aller Welt Herrlichkeit zusammenströmt wie das Gold in Fortunas Schoß, wäre wohl ein Narr, würde er zuvor sein Weib wählen. — Nit daß ich meinte, ihr solltet in der Fremde Eure Tugend vergessen; aber bedenket, daß Eure Augen draußen, in der großen Welt, an das Schönste vom Schönen sich gewöhnen werden. Wie wird Euch hernach zumute sein, wenn Ihr mit dem vorlieb nehmen sollt, was in den Sielen der harten Arbeit allen Reiz der Jugend verloren hat!»

«Ihr möget recht haben, lieber, gnädiger Herr», antwortete Urs nach kurzem Besinnen, «aber ich meine, ein Antlitz, aus dem die Heimat spricht, wird einen Mann den Glanz der Fremde bald vergessen lehren, auch wenn das Leben mit grobem Griffel darauf geschrieben hat.»

«Ihr wisset nit, was Ihr redet, Ursus, aber mir ist, Euch sei anders nit zu helfen. So nehmet denn als ein Mann vor, was Ihr für Euer Glück erachtet.»

Herr von Ringoltingen ging tags darauf dem Mühlekanal entlang, der im Frühjahr vom Hochwasser der Emme übel zugerichtet worden war. Dort traf er den Müller. Mit berechtigtem Stolze zeigte dieser seinem Herrn, was er aufgewendet hatte, um ein für allemal diesen leidigen Verheerungen ein Ende zu machen. «Das ist nun mein Werk, gnädiger Herr», sagte er. «Ich habe mich's etwas kosten lassen.» Herr 73 Thüring lobte ihn diesmal, während er sonst in Anerkennung sparsam war, weil er des Müllers Hoffnung kannte, einmal das ganze Besitztum der Mühle durch Kauf in seine Hand zu bringen. Der Herr versprach für alle erlaufenen Kosten aufzukommen und sagte dann, als er den Müller bei guter Laune zu haben glaubte: «Wie steht es denn um Eure Jungfer Tochter, Meister Petri? — Will sie nit bald Hochzeit halten?»

«Damit hat es gute Weile, Herr», antwortete der kleine, dicke, selbstbewußte Mann. «Sie nimmt nit den ersten Besten. Das dürft Ihr mir glauben.»

«Wird schon so sein, und sie hat recht. — Aber mich sollt es nit wundernehmen, wenn sie ihre Wahl schon getroffen hätte.»

Auf diese Worte hin warf der Müller aus seinen von Fettwülsten beschatteten, stechenden Grauaugen einen verwunderten Blick auf den Herrn. «Das könnte wohl sein», sagte er. «aber ich bin's einstweilen noch, der das Wasser aufs Rad leitet.»

«Und es ist gut so, Vater Petri. Ich meine nur. Eure Jungfer Tochter habe nit ungeschickt gewählt. Mein junger Sekretarius ist ein gescheiter Bursch.»

«Mag sein, Herr. Aber es wird Euer Ernst nit sein, daß ein Herr Sekretarius Müller werden sollt. — Das könnte wohl solch einem Federlump von Student passen, in Suff und Spiel 74 aufgehen zu lassen, was unsereiner in langen Jahren erstritten und erwerkt hat. Und ein schön Mägdlein nähm so einer gern drüberein. Aber pick mich der Gockel, wenn ich solch einen Freiersmann nit unterm Rad hindurch lasse, bis er kühl geworden.»

«Schon recht, Müller; aber die Lieb — die Lieb! Die erlischt nit im kalten Wasser.»

«Will schon dafür sorgen, Herr, daß brennt, was brennen soll, und daß erlischt, was nit brennen soll.»

II.

«Es ist eine fast hoffnungslose Sache», sagte der Stadtbaumeister von Brügge zu dem Großkaufmann und Ratsherrn Thomas van den Bosch, der mit mehreren Ratskollegen tief überlegend an der Kanalmündung bei Zeebrügge stand. Kein Zweifel, die Versandung des Kanals, der die Stadt Brügge, bis setzt die blühendste Handelsstadt Flanderns, mit dem Meere verband, machte beängstigende Fortschritte. Seit Wochen saß eines der Frachtschiffe, die sonst ohne die geringste Schwierigkeit bis an die Speicher am Minnewater hineingefahren, tausend Schritte hinter den Dünen fest. Man hatte die Ladung verringert, aber es half nichts. Man wartete von Woche zu Woche auf ein Steigen des Wasserspiegels, es traf nicht ein, und nun fegten schon die Herbstwinde über das flache Land. Die Windmühlenflügel wirbelten nur so, und die 75 Bäume bogen sich über die niedern Bauernhütten wie schäkernde Mütter über die Wiegen. Es wurde behauptet, der Meeresspiegel habe sich gesenkt. Andere bestritten das. An Erklärungen war kein Mangel, wohl aber an Rat. Die Kanäle tiefer zu legen, würde unerschwingliche Summen verschlingen und wohl nur auf wenige Jahre hinaus helfen. Unterdessen konnte Antwerpen mühelos allen Handel an sich reißen.

Niedergang — Niedergang! Das furchtbare Wort gellte, von niemand ausgesprochen, doch allen Handelsleuten Brügges in den Ohren. Es gab ihrer viele, die daran glaubten, selbst wenn erfahrene Kanalbauer behaupteten, sie vermöchten binnen kurzem das ganze Kanalsystem neu zu beleben. — Nein, all die Erklärungen besagten nichts — gar nichts. Die Versandung war einfach ein Gottesgericht, punktum. Das ganze Volk, vorab die Fürsten, müßten Buße tun, dann wäre vielleicht etwas zu erhoffen; aber wer tat Buße? Sie lagen doch alle im Banne der Genußsucht. Der angelaufene Reichtum hatte sie ins Verderben gelockt. Viel schlimmer als die Versandung der Kanäle war die Versandung der Gewissen. Immer deutlicher schieden sich die Lager. Im einen war man erfinderisch in Entschuldigungen, war man bereit, alles, auch das Schlimmste, zu verstehen, ja, man bemühte sich nicht einmal mehr um Entschuldigung, die lockern Anschauungen wurden Mode. Und in diesem 76 Lager lebte man vom Kapital, verschleuderte unbesonnen das von den Vätern erworbene Gut an allerlei Hoffart. Im andern aber, wo die Alten saßen, sträubte man sich desto mehr gegen das «Verstehen», forderte Umkehr, drehte die Schlüssel zu den Geldladen dreimal und kannte nicht Rast, noch Feierabend.

Herr Thomas van den Bosch kehrte mit den andern Herren in einem Kahn nach dem Stadthaus zurück, wo man alsobald Sitzung hielt, ohne indessen zu einem Entschlusse zu gelangen. Nachdenklich sah man den Kaufherrn über die Brücke nach dem Fischmarkt gehen, mißmutig in seinem am Dyver gelegenen Kontor verschwinden. Dort ließ er sich von seinem Faktor und ersten Gehilfen, Herrn Ludgerus Broekelar, Bericht erstatten. Herr Ludgerus, ein Mann, der sich den Fünfzigern näherte und im Alter seinem Prinzipal nahe kam, wirkte auf diesen schon durch seine bloße Gegenwart beruhigend. Von seinen roten Haaren hatte sich nur über jedem Ohr noch ein kleines Büschel erhalten. Das übrige wäre vielleicht noch zwischen den Seiten der Hauptbücher des Herrn Thomas zu finden gewesen. Sei dem, wie ihm will, es war weg, und das hatte so seine Bedeutung, es ließ vermuten, ja, war ein untrügliches Anzeichen dafür, daß alle jugendlichen Mücken und Tücken diesen Kopf verlassen und vor dem vollen Ernst der Verantwortung das Feld geräumt hatten.

77 Aber in des Herrn van den Bosch nächster Umgebung lebte doch noch ein anziehenderes Wesen, das imstande war, sein Haus zu erhellen. Das war seine Tochter Aloysia. Sie wäre wohl imstande gewesen, das Haus helle zu machen — wenn der Herr Vater nicht durch seine Sorgen alles verdunkelt hätte. Der Tod hatte ihm seine Gemahlin geraubt und den einzigen Sohn, und nun war Herr Thomas Tag und Nacht bemüht, seine Tochter an dieses Leben zu ketten, an sein Haus zu fesseln. Weder der Tod, noch ein unwürdiger Freier sollten an sie herankommen. Sie war sein ein und alles — so sagte er bei jeder Gelegenheit — sie war seine Erbin, sie gehörte zum Haus. Gegen unerwünschte Freier stand Herr Thomas selber Schildwache. Als seiner Tochter würdig wurde nur erachtet, wer seines Hauses und Vermögens würdig erschien. Gegen den Tod aber wurde Aloysia geschützt durch eine vernünftige Lebenshaltung und Insonderheit durch Gelübde und Stiftungen an die Kirche, an das Johanneshospital und das große Beginenhaus am Minnewater. Letzteres wurde mit dem Hintergedanken bedacht, daß Aloysia dort ein sorgloses Leben gesichert bleiben möchte, falls jede freundlichere Aussicht der Versandung anheimfallen sollte.

Aloysia selber jedoch war durchaus nicht geneigt, an die Versandung ihrer Zukunft zu glauben, so wenig wie ihr noch sehr lebensfrischer 78 Oheim Medardus die Notwendigkeit tiefgreifender Ausbaggerungen des Kanalnetzes und der Geistesverfassung der Stadtbevölkerung einsehen wollte. Im Rate kam es zu aufgeregten Debatten. Der politische Gedanke, der Herrn Thomas van den Bosch und seine Partei leitete, ließ an Logik nichts zu wünschen übrig. Das drohende Gottesgericht war für sie nun einmal feststehende Tatsache, und dieser Auffassung hat eigentlich der Lauf der Weltgeschichte, wie wir heute festzustellen in der Lage sind, durchaus recht gegeben. Wie aber hatte man sich mit dieser Tatsache abzufinden? Es galt, Ursache und Wirkung klar auseinanderzuhalten. Ursachen waren, wie Herr Thomas vor dem Rate sehr richtig bemerkte, die gottvergessene Üppigkeit und der Leichtsinn des Volkes, und sie konnten nur durch Buße und Umkehr behoben werden. Buße zu tun aber blieb die Aufgabe der Leichtsinnigen. Wirkung war als Folge des Leichtsinns die Versandung und der Niedergang der Geschäfte. Und diesem zu begegnen, war nur durch die Ausbaggerung möglich, deren Kosten wiederum nur durch vereinfachte Lebensweise einzusparen waren, die den Bürger in die Lage versetzen würde, die erforderlichen Steuern... Hier wurde des Herrn Thomas Rede durch Tumult unterbrochen, und als es endlich dem Bürgermeister gelungen war, den Lärm zu beschwören, ergriff Herr Medardus das Wort, um seinem ergrauten 79 Schwager unter dem lauten Beifall der Ratsmehrheit klarzumachen, daß die geforderte Buße den Ruin aller Prosperität, die Vereinfachung der Lebensweise, den Niedergang der Geschäfte bedeuten würde, und daß die Bestreitung der Ausbaggerung Sache ausschließlich derjenigen sei, die durch die Schiffahrt Reichtum erworben hätten. Die Stadt Brügge würde sich dem Spott aller Welt preisgeben, wollte sie nun, kaum sechs Jahre, nachdem der Herzog von Burgund hier seine Vermählung in Festen von unerhörter Pracht gefeiert, öffentlich Buße tun. — Man brauchte die Bürger nur an die Tage jener Hochzeit zu erinnern, welche während einer Woche die ganze Stadt in einen Festsaal verwandelt und alle Leute aus ganz Europa, die etwas auf sich hielten, angelockt hatte, so gerieten sie gleich wieder in einen Taumel und begehrten nach neuen Festen. Ja, damals hatte man einen Begriff davon bekommen, was eigentlich die Bezeichnung Leben verdiente. So kam es denn heute auf des Herrn Medardus' Rede hin zum Beschluß, im nächsten Jahre wieder ein Fest zu veranstalten, das durch seine Herrlichkeit viele reiche Menschen nach Brügge locken und die Welt über die drohende Versandung hinwegtäuschen sollte.

In alle lebenslustigen Familien trug dieser weise Beschluß frohe Laune. Es war, als sollte das Fest schon nächste Woche stattfinden. Die 80 Festspieldichter, die Maler und Bildschnitzer, die Goldschmiede und die Schneider, die Tuchweber und die Schuster, alle, alle bis zum Straßenkehrer, überließen sich der Freude auf winkenden Gewinn und Genuß, tranken an diesem Abend eins über den Durst, sangen auf dem Heimweg vom Wirtshaus vor den Klosterpforten Spottlieder, und manch einer verlor das Gleichgewicht, fiel in einen Kanal und schwur andern Tages, daß er von dessen Versandung gar nichts bemerkt habe.

Zwischen Herrn Thomas van den Bosch aber und seinem jungen Schwager war in der Ratsstube das allerletzte Band verwandtschaftlichen Empfindens endgültig zerrissen. Herr Thomas nahm sich in der schlaflosen Nacht vor, seiner Tochter einen Eid abzufordern, daß sie fortan auch nicht einmal den Gruß ihres Oheims erwidere, vergaß es dann aber, weil Herr Ludgerus ihn schon beim Frühstück mit Geschäftssorgen in Anspruch nahm, während Herr Medardus bei freundlichem Herbstsonnenschein im Bett überlegte, daß ein venezianischer Gondelkorso auf den Kanälen der Stadt das Fest würdig einleiten müsse.

Der Oheim Medardus ging täglich von seiner Wohnung an der Silbergasse durch die St. Katharinenstraße hinaus vor das Tor, wo sich die jungen Herren zu allerhand ritterlicher Übung trafen. Und fast ebenso oft hatte sich bis jetzt 81 mit des gestrengen Herrn Vaters Zustimmung Aloysia, ein Stück weit der gleichen Straße folgend, nach dem großen Beginenhof begeben, um die Muhme Gudula zu besuchen. Der galante Oheim hatte sie nicht selten, von seinem Weg abschweifend, bis an das Tor des Beginenhofes begleitet und ihr mancherlei aus der bunten Gesellschaft erzählt, in welcher er sich bewegte. So wußte denn das wohlbehütete Jungfräulein schon recht gut Bescheid über jene Welt vor dem St. Katharinentor. Sie hatte davon eine Vorstellung ähnlich wie die Vorstellung, die man sich etwa vom Himmel machte. Für sie lag da draußen, jenseits der Genter Schanze, immerwährender Sonnenschein, und in diesem Sonnenschein tummelten sich die Idealgestalten in eitel Lust und ritterlichem Glanze. Ganz von selbst war ein Verlangen in ihr erwacht, einmal einen Blick in dieses «Jenseits der Wälle» zu tun. Und unter den Gestalten, welche dieses «Jenseits» bevölkerten, war es namentlich eine, die sie anzog, weil der Oheim Medardus sie durch seine Erzählungen mit einem besondern Schimmer umwob. Ein junger Ritter aus Burgund war es, mit Namen Balduin de Massol. In herzlicher Einfalt hatte Aloysia ihrem Vater mancherlei wieder erzählt, was sie durch Herrn Medardus erfahren, und ihm damit die stillen Mahlzeiten gewürzt. Von Balduin de Massol aber hatte sie ihm nie gesprochen. Das wäre ihr vorgekommen wie das Wegwerfen 82 einer Wunderblume; aber anderseits begann das Geheimnis sie zu belasten wie eine Unterschlagung.

Mit welcher Herzenswärme sie sich an dieses Idealbild innerlich geklammert, kam ihr aber erst zum Bewußtsein, als nun der Vater ihr gebot, die St. Katharinenstraße hinfort zu meiden und sich nur noch auf dem Kanal nach dem Beginenhof rudern zu lassen. Als ob eine eisenbeschlagene Türe, welche den Blick in einen Garten voll Sonnenschein freigegeben hatte, ihr vor der Nase zugeschmettert würde, so wirkte das väterliche Verbot. Aloysia verstummte, wie die vielen himmelanstrebenden feierlichen gotischen Gebäude von Brügge verstummt waren. Sie hatte, wenn ihr die Frohlaune verdorben wurde, äußerlich auch etwas ablehnend Feierliches, das sich mit nichts verband. Man hätte sie, in Stein gebildet, an irgendeinen gotischen Kirchenpfeiler stellen können, und man würde sie dort vor lauter Selbstverständlichkeit gar nicht beachtet haben. Aber wie zu jener Zeit die strengen gotischen Paläste und Kirchen von Menschen wimmelten, die sich nicht mehr nach dem Himmel reckten, noch stille knieten, sondern drängenden Lebens voll auf den Markt der Eitelkeiten hinausstrebten, so verlangte in der scheinbar kalt verschlossenen Jungfrau heißes Blut nach ungehemmtem Leben. Das Steinbild glühte. Aloysia nahm damals in ihrem Äußern ein fast männlich herbes Wesen 83 an, das vielen ein Rätsel blieb und gerade deshalb manchen mit Zaubergewalt anzog.

«Laß mich allein und schweige!» befahl sie dem Knecht, dem ihr Vater sie anvertraut hatte. Sie führte das Ruder selbst. Und das fiel auf. Töchter von ihrem Range, wenn sie überhaupt einen Kahn betraten, pflegten in schönem Gewand und stolzer Pose auf schwellenden Kissen zu thronen und ließen die Knechte schaffen.

Ein blaßgrauer Himmel wölbte sich über Flandern, als Aloysia zum erstenmal so allein den schmalen Kanal entlang fuhr. Da fiel ihr der Farbenreichtum auf, in welchem sie dahinschwebte. In dem dunkelbraunen, mit gelben Blättern besäten Wasser spiegelten sich zwischen smaragdgrünen Schlammpflanzen blutrote Reben, die in herrlichen Kaskaden an altersgrauem Gemäuer hingen. Im Schatten der zierlichen Brückenbogen blitzten silberne Wellchen auf. Als sie sich der Stelle näherte, wo die St. Katharinenstraße den Kanal überwölbt, legte sie das Ruder quer über den Kahn und ließ sich langsam treiben. Sie neigte das Haupt, um desto unauffälliger nach den Menschen zu äugen, die schattenhaft über die Brücke gingen. Der dunkle Bogen verschlang sie, ohne daß sie irgendeinen Bekannten erspäht hätte.

Zwei oder drei Minuten später warf Hans Memling, der Maler, welcher soeben in einer an den Kanal stoßenden Kammer des St. Johannesspitals 84 den Junker Balduin de Massol auf eine Holztafel malte, Pinsel und Palette auf einen Stuhl und erklärte dem staunenden Burgunder, er sei außerstande weiterzuarbeiten.

«Ist Euch nicht wohl, Meister?»

«So wohl wie dem Vogel im Hanfsamen, Junker. Aber ich hatte soeben eine Vision, eine Vision, die...»

Der Meister zog den Junker ans Fenster und wies aufgeregt nach dem Kanal, wo Aloysia vorbeiglitt.

«Vorbei, vorbei!» sagte Hans Memling. «Vor einer Minute hättet Ihr das Bild sehen sollen. Seht, dort, den sonnenvergoldeten Gewölbegang der Brücke über dem braunen Ton des Wassers! Unter diesem Bogen erschien sie, das weiße Tuch über dem goldenen Scheitel, das blaue Kleid in herrlichen Falten in den Kahn ausgeschüttet. Bei allen Heiligen! Solches Madonnenbild sah ich noch nie. — Junker, Junker, wer ist's? — Sagt mir, wer ist's? Die und keine andere brauche ich zum Engel auf meinem Verkündigungsbild.»

«Wie soll ich das wissen, Meister? — Hätte ich nur ihr Antlitz gesehen! — Aber, bei Gott! Ich will es schon erfahren.»

Hans Memling hatte inzwischen bereits sein Barett aufgesetzt und hielt die Türklinke in der Hand. «Wenn Ihr erlaubt, Junker?...»

«Ihr kennt des Wassers Lauf und Windung. 85 Wo finden wir einen Kahn?» antwortete Herr de Massol.

«Nicht also, Junker! Es bedarf keines Kahns. Der Kanal mündet bei dem Beginenhof in das Minnewater.»

Herr Balduin lachte hell auf: «Bei Sankt Georg! Wenn solch ein Weib ins Minnewater fährt, will ich auch dabei sein.» Der kleine, wohlgenährte Maler schritt dem zappligen Junker zu langsam und stellte ihn, da er des öftern noch stehen blieb, um Atem zu schöpfen, auf eine harte Geduldsprobe. Der Junker vergaß in seinem Eifer, die Dame zu Gesicht zu bekommen, vollständig, worum es dem Meister zu tun war. Er sah sich schon in einem Kahn auf dem Liebesteich kreuzen und um seine Beute kreisen. Meister Memling dagegen war es nur darum zu tun, die Fährte der jungen Dame zu verfolgen, um zu wissen, wo sie ein- und ausgehe; dann erst ließ sich der Weg zum Ziele finden. So dachte jeder seinem besondern Plane nach, und beide vergaßen darob das Reden, bis sie, unter den hohen Weiden am Minnewater angelangt, weder auf dem großen Teiche noch im einmündenden Kanal die rudernde Madonna entdecken konnten. Wäre der Maler allein in seiner Werkstatt gewesen, so würde er jetzt an eine wirkliche Vision geglaubt haben; aber Herr Balduin hatte es doch mit angesehen, daß die Dame im Kahn vorüberfuhr. Ob sie wohl gewendet hatte und vielleicht 86 wieder an der Werkstatt vorbeiruderte, während man sie hier suchte? Schon dachte Hans Memling ans Umkehren, als plötzlich seine Blicke auf einen unweit der großen Pforte zum Beginenhof leer an der Treppe liegenden Kahn fielen. «Wir haben die Spur verloren», sagte er, scheinbar verzichtend, zu dem Junker, «wir werden, wenn ich die Ehre habe, Euch morgen wieder bei mir zu sehen, ein wachsam Auge auf den Kanal richten müssen.» Damit wandte sich der Meister, als wollte er schnurstracks wieder in die Werkstatt zurückkehren. Junker Balduin versprach, ihm andern Tags wieder zu sitzen, und ging dann zögernden Schrittes dem Minnewater entlang in entgegengesetzter Richtung. Er mochte so seine hundert Schritte gegangen sein, als es ihn ankam, nach der Stelle zurückzublicken, wo der leere Kahn angekettet lag. Da flog ein Lachen über sein Gesicht. «Du Racker!» entfuhr es ihm. Genau an der Stelle, da sie sich verabschiedet hatten, stand der Meister Memling wieder unter einer Weide und hielt Auslug nach der Pforte des Beginenhofes. Es währte nicht lang, so bemerkte auch der Maler, wie der Junker, langsam einherschreitend, sich näherte. Und just, wie die Nachmittagssonne die Schatten zweier menschlichen Gestalten durch die Torwölbung des Hofes auf das helle Pflaster hinauswarf, stießen die beiden Späher, sich gegenseitig auslachend, wieder zusammen.

87 Wie aus einem Munde sagten beide: «Herr Medardus!» Und Hans Memling fügte triumphierend bei: «Sie ist's. — Wahrhaftig, sie ist's.» Sie lachten beide aus der gleichen Erwägung heraus: Herr Medardus! Wäre denn überhaupt in der großen Stadt Brügge irgendein Vorkommnis denkbar, ohne daß Herr Medardus dazu in Beziehung stand? Hier nun kam diese Eigenschaft des Hansdampf in allen Gassen ihnen sehr zu statten. Sie bahnte ihnen ohne weiteres den Weg zu Aloysia. Meister Memling, mit den angesehenen Familien der Stadt besser vertraut als der erst seit kurzem hier weilende Burgunder, hatte es nun auch gleich erraten, das mußte die Tochter des reichen Herrn Thomas van den Bosch sein. Siegesgewiß überschritten sie die Brücke und stellten sich am Landungsplatz des Kahns auf. Sie ließen sich der Dame vorstellen, und da alle vier Personen einen stillen Triumph feierten, entspann sich alsobald ein angeregtes Gespräch. Herr Medardus freute sich diebisch, seine Nichte endlich mit dem flotten Junker, der bei allen Tjosten seine Rolle spielte, bekannt machen zu können. Da er sie seit jener stürmischen Ratssitzung nie mehr an der St. Katharinenstraße angetroffen hatte, vermutete er, daß der alte Herr die gewohnte Begegnung vermieden wissen wollte. Aber wer konnte Herrn Medardus auf die Dauer entgehen? Er wußte die Tage, an denen Aloysia die auch ihm verwandte 88 Muhme Gudula regelmäßig zu besuchen pflegte, und war ihr im Beginenhof in den Weg getreten.

Von Meister Memling gemalt zu werden, galt zu jener Zeit wohl schon als eine Ehre; aber der Eitelkeit konnte nichts mehr schmeicheln, als wenn man vom Meister selber auserkoren wurde, um zu einer Heiligenfigur auf einem großen Bilde Modell zu stehen. Auf Widerstand stieß daher Hans Memling mit seiner Bitte nicht. — Was aber würde der Herr Vater zu solcher Verabredung sagen? Was würde er sagen, wenn er in einem Engel eines Altarbildes die Züge seiner Tochter erkannte? Die Erlaubnis einholen aber hieß verzichten. Aloysia wußte zu bestimmt, daß Herr Thomas solche Malerei in diesen Zeiten der drohenden Versandung als Tand und Torheit verwarf. So wurde man denn eins, daß Aloysia an ihren Gudulatagen auf eine Stunde bei Meister Memling einkehren sollte.

Bevor jedoch der Maler Aloysia als Gottesboten in seine Verkündigung zeichnete, mußte sie ihm den Gefallen tun, mit ihrem Kahn unter der Brücke stille zu halten, damit er die kürzlich erschaute «Madonna im Brückenbogen» entwerfen konnte. Aus der Brücke wurde ein Triumphbogen, und der trübe Kanal ward zum kristallenen Strome. Es entstand ein Bild, wie hernach an Harmonie der Farben dem Meister 89 keines mehr gelang. Was aus dem wunderbaren Entwurf geworden, weiß niemand zu sagen.

In der Werkstatt nun wurde an der Verkündigung gearbeitet, und der gutherzige Hans Memling hatte es nicht über sich gebracht, dem Junker Balduin die Werkstatt während dieser Arbeit zu verschließen, dies um so weniger, als er alsobald erkannt hatte, daß damit der Jungfrau van den Bosch ein Gefallen geschehe. Ihr herbmännliches Antlitz, das auf dem Madonnenbild im Brückenbogen noch ungemalt geblieben, bekam durch die Gegenwart des Herrn Balduin just den Freudenschein, wie er den Offenbarer eines herrlichen Geheimnisses durchleuchten mag. Aber eines Tages, als er nach dem Weggang der Jungfrau Aloysia und des Junkers das werdende Bild betrachtete, überkam den Maler plötzlich die Versuchung, sein Werk zu vernichten. «Es ist nichts damit!» brummte er, indes seine Hände sich zu zornigen Fäusten ballten. «Der Engel ist verliebt in die Gottesmutter. — Ja, wenn's noch das wäre! Aber er ist schlechthin verliebt. Ein sündhafter Gottesbote! Nein, nein, das geht nicht.» Und im Nu war das hinreißend ausdrucksvolle, leuchtende und doch rätselhafte Gesicht weggekratzt.

Noch am gleichen Abend sandte Hans Memling an den Burgunder einen Brief, worin zu lesen stand: «Um Euer Gnaden einen Gang vor verschlossene Türen zu ersparen, gibt sich der 90 Unterzeichnete die Ehre, dem Herrn Junker ergebenst mitzuteilen, daß bis auf neuen Bericht die Arbeit an den angefangenen Bildern unterbrochen werden muß.»

Herr Balduin de Massol schüttelte den Kopf. Was soll das? fragte er sich. Ginge der Meister auf Reisen oder wäre er krank, was hätte er für einen Grund, es zu verschweigen?

Als Aloysia sich zur gewohnten Stunde in der Werkstatt einfand und die leergekratzte Bildfläche sah, legte sich ein tiefer Schatten auf ihr Gesicht. «Warum habt ihr solch Zerstörungswerk getan, Meister?» fragte sie in tiefer Enttäuschung.

«Weil Besseres an die Stelle kommen soll», antwortet er rasch, indem er sich anschickte, neue Farben aufzusehen. Sein Modell betrachtend, kniff er die Augen zusammen, zog Grimassen, hielt die Hand bald so, bald anders gegen das Licht, ließ sie sinken und tat einen Seufzer.

«Was ist's denn nur?» fragte Aloysia wieder.

«Ich find es nicht — ich find es nicht», sagte Memling mehr zu sich selber. Nach tiefem Nachdenken trat er plötzlich wie in einer Erleuchtung vor Aloysia hin und fragte: «Vermöchtet Ihr Euch in die Lage zu denken... sagen wir einmal: in den Fall, daß Ihr etwa eines Tages vor Euren Herrn Vater hintreten und melden dürftet: ‹Mein Herr Vater, ich bringe Euch gute Kunde, ich habe mein Glück gefunden›?»

91 Aufhorchend hatte Aloysia den Meister betrachtet; aber kaum hatte er geendet, als ihre Augen sich senkten und nach ein paar schweren Atemzügen der jungen Brust große Tränen hervorquellen ließen.

Nun war das Staunen auf des Malers Seite. «Verzeihet, mein Jungfräulein, wenn ich mit ungeschickten Händen an etwas rührte, was zu berühren mir nicht geziemt!»

«Wenn Euch doch daran lag, ein glücklich Gesicht zu malen», sagte sie, «warum habt Ihr denn dies dort zerstört? — Ich soll eben mein Glück nicht finden. — Das ist's.»

«Dem ist durchaus nicht so. Warum solltet Ihr Euer Glück nicht finden?»

«Warum ist er denn heute ausgeblieben, den ich hier zu finden das Glück hatte? Er blieb weg, und Ihr habt die Spur des Glücks zerstört, das er in mir weckte. — Es soll mir eben kein Glück blühen. Wie sollte ich mir das alles sonst deuten?»

«Mein Jungfräulein», versuchte nun der Meister zu trösten, «glaubet mir, wenn ich Eurem wahren Glück in dieser meiner armseligen Werkstatt zu dienen die Ehre hätte, so würde ich alles andere für törichte Zeitvergeudung erachten; aber ein erfahrener Mann wie ich kennt keine andere Herrin als die Stimme des Gewissens. Ihr folge ich bei der Arbeit, ihr folge ich, wenn junge Menschen meinen Rat suchen 92 und wenn es in meine Hand gelegt ist, ihnen zu dienen. Darum sage ich: hütet Euer Herz vor Junker Balduin, dem Burgunder! Ich will gern ein Narr heißen, wenn er Euer würdig ist. Aber ich zähle ihn zu denen, die auf hohem Roß einherreiten und alles für ihre gute Beute halten, was ihnen am Wege zulacht. Heute reißen sie es an sich, morgen werfen sie das Ausgekostete in den Straßengraben. — Hütet Euch! — Hütet Euch!»

«So hat denn diese weite Welt keinen Raum für mein Glück!»

«Doch, mein Fräulein, es wartet Euer. Es sieht vielleicht nur anders aus, als Ihr Euch's vorstellet. Ein wenig Geduld, und der es Euch bringt, wird unversehens sein Knie vor Euch beugen. Es gibt — Gott sei's gedankt — noch Menschen, denen das Gewissen befiehlt, ein jeglich Ding dahin zu stellen, wohin es von Gott bestimmt ist. — Das sind die wahren Glücksbringer — und trügen sie auch Kahlkopf oder Buckel.»

Darauf brach Aloysia von neuem in Tränen aus. «Weh mir», jammerte sie, «daß ich dieses Haus betrat! — Ich fühle wohl, daß Ihr die Wahrheit sprecht, Meister. — O, daß ich sie nie vernommen hätte!»

Schluchzend verließ sie die Werkstatt.

Der Meister ließ sich in einen Lehnstuhl fallen, starrte mit dunkelglänzenden Augen auf 93 das ausgekratzte Bild und sagte: «Es ist ein wunderlich Ding um des Menschen Sehnsucht.»

Während Aloysia durch den gewölbten Gang dem Hofe zuschritt, sah sie im Geiste das kahle Haupt des biedern Ludgerus Broekelar vor sich. — Konnte man sich einen Menschen vorstellen, der größere Genugtuung darin fand, ein jeglich Ding dahin zu stellen, wo es von Gottes und Rechts wegen hingehörte, als dieser treue Diener des Herrn Thomas? Aloysia hätte laut aufschreien mögen. Aber da huschten barmherzige Schwestern durch Hof und Haus, die gewiß unter ihren schwarzen Hauben eine große barmherzige Neugier bargen. — Nein, nein, nur jetzt keine Hilfe! — Aber mit rotgeweintem Gesicht und zuckendem Mund auf die Straße hinaus?

O, da war ja die Kapellenpforte. Rasch schlüpfte Aloysia hinein, und nach zwei Minuten lag sie vor der schmerzenreichen Mutter des Herrn auf den Knien.

Beten wollte sie, aus dem Wirrsal ihrer Herzensnot in tröstliche Stille sich retten. Aber ihr war, als brauste der Welt Unrast durch alle Fensterritzen in das dunkle Gotteshaus herein, als ginge es wie Freudenrausch draußen durch die Gassen. — Auch hier keine Ruhe! — Sie erhob sich, um durch das Hoftor nach der Landestelle am Kanal zu eilen, wo ihr Kahn an der Kette lag. Wie sie aber in das Torgewölbe kam, füllte wirklich ein Freudentaumel die Gasse zwischen 94 dem Hospital und der Kirche «Unsrer lieben Frau». Ein Menschenstrom ging vorüber, und Stimmen am Tore riefen einander zu: «Der Herzog! Der Herzog!»

Da packte plötzlich Neugier die Flüchtende. Sie geriet hinter den steinernen Pfosten des Tores und mußte hier des Gedränges wegen stehen bleiben, indes, von jubelndem Volk umdrängt, Herzog Karl, den sie den Kühnen nannten, von vielen glänzenden Reitern begleitet, dicht an ihr vorüberzog. Plötzlich drang ihr alles Blut zum Herzen. Kam da nicht als einer der letzten im Gefolge des Herzogs Herr Balduin de Massol geritten? Sie wollte in den Hof des Spitals zurückfliehen; aber da stand es hinter ihr, Kopf an Kopf in buntem Gemisch, barmherzige Schwestern, Mägde und allerlei Bresthafte, die, von der Neugier gepackt, sich aus den Krankenstuben weggestohlen hatten. Und überdies stand ihr, als sie das schöne blaue Kleid, dessen Falten den Meister so begeistert, raffen wollte, irgendein Gaffer auf dem Saum. Der Junker sah just, wie sie diesem einen Rippenstoß gab, um sich freizumachen. Im nächsten Augenblick stand er, den Lümmel in den Haufen drängend, dicht neben ihr und hob sie, ehe sie nur Zeit zum Überlegen gefunden, in den leeren Sattel seines ungeduldigen Pferdes. Mit beiden Händen griff sie in die Kammhaare, um sich festzuhallen, indes Junker Balduin, das Pferd 95 an kurzem Zügel haltend und mit der linken Faust sich Weg bahnend, zu Fuß neben ihr herging.

«Junker, Junker, was soll das?» rief sie verängstigt von dem ihr ungewohnten Sitze herunter.

«Haltet Euch nur, mein Fräulein!» antwortete er. «Wie wolltet Ihr denn in diesem Gedränge hindurchkommen!» Dabei teilte er unsanfte Püffe aus und erntete dafür böse Blicke und Flüche. So schwamm nun Aloysia in dem Menschenstrom mit — nicht unbeachtet als Tröpflein in der Welle, sondern oben drauf, von Hunderten gesehen und auch aus den Fenstern von neugierigen Leuten begafft, welche sich nicht in den gemeinen Haufen zu mischen pflegten. Das waren die Leute, in deren Gesellschaft das Fräulein van den Bosch gehörte und deren staunende Blicke durch die ganze Stadt hin und her liefen, bis sie groß und sozusagen hörbar vor Herrn Thomas in Worte sich wandelten: Wie könnet Ihr zugeben, daß Eure Tochter solches tut? Aloysia spähte nach irgendeiner rettenden Hand. Aber es war keine andere so hilfsbereit wie die ihres Kavaliers. Vom Pferde sich gleiten lassen und im Haufen verschwinden? — Unmöglich! Vom Pferde springen hieß in des Junkers Arme fallen. Darauf hatte er es ja wohl abgesehen.

Der Menschenstrom flutete auf den Platz vor dem Stadthaus, der sich bis in den letzten Winkel 96 mit Neugierigen füllte. In den betäubenden Lärm des törichten Volkes streute das Glockenspiel des Turmes wie mit segnenden Händen die Klänge des alten Hymnus dies est laetitiae, der zwar für Weihnachten erdichtet ist, aber nun vom Glöckner dem Herzog zu Ehren gespielt wurde. Weit offen stand die Türe des Stadthauses. — Jetzt mußte gleich der Bürgermeister, mußte mit dem Bürgermeister der Ratsherr Thomas van den Bosch auf den Stufen zur Begrüßung des Herzogs erscheinen. — Da war keine Zeit zu verlieren. Aller Augen waren auf die Freitreppe gerichtet, wo sich der Empfang abspielen mußte, auch des Junkers Augen. Jetzt galt es zu handeln. Niemand beachtete, daß die Dame im blauen Samtrock nicht mehr da war, niemand, so schien es, außer einem kräftigen jungen Manne, der in Begleitung eines schlanken Knaben sich bis dicht hinter die Pferde des herzoglichen Gefolges durch die Volksmenge hindurchgerungen hatte, um die Begrüßung aus der Nähe zu sehen. Aloysia sah sich beim Versuch nach rückwärts in der Menge unterzutauchen, plötzlich, Gesicht an Gesicht, vor diesem ihr fremden Jüngling, welcher sofort erkannt zu haben schien, daß ihr der Weg freigegeben werden müsse. Ja, mehr als das. Auf ihr bloßes «Bitte, mein Herr!» hin schritt er ihr voran und brach ihr mit kräftigen Ellenbogen Bahn durch das Gedränge bis zum nächsten Ausgang des Platzes. 97 Der Knabe folgte ihnen und bemühte sich mit seinen schwachen Kräften, Aloysia dagegen zu schützen, daß man ihr auf den Saum des Kleides trat. Auf diesem seltsamen Rückzug fielen dem Fräulein die Worte Meister Memlings von den wahren Glückbringern ein. Wie hatte er doch gesagt? «Es gibt noch Menschen, denen das Gewissen befiehlt, ein jeglich Ding dahin zu stellen, wohin es gehört.» — Ob nun nicht gerade dieser junge Mann da so einer war? Er hatte etwas so Grundehrliches in seinem offenen Antlitz. Wie er den mühsam erkämpften Platz preisgab, um ihr beizustehen — just als der Bürgermeister unter die Türe trat! Der Knabe hatte enttäuscht ausgesehen; aber gleich einem wohlerzogenen Pagen hatte er sich gefügt. — Seltsam! — Seltsam!

Als sie den Torbogen erreicht hatten, der nach der Dyverbrücke hinaus sich öffnet, bedankte sich Aloysia für die freundlichen Ritterdienste. «Ich habe nicht das Vergnügen, euch zu kennen», sagte sie, «aber wer immer ihr sein möget, werte Herren, ihr habt mir einen guten Dienst geleistet. Habt Dank!»

Der junge Mann antwortete, sichtlich im Gefühl, etwas zu sagen, was interessieren müsse: «Wir sind Schweizer, edle Dame.» Während er etwas schwerfällig sein Knie beugte und zurücktrat, ergriff der Knabe Aloysias Rechte und küßte sie auf den Handschuh. Dann verschwanden beide 98 wieder in der Menge. Nachdenklich schritt Aloysia dem väterlichen Hause zu, während sie hinter sich, jenseits des Stadthauses, Trompetentusch und das Rufen einer tausendstimmigen Volksmenge hörte.

Aloysia war in Sicherheit vor den Nachstellungen des Junkers Balduin; aber kaum wußte sie sich mit dem biedern, kahlköpfigen Herrn Ludgerus Broekelar unter dem gleichen Dache, tauchten ihr neue Bedenken auf, ob sie auch klug gehandelt habe, als sie dem Junker entfloh. War nicht Meister Memling ein wunderlicher Kauz? Urteilte er nicht zu hart über den Junker Balduin? Über all das hatte sie in den nächsten Tagen reichlich Zeit, nachzudenken. Es kam ihr vor, als wären die Auseinandersetzung mit dem Maler und ihre seitherigen Erlebnisse bloß ein Traum gewesen, und immer dringender empfand sie das Bedürfnis, doch noch einmal mit Hans Memling zu reden.

So fand sie sich denn eines Tages unangekündigt wieder in der Werkstatt ein. Der Meister empfing sie auf das freundlichste, hatte es ihm doch leid getan, daß sie in so tiefer Betrübnis von ihm gegangen war. Und zudem war sie ihm heute besonders willkommen, da er eines Modells bedurfte zur Figur des heiligen Wilhelm.

«Des heiligen Willem?» fragte sie sehr erstaunt. «An mir ist doch weder etwas von einem Heiligen, noch von einem...» Sie zögerte, das Wort 99 «Mann» auszusprechen, und Memling kam ihr zuvor, indem er sie unterbrach: «Ihr habt genau das, was ich in meiner Figur des Heiligen brauche, bei aller edlen Weiblichkeit etwas herb Entschlossenes. Ihr wißt wohl, daß der Heilige Wilhelm als Einsiedler alles Weltliche von sich tat, außer der eisernen Rüstung, damit er nicht der Bequemlichkeit anheimfalle.»

«Und was soll's mit dem Bild?»

«Es kommt auf einen Altar nach Eeckhout. Dort wird es schwerlich je Eurem Herrn Vater auffallen. Und wenn auch...! Mir aber tut Ihr einen großen Dienst, denn gestiftet wird das Bild von meinem Freund und Kollegen Willem Vrelant, und es soll was Rechtes werden.»

Aloysia, wähnend, der Meister bereue seine Worte über den Junker Balduin und suche Gelegenheit, die Sache wieder gutzumachen, willigte ein. Sie ließ sich Helm und Harnisch antun und über den Panzer eine Kutte. Und dieweil der Maler nun Gedankengang und Mienenspiel seines Modells schon recht durchschaut hatte, verstand er es, Aloysia in die richtige Stimmung zu versetzen. Er bedurfte mehrerer Schätten, um dem Heiligen den Ausdruck des Überwindenden zu geben, und deshalb brachte er das Gespräch abermals auf den Junker Balduin de Massol, immer dringender die Jungfrau vor ihm warnend.

Eines Morgens nun besuchte Herr Medardus den Meister in seiner Werkstatt und sah das Bildes 100 heiligen Wilhelm an einen Schrank gelehnt. «Bei Sankt Jürg, Meister Hans! Was habt Ihr denn da für einen merkwürdigen Rittersmann?»

«Einen Willem», sagte der Meister mit schalkhaftem Lächeln.

«Mir ist, dieser Willem müsse meiner seligen Schwester verwandtschaftlich nahegestanden haben. Man hat doch nie ausgelernt. Nun weiß ich doch, daß ich eine nahe Verwandte und an ihr einen Fürsprecher im Himmel habe. Das ist sehr erfreulich. Auf diese angenehme Entdeckung hin werde ich die Freuden dieses Lebens noch besser auskosten. — Aloysia, an dir ist ein Ritter verloren gegangen.»

Der Meister lachte in sich hinein. Daß Herr Medardus trotz Helm und Harnisch seine Nichte erkannt hatte, sprach doch entschieden zugunsten des Werks. Aber er nahm seinem Besucher das Versprechen ab, daß er Aloysia mit keiner Miene verraten werde, was er hier gesehen.

Unterdessen hatte die Anwesenheit des Herzogs Karl in Brügge die Stadt in einen Freudenrausch getaucht, an dem sich männiglich ergötzte. Nur die ältern Leute, die aus Erfahrung der Welt Lauf ein wenig kannten, begannen in stillen Augenblicken zu erwachen. Sie wußten, daß ein Fürst wie Karl Reisen nicht ohne Zweck unternahm und die Ehre seines Besuches sich irgendwie bezahlen ließ. Karl brauchte Mannschaft und Geld. Er wollte die Schweizer in den Staub 101 treten, um sein Königreich, das längst erträumte, von Meer zu Meer auszuspannen. Den schmeichelhaften Reden im Rathaus waren Forderungen gefolgt. Jeder zehnte Mann ward ausgehoben, und vorweg mußte alles, was ein Pferd zu reiten, eine Waffe zu führen wußte, unter des Herzogs Kriegsbanner treten. So lösten nach wenigen Tagen kriegerisches Prahlen und heimlich geweinte Tränen das Festgepränge ab.

All das aber hatte nicht verhindert, daß gelegentlich Herrn Thomas van den Bosch in hämischer Weise Glück gewünscht wurde zu der Aufnahme seiner Tochter in das glänzende Gefolge des Herzogs. Man hätte zwar, so wurde ihm gesagt, schon bemerken können, daß Aloysia in der neuen Rolle sich noch nicht so recht behaglich fühle; gar ängstlich hätte sie sich an des Pferdes Kamm festgehalten, es sei aber auch rücksichtslos gewesen, der des Reitens nicht Gewohnten gleich ein so ungestümes Pferd anzuweisen.

In Tränen gebadet, ging Aloysia ihren Hausfrauenpflichten nach, während Herr Thomas seine Hände, zu Fäusten geballt, gegen die Decke warf, auf die Ruchlosigkeit der Burgunder schimpfte, vor deren Lüsternheit nicht einmal die Töchter und Frauen der vornehmsten Häuser sicher seien und für deren Raubzüge nun gar noch Geld beschafft werden sollte. «Sollen wir unser redlich und sauer verdientes Geld dazu hergeben, friedliche Völker zu erwürgen und den fluchwürdigen 102 Ehrgeiz eines tollen Fürsten zu befriedigen? Wahrlich, ich gäbe lieber das Doppelte an die Wiederherstellung unsrer Kanäle.»

Es war nicht zu umgehen, Herr Thomas van den Bosch mußte unverzüglich nach England fahren, um dort seine Guthaben sicherzustellen. Was hier in Brügge lag, lief Gefahr, dem Herzog anheimzufallen. Und nun, in diesem verhängnisvollen Augenblick, die Tochter allein lassen? — Das war nicht zu verantworten.

Herrn Ludgerus Broekelar, dem Getreuen, dem Hüter des Hauses, war die Verlegenheit seines Prinzipals nicht entgangen. Zwar, diese Notlage auszubeuten und ihm seine Hilfe aufzudrängen, hätte er nicht über sich gebracht; aber man hatte immerhin ein Paar Augen im Kopfe, durch deren klug angebrachten Aufschlag man seine Dienstbereitschaft in Erinnerung bringen konnte. Und diese Augen begannen nun zu rollen, zu deuten, zu bitten — in Gegenwart von Jungfrau Aloysia. Aloysia sah es und verstand. Ein glühendes Messer hätte sie sich gewünscht, um sie auszustechen, um den treuesten Diener ihres Vaters zu blenden.

Herr Thomas hatte seine Hände längst wieder sinken lassen. Sie gruben sich jetzt in die Taschen seines Mantels, als ob sie da eine Lösung fänden. Er schien die Augensprache des Herrn Ludgerus nicht zu verstehen. Stumm blickte er auf den Tisch, auf die aufgeschlagenen Bücher, die verschlossenen 103 Truhen. Aber in später Abendstunde, als er mit seiner Tochter allein war, hub er an: «Aloysia, ich muß nach England fahren, muß dich in dieser aufgeregten Stadt allein zurücklassen. Gott kann dich behüten; aber dem Menschen ist sein Verstand gegeben, daß er als kluger Haushalter über sein anvertrautes Gut sein Haus bestelle. Aloysia, du weißt, ich bin schon betagt. Ich fahre über das Meer. Es könnte mich verschlingen. — Was würde dann aus dir?

Aloysia, wir haben einen Mann im Hause, der mir so treu ergeben ist wie ein Sohn. Er wacht über mein Hab und Gut, als wäre es das seine. Er ist klug und fromm. Er würde deiner pflegen wie seines Augapfels. Er wäre der treueste Gatte, den du dir wünschen könntest...»

Da stand Aloysia auf, trat vor ihren Vater hin, als fühle sie sich noch in Helm und Panzer des heiligen Wilhelm, und sagte: «Niemals!»

Und dabei blieb es.

Wohl überlegte Herr Thomas noch mehrmals neue Vorstellungen; aber er brachte sie nicht über die Lippen.

«So bleibt mir denn nichts anderes übrig», erklärte er andern Morgens seiner Tochter, «als dich dem Beginenhof in Obhut zu geben. Ich bringe dich zur Muhme Gudula.»

Aloysia sagte weder ja noch nein; aber ohne Widerstreben ließ sie sich noch gleichen Tages nach dem großen Beginenhofe führen, wo sie in unmittelbarer 104 Nähe der gestrengen Muhme ein sicheres Asyl fand; denn unter den Beginen pflegten die übermütigen Junker nicht zu suchen, wonach ihr Herz begehrte.

Zärtlich nahm Herr Thomas Abschied von seiner Tochter. Das Herz ward dem alten Mann unendlich schwer, als er durch das große Tor hinausschritt. Es blieb ihm wenig Zeit bis zur Einschiffung, die in Zee-Brügge geschehen mußte. Aber er verließ die Stadt nicht, ohne vorher am Altar seines Geschlechtes in der Kirche «Unsrer lieben Frau» unter Tränen gefleht zu haben: «Erhalte mir den Trost meines Alters, erhalte mir mein Kind!»

Nun hatte aber am Abend jenes Festtages, da ihm Aloysia vor dem Rathaus mit Hilfe der jungen Schweizer entkommen war, der Junker Balduin eine Flut des Spottes über sich müssen ergehen lassen. Seine Kameraden und die Vornehmen im Gefolge des Herzogs wurden nicht müde, sich über ihn lustig zu machen, bis er endlich bei seines Schwertes Schneide schwur, er werde Aloysia wieder in seine Gewalt bringen und wenn er in Wehr und Waffen sie über das tiefste Wasser holen müßte.

Wochen waren verstrichen. Das Heer war aus Flandern nach dem Süden aufgebrochen. Die Stadt lag still, und die Glockenspiele bimmelten ungestört. Die letzten Blätter schwammen auf den seichten Kanälen, als endlich Herr Thomas 105 van den Bosch heimkehrte. Sein erster Gang galt dem großen Beginenhofe. Mehrmals klopfte er an die Haustüre der Muhme Gudula, es gab niemand Bescheid. Endlich öffnete sich ein Fenster am Nebenhaus. Eine Haube erschien, und eine altehrwürdige Begine teilte dem erstaunten Ratsherrn in zitternden Worten mit, daß Muhme Gudula gelähmt und sprachlos im Spital liege. Die ihr anvertraute junge Dame sei in einer stürmischen Nacht aus dem Hause verschwunden — vielleicht mit Gewalt entführt.

Mit wankenden Knien und wild klopfendem Herzen eilte Herr Thomas nach dem Spital; aber die Muhme Gudula konnte ihm keine Antwort geben; ja, es stand zu befürchten, daß seine Gegenwart ihr flackerndes Lebenslichtlein vollends zum Erlöschen bringe.

Es kostete den alten Herrn schwere Überwindung, seinen Schwager Medardus aufzusuchen; aber jetzt mußten solche Gefühle schweigen. Er eilte nach dessen Wohnung und fand sie verschlossen. Da traf er unterwegs den Meister Hans Memling. «Wisset Ihr nichts von meinem Schwager?» fragte er den Maler.

«In den Krieg gezogen», sagte dieser. «Schlimme Zeiten! Schlimme Zeiten!»

«Und meine Tochter?»

Der Meister zuckte mit den Achseln. «Es ist nichts mehr sicher in Brügge. Nichts mehr. Denkt, Herr, sogar aus meiner Werkstatt ist mir eine 106 Rüstung gestohlen worden, so ich gelegentlich zur Bekleidung meiner Modelle brauchte. Alles für diesen verdammten Krieg.»

Herr Thomas achtete dieser Worte nicht. Er ging nach Hause. Als ihm Herr Ludgerus Bericht erstatten wollte, fand er seinen Prinzipal in einem Lehnstuhl so tief zusammengesunken, daß er glaubte, er sei vor Müdigkeit eingeschlafen; aber bald merkte er, daß dem nicht also war. Er murmelte immer leise vor sich hin: «Was habt ihr getan? — Was habt ihr getan?» Und dabei sickerten Tränen aus seinen schlaffen Augen.

III.

Und abermals zog der Frühling ins Land. Der Dorfschmied von Utzenstorf hatte soeben einem Schimmel des Müllers Petri ein neues Eisen aufgesetzt und blickte, während der Müller Geld aus seinem Geldbeutel klaubte, über die Wässermatten. «Die Störche sind wieder da», sagte der Müller. Und der Schmied, der gestern im Schloß zu Landshut Flickarbeit getan hatte, antwortete mit pfiffigem Gesicht: «Jawohl, Vater Petri, die Störche. Und auch anderes Federvolk, das man hier lange nicht mehr sah.»

«Ihr meinet?»

«Ei nun, fragt Eure Tochter!»

«Ihr werdet doch nicht sagen wollen, des Herrn von Ringoltingen Bücherschreiber sei wieder im Lande?»

107 «Eben der», sagte der Schmied. «Bin gerade dabei gewesen, als er den Herrn um Urlaub bat, um seine Mutter in Goldbach zu besuchen. — Ein braver Sohn.»

Zu des Hufschmieds großer Verwunderung zeigte sich der Müller weder überrascht, noch ungehalten. Im Gegenteil, er hatte ein überlegenes Lachen in den Augen, als er antwortete: «Ein braver Sohn? Möcht's der Mutter gönnen. Aber, wisset, Meister, wenn Ihr etwa glaubt, es mache mir Sorgen, daß der Schreiber wieder im Land ist, so seid Ihr lätz dran. Es gibt zum Glück noch anderswo brave Söhne, und wenn eines Schloßmüllers von Landshut Tochter die freie Wahl hat zwischen des Walkmüllers von Koppigen Sohn und dem reichsten Bauernsohn von Büren zum Hof, so braucht sich ihr Vater wegen eines Schreiberleins Gelüsten keine Sorgen zu machen.» Dabei zeigte Vater Petri mit der Rechten nach Aufgang, wo Koppigen liegt, mit der Linken über die Emme gen Niedergang und machte die Waage, als ob er Muße hätte, zu schauen, welche Schale zunächst aufschlagen würde.

«Potztausendsapperlot!» sagte der Schmied. «Wenn's so steht, dann freilich...!»

Kostbar und fein deuchte Herrn Thüring von Ringoltingen, was Urs Fankhuser ihm an Buchschätzen aus den Niederlanden heimgebracht. Er lobte ihn gar sehr ob seines Fleißes und seiner großen Sorgfalt. Er gab ihm neue Aufgaben 108 und hieß ihn bald nach Bern fahren, allwo er im Säßhause derer von Ringoltingen an der Junkerngasse besonders rare Manuskripte aus meiner Gnädigen Herren, der Räte und Bürgeren von Bern Bibliothek kopieren mußte. Urs hatte gar nichts dagegen. Auf der Reise nach den Niederlanden war ihm das Leben hinter Stadtmauern recht schmackhaft vorgekommen, und wenn es auch in Bern stiller zuging als in Brügge, so gab es doch auch da viel zu sehen und zu hören.

Es war aber seines Bleibens in Bern nie länger denn ein paar Tage. Dann sandte Herr Thüring den Schreiber mit irgendeinem Auftrag nach Landshut zurück, und unversehens, wenn ihm dort wieder warm und behaglich werden wollte, mußte Urs abermals nach der Stadt fahren. Was Wunder, daß der junge Mann, dem der Vorteil solchen Hin- und Herschiebens seiner Schreiberei nicht einleuchten wollte, einmal, ohne auch nur zu reden, einen fragenden Blick auf seinen Herrn richtete! Da fuhr ihn Herr Thüring an: «Potz Donner und Wetter, Ursus Fankhuserus! Ist Euch noch nit zu Ohren kommen, daß Herr Carolus, der zornwütig Herzog in Burgund, allbereits ein steinine Tafelen mit der Inschrift hauen ließ: ‹Allhier hat eine Stadt gestanden›? Die will er hinsetzen lassen, wo einst des heiligen Vincentii Dom gestanden haben wird. Dem Erdboden gleich dräut er die Stadt Bern 109 zu machen. Ist es etwa da noch nit an der Zeit, dran zu denken, wo man sein teuerst Gut in Sicherheit bringe?»

«Das ist eines fürsichtigen Ratsherrn und weit in die Zukunft schauenden Poeten würdig», antwortete der Schreiber, womit er den Herrn allsogleich besänftigte. Die Kümmernis um seine Bücherei allein, so sagte sich Urs, kann es wohl nit sein, die meinen Herrn Donner und Wetter anrufen heißt; er muß wohl noch einen gewichtigern Grund zu solcher Versündigung haben. Und man brauchte diesen Grund nicht weit zu suchen. Es mußten nämlich auffallenderweise die Manuskripte immer dann nach Landshut gerettet werden, wenn das schöne Fräulein Antonia hinter den Stadtmauern vor allfällig zu erwartenden burgundischen Streifrotten in Sicherheit gebracht wurde, und sobald Herr Thüring seiner Tochter riet, vor dem dräuenden Untergang der Stadt auf das Land hinaus zu fliehen, mußte Urs eilends nach Bern fahren, um noch ein kostbares Werk daselbst zu kopieren.

Ja, Herr von Ringoltingen hatte sich seinerzeit hinter die Ohren geschrieben, daß der Schloßmüller von dem jungen Schreiber als künftigem Schwiegersohn nichts wissen wollte. Es hätte darum gar wohl geschehen können, daß zwischen Antonia und Urs die Liebe von neuem aufflackerte. An die Vernichtung der Stadt Bern glaubte der Herr von Landshut nicht; aber es 110 mußte dafür gesorgt werden, daß die zwei einander nicht leicht zu sehen bekamen. Erstaunt war Herr Thüring ob der großen Verständigkeit, mit welcher sein Sekretarius sich in diese Trennung fügte. Er ist doch ein fügsamer, braver und weiser Jüngling, sagte er sich und dachte nicht daran, daß just die so häufige Gelegenheit, durch den Mühlenhof zu wandern, Urs bei so auffallend guter Laune erhalten könnte.

In der Schloßmühle zu Landshut herrschte in diesen Tagen, da doch hinter jedem Schoppen nur noch von Fehde, Raub und Krieg die Rede war und man die hochmögenden Herren mit eitel finstern Gesichtern ihre Straße fahren sah, nicht minder gute Laune. Agathe befliß sich gegenüber den beiden jungen Männern, die um ihre Liebe warben, der größten Zurückhaltung. Ließ sich Jakob, des Walkmüllers Sohn, blicken, so stellte sich Agathe gar freundlich und sagte: «Ja, du bist mir wert und eigentlich ganz, was ich als Müllerstochter haben sollte. Wenn nur nit der Benz wäre, der Bauernsohn von Büren, an dem mein Vater den Narren gefressen hat! Solang halt der um den Weg ist, darf ich dich wäger nit hereinlassen.» — Erschien aber Benz, so sagte sie: «Alles, was recht ist, du wärest mir geng no der kommlechist z'änetum. Der Tuusig doch o, wenn einer einen Hof erben kann wie Moser Benz! Aber schau, auftun darf ich dir wäger nit. Der Vater meint halt immer noch, auf eine Mühle 111 gehöre doch eher ein Walkmüller denn ein Bauer, wenn nun einmal ein richtiger Müller nit zu finden sei.» So brachte sie es dazu, daß jeder der beiden das Aeußerste versuchte, um den andern auszustechen. Was sie der ehrsamen Jungfer Agathe in Aussicht zu stellen sich vermaßen, hätte wohl die Herden des Erzvaters Jakob in Schatten zu stellen vermocht. Des freute sich am meisten der Müller, denn er rechnete mit diesen Verheißungen, als wären all die Reichtümer wirklich da und man hätte nur auf den geschicktesten Zeitpunkt zum Zugreifen zu achten. Der wäre dann gekommen, wenn man an noch größere Versprechen nicht mehr zu glauben den Mut fand.

Die jungen Männer aber wußten, was ihre Vorspiegelungen wert waren, und wußten auch, daß nur der sich als Sieger betrachten durfte, dem es gelang, bei Agathe einzudringen. Dazu jedoch mußte der Mühlebach überschritten werden. Agathe machte mit dem Mahlknecht ein heimliches Defensivbündnis, das diesen verpflichtete, des Meisters Tochter gegen jeden Einbruch sicherzustellen. Der Knecht nun dachte: Wer weiß? Es soll auch schon vorgekommen sein, daß ein treuer Knecht seines Meisters Schwiegersohn wurde, und erfüllte seine Bündnispflichten mit List und Gewalt so gewissenhaft. daß der Walkmüllerssohn und der Bauernsohn kehrum Gelegenheit fanden, bei den Forellen im Bach ihre Liebesglut zu kühlen. Und zuletzt bedurfte es nicht einmal mehr eines Knechts, 112 die beiden Bewerber warfen sich gegenseitig in den Bach.

Nun schien dem Müller, der immer noch den Glauben an die lockenden Versprechungen aufbrachte, der Augenblick gekommen. Er setzte sich eines Abends zu seiner Tochter und riet ihr in väterlicher Fürsorge, nun doch Jakob, dem Walkmüller, ihr Jawort zu geben. Agathe antwortete mit einem entschiedenen Nein. «Ei nun», sagte der Vater, «es muß eins wissen, wen es mag. Und mir kann auch der andere recht sein. Soll ich mit dem Bauer in Büren zum Hof reden?»

«Redet, was Ihr wollt, Vater», sagte Agathe sehr bestimmt. «Ich will weder den einen noch den andern. Meinen Mann ziehe ich nicht aus dem Mühlebach.» Da schaute der Vater nun doch drein wie aus den Wolken gefallen. Er hatte sich die gute Laune seiner Tochter falsch gedeutet, ebenso falsch wie Herr Thüring von Ringoltingen die Geduld seines Schreibers, der sich ohne Mucksen zwischen Bern und Landshut hin und her sprengen ließ und jedesmal in Zucht und Ehre mit der Müllerstochter ein holdselig Stündlein auf dem Söller des Hauses erlebt hatte, allwo sie vollends zur Ueberzeugung gelangt waren, daß eins für das andere geschaffen worden sei.

Wie nun der Mahlknecht zur Einsicht kam, daß er sich mit den beiden reichen Bewerbern, die er kehrum in den Mühlebach geworfen (er war gelegentlich auch mit drin gewesen), in das Nachsehen 113 teilen müsse, ging er hin und verriet dem Meister, was seiner Tochter Wille sei. Da schwur der Alte bei allen Heiligen, eher werde die Schloßmühle in Rauch aufgehen, als daß seine Tochter eines Schreibers Eheweib werde.

Herr Thüring, der Ratsherr, aber setzte es just in diesen Tagen durch, daß der biedere Ursus Fankhuser in Bern als Schulmeister angestellt und zu einem Burger löblicher Stadt Bern angenommen ward, indem er ihm zu einem Anteil an einem kleinen Wohnhaus an der Gerbergasse verhalf, so unten an den Garten derer von Ringoltingen stieß.

Als der Schloßmüller das vernahm, spottete er seines Herrn und sagte: «Es ist gut so. Hat er Wohlgefallen an dem Windhund von Schreiber, so mag er ihn in Bern füttern, und mir ist er aus dem Weg geschafft.»

Urs aber und Agathe merkten wohl: ihr Glück wollte zu sprießen anfangen.

Urs hatte mit Begeisterung sein Lehramt angetreten, und es sah aus, als wollten die jungen Studentlein ein tiefes Zutrauen zu ihrem Magister fassen. Da blieb eines Tages die Schulstube leer. An der Kreuzgasse war das Stadtbanner aufgepflanzt. Die Rät- und Burgerglocke brummte zur Unzeit, Hörner riefen die wehrhafte Mannschaft heraus. Das Volk strömte auf den Sammelplatz, allen voran die Schulbuben, die dort nichts zu tun hatten. Aber es war niemand mehr, der 114 acht auf sie hatte. Nicht einmal die Weiber hatten Zeit dazu. Wer unter ihnen nicht einem Kriegsmann den Proviant zu packen hatte, mußte des Hauses Kostbarkeiten irgendwo in Sicherheit bringen, und wer auch damit fertig war, lief mit einer Kerze in die Kirche, das Unheil abwenden zu helfen. Was wollte da der Magister noch in der leeren Stube? Nachdem er, von Ungeduld gepeinigt, noch ein halbes Stündlein gelesen, warf Urs das Buch zu und lief, wohin alles lief, an die Kreuzgasse. Da blinkten die Helme und Hellebarden über buntem Gewimmel. Spieße einten sich zu schimmernden Wäldchen. Da und dort probierte einer das Kalbfell einer dumpfen Trommel. Pfeifer ließen ein paar Läufe auf und nieder ihre Marschweisen erklingen. Die Hauptleute und Profosen gaben Befehle. Rauhe Kehlen lachten, Kinder lärmten, Hunde schossen zwischen den Leuten herum und rauften sich unter den Fußtritten roher Gesellen. Und über alledem blähte der Wind die rote Fahne mit dem dräuenden Bären, als wollte er sagen: Paßt auf! Diesmal kostet es Blut.

Das gerade war Urs aufgefallen, als er einen kräftigen Rippenstoß erhielt. «Und der da?» rief eine rauhe Stimme. «Ist der junge Schulmeister nicht imstand, einen Spieß zu tragen, he?» Da sah sich der Magister von seinen Zunftgenossen umringt, den Stubengenossen der Schmiede. Als Schulmeister konnte er jeder Handwerkszunft 115 zugeteilt werden und war so durch Herrn Thürings Fürsprache zu den Schmieden gekommen.

«Beim heiligen Vinzenz!» rief der Stubenmeister, «Ihr seht mir gar nicht wie ein Schulmeister aus! Wo seid Ihr aufgewachsen?»

«Im Emmental, Herr Stubenmeister.»

«So, so, im Emmental? Und seid hier Schulmeister? — Grad, was wir brauchen, seid Ihr. Marsch! Dort anschließen! Zeugmeister, gebt ihm eine Halparten! — Wißt Ihr damit umzugehen, Magister? — Heut nachmittag kommt Ihr auf den Platz am untern Tore. Dort wird man Euch's lehren.»

Auf jedem Platze der Stadt, der seine drei Spießlängen maß, wurde am Nachmittag geübt und gedrillt. Und nach dem Feierabendgeläute wurden die Mannschaften zunftweise zusammengestellt zur Verlesung der Kriegsgesetze. Da wurde unter anderm verboten, in der Schlacht Leute gefangen zu nehmen. «Es wird jeder Feind niedergehauen, verstanden? Nur Priestern, Frauen und Edelknaben wird Pardon gegeben. Priester und Frauen werden geschont. Edelknaben werden eingebracht und gegen Lösegeld ausgeliefert. Lagerdirnen übernimmt der Scharfrichter in Gewahrsam.»

Urs Fankhuser hatte nicht die Absicht Beute auf die Seite zu schaffen, noch sonst irgendwie sich zu bereichern. Darum ließen ihn die Strafandrohungen kalt. Daß aber einer sozusagen als Verräter galt, der seinen Gegner im Kampfe nicht 116 totschlug, das machte ihn traurig. Wie sollte er denn einen Menschen, den er nie zuvor gesehen, umbringen? Als sie abends auf der Zunftstube beisammensaßen, war er sehr still. Da begannen sie ihn aufzuziehen. Ob ihm etwa das Herz schon entfallen sei?

«Nein», sagte er. «Bin hellauf dabei; aber daß es mir blühen könnte, einen Menschen totschlagen zu müssen, der mir nichts zu leide getan hat!...» Vielleicht war er unter den Stubengesellen nicht der einzige, dem das Sorge machte; aber keiner hätte es gewagt, etwas davon merken zu lassen. Im Gegenteil. Mit Windeseile lief es den Tischen entlang: «Dort sitzt einer, dem es Kummer macht, einen burgundischen Lumpenhund totzuschlagen.» — «Wer denn?» — «He, der Schulmeister.» — «Natürlich, so sind sie. Den armen wehrlosen Buben den Hintern versalben, das kann so einer; aber einem, der selber Wehr und Waffen hat, den Grind spalten, das ist was anderes.»

Da gesellte sich ein großer bärtiger Mann mit kupferroter Nase und schwimmenden Aeuglein, einer, der schon oft mit dabeigewesen, weshalb ihm ein Ohr und drei Finger fehlten, zu Urs und sagte, gutmütig lachend: «Was? Das macht dir Kummer, so einem großen frisch aufgeschossenen Kerl? Sternenhagelsdonnerwetter! — Das sind ganz überflüssige Sorgen. Wirst sehen, wenn du einmal drin bist in der Schleglete. Da heißt's einfach: 117 du oder ich. Da kommt einem das Flinksein im Zuhauen ganz von selbst. Zum Studieren hat man keine Zeit.»

«Das kann ich mir wohl denken», antwortete Urs. «Bin auch gar nit Sinns mich totschlagen zu lassen. Aber ich meine, wenn dann so einer auf die Knie fiele und um Erbarmen flehte?»

«Dann gibt man ihm erst recht auf den Kürbis. Um so einen ist's am wenigsten schad.»

«Wer kann das wissen?» sagte der Magister. «Es könnte einer Witib einziger Sohn sein oder...»

«Das geht mich nichts an. Donnerhagel! Ich kann doch nicht erst Examen halten mit ihm. So ein Pläärihung! Mit dem macht man nicht lang. Schau! So! — Knatsch! Und er ist seinen Jammer los. Und die Frau Witib hat ein Sorgenkind weniger. Kann ja ins Kloster, wenn sie nicht einen andern dran kriegt.»

So ging es weiter, und Urs war herzlich froh, unter einem herrlichen Sternenhimmel an die frische Luft hinauszukommen. Ja, die Nachtluft tat wohl nach dem Wirtsstubendunst. Das war aber auch das einzige Erquickliche, denn Ruhe gab es nicht. Die Stadt lag wie im Fieber. Hinter trüben Fenstern flackerte angstvolles Licht. Schatten huschten. Menschen liefen, man wußte nicht woher, wohin. Rosse wurden geschirrt, Wagen geladen. An Laubenpfeilern standen Frauen und weinten. Andere liefen in Kirchen und Kapellen, 118 wo die ganze Nacht das Murmeln nicht verstummte. Manchmal hörte man's im dunkeln Pfeilerwald aufschluchzen. An den Altären mehrten sich die zitternden Flämmlein, die reden sollten, wo die Worte auf den Lippen versagten.

Im ersten Frühschein, als man endlich auf ein Stündlein zu schlafen hoffte und der Müdigkeit inne ward, fing es in den Gassen zu trommeln an. Ueber die Untertorbrücke kam Trupp über Trupp marschiert, aus dem Emmental, aus dem Oberland, aus allen Herrschaften. Mit Hü und Hott wurden die Gespanne vor schweren Karren angetrieben. Feldschlangen und schwere Stücke rumpelten durch das obere Tor auf den Sammelplatz. Es wurde kommandiert, gebrüllt, gelacht, gejauchzt. Das Weinen verlor sich in die finstern Hausgänge, die Angst hinter Pfeiler und Läden. In den hell gewordenen Gassen führte frohe Zuversicht das Wort.

Die Glocken riefen zur Frühmesse. Und eine Stunde später, als die Sonne die Gassen in hell und dunkel schied, flammten plötzlich die Banner auf, die Trommeln schlugen Takt, die Pfeifen schrillten, und der eiserne Strom, der dem Tore zudrängte, wurde in der engen Öffnung zu einer langen Marschkolonne geformt, die — der Leib eines wuchtigen Willens — das stille grüne Land durchlief.

In dieser Masse marschierte, die Mordaxt auf der Schulter, Urs Fankhuser mit. Er dachte an 119 seine Mutter, dachte an Agathe Petri; aber die Bedenken vom gestrigen Abend kamen nicht mehr auf. Man war jetzt ein Glied an einem Riesenleib und wußte nichts anderes mehr als den Befehl, der diesen Leib regierte. Man war nicht mehr für sich in der Welt, sondern für eine große Sache, welche die Sache und das Anliegen aller war. Die mußte erhalten werden für das Volk und um jeden Preis. Ein Schuft, wer nicht das Seine dafür tat, nicht Leib und Leben dafür einsetzte! Und wer dieser Sache zuwider handelte, mußte niedergeworfen werden, sei er, wer er wolle. Auf einmal sah Urs in seiner Halparte etwas ganz anderes. Es war nicht mehr eine Mordaxt, sondern das heilige Werkzeug, das er nun zu Nutz und Frommen seines Volkes, seiner Heimat, mit seinen Händen zu schwingen hatte. Und wie man seine eigene Seele in seinen Karst, seine Sense, seinen Hammer hineinlegen kann und soll, um Gottes Erde zu bebauen, so ließ man jetzt auch seine Seele in die Waffe strömen, um mit ihr zu schützen, was Gott diesem Volke geschenkt hatte. Frieden, Heimat und Werkplatz mußte dem Volk erhalten werden gegen den Zerstörer, den Feind eines von Gott gewollten Friedens und nützlichen Lebens.

Trommeln, Pfeifen und Gesang brachten in diesen seltsamen Körper einen gleichmäßigen Pulsschlag, brachten mehr und mehr alles zum Schweigen, was nach besondern Wegen gelüstete.

120 Sie kamen in die Gegend von Ulmiz im Freiburgischen zu liegen, füllten die Bauernhäuser und bauten Hütten und Zelte. In stillen Nachtstunden und bei langem Warten schlichen wieder trübe Gedanken in des Magisters Herz; aber sie fanden keinen Raum mehr. Denn jenseits des Waldes lauerte der Feind. Man hörte den Donner der Wallbüchsen vor Murten. Und hier wurde geübt, eingeteilt und instruiert. Man wußte sich mehr und mehr eins in der Kameradschaft und brannte darauf, in Ablösung auf Wachtposten zu kommen. Täglich rückten neue Haufen an. Man lernte Banner kennen, die man noch nie gesehen, und wunderte sich baß ob der Menge von Völkern, die zur Eidgenossenschaft gehörten oder zu ihr hielten. Hohe Herren tauchten im Lager auf, wie der junge Herzog von Lothringen und der Graf von Thierstein, herrliche Rittergestalten wie Hans von Hallwyl, Kaspar von Hertenstein und der mächtige Hans Waldmann, der jetzt eben voller Ungeduld nach Bern hinein ritt, um seine säumigen Zürcher heranzuholen.

Das Wetter trübte sich. Gegen Abend verdichteten sich die Regenschauer zu stetig rauschendem Landregen. Glücklich, wer in einem Bauernhaus Obdach gefunden! Der große Haufen lag bald pudelnaß im zerstampften Gras oder im Trauf der Bäume. In stockfinsterer Nacht hörte man den Trapp von anrückendem Volke, das Knarren und Rattern von Rädern, Pferdegewieher 121 und Kommandorufe. Das waren wohl die Zürcher.

Endlich schimmerte bleiches Licht. Der Zehntausendrittertag brach an. Den hatte man bestimmt zum Angriff. Männiglich war froh, sich erheben zu dürfen. Mancher fragte sich: «Wird das mein letzter Tag sein?» Und alle waren entschlossen, sich ihrer Haut bis aufs äußerste zu wehren. Keinem war der Tod willkommen.

Die Führer stiegen zu Pferde. Die Heerhaufen schlossen sich und setzten sich in Bewegung. Es war Stillschweigen geboten. Unheimlich schweigend durchschritten die Massen den Wald. Jenseits schlossen sich die Haufen zu einer gewaltigen Front. Links und rechts, so weit man sah, brach es in dichten Reihen aus dem Wald auf das Wiesengehänge hinaus. Nun sah man aber auch den Feind. In der Tiefe, hart am See, standen die schon arg zerschossenen Mauern von Murten, an denen es immerfort aufblitzte und stob. Ein träger Rauch strich um die Stadt und über die Hunderte von Zelten der Belagerer. Man sah in der Ferne Reitergeschwader, und an den Abhängen herwärts bewegten sich Heerhaufen langsam aufwärts, während ein paar hundert Schritte niederwärts von der eidgenössischen Front hinter einem starken Grünhag und Verhau eifrig gearbeitet wurde. Aus dem ächzenden Lärm zu schließen, wurden dort Geschütze in Stellung gebracht und geladen. All dieses Treiben ließ schon 122 erraten, daß ein schwerer Kampf bevorstand. Dazu fiel immer noch ein gleichmäßiger Regen. Die Luft war grau, der Boden triefend naß.

Aber jetzt zeigten sich Risse im Gewölk, und auf einmal wurde all das, was man bis jetzt in einem Schleier gesehen, klar. Allüberall begann es zu glitzern und zu leuchten. Gras und Laub flimmerte, aber auch Tausende von Mordwaffen aller Art. Rüstungen blitzten, und zahllose Fahnen leuchteten in allen Farben. Die Dampfwolken an der Stadt ballten sich, die Sonne brach durch. — Und zugleich erscholl der Ruf: «Auf die Knie, zum Gebet!» Die Reiter nahmen die Helme ab und beugten ihre stolzen Nacken. Die ganze, vieltausendköpfige Front der Eidgenossen fiel in die Knie, hob die Hände, und während die Priester die Kruzifixe hochhielten, lief ein brausendes Murmeln durch die von der Sonne glanzvoll beleuchtete Heeresmasse. Es war ein schauerlich schöner, tief erschütternder Anblick. Immer heller glänzte das Land, auf dem jetzt unter lachend blauem Himmel der Tod sein schrecklich Banner entrollte.

Mit weithin schallender Stimme rief Hans von Hallwyl den Haufen der Vorhut an. Nur die Nächsten verstanden seine Worte. Von Sonne und Sieg war die Rede. Aber man verstand aus dem seltsamen Klange der Stimme, was er wollte, und alsobald begann der eherne Wald zu rauschen und einer ungeheuren Woge gleich feldwärts zu 123 brausen. Der Grünhag wurde zum blitzenden Feuerlauf. Dampfwolken stockten auf. Kugeln heulten über die Köpfe der Schweizer und klatschten hinter ihnen im Waldsaum. Grausig klangen die Stöße des Urihorns, und auf einmal füllte das zehntausendstimmige Gebrüll der Eidgenossen die Luft. Die Schlacht hub an. Gräßlich war das Krachen, Brüllen, Aufheulen und Schmettern, als die blutschäumende Woge über den Grünhag hinwegrollte und, die fliehenden Burgunder vor sich her, bergab auf die nachrückenden Massen prallte. Schon watete man in Blut, denn die Hellebarden taten fürchterliche Arbeit. In rotschimmernden Bogen schoß allerwärts das Blut aus abgehauenen Gliedern, gespaltenen Köpfen, aufgerissenen Leibern.

Aber nun rauschte es daher auf tausend schnaubenden Rossen. Der Boden zitterte unter dem Rasen der Hufe, die Luft vom Klirren des Eisens. Ohne Befehl stemmten die Eidgenossen ihre Speere in den Boden, den Pferden die Spitze bietend. Gräßlich bohrten sich die Eisen in die Brust der aufschreienden Tiere, und die Hellebarden hackten in blinder Wut auf Reiter und Roß. Eine zweite, eine dritte Phalanx brach in dem zuckenden, um sich hauenden Knäuel zusammen. Man hackte auf alles, was sich noch rührte, und jetzt erst durfte man mit dem bluttriefenden Aermel den Schweiß aus den Augen wischen.

124 Auch Urs stand aufschnaufend, einem blutbesudelten Metzger gleich, zwischen seinen Kameraden. Es wußte zwar im ersten Augenblick der Schlachtpause keiner mehr, wen er da neben sich hatte. Es war alles durcheinander geraten. Genug, man war Eidgenosse unter Eidgenossen, alle so hin und erschüttert, daß vielen die Tränen über die blutbeschmierten Gesichter liefen. Einige hockten sich ins Gras nieder und schnauften wie überhetzte Hunde.

Aber die Ruhe war von kurzer Dauer. Die Hauptleute jagten alles auf und ordneten die Glieder. Die Stubengesellen, so viel ihrer mit heiler Haut durchgekommen, fanden sich wieder und schauten sich an: «Gelt? — He? — Das war eine andere Art Hosenlupf?»

Urs hörte nicht darauf. Er hielt mit beiden Händen die Hellebarde vor sich aufgepflanzt, stützte das Kinn auf den rechten Arm und murmelte vor sich hin: «Barmherziger Gott! Barmherziger Gott!» während links auf der Höhe hinterm Wald und rechts gegen die Stadt hin die Schlacht weiter wütete und in gräßlichen Donnerschwällen der Racheruf «Grandson! Grandson!» aus den Haufen der Eidgenossen die Luft erschütterte. — «Ist's noch nicht genug?» fragte sich Urs. Aber sein Denken schwand in der unbändigen Siegeslust, die nun den ganzen Leib des eidgenössischen Heeres in wilden Rausch versetzte. Plötzlich dröhnte wie eine Posaune des Gerichts 125 wieder das Urihorn in langen grausigen Stößen, und der Heerhaufen, in dessen Mitte die Berner Zünfte standen, begann sich wiederum vorwärts zu wälzen. Unaufhaltsam rollte die furchtbare Woge über die in Dreck verwandelten Hänge gegen den Kamm, auf welchem des Herzogs von Burgund verwegene Standarte über einer Zeltstadt und Wagenburg flatterte. Hinter diesem Hügel brüllte der Kampf um Gurwolf, donnerte die Runse der Eidgenossen, welche den Wald zur Linken umgangen hatten, in die Ebene hinab. Zwischen dieser anbrausenden Woge, dem See und der Stadt, aus deren Tor nun Adrian von Bubenberg mit der Besatzung hervorbrach, stand, ein ungeheurer schnaubender Knäuel, die italienische Reiterei des Herzogs in eitlem Bemühen, Luft zur Attacke zu gewinnen. Die eiserne Masse begann zu quirlen und floß unter gewaltigem Brausen und Sprühen in den See, dicht hinter sich die wutschnaubende Masse der Eidgenossen.

Von alledem sah Urs Fankhuser nichts. Zwischen den Ellenbogen seiner Nebenmänner marschierte er vorwärts, das Mordeisen zum Ausholen bereit. Die Wölbung des Berghanges lockerte die Haufen. Es entstanden Lücken. Jeder Haufe marschierte für sich, alle auf ein Ziel gerichtet, und jeder machte vor sich nieder, was noch widerstand. Ursens Haufe bahnte sich den Weg mitten durch die verworrene Zeltstadt, in deren Pflöcken und Seilen mancher zu Fall kam. Man 126 hieb in die Zeltwände, warf Tische, Fässer, Kisten, Tiere, alles über den Haufen und achtete keines Dings, das in den Dreck getreten wurde. Es kamen — niemand sah, woher — Pfeile und Bolzen geflogen, und dieses Hornissengeschwirr steigerte die blutgierige Wut der Rächer von Grandson. Gerade der Anblick des gottlosen Reichtums, den die Zelte bargen, rief ihnen des Herzogs Uebermut in Erinnerung.

Da erscholl dicht vor Urs ein gellendes Gekreisch. Aus einem Zelte warfen sich Weiber, um Erbarmen flehend, vor den Schweizern auf die Knie.

Einer der Schweizer stieß unter wüsten Schimpfworten mit dem Hellebardenhalm nach den Schreienden, während ein anderer mit einem abgerissenen Zeltstrick auf sie einhieb und brüllte: «Ware für den Scharfrichter!» In diesem Augenblick kamen von hinten ein paar fliehende wallonische Reiter herangesprengt, gefolgt von herrenlosen Pferden. In wütendem Laufe ging's über Schweizer und Weiber hinweg, die fluchend und kreischend in einem Knäuel am Boden lagen. Als Urs wieder auf die Füße kam, sah er ein Pferd, das sich in den Zeltstricken verfangen und kopfüber zu Fall gekommen war, wütend um sich schlagen, und einige Schritte weiter lag der abgeworfene Reiter in einer Zeltwand. Er hatte keine andere Waffe mehr als einen kurzen Dolch, mit dem er nichts anzufangen wußte. Indes seine Kameraden das zappelnde Pferd totschlugen, 127 sprang Urs mit erhobener Hellebarde auf den Reiter zu. Da richtete sich dieser auf, warf die schlanken Arme in die Luft, und Urs blickte in ein blutjunges Gesicht. — Ein Edelknabe! war Ursens erster Gedanke. — Gott sei Dank! Den brauchte man nicht zu erschlagen. Urs ließ seine Waffe sinken. Die beiden blickten einander stumm ins Gesicht. Die eben noch in Todesnot vorgequollenen Augen des Knaben nahmen den Ausdruck des Staunens an. In beider Gesichter lag etwas wie Erlösung. Wieder und wieder betrachteten sie sich. Wie sonderbar! dachte Urs, mir ist, als ob ich schon einmal in dies Antlitz geschaut hätte. Sind wir uns in einem frühern Leben begegnet? Das alles geschah in der Zeit weniger Atemzüge. Jetzt galt es, den Gefangenen zu schützen. Urs schrie ihn an: «Gefangen! Du bist mein. Dolch her!» und wandte sich, die Hellebarde zur Schranke machend, gegen die nachstürmenden Schweizer.

«He! — Was hast du da Feines, Magister?»

«Einen Edelknaben.»

«Das gibt Lösegeld, haha!»

Ein Kommandoruf unterbrach sie, und die nachdrängenden Scharen rissen Ursens Kameraden mit fort in das weiter tosende Kampfgetümmel. Urs blieb bei seinem Gefangenen und führte den Hinkenden, der erst jetzt die Schmerzen seines Falles zu fühlen schien, langsam hinter den davonstürmenden Haufen her.

128 Es währte nicht lang, so kam eine Streifrotte von der Mannschaft, welche den Befehl hatte, Plünderung und gesetzwidriges Treiben hinter der Front zu verhüten. Sie war mit weitgehender Vollmacht ausgestattet und angewiesen, mit Marodeuren kurzen Prozeß zu machen.

«Heda!» rief der Rottmeister Urs an, «was soll's mit dem Lausbuben da?»

«Ein Edelknabe, der wehrlos zu Fall kam.»

«So, so? Wer ist das Junkerchen? Wer zahlt das Lösegeld? Und du, wer bist denn du? — Siehst mir aus, als wolltest du dich aus dem Staube machen.»

«Ich bin Urs Fankhuser, meines Zeichens Magister an meiner Herren Rät und Bürgeren Schul», antwortete der zur Rede Gestellte. «Und der Gefangene», so fuhr er mit Geistesgegenwart fort, «gehört meinem Herrn Thüring von Ringoltingen, dem Herrn zu Landshut.»

«Das wird noch zu beweisen sein», brummte der Rottmeister, indem er mit bitterbösem, mißtrauischem Blicke bald die geschmeidige Gestalt des Gefangenen, bald den Magister maß. «Und wo soll der Herr von Ringoltingen sein? He?»

«Das weiß Gott», sagte Urs. «Ich wäre euch dankbar, wenn Ihr's mir sagen könntet.»

In diesem Augenblick schleppten zwei Mann von der Rotte unter Faustschlägen und Seilhieben ein Rudel jammernder Weiber herbei. 129 Der Rottmeister befahl: «Dort hinüber! Werft das herzogliche Hurenpack auf den Wagen. Der rote Herbergsvater kann sich dann ihrer annehmen.» Dadurch wurde des Rottmeisters Aufmerksamkeit abgelenkt. Nachdem er sich davon überzeugt, daß sein Befehl richtig ausgeführt werde, wandte er sich nochmals an Urs: «Und du! Mach, daß du mit deinem Rotzbuben von Junker zum Troß kommst! Dort wird man dir sagen, wohin er gehört. Und wenn du mich angelogen hast, so kannst dich freuen. Es gibt hier Aeste genug zum Aufhängen von Halunken.»

Urs faßte seinen Gefangenen fest unter und führte ihn bergan in der Richtung, wo der Troß sein mochte. Der Rottmeister blickte ihm nach, schüttelte den Kopf und brummte: «Will den See ausgesoffen haben, wenn das ein Edelknabe ist. Schaut doch nur, wie er geht! — Wird sich schon verrechnen mit dem Lösegeld, der Herr Magister. — Weiter jetzt! Durchsucht die Zelte!»

Der Magister hörte weit hinter sich das Brüllen der Schlacht, das aus der Tiefe vor dem Westtor der Stadt heraufscholl.

Auf dem Wege zum Troß kamen sie in die leichte Bodensenkung, wo Karls Reiterei auf die Vorhut der Eidgenossen gestoßen war. Der Gefangene blickte mit Entsetzen auf das grausige Durcheinander von Menschen und Pferden, die hier zum Teil noch zuckend und stöhnend in ihrem Blute lagen. Plötzlich riß sich der Knabe los und 130 stürzte auf einen gefallenen Reiter zu, der da auf dem Rücken lag und mit weit aufgerissenen porzellankalten Augen in den Himmel starrte. «Da! — Da ist er!» rief der Gefangene und warf sich wehklagend neben dem Toten auf die Knie.

«Wer ist das?» fragte Urs.

«Mein Oheim, mein Beschützer. — O Mutter Gottes! Nun habe ich niemand mehr in dieser Welt. — O, du Guter, Lieber! — Und niemand hat dir die Augen zugetan.»

Der Knabe versuchte vergeblich, dem Toten die schon starren Augenlider herunterzuziehen. «Laß das!» sagte Urs. «Schau, der hat im Sterben noch nach dem blauen Himmel geblickt. Er wird nicht umsonst nach dem Erbarmen Gottes ausgeschaut haben. Das ist Glaube, und der bleibt nicht unerhört.»

«Meinst du, Mann?»

«Das ist gewiß.»

«So laß mich für meinen Oheim ein Unservater beten.»

Da kniete auch Urs nieder, und die beiden beteten mit fromm gefalteten Händen drei Unservater über dem Toten, nachdem sie ihn wie auf einem Sarkophag zurechtgelegt und ihm die Hände auf der Brust zusammengeschoben hatten.

«Wird es nicht möglich sein, durch deinen Herrn diesem Ritter ein christlich Grab zu verschaffen?» fragte der Knabe.

«Wo denkst du hin? Er ist einer unter 131 Tausenden, denen es gebührte. Er wird mit seinen Kameraden in einer Grube ruhen, unter lauter Helden. Was will einer mehr!»

Der Gefangene nestelte an des Toten Hals herum und suchte unter der Halsberge eine goldene Kette hervorzuklauben.

«Was willst du?» fragte Urs.

«Die sollst du haben zum Lohne für deine Güte.»

«Laß das, Knabe! Das könnte uns beide an den nächsten Galgen bringen, mich als Frevler am Kriegsgesetz und dich erst recht als Burgunder. — Steh auf!»

«Ich bin doch kein Burgunder. — Ich bin — ich komme aus Flandern.»

«Das hör ich an deiner Sprache.»

«Warst du auch schon in Flandern?»

«Freilich war ich dort.»

«Wann?»

«Komm jetzt, wenn dir dein Leben lieb ist!»

Im Aufstehen drohte der Knabe zusammenzubrechen. «Gott! — Ich kann ja nicht gehen. Mein Fuß ist verdreht.» Da lud sich Urs den Knaben kurzerhand auf den Rücken und marschierte langsam weiter. Der Mann ist in Flandern gewesen, überlegte der Gefangene. «Wann warst du dort?» fragte er, und als er darüber Bescheid wußte, fuhr er fort: «Warst du in Brügge?» — «Ja», sagte Urs, unter seiner Last schnaufend, «zugleich mit dem Herzog Karl.» —

132 Beim niedergetretenen blutgetränkten Grünhag, wo die Erschlagenen zu Hunderten lagen, bog Urs nach rechts aus und setzte seinen Gefangenen ins Gras. Er reckte sich hoch, blickte in die Tiefe, wo man durch einen Dunstschleier ein Glitzern und Wirrwarr sah, das sich in den See hinauszog, als ob der Kampf im Wasser ausgefochten würde. Mächtig zog es ihn, der eben noch Gott gedankt, daß er dem blutigen Strudel entronnen, seinen Kameraden nachzueilen, um bis ans Ende seine Pflicht zu erfüllen, so schrecklich sie war. «Ich bringe dich zum Troß», sagte er zu dem Knaben, «und gehe dann wieder zu meinen Gesellen.» Da bat ihn der stöhnende Knabe flehentlich, bei ihm zu bleiben. «Sag mir doch, wer ist der rote Herbergvater, dem man die Frauen übergibt?»

«Der Henker ist's», antwortete Urs. «Was kümmern dich die Weiber? — Man übergibt sie dem Scharfrichter nit zum Hinrichten. Sie kommen ins Frauenhaus, wo sie jedermanns Lust und Vergnügen sein werden.»

«Du, gelt, du bleibst bei mir? — Ich möchte nicht wie ein räudiger Hund totgeschlagen werden.»

«Das wirst du schon nit. Du bist zu wertvoll.»

Als Urs sich anschickte. Den Knaben wieder aufzunehmen und dazu sagte: «Es kann nit mehr weit sein zum Troß», umklammerte ihn der Gefangene und flehte: «Um der Mutter Gottes und aller Heiligen willen bleib bei mir! Liefere mich 133 nicht den Henkern und Schindern aus! Ich habe doch niemand Uebles getan.»

Urs betrachtete den Jammernden, während aus der Ferne das Schlachtgetöse nach ihm rief. — Dies Gesicht! — Dies Gesicht! — Der Gefangene merkte, daß sein Retter vor einem Rätsel stand, und sagte, wie einer, der sich zu großem Entschluß aufrafft: «Du, ich kenne dich. Du bist einer von denen, welche ein jeglich Ding an seinen Platz schaffen. Du hast mir beim Einzug des Herzogs in Brügge Bahn gebrochen durch die Menge. Du wirst mich zum zweitenmal retten. Ich bin kein Edelknabe, sondern des Ratsherrn und Kaufmanns van den Bosch Tochter.»

«So wahr mir Gott helfe, mein Fräulein, Ihr sagt die Wahrheit», rief Urs, dem die Enthüllung des Geheimnisses den Atem raubte. — Aber was nun? Er blickte sich um, als ob er von irgendwoher Hilfe zu erwarten hätte. Und abermals flüchteten sich seine Gedanken zu Herrn Thüring von Ringoltingen. Wenn es eine Rettung gibt, sagte er sich, so ist sie bei meinem Herrn zu finden, denn er ist ein Dichter, und ein Dichter glaubt alles, wie die Liebe alles glaubt. Wer würde sonst dies wunderliche Geschehen für Wahrheit nehmen?

«Nun höret, edle Jungfrau», sagte er, «Ihr seid und bleibt, als was Euch die männliche Rüstung erscheinen läßt: ein Edelknabe, und zwar des Herrn Thüring von Ringoltingen, Herrn zu 134 Landshut, Neffe, verstanden! Daß er keinen Sohn hat, weiß man hierzulande. Und Ihr wäret nit der einzige Schweizer, der sich von seinen Verwandten weg in die weite Welt und ins Feindesheer verloren hätte. Versteht Ihr? — Und nun laßt mich handeln!»

Aloysia versprach zu gehorchen und ließ sich dann von Urs auf Schleichwegen durch den Galmwald in ein entlegenes Bauernhaus tragen. Dort beschwor er die Bäuerin, den Edelknaben um Gottes Barmherzigkeit willen verborgen zu halten, bis er mit dem Herrn zu Landshut ihn abholen komme. Dann lief Urs auf kürzestem Wege wieder zu seinem Banner. Er traf daselbst ein, als man eben die Haufen neu ordnete und zum Te Deum sammelte. Man hatte den Magister erschlagen geglaubt und hieß ihn kameradschaftlich willkommen. Seine blutbesudelten Kleider dienten ihm hinlänglich als Ausweis über die Erfüllung der Soldatenpflicht.

Der Donner des Geschützes war verstummt, das Getöse hatte aufgehört. Auch am See regte sich nichts mehr. Dort war eine Welt versunken. In grauenhafter Stille kräuselten sich die kleinen Wellen. Und am Lande, wohin man schaute, lagen die Leichen in Haufen. Mit Augen, denen das Gräßliche zu schauen widerstrebte, kam die Bevölkerung aus den Toren und Breschen der Stadt auf das grauenhaft zugerichtete Feld heraus, wo jetzt die siegreichen Heerscharen in 135 unübersehbarer Menge zusammenströmten. Die Schlacht war gewonnen, Land und Volk gerettet. Wieder wurden in feierlicher Stille die Kruzifixe hochgehoben. Das ganze Heer sank in die Knie, und aus Tausenden und aber Tausenden rauher Kehlen schwoll das Loblied, quollen die Dankgebete. Es war ein Anblick von unfaßbarer Macht und Größe, dieses betende Heer, umgeben vom Schweigen der unzählbaren Toten.

Urs Fankhuser, der Schulmeister, sang mit kräftiger Stimme mit; aber seine Augen suchten — suchten. Es kamen immer noch Reiter herzu, einzelne und ganze Scharen. Endlich glaubte er unter denen, die von Gurwolf herabkamen, die Gestalt seines Herrn zu erkennen. Er drängte sich nach hinten aus dem Haufen und lief hinter der Masse, wo sie lockerer stand, um das Ganze herum, bis er dahin gelangte, wo er Herrn Thüring erblickt zu haben glaubte. Ihn zu finden, war nun noch schwerer, da inzwischen die meisten Reiter abgestiegen waren. Urs kletterte auf die Mauer eines abgebrannten Hauses und ruhte nicht, bis er das graue Haupt des kurz vor der Schlacht zum Ritter geschlagenen Dichters entdeckt hatte, und nun bahnte er sich den Weg zu ihm mit schonungslosen Ellenbogen. Herr Thüring, der seinen Schreiber bei den Schulbuben in Bern wähnte, wußte sich vor Staunen nicht zu fassen, als er ihn in solcher Verfassung auf dem Schlachtfeld wiederfand. «Ursus, mein Ursus! 136 Auch Ihr hier?» Und nun erzählte der Magister in atemloser Hast, was ihm begegnet sei, und daß er auf Herrn Thürings als eines Poeten Verständnis gerechnet habe. Das gefiel dem Ritter gar wohl, und da er solchergestalt Gelegenheit fand, Ritterpflicht an einer Jungfrau zu üben, erklärte er sich bereit, alsbald nach Empfang der Befehle des Kriegsrats, der jetzt zusammentrat, Urs zu jenem Hause zu begleiten, wo Aloysia untergebracht war. Er befahl ihm, sich in seinem Auftrag nach einem gesattelten Beutepferd umzusehen. Bei einbrechender Dämmerung brachen sie auf, der Ritter, sein Knappe mit dem Beutepferd und Urs.

«Ihr habt einen wunderlichen Jüngling zum Bruderssohn», sagte die Bäuerin unter anderm zu Herrn Thüring. «Er behält Harnisch und Ringelpanzer, glaub ich, selbst zum Schlafen an und kommt doch fast um vor Hitze und Durst. Wir wollten ihm die Schnallen lösen; aber er ließ sich nit anrühren.»

«Ein richtiger Reitersmann!» sagte Herr von Ringoltingen, das Lachen verbeißend. «Aber nun, liebe Frau, gebt uns Obdach für diese Nacht, wir sind alle müde. Solche Schlacht wird nur einmal in tausend Jahren geschlagen.» Als sie zu dem Gefangenen in das aufgeriegelte Ofenhaus traten, wandte sich Herr Thüring mit schalkhaftem Gesicht halb zu Urs, halb zu der flandrischen Jungfrau und sagte: «Ihr erlaubet, 137 daß der Dichter seinen Lohn nimmt?» zog den «Neffen» an seine Brust und küßte ihn herzhaft auf Mund und Wangen. «Gott sei gepriesen, mein teurer Aloysius, daß er dich wieder in dein Vaterhaus zurückgeführt hat! Morgen führen wir dich nach Landshut.»

Also geschah es dann auch. Todmüde waren die Krieger auf der Stelle liegen geblieben, wo eben der Schlaf sie übermannt hatte; doch ward keinem Erquickung zuteil, sie hatten zu Schreckliches gesehen. Es tagte kaum, als sie alle schon wieder im Sattel saßen, um sich rechtzeitig beim Hauptquartier einzufinden. Da nach damaligem Brauche der Gewalthaufe noch drei Tage auf dem Schlachtfeld blieb, um die Toten zu bestatten, die Beute zu verladen und sonst Ordnung zu schaffen, galt es, die Erlaubnis zum vorzeitigen Ritt nach Landshut zu erlangen. Herr Peter v. Wabern, so des Jahres das Schultheißenamt der Stadt Bern versah, schüttelte den Kopf, als Herr Thüring ihm den wahren Sachverhalt ins Ohr flüsterte. Er ging aber doch darauf ein.

«Es muß schon etwas überzwerch gehen», sagte er mit einem neugierigen Blick auf Aloysia, die mit auf den Rücken gebundenen Händen auf ihrem Normänner saß, «wenn ein Dichter und ein Schulmeister zusammenspannen. Aber wisset, Ritter, der Edelknabe muß Lösegeld bezahlen; anders darf ich ihn nit aus den Händen geben. Habt Ihr Geld, Junker?»

138 «Eine Handvoll Brabanter Gulden», antwortete die Gefangene, tief errötend.

Da lachte der Schultheiß. «Seid Ihr mehr nit wert? — Es muß nach Recht und Regel gehen. Ich denke, hundert rheinische Taler wären nit zuviel für solch seltenen Vogel.»

Nun war guter Rat teuer. Man fragte Aloysia, ob solch große Summe von ihren Verwandten aufzubringen wäre.

«Ei, freilich», sagte sie, «ich weiß nur nicht, wie ich das meinem Vater nach Brügge berichten soll.»

«Das laßt meine Sorge sein», beruhigte sie Herr von Ringoltingen. «Der Mann, dem Ihr Eure Rettung verdankt, kennt den Weg in die Niederlande.»

«Alles recht», warf Herr Peter v. Wabern dazwischen. «aber mir ist das Ei von heute lieber als das Küchlein von morgen. Wären burgundische Worte für bar Geld zu rechnen, so wäre die ganze Schlacht ungeschlagen geblieben.»

«Herr Schultheiß», sagte Herr Thüring, «ich setze meinen Kopf zum Pfände.»

«Potz Wetter!» lachte der Schultheiß los. «Alle Achtung! Das Pfand wäre von unermeßlichem Wert, aber wie sollten wir's nützen? Das Pfand macht Lieder und Verse, aber die sind ein schlecht Futter und tragen keinen Zins.»

«Nun denn», erwiderte der Herr zu Landshut. «Zu Schaden kommen soll die Republik durch 139 einen Dichter nicht. Damit Ihr von solchen eine bessere Meinung bekommt, setze ich die Schloßmühle von Landshut mit aller Frucht und allem Mehl, so darinnen liegt, zum Pfande.»

«Da habt Ihr wieder ein Stück Poetenleichtsinn», antwortete Herr Peter v. Wabern einschlagend, «es sei! Ich nehme Euch beim Wort, Ritter.»

«Geschrieben sollt Ihr's kriegen», versicherte Herr Thüring, «ich dank Euch, Herr Schultheiß.» Damit hob er den Fuß in den Bügel, während Herr Peter v. Wabern ihm zurief: «Aber nun macht, daß Ihr fortkommt! Hab wahrlich jetzt anderes zu schaffen als um geharnischte Jungfrauen zu markten.»

So zogen sie denn Bern zu. Voran führte Urs das erbeutete Pferd mit der erbeuteten Flamin, und ihm folgten der Ritter und sein Knappe. Wie sie nun aber an die Sense kamen, sagte Herr Thüring, guter Laune voll, er könne das nicht mit ansehen, daß ein Edelfräulein mit rücklings gebundenen Händen seines Weges fahre. «Löst ihr die Stricke, Urs!» Also ritt denn Jungfrau Aloysia, wie sie es gewohnt war, und erzählte auf der Fahrt nach Bern ihrem Führer, der tüchtig marschieren mußte, um mit dem feurigen Normänner Schritt zu halten, wie sie zu Wehr und Waffen und in diesen Krieg gekommen.

«Da mein Vater nach Engelland fahren 140 mußte», so berichtete sie, «brachte er mich in den großen Beginenhof unter die Obhut der Muhme Gudula. Ich war wohl aufgehoben; aber Junker Balduin, der um meine Liebe warb, ließ nicht von mir. Er suchte auf jede Art und Weise, mich aus der Hut der Muhme wegzulocken.»

«Liebtet Ihr ihn denn nit?» fragte Urs.

«Ob ich ihn liebte? Das weiß ich selber nicht. Nur das ist gewiß, daß ich, einmal im Bereich seines ritterlichen Werbens, ihm nicht lang widerstanden hätte. Aber mein guter Meister Hans Memling hatte mich so sehr vor ihm gewarnt, daß ich diesem Werben auszuweichen entschlossen war. Zuletzt blieb uns, will sagen meinem Beschützer, dem Oheim Medardus, dem wir gestern den letzten Dienst erwiesen haben, und mir, nichts anderes übrig als die Flucht aus dem Beginenhof. Um den Junker und seine Aufpasser zu täuschen, legte ich diese Rüstung an, in der zuletzt Meister Memling mich als heiligen Wilhelm gemalt hat. Die List gelang. Ich kam unerkannt aus Brügge fort. — Aber schon war alle Welt in Waffen, und wollte ich nicht mich verraten und als Ausreißer in meines Vaters Haus geliefert werden, so mußte ich den Possen weiter spielen und als Junker in meines Oheims Obhut bleiben. Des Herzogs Werber ließen sich keinen brauchbaren Mann entgehen, und so kamen wir vor diese Stadt, an deren Mauern der Herzog sich den Kopf einrennen sollte. — O Gott! Wie 141 ist das Leben mit mir umgegangen! Wenn Ihr erst wüßtet, was alles ich auf dem Marsch aus den Niederlanden bis in diese Berge durchmachen mußte!»

«Was ist denn aus diesem Junker Balduin geworden?»

«Das weiß Gott allein. Er ritt immer in des Herzogs Gefolge. Noch vorgestern sah ich ihn in der Nähe des goldenen Hauses auf dem Hügel vor der Stadt Murten.»

Eine Weile blieb es still zwischen ihnen. Auf dem steilen Wege vermochte Urs dem rüstig ausgreifenden Schlachtroß nicht mehr zu folgen. Es wäre Aloysia ein leichtes gewesen, zu entfliehen; denn das Reiten hatte sie gelernt. Statt dessen hielt sie von Zeit zu Zeit ihr Pferd an und wartete auf den keuchenden Führer.

«Ihr müßt ihn übrigens in Brügge gesehen haben, den Junker Balduin», sagte sie bei einem solchen Halt, «denn damals habt gerade Ihr mir zur ersten Flucht vor ihm verholfen.»

Und bei einem weitern Halt — es mochte auf der Höhe von Allenlüften sein — fuhr sie fort: «Aber wisset, Herr Magister, die Furcht vor Junker Balduins Unverläßlichkeit war es nicht allein, was mich zu dieser tollen Maskerade trieb, zu diesem Abenteuer, das täglich mein Leben aufs Spiel setzte. Meister Memling ließ es auch nicht bei der Warnung bewenden, er sagte — ja, dessen mag ich mich gar wohl entsinnen — es gebe noch 142 Menschen, denen das Gewissen befiehlt, ein jeglich Ding dahin zu stellen, wo Gott es haben will, und das seien die wahren Glückbringer.»

Bei diesen Worten blickte die Reiterin, so gut es der Eisenhut zuließ, Ursen in die Augen und ließ dann das unruhige Pferd weitergehen. Sie redeten von da bis an die Mauern Berns nicht mehr manch Wort; aber die Blicke, die sie gelegentlich tauschten, verrieten, daß die seltsame Fügung des Schicksals beiden viel zu denken gab.

In den Gassen der alten Stadt Bern, die noch gestern durch die Angst ihrer Bürger verdüstert waren, hatte sich auf die Kunde vom Siege hin eine Menge neugierigen Volkes gesammelt, fast lauter Greise, Weiber und Kinder. Die drängten sich nun dicht heran, als die vier hereinkamen. Und die Weiber zeigten sich rachsüchtig, denn man wähnte, der junge Reiter, der da wehrlos geführt wurde, sei Herzog Karli, welcher der Stadt Untergang gedroht hatte. Herr Thüring und sein Knappe mußten Aloysia in die Mitte nehmen, und Urs blieb die Aufgabe, mit seiner blutigen Hellebarde den Nachdrängenden zu wehren, daß sie sich nicht von hinten an den jungen Reiter heranmachten. Herr Thüring kehrte in seinem Hause an der Vordern Gasse ein. Es sammelte sich ein Haufen Volks davor und wollte wissen, was denn mit dem verwünschten Bluthund geschehe, warum er nicht alsogleich getürmt werde, und es dauerte lange, bis sie dem Ritter und Ratsherrn glaubten, 143 daß der vermeintliche Herzog ein flandrischer Edelknabe sei, den man den Burgundern abgejagt habe.

Im Hause waltete die alte Hüterin Barbara Mütt, entschlossen, mit dem ihr anvertrauten Gut und mit der Stadt Bern unterzugehen. Die mußte nun eilends für Speis und Trank sorgen. Dessen war sie gewohnt. Sie war's auch gewohnt, daß ihr Herr hie und da seltsame Einfälle hatte; aber als er ihr nun befahl, aus den Truhen der Frauenstube Kleider herbeizuschaffen und diesem Herrn Junker daselbst ein Bett anzuziehen, stemmte die derbknochige Bäbe die Hände in die Hüfte und wurde nicht klug daraus, ob ihr sonst noch leidlich Gehör eine Letze erlitten oder ob Herr Thüring vielleicht vor Murten eins über den Helm gekriegt habe.

«Mach vorwärts, Bäbe!» befahl der Herr mit sprühenden Augen.

«Was hier liegt, ist lauter schönes Gewand», sagte sie, «und was Frau von Ringoltingen dazu sagen würde, wenn sie erführe, daß man einem jungen Mann in der Kammer von Jungfer Antonia einbettet...»

«Das laß du meine Sorge sein, Bäbe! Her jetzt mit den Kleidern!»

Unterdessen hatte Aloysia Urs gebeten, ihr beim Lösen des Brustpanzers behilflich zu sein, was dem Hellebardier-Magister etwelches Herzklopfen verursachte, denn unter der harten Schale 144 harrte ein gar süßer Kern seiner Erlösung. In etwelcher Verwirrung überantwortete der Schulmeister die aufatmende Jungfrau der biedern Bäbe. Mißtrauisch nahm sich die Alte des merkwürdigen Gastes an. Nach einiger Zeit kam sie zu Herrn Thüring gelaufen und meldete, das gnädige Jungfräulein finde es nicht schicklich, die schönen Kleider der Tochter des Hauses anzuziehen, und den Harnisch müsse es wohl oder übel dem zurückbringen, dem er gehöre.

Da schlug der Ritter mit der Faust auf den Tisch und wetterte, der Mummenschanz müsse nun ein Ende haben, er befehle kraft seines Amtes, daß Aloysia binnen einer Stunde in den ihrem Stande wohl angemessenen Kleidern seiner Tochter erscheine. Und diesem Befehl ward Genüge getan, was niemand zu bereuen hatte, denn das Beisammensitzen bei guter Speis und edlem Trank in der vornehmen Behäbigkeit des Ringoltingenhauses war nach den Erlebnissen der vergangenen Tage wohl geeignet, die Laune aufzuhellen.

Des andern Tags um die Mittagszeit war Agathe, des Müllers von Landshut Tochter, eben dran, auf freiem Felde Wäsche zu hängen, als sie den Hufschlag eines Pferdes hörte. Sie traute ihren Augen nicht, wie sie Urs Fankhuser neben einer stolz zu Pferde sitzenden Dame des Weges herkommen sah. Der kürzeste Weg zum Schlosse führte gerade durch den Mühlenhof und quer über die Wiesen. Die beiden schlugen aber nicht 145 diesen dem Schreiber gewohnten Weg ein, sondern folgten der Straße, die in weitem Bogen das Tor der Wasserburg auf der Seite gen Aufgang erreicht. Agathe ließ die Hände sinken und verfolgte mit verwunderten Blicken die Reiterin und ihren Begleiter, bis sie hinter den Hecken am Burggraben verschwanden.

Zwei Tage noch verstrichen, ehe die Männer der Umgegend, so am Feldzug nach Murten teilgenommen, heimkehrten. Es fehlten ihrer wenige. Singend und schwatzend zogen Hunderte nach den Dörfern jenseits der Emme und ins Solothurnische. Die meisten ließen sich gerne vor dem Wirtshaus aufhalten, wo sie den neugierigen Leuten von Landshut und Utzenstorf willig Auskunft gaben über die Schlacht am Zehntausendrittertag. Unter ihnen befand sich Jakob, des Walkmüllers von Koppigen Sohn. Der erzählte dem Müller, daß der Schulmeister, so ehedem auf dem Schlosse Schreiber gewesen, auch mit ausgezogen sei.

«Wird was Großes ausgerichtet haben», spottete der Müller.

«Was er in der Schlacht getan, weiß ich nit», fuhr Jakob fort. «Dort hat ihn keiner von uns gesehen. Immerhin gab es da keine Wahl. Wer nicht zu hauen wußte, wird den Heimweg kaum auf eigenen Füßen gefunden haben. — Aber was anderes, Müller, mag zu hören Euch wohl willkommen sein. Der Schreiber hat Beute gemacht. 146 Eine burgundische Lagerdirne soll er erwischt und heimgebracht haben.»

«Was Donners!» lachte der Müller heraus. «Ganz, was ein Schulmeister braucht, der unsrer gnädigen Herren Söhnlein zu Zucht und tugendhaftem Wandel erziehen soll.»

«Was? — Wer? — Was hat er gesagt, der Jakob?» Im Hui schlossen sich eine Menge Köpfe zu dichtem Kranze zusammen, horchten hin, schwatzten, lachten und brüllten. Einer aber aus dem Dorfe wollte Ursen vor drei Tagen gesehen haben, wie er besagtes Weibsbild, zierlich aufgesträußt, ins Schloß Landshut gebracht habe. Und beinah so schnell wie hier beim Schoppen auf der Landstraße lief die Mär, nur zu gerne geglaubt, von Haus zu Haus. Auf einmal kamen überall Leute zum Vorschein, welche den Schreiber mit der Dirne gesehen haben wollten. Im Handumdrehen ward die Kunde Agathe zugetragen, so daß der Müller, als er endlich, nicht mehr so ganz fest auf den Füßen — der Sieg von Murten war doch seine paar Maß wert — nach Hause kam, sich darauf beschränken konnte, zwei dutzendmal zu sagen: «Da hast's jetzt! Hab doch immer gesagt, der gehöre nit unter mein Dach.»

Agathe antwortete nicht. Sie blieb auch all die folgenden Tage schweigsam und ließ ihren Vater die Siegesräusche ausschlafen, die er erneuerte, sooft noch heimkehrende Krieger das Dorf passierten. Sie waren längst alle heim; 147 aber die Landstraße wurde auch von andern Leuten befahren, und wer wußte in diesen Zeiten keine Neuigkeiten? Für Agathe hatte die immerfort begossene Neugier des Vaters wenigstens das Gute, daß sie ihr Augenmerk ungestört dem Schlosse zuwenden konnte. Doch gereichte ihr das nicht eben zu großer Beruhigung, denn was dort geschah, setzte in weitem Umkreis alles Volk in Staunen. Alltäglich sah man den alten Herrn mit Urs und der vermeintlichen Burgunderin spazierenreiten, und man sah wohl, daß es darauf abgesehen war, dem Magister das Reiten beizubringen, was mit allerhand lustigen Abenteuern verbunden war. Er wußte entschieden einen Federkiel besser zu reiten als des Herrn Thüring gut gehaberte Rosse. Doch ging es von Tag zu Tag besser, und nach zwei Wochen sah man Urs allein mit der rätselhaften Dame über Stock und Stein reiten. Die zwei schienen sehr gute Kameraden geworden zu sein und ein besonderes Gefallen daran zu finden, wenn ihre tollen Ritte die Bauern ärgerten.

Agathe sah dem allem mit tiefer Kümmernis zu. Die hämischen Blicke der Nachbarn entgingen ihr nicht. Im Anfang wußte sie Anspielungen mit leichter Miene zu beantworten. Ein blindes Vertrauen in Urs half ihr über alles hinweg. Als nun aber die zwei ihr verwegenes Spiel weiter trieben und für die Müllerstochter keinen Blick mehr übrig zu haben schienen, wurde ihr 148 bang. Sie begann zu grübeln und konnte die Welt nicht mehr verstehen. Hatte sie nicht während des Krieges alltäglich in der Kirche zu Utzenstorf für ihren Geliebten gebetet? — Wie konnte Gott es nun zulassen, daß der glücklich aller Gefahr Entronnene einem heimatlosen, fremden Weib anheimfiel?

Und es war noch eine andere, die nichts mehr an Gott und Welt begriff, nämlich Ursens Mutter, der auf dem Markt in Burgdorf zugeraunt wurde: «Weißt du eigentlich, was dein Sohn treibt?» Die alte Frau wollte es nicht glauben, aber bald genug vernahm sie durch andere Leute, die von da unten herauf zu Markte fuhren, daß weit und breit um Landshut herum ein Geschrei ergehe ob dem gottlosen Unfug Ursens und der Dirne. Da lief Frau Fankhuser zum Priester in Utzenstorf, zu erfragen, was an der Mär sei, und weil sie selber sich nicht ins Schloß getraute, bat sie den geistlichen Herrn, ihr den Sohn nach Goldbach zu schicken. «Seht, Frau», unterbrach der Pfarrer das Gespräch, indem er das Fenster aufriß, «sehet es mit eigenen Augen! Dort reiten sie.»

Des Jammers voll wanderte die Mutter heim. Aber des andern Tages hielt wahrhaftig vor ihrem Häuschen der verschriene Sohn hoch zu Roß. Als ob nie etwas Anfechtbares geschehen wäre, trat Urs bei ihr ein, grüßte sie in der altgewohnten Herzlichkeit und lachte, als die Mutter 149 ihn fragte, ob der Priester schon bei ihm gewesen sei. «Es bedarf keines Pfaffen nit», sagte er, «um mich zu dir zu treiben, liebe Mutter. Bin nur gekommen, um dir auf etlich Wochen oder Monde Lebewohl zu sagen. Muß abermals in die Niederlande fahren, diesmal, um das Fräulein heimzugeleiten, so wir vor Murten gefangen haben. Sie ist ehrbarer Leute Kind, selber freilich nit ganz wie die Mägdlein hierzuland, aber darum nit minder rechtschaffen und fromm. Darum mußt ich das Reiten lernen. Ich soll das Lösegeld für die Maid in der großen Stadt Brügge holen.»

Die Mutter erschrak nicht wenig ob dieser Kunde und redete Urs tief ins Gewissen. «Halt dich allzeit an das Sprüchlein, so ich dir einst mit auf die Fahrt gegeben.» Urs versprach es und fuhr guter Vorsätze voll gen Landshut zurück.

Hatte er den Segen der Mutter empfangen, so wollte er nun auch Agathe Petri seiner Treue getrösten. Dieweil er aber besorgte, es möchte die Müllerstochter ihn nicht von sich lassen und ihm die Reise ausreden, ging er nicht allein zu ihr, was ja ohnehin der alte Petri nicht gelitten hätte, sondern er ritt mit Aloysia durch den Mühlenhof, just da sein Lieb das Geflügel fütterte. Er grüßte Agathe aufs herzlichste und sagte ihr, welch eine Reise er zu tun gedenke. «Dann aber, dann aber, Agathe, wird uns die Sonne aufgehen.» Und als er in Agathens 150 Augen eine gar bange Frage las, sagte er: «Sei getrost, ich fahr nach meinem Vorsatz:

Tu nur ein jeglich Ding,
so dyn Gewüssen stört,
es sy groß oder gring,
wohin vor Gott es ghört!»

Dann drückte er ihr die Hand und rief im Wegreiten noch: «In längstens siebenmal sieben Tagen!»

«Was sagtest du zu diesem Mägdlein?» fragte Aloysia. «Ich kann euch nicht verstehen, wenn ihr untereinander redet.» Urs lachte und sagte ihr den Vers und fügte bei: «In siebenmal sieben Tagen will ich alles dahin gebracht haben, wohin es gehört.»

Darauf gaben sie den Pferden die Sporen zu fühlen, trabten aus dem Hof, und als der Müller just auf wankenden Beinen von der Straße her kam, fehlte wenig, so hätte Aloysia ihn umgerannt, also daß nicht eben wie Reisesegen klang, was er ihnen, an den Zaun torkelnd, nachrief.

Und dann kam der Tag, an dem sie vor Sonnenaufgang das Schloß und das Land verließen. Aloysia saß wieder im Harnisch rittlings zu Pferde. Anders wollte sie es nicht haben, und man hatte es für ratsam erachtet, die beiden also ziehen zu lassen, Aloysia als Junker, mit dem weißen Kreuze versehen, Urs als Knappen, denn seit dem Tage von Murten hatten wehrhafte Eidgenossen in allen Landen groß Ansehen, während 151 ein Fräulein mit geringem Geleit gar leicht dem Gesindel, wie es in Kriegszeiten Busch und Heide bevölkert, anheimfallen konnte.

Wenn nun aber einer sich auf die eigene Tugend beruft, wie Urs es Agathe gegenüber getan, so verschafft ihm Gott gute Gelegenheit, auf die Nase zu fallen, damit er es inne werde, auf was für sichern Füßen des Menschen eigene Gerechtigkeit wandelt. In der löblichen Stadt Basel fanden sie gut Quartier und konnten als Herr und Knecht an getrennten Tischen sitzen. Weiter unten aber, im Sundgau, nahm die Sache ein ander Gesicht an. Es war allenthalben viel Volks unterwegs, besonders Kriegsleute, die ins Lothringische reisten, um bei dem Herzog Renatus Sold zu nehmen wider den Burgunder, der sich aufs neue zum Kriege rüstete. Da fanden Junker und Knappe es für klüger, nahe beieinander zu bleiben, und in einer Herberge am Fuß der blauen Berge schob der Wirt die beiden in eine Stube, die nur ein Bett enthielt.

Urs war auf der Reise nicht entgangen, wie Aloysia sich sein Sprüchlein auslegte. Immer wieder hatte sie erzählt, wie Meister Hans Memling ihr versichert, daß es Männer gäbe, die alles an seinen Ort zu schaffen wüßten, und daß diese die wahren Glückbringer seien. Und dann wieder sprach sie von dem seltsamen Geschick, welches auf dem Schlachtfeld vor Murten sie zusammengeführt. Urs hatte seither auch reichlich Zeit gefunden, 152 über diese Dinge nachzudenken. Es hatte sich ihm Gelegenheit genug geboten, festzustellen, daß Aloysia zwar nicht besonders schön von Angesicht sei, wohl aber von geschmeidiger Gestalt, daß sie in ihrem Wesen sonderbar sei, aber klug und lebenslustig und — sehr reich. Die Abenteuer der Reise schienen nun vollends den beiden die Wege zueinander ebnen zu wollen. Sollten heute die Würfel fallen? Alles deutete darauf, daß Aloysia gegen diese Fügung sich zu sträuben nicht gewillt war. Ja, sie war ihrer Sache gewiß. Schlimmeres als die Flucht aus dem Beginenhof konnte sie ihrem Vater nicht mehr antun. Er mußte sie verloren gegeben haben. War es nun nicht klüger, an der Seite solch eines braven Mannes heimzukehren und damit dem alten Herrn neue schwere Entschlüsse zu ersparen? Oft hatte Aloysia unterwegs durch die Blume solche Überlegungen verraten. Der biedere Schweizer hatte weder ja noch nein geantwortet. Es war klar, er wäre gerne darauf eingegangen, aber er war zu schüchtern dazu. So dachte sie. Es bedurfte einer neuen Fügung, und nun hatte sie sich eingestellt.

Aloysia sollte aber erfahren, daß Ursens Verhalten nicht nur auf Schüchternheit beruhte. Es steckte etwas anderes dahinter, sonst würde er heute abend angesichts dieses Nachtquartiers nicht gesagt haben: «Junker, legt Euch getrost hin, mein Platz ist vor der Tür. Auf dieser Schwelle 153 werde ich wachen, daß Euch kein Leides geschieht. — Wohin vor Gott ich ghör, da will ich sein.»

Und damit auf der fernern Reise keine neue Verlegenheit entstehe, sagte Urs andern Tags seinem «Junker»: «Wisset, ich hab noch allezeit, was mir anvertraut war, unversehrt an seinen Ort gebracht. Größeres als Euer Wohlergehen ward mir nie in die Hände gelegt. Euer Vater soll mich treu erfinden. Anders will ich ihm nit unter die Augen treten.»

Dieses Wort erfüllte Aloysia mit neuen Hoffnungen. Sie war's zufrieden. Und so gelangten sie selbander an Leib und Seele unverdorben gen Brügge und gingen im Johannesspital zur Herberg.

*  *  *

Wie nun andern Tags Meister Memling zur gewohnten Stunde in seine Werkstatt kam, fuhr er sich dreimal mit der Hand über die Augen, schüttelte den Kopf einmal so, einmal anders und sagte: «Jetzt möcht ich bloß wissen, ob ich ein Jahr oder länger geschlafen und wüst geträumt habe, ob es in meinem Kopfe spukt, oder ob es sonst nicht mit rechten Dingen zugeht. — Da steht mein Sankt Willem, wie ich ihn hingestellt hatte. — Oder bist du... seid Ihr's etwa nicht?»

«Ich bin's», antwortete Aloysia, «und es geht mit rechten Dingen zu, nur nicht just, wie es gewöhnlich geht. Nehmt an, Ihr hättet geträumt. 154 Mir ist unterdessen Heil widerfahren und wahr worden, was Ihr mir einst verheißen habt. Ein Dieb bin ich nicht, und darum bring ich Euch den Harnisch wieder, so mich vor allem Schaden Leibs und der Seele geschirmt.»

«Das müßte schon ein besonder Eisen sein, so auch die Seel zu schützen vermöchte.»

«Ist aber doch so.»

«Dann müssen wir es als Heiltum in den Dom stiften oder zumindest hier in der Kapelle des Spitals aufhängen.»

«Tut das, Meister! Aber vor allem sollt Ihr nun den Mann sehen, der mein Glückbringer ist. Und dann, lieber Meister, tut mir den Gefallen und gehet zu meinem Vater, ihm kundzutun, daß sein Kind gesund und wohlbehalten zurückgekehrt ist und von Herzen seiner Vergebung begehrt. Sachte muß es geschehen. Der Schlag könnte ihn rühren, wenn ich so unversehens bei ihm eintreten würde.»

«Gern steh ich Euch zu Diensten, mein gnädiges Fräulein.»

«Und noch eins, Meister! — Wenn Ihr merket, daß mein Vater durch die Kunde zur Sanftmut bewegt wird, so nützet den Augenblick, um ein gut Wort einzulegen für meinen Retter und Glückbringer!»

Auch das versprach Meister Memling, und auf dem Wege zum Refektorium erzählte Aloysia dem Maler in Kürze, wie sie durch Urs gerettet worden. 155 Der wackere Schweizer fand des Meisters Wohlgefallen, so daß dieser mit desto größerer Zuversicht Aloysias Auftrag übernahm. Behutsam ging er zu Werk, war ihm doch wohl bewußt, daß des alten Kaufherrn Gesundheit seit dem Verschwinden seines geliebten einzigen Kindes auf gar schwachen Füßen stand. Herr van den Bosch schüttelte sein gramvolles Haupt ungläubig, als der Maler in weitem Umschweif von seltsamen Fügungen sprach, die schon manchen Verlorengeglaubten ins Vaterhaus zurückgeführt hätten.

«Lieber Meister», sagte er traurig, «Ihr meint es gut. Aber da alles, was ich schon unternommen, um meines armen verirrten Kindes Spur zu finden, und all meine Gelübde nichts nützten, so wäre es Torheit, noch an ein Wunder zu glauben.»

«An Wunder zu glauben, fällt dem rechnenden Kopfe schwer, verehrter Herr, aber dessen ungeachtet geschehen sie doch. Sogar mir, dem Maler, fiel es schwer, an eine so seltsame Fügung zu glauben, wie die, so Eure Tochter wieder nach Brügge geführt. Diesen meinen Augen traute ich nicht mehr, als ich sie sah; aber es war kein Trug dabei. Wie es geschehen, das soll Euch Euer Kind selber erzählen. Ein gar wackerer junger Mann aus dem Heer der Eidgenossen hat sie dem Tod entrissen und wohlbehalten anher gebracht.»

Herr van den Bosch zitterte vor Erregung. Er erhob sich, als wollte er gleich auf die Gasse 156 gehen, die Verlorene zu suchen. «Meister», rief er, «ist das wahr? — Wo ist Aloysia?»

«Sie ist im Johannesspital zur Herberge und bereit, zu kommen, sobald ich melden darf, daß ihr vergeben wird.»

«Meister! Führet mich dorthin!»

«Nicht doch, Herr! — Laßt sie nach Hause kommen!»

«So eilt!»

Kaum war Meister Memling die Treppe hinuntergeeilt, befahl der alte Herr in einer Aufregung, welche seine Dienerschaft in Sorge versetzte, alles herzurichten, als gälte es, einen Grafen von Flandern zu empfangen.

Im Johannesspital noch ließ sich Aloysia andere Kleider geben. Dann begab sie sich, von Urs begleitet, in das väterliche Haus, warf sich dem weinenden, zitternden Vater in die Arme und bat ihn mit herzbewegenden Worten um Verzeihung. Sie war aufs tiefste erschüttert, da sie ihn so sehr gealtert fand. Urs war an der Türe stehen geblieben. Erst als Aloysia ihn herbeirief, trat er dem alten Herrn näher.

«Dies ist der Mann», erklärte Aloysia, «dem wir meine Rettung verdanken. Er hat mich hierher begleitet und ist von seinem Herrn beauftragt, das Lösegeld für mich in Empfang zu nehmen.»

Herr Thomas van den Bosch begrüßte Urs auf das herzlichste und behielt ihn als Gast im Hause. Bei der Abendmahlzeit, zu welcher die 157 nächsten Verwandten, Meister Memling und Herr Ludgerus geladen wurden, mußten Aloysia und der Schweizer ihre Schicksale erzählen, und es war des Staunens und des Jubels kein Ende. Hans Memling bat sich aus, daß Urs ihm zu einem Bildnis sitze, und Herr Thomas kaufte das Bildnis, kaum daß der Meister die Absicht, es zu malen, ausgesprochen hatte.

Täglich begab sich nun Urs in des Meisters Werkstatt, oft von Aloysia begleitet. Ihr Vater ließ es geschehen. Aloysia hätte jetzt überhaupt alles von ihm erlangen können. Er wurde nicht müde zu sagen, daß er an dieses Leben keine Ansprüche mehr stelle, nun ihm das totgeglaubte Kind von neuem geschenkt sei.

Die Zeit verstrich. Das Bildnis wurde fertig, und Urs zählte im geheimen die Tage, welche ihm zur Heimreise blieben. Siebenmal sieben hatte er als längste Frist Agathe genannt, und nun waren seit seiner Abreise aus der Heimat schon fünf Wochen verstrichen. Noch hatte er das Lösegeld nicht in Händen. Ihm bangte vor dem Augenblick, da er dem alten Herrn erklären mußte, daß er von seiner Gastfreundschaft nicht länger Gebrauch machen dürfe. Am meisten aber beschwerte die Trennung von Aloysia ihm das Herz; denn er hatte sie lieb gewonnen und wußte zudem, daß die Trennung ihr unerträgliches Leid bringen würde. Es war jetzt auch alles dazu angetan, ihm eine Verbindung mit der reichen Erbin aufs 158 lockendste erscheinen zu lassen. Wem rollte je das Glück so unverhofft vor die Füße?

Die Tage rannen dahin, und unversehens ging die sechste Woche ihrem Ende entgegen. Es mußte gehandelt werden. Wollte Urs seinen Ruf der Zuverlässigkeit nicht einbüßen, so mußte er mit dem Lösegeld am neunundvierzigsten Tag in Landshut eintreffen. Das war der Termin, den Herr von Ringoltingen ihm genannt hatte. Hielt Urs ihn nicht ein, so verfiel die Schloßmühle der Stadt Bern. So raffte er sich denn auf und bat den alten Herrn van den Bosch um Ausrichtung des Lösegeldes.

Da trat Aloysia zwischen die beiden und sagte mit bewegter Stimme: «Mein lieber Herr Vater, es will mir nicht gefallen, daß Ihr Eure Tochter um Geld loskaufen solltet. Ich meine, der einzige Preis, der hier in Frage kommt, bin doch ich selbst. Urs ist der Mann, der mir verheißen ist, er ist mein Glückbringer, und mein Glück wird Euer Glück sein.»

Auf des alten Herrn Antlitz legte sich ein tiefer Schatten. Er konnte seiner Tochter nichts versagen. Aber sie war das letzte Glück, das ihm die Welt gelassen hatte. Er schwieg.

Urs las die Not des alten Mannes, des Einsamen, in seinen Zügen. Er sah Aloysias Augen erwartungsvoll auf sich gerichtet, fühlte schon ihre Enttäuschung darüber, daß er sich ihr noch nicht zu Füßen geworfen. Aber in seinem Gewissen 159 verstummte der Mutter Wegleitung nicht. Er ließ sich auf ein Knie nieder, küßte Aloysias Hand und sagte: «Mir soll es schlecht ergehen, wenn ich mich Eurer Liebe und Dankbarkeit je unwert erweise, Aloysia; aber Ihr wisset, es darf nit sein. Ihr habt die mit eigenen Augen gesehen, die mein Wort empfing und meiner in Treue harrt. Ihr aber gehört an Eures Vaters Seite in diesen seinen alten Tagen.»

Aloysia erbleichte; aber sie widersprach ihrem Retter nicht. Sie küßte ihn auf die Stirn und flüsterte: «Mein Dank soll ein Segen auf Eurem Wege sein.» Dann ging sie hinaus und warf sich schluchzend auf ihr Lager, während der alte Herr unter immer neuen Dankesbezeugungen Urs den dreifachen Betrag des Lösegeldes auszahlte. «Euer sei, was Ihr der Obrigkeit nicht schuldet», sagte er, «und das Glück eines alten Mannes erleuchte Eure Seele lebenslang!»

V.

In der Schloßmühle zu Landshut standen zwei stattliche Männer in der Stube des Müllers Petri und blickten mit ernster Amtsmiene auf den Müller, der am Tische hockte und aus gläsernen Augen zu den beiden aufschaute, als verstünde er nicht, was sie von ihm wollten. Es waren ein Venner der Stadt und Republik Bern und ein Notarius. Vom Schlosse kamen sie, wo sie soeben den Herrn Thüring von Ringoltingen, Ritter und 160 Ratsherrn, aufgefordert hatten, das verfallene Lösegeld für die vor Murten in Mannskleidern und Rüstung gefangene Jungfrau Aloysia van den Bosch aus Brügge, für die er sich unter Verpfändung seiner Mühle zu Landshut verbürgt, in guter Währung an den Stadtsäckel auszuzahlen. Maßen nun aber besagter Herr von Ringoltingen sich dessen geweigert, meinend, es wäre das Geld wohl noch aus Brügge beizubringen, wurde das Pfand als verfallen erklärt und dem Müller Petri, so mehr dem Trunk als seinem sonst löblichen Handwerk obgelegen, die Pacht auf Ende laufenden Monats gekündigt, es sei denn, daß binnen drei Tagen der vermeldte Herr von Ringoltingen sein Pfand noch einzulösen sich bereit erkläre.

Der Müller glotzte die Herren an, ohne Bescheid zu geben. Als sie ihn fragten, ob er nun bestätige, daß er von der Kündigung Kenntnis erhalten habe, grunzte er etwas wie «ja» über den Tisch, worauf sich die Amtsleute entfernten.

Dieser Kundmachung hatte, am Fenster stehend, des Müllers Tochter beigewohnt. Sie hatte die Herren aus Bern empfangen und sie unter Tränen wieder in den Hof begleitet, wo sie teilnehmend von ihr Abschied genommen hatten.

Erst lang nachher schien dem Müller zum Bewußtsein zu kommen, was eigentlich da geschehen sei. Da fing er an zu fluchen und zu schimpfen auf den Herrn zu Landshut, der um 161 einer Dirne willen sein Hab und Gut verspiele und nun nicht einmal dazu stehen wolle.

Agathe schwieg. Sie wußte, daß widersprechen nichts nützte. Und übrigens — hatte nicht neulich der Pfarrer von Utzenstorf ähnlich über Herrn Thüring geurteilt? — Aber was sollte nun werden? So verlassen hatte sich Agathe noch nie gefühlt. Schluchzend fand sie an diesem Abend der Priester in der Kirche. Sie mußte ihm Auskunft geben, worauf er riet, sie solle, wenn es zum Äußersten kommen sollte, im Kloster zu Fraubrunnen Zuflucht suchen.

«Tu ich nit», trotzte sie.

«Warum denn nit?»

«Er kommt doch noch.»

«Wer denn?»

«Der mir sein Wort gegeben.»

«Etwa der Schulmeister, so mit der Burgunderin im Land herum reitet, allen rechtschaffenen Leuten zum Ärger?»

«Er hält Wort.»

«Und du glaubst's, du törichter Letzkopf?»

«Ja, ich glaub's.»

«So geh! Du wirst schon erfahren, was solch eines Buben Wort gilt.»

Aus allen Fensterchen des Dorfes folgten der Müllerstochter neugierige, mitleidige und spöttische Blicke, als sie weinend nach Hause lief. — Was die Herren von Bern hier zu tun gehabt, wurde noch am gleichen Abend bekannt. Und die 162 Nachbarn sagten auf dem Heimweg vom Wirtshaus: «Jetzt hat er's, der Vater Petri. Hätt er sein Geld nit im Trunk vertan, so wär jetzt sein großer Tag gekommen, denn jetzund hält er die Mühle an sich bringen können.»

Der Müller merkte wohl, daß man von ihm abrückte. Es war auf einmal, als fürchteten die, welche früher seine Gunst gesucht, mit ihm in einen Abgrund gerissen zu werden. Gewohnt, allen, die zu ihm hielten, die Zeche zu bezahlen, rief er im Wirtshaus die Leute an seinen Tisch; aber sie zögerten, ihm zu folgen, rückten unter allerhand Ausreden in einer entfernten Ecke enger zusammen oder bezahlten ihren Wein und gingen. Halb gutmütig, halb ärgerlich rief er den Zögernden zu: «Ich habe noch keinen vergiftet. Warum scheuet ihr mich?» Ältere Männer, die den einst so wackern Müller aufrichtig bedauerten, redeten hie und da ein vernünftig Wort. Sie mahnten: «Petri, mach's nit zu gut!» oder verließen die Schenke, in der Meinung, ihn damit zum Aufbruch zu veranlassen; aber der unglückliche Mann blieb allein in der Stube und trank seinen bösen Wein, um gelegentlich aufzustehen und mit geballten Fäusten loszudonnern: «Will schon sehen, ob mich die von Bern von meiner Sach wegbringen. Kommt nur, ihr verdammten Mastburger, wenn ihr Lust habt, im Bach zu ersaufen. Der erste, der meine Sache anrührt, wird kalt gemacht.»

163 Solche Reden führte er besonders auch in der Mühle. Vor den Leuten ließ Agathe sich nicht viel anmerken. Sie sorgte mit dem Mahlknecht, der dabei seine Pläne schmieden mochte, dafür, daß die Räder nicht zum Stillstand kamen. Die Nachbarn ließen sich aber nicht täuschen. «Was kommen muß, wird kommen», sagten sie untereinander. «Im Mühlbach wird man sie eines Tages suchen müssen.»

Der letzte Tag des Monats zog herauf, blau und sonnig, als wollte er den Leuten die Mühle noch recht vor die Augen halten; er ging zur Rüste, ohne daß etwas Besonderes geschehen wäre.

Mitten in der Nacht aber erwachte Agathe aus leichtem Schlaf. Ihr war, als klopfte jemand an ihr Fenster. — Ja, ganz deutlich. Und eine Stimme rief draußen ihren Namen. Sie öffnete das Fenster und gewahrte einen Schatten.

«Wer ist da?»

«Ich bin's. — Urs.»

Agathe glaubte zuerst an einen schlechten Spaß, aber der Klang der Stimme konnte nicht Nachahmung sein.

«Agathe, du darfst es glauben. Und ich bringe dir gute Kunde. Morgen — morgen sollst du die meine werden.»

«Urs! — Urs!»

Inzwischen war auch der Mahlknecht wach geworden und trat auf die Laube vor seiner 164 Kammer; aber er hörte nur noch den sich entfernenden Huftritt eines Pferdes.

Am andern Morgen fand Agathe ihren Vater auf den Stufen zur Mühlentüre sitzend. Er hatte ein geschliffenes Beil über die Oberschenkel gelegt. Ihren fragenden Blick beantwortete er aus entschlossenem Gesicht mit den Worten: «Heute kommen sie, die von Bern.»

Mit Mühe überredete sie ihn, zum Frühstück hereinzukommen. Er kam und behielt das Beil neben sich an den Stuhl gelehnt. Und dann begab er sich wieder auf seinen Wachposten. Er saß noch dort, als Urs Fankhuser gegen elf Uhr in den Hof trat. Unheimlich drohend erhob sich der Müller, doch blieb er an der Schwelle stehen.

«Was willst?» herrschte er Urs an.

«Euch die Mühle retten», antwortete der Magister.

«Du...?» begann der Alte, «du...»; aber Urs schnitt ihm das Wort ab. «Im Namen des Herrn von Ringoltingen komme ich, um Euch zu sagen, daß das Lösegeld für die Burgunderin, wie Ihr sie nennt, da ist. — Ich hab's gebracht. Und mehr als das, Vater Petri. — Heute noch reite ich nach Bern mit dem Geld und will die Mühle einlösen.»

«Du?»

«Ja, ich, der Schulmeister Urs Fankhuser.»

Agathe hatte das Gespräch vom Küchenfenster aus gehört, sich aber damit begnügt, ihrem heimgekehrten 165 Geliebten eine Kußhand zuzuwerfen. Urs war auch vorsichtig genug, nicht nach Agathe zu fragen. Er eilte ins Schloß zurück, um sich wieder in den Sattel zu schwingen zum Ritte nach Bern.

Um die Vesperzeit erschien dann in seiner selbstsichern Breitspurigkeit Herr Thüring vor der Mühle. Wie er berechnet hatte, wollte just Meister Petri sich nach dem Wirtshaus davonmachen, um dem Dorfe kundzutun, daß er Schloßmüller bleiben werde. Da gab ihm der Herr durch einen Wink zu verstehen, daß er mit ihm zu reden habe. Sie gingen selbander in die Stube, wo auch Agathe sich befand.

«Petri», sagte Herr Thüring, «Euch ist die Mühle gekündigt. Kommt sie nun, wie ich hoffe, wieder in meinen Besitz, so will ich Euch auf der Mühle behalten — dies aber nur unter zwei Bedingungen: fürs erste, es wird nit mehr gesoffen! Die Pacht dauert bis zu Eurem nächsten Rausche. Punktum eins. Der Terminus ist also in Euer Belieben gestellt. — Fürs zweite, Ihr gebt Eure Tochter Agathe dem Schulmeister Urs Fankhuser zum Eheweib. Er ist nun ein wohlbestallter und vermögender Mann. Eure Tochter ist mündig. Die Erfüllung dieser Bedingung also eigentlich in ihr Belieben gestellt. Punktum zwei. — Seid Ihr willens, diese meine beiden Bedingungen zu erfüllen? Ja oder nein?»

«Darüber, Herr, wäre noch zu reden.»

166 «Ja oder nein?»

«Ich meine, überlegen wäre nicht vom Übel.»

«Ja — oder nein?»

«Also denn in Gottes Namen ja.»

«Ich nehm Euch beim Wort. Petri, ‹Im Namen Gottes› habt Ihr zugesagt. Es sei. Da habt Ihr meine Hand. Schlagt ein!»

Der Müller schlug ein.

«Und die Jungfer Tochter?» fuhr Herr Thüring, sich gegen diese wendend, fort.

«Hat in ihrem Herzen schon ja gesagt», antwortete Agathe zwischen Lachen und Weinen und küßte des Herrn Hand.

Das war also in Ordnung gebracht. Schmunzelnd wanderte der Ritter nach dem Schlosse hinüber. Ja, ja, wenn der Poeta und der Schulmeister einander verstehen! Sapperment! Das sollte nun eigentlich gefeiert werden. Herr Thüring holte sich eine großbauchige Kanne vom besten Jahrgang herauf und wartete auf die Heimkehr seines Schreibers. Aber es ward Mitternacht, und noch meldete kein Hund seine Ankunft. — «Hm. Ein gut Zeichen. Er wird wohl bei seiner Jungfer Braut eingekehrt sein», murmelte der Ritter vor sich hin, «prosit, Magister!» Er trank für beide und wurde allein Meister über die Kanne. — —

Andern Tags konnte Urs seinem Herrn melden, daß der Herr Schultheiß zwar anfänglich über die Leichtfertigkeit der Poeten geschimpft und erklärt habe: «Nichts da! Das Pfand ist verfallen, 167 die Mühle unser. Man muß diesem leichtsinnigen Federvolk ein Exemplum statuieren.» Darauf habe er, Urs, da er in des Gestrengen Augen doch den Schalk erkannt, geantwortet, diesmal gehe es nicht um eine Mühle, sondern um zweier Menschen Liebe und Glück. Da habe der Herr Schultheiß entschieden, die nun freilich dürften Rät und Burger nicht aufs Spiel setzen, und das Lösegeld angenommen.

Nun erhob sich aber in den kommenden Tagen eine sehr schwierige Frage. Dem Müller war jeglicher Rausch abgesprochen; aber zu jener Zeit war in meiner gnädigen Herren, der Rät und Burger Landen ein Brautlauf kaum denkbar, von dem nicht wenigstens jeder zweite Mann sturm wie ein Huhn nach Hause kam. Der Müller wußte nicht recht, wie um diese Schwierigkeit herumzukommen sei und hielt Rat mit seinem künftigen Schwiegersohn. Er meinte, es wäre wohl am besten, den Herrn zum Hochzeitsschmaus zu laden und dafür zu sorgen, daß dieser selbst einen gehörigen Schwips davontrüge. So wäre er entwaffnet. «Ihr rechnet falsch», sagte Urs, «denn fürs erste ist ein Ritter nit voll zu machen, und wenn auch, so ist er eben der Herr und Ihr seid der Knecht.» Urs, der seinen Herrn kannte, übernahm es, dem Ritter die Frage zum Entscheid vorzulegen. Da machte Herr Thüring ein feierlichernst Gesicht und sprach: «Es muß zuvörderst eruiert werden, welches die untrüglichen criteria 168 eines richtigen und unleugbaren Rausches sind. Wir könnten das Problema einer hohen Schul — etwa zu Bologna — oder auch dem löblichen Rat meiner gnädigen Herren von Bern unterbreiten. Nur fürchte ich, es könnte etlich Faß Wein kosten, bis die Sache ausprobiert wäre. — Ich weiß bessern Rat. Ich richte euch das Hochzeitsmahl hier im Schloß an, und dann will ich dem Müller ad oculos demonstrieren, was unter einem Rausch zu verstehen sei.»

Vater Petri wollte es mit seinem Herrn nicht verderben und sagte: «Es wird schon recht werden.»

Also wurde denn auf den Tag der Hochzeit im Schloßhof zu Landshut eine lange Tafel hergerichtet und mit Speis und Trank nicht gekargt. Als der Brautzug von der Utzenstorfer Kirche her kam, fiel allen Gästen, insonderheit aber dem Brautvater auf, daß an der nicht allzu breiten Brücke über den Schloßgraben beide Geländer weggetan waren. Der Bräutigam sagte sich alsogleich, daß diese Veränderung des Zugangs zum Schlosse mit der Feststellung der criteria oder Merkmale eines Rausches im Zusammenhang stehen könnte. Herr Thüring hatte sich an der Tafel den Platz gegenüber seinem Müller ausbedungen und hieß dann in einem schwungvollen Poem das Brautpaar willkommen. Es wurde wacker gegessen und getrunken. Die gute Laune ließ nicht auf sich warten. Nach dem zweiten Becher aber deuchte den Müller, der Wein sei 169 gar dünn geworden; aber er wagte nichts zu sagen, um so weniger, als er des Herrn Gastgebers funkelnde Grauaugen auf sich gerichtet sah. Er merkte wohl, daß ihm, dem Brautvater, nur noch Wasser eingeschenkt wurde, ließ aber nicht erraten, daß er es wahrgenommen. Die übrigen Gäste, besonders die Jungmannschaft, wurden zusehends lustiger und ließen sich immer wieder einschenken, bis der Herr von Landshut sie aufforderte, den Weibern zu folgen, die sich über den Graben zur Scheune begeben hatten, wo der Tanzboden ihrer harrte.

Wie nun aber der erste Bursche, der den Hof verließ, auf die Brücke kam, tastete er nach dem Geländer und fiel ins Wasser. Die Knechte des Herrn Thüring fischten ihn unter dem Spotte der Frauen heraus. Der zweite wollte zeigen, daß er es gescheiter anzufassen wisse, und trat den Weg über die Brücke auf allen vieren an. Aber die Mägdlein jenseits zeigten mit den Fingern in den Graben und riefen: «Und deine Kappe?» Er hatte seine Kappe im Hofe vergessen, wußt's aber nicht, guckte über den Brückenrand, fiel kopfüber in den Graben und ward ebenfalls unter dem Gelächter der Frauen ans Ufer gezogen.

Nun standen noch ihrer sieben am Burgtor und getrauten sich nicht zu den Frauen hinüber. Der Herr und der Müller saßen allein noch am Tische, der Herr, weil ein Ritter nicht voll zu kriegen ist, der Müller, weil er daran nicht glaubte 170 und immer noch auf den Rausch des Ritters wartete. Er wollte seine Genugtuung für die Bewirtung mit Wasser haben. Als Herr Thüring die sieben Männer unter dem Tore zaudern sah, rief er ihnen zu: «Geht zum Tanzen, Burschen! Ihr seid mir nette Helden. Fürchtet ihr die Weiber oder das Wasser?» Und da der Ritter sich erhob, als wollte er sich die Tapfern näher besehen, machte sich auf einmal der Verwegenste breit, das sei doch nichts, er wolle den Weg zum Tanzboden schon finden. Der nächste wollte nicht feiger sein und faßte den Kühnen hinten am Hosenbund: «Vorwärts denn! Bin auch dabei.» Das sahen die übrigen, und es faßte der dritte den zweiten, der vierte den dritten am Hosenbund, wobei der Schwerste an Gewicht und Wein als siebenter an die Reihe kam. Als dieser drei Schritte vom Tore weg war, geriet er in Plamp und fiel seitlings über den Brückenrand. Im Schreck faßte er noch fester zu, und diese Festigkeit des Handgriffs am Hosenbund pflanzte sich von Mann zu Mann fort, also daß sie alle sieben hintereinander ins Wasser plumpsten und wie die zwei ersten herausgefischt werden mußten. Wie ersoffene Mäuse lagen sie drüben im Grase.

Unterdessen waren der Ritter und der Müller unter das Tor getreten. «Siehst du jetzt, was ein Rausch ist?» fragte Herr Thüring, der auf seinen breiten Füßen noch ganz sicher zu stehen schien. Und der Müller mußte zugeben: «Ja, es ist ein 171 traurig Ding um die Besoffenheit.» Er sah wohl ein, daß Müllern und Saufen sich schlecht vertrugen und nahm sich vor, seinem Pachtvertrag eine lange Dauer zu geben. — —

Wie dann aber seine Tochter mit dem Magister nach Bern gezogen war und der Winter vor der Türe stand, deuchte den Schloßmüller das Leben auch gar so trübe, und er fing an, neue praktische Studien über den Begriff des Rausches zu betreiben, um zu erfahren, wie dehnbar die Satzung des Pachtvertrages sei. Da half denn nichts anderes, Agathe, welche ohnehin trotz aller Liebe zu ihrem Mann in Bern den Sang der Mühle, das Rauschen des Baches, die stattlichen Rosse, die Hühner, Tauben und die Gänse nicht vergessen konnte, mußte ihren Urs bewegen, das Schulmeistern an den Nagel zu hängen und mit ihr nach Landshut zu ziehen, um dem Vater mit dem Heimweh nach seinem Kind auch die Lust nach einem Rausche zu vertreiben.

Und so geschah es. «Ich sehe», sagte Urs, «du gehörst zu deinem Vater in die Mühle. So wird es wohl sein müssen.» Urs wurde kein Müller; er wurde wieder des Poeten Sekretarius; aber übers Jahr überquiekte ein Ürslein das Quaken der Enten am Mühleteich, und als es ein Urs wurde, ging es zum Großvater in die Lehre und wurde unter dem neuen Herrn zu Landshut, dem Ehemann Antonias, nunmehriger Frau von Diesbach, Schloßmüller. Also 172 kam durch die treue Liebe zweier braven Menschenkinder zu Landshut ein jeglich Ding an seinen Ort.

*  *  *

Aber auch drunten in Brügge geschah das. Nach wenigen Jahren legte sich Herr Thomas van den Bosch wohl betreut in den Armen seiner lieben Tochter zur ewigen Ruhe.

Junker Balduin? — Die einen wollten haben, er liege mit Roß und Rüstung auf dem Grunde des Murtensees, die andern wußten es besser. Er sei an der Seite seines Herzogs vor Nancy gefallen und nackt und bloß, wie dieser, von hinnen gefahren. «Dort, bei seinem Herzog, war sein Platz», sagte Hans Memling zu Aloysia, als sie ihm mitteilte, sie schenke einen großen Teil ihres Vermögens zur Ausbesserung der Kanäle. Sie bedürfe keiner Reichtümer mehr.

Wie die rankenden Reben wieder blutrot über den alten Mauern hingen, gelbe Blätter zu Tausenden auf dem dunklen Spiegel des Minnewaters schwammen und das Glockenspiel des Stadthauses sein blimblim, blim, blim — belim — bim — bam — blumm über die bemoosten Dächer ins Blaue sang, schritt Aloysia in schlichtem Gewand durch das Tor in den Beginenhof, um das Häuschen der seligen Muhme Gudula zu ihrer letzten Heimstätte zu machen.

*  *  *


 << zurück weiter >>