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In brennender Ungeduld verbrachte Frau v. Bonchamps ihre Tage. Es verstrich kaum einer, der ihr nicht eine ehrenvolle Nachricht von ihrem Gatten brachte. «Ohne Bonchamps kein Sieg» lautete ein neues Sprichwort, das unter den Greisen und Weibern der umliegenden Dörfer 28 umging. Bis auf die Allerunentbehrlichsten waren alle feldtüchtigen Männer unter dem Banner der Baronniere ausgezogen, nachdem Abbé Curgeon ihm die Weihe gegeben. Ein seltsames Gemisch von Erlösungsgefühl und Bangnis beschlich das Herz der Marquise, als ihr wieder und wieder gemeldet wurde, daß Patrouillen der republikanischen Exekutionsarmee die Gegend durchstreiften. Die Heide begann zu blühen, grüne Schleier überzogen das graue Geäst, blendende Wolken jagten am blauen Himmel, alles lockte, aber die Vorsicht schloß Tür und Tor, sodaß die Kinder hinter den grauen Mauern der Baronniere gefangen blieben. Wer nachts von den hohen Burgzinnen in die Ferne blickte, der wußte von brandgeröteten Rauchwolken zu erzählen, die sich da und dort über das im Nachtwind rauschende Wipfelheer erhoben. Näher und näher zeigten sich solche Vorboten schwerer Heimsuchung. Und eines Tages flüsterte es in allen Winkeln des alten Schlosses: es gilt der Baronniere. Die Marquise gedachte des Ahnherrn von Pierre-Fitte. Zu allen Stunden des Tages und der Nacht wurde in der Kapelle gebetet. Der Abbé Courgeon, der in langen bangen Nächten sich zum überirdischen Frieden der Märtyrer durchgerungen und in seinem Herzen mit dem Leben abgeschlossen hatte, verzichtete auf Versteck und Flucht. Mochten sie kommen, er war bereit, den Todesstoß zu empfangen. Aber was sollte er für die Herrin des Hauses und ihre Kinder tun? Mit der treuen Lisette, mit Toussaint, 29 mit den Knechten Chanzeaux und Loiseau hatte er heimlich alles beraten. Jedes hatte seine Weisung, seine Aufgabe im Fall eines Angriffs auf das Schloß. Die Marquise durfte davon noch nichts wissen, damit sie nicht vorzeitig zum Entschluß käme, das Schloß zu verlassen. Draußen lauerte die Gefahr in jedem Hohlweg, hinter jedem Baume. Unter dem Vorwand, ihn um Nachrichten von dem Marquis auszuschicken, hatte der Abbé den Oberjäger Merant ins Hauptquartier der Royalisten geschickt, damit er sich dort eine Schutzwache erbitte. Trotz aller Vorsicht, die der alte Priester beobachtete, war aber der Marquise nicht entgangen, welche Sorge ihn quälte. Sie fühlte sich in dem Schlosse keineswegs sicher. «Es behagt mir gar nicht in der Rolle des Vogels, der die Jungen im Neste schützen soll», sagte sie eines Abends. «Hätten wir noch ein einziges brauchbares Pferd hier, Sie würden mich nicht länger zurückhalten, Monseigneur.»
«Denken Sie an die Katze, Frau Marquise, die vor einiger Zeit hier ihr Leben lassen mußte, als sie sich durch den Anblick ihres Feindes aus dem sichern Nest locken ließ!»
«O ich werde nicht so töricht sein, mich unter die Flinten unsrer Feinde zu stürzen. Aber wo wären meine Kinder sicherer als unter den Augen ihres Vaters?»
«Gewiß nirgends sonst, Madame. Aber die Nähe seiner liebsten Angehörigen ist für einen General im Felde ein Hemmnis.»
30 «Nicht, wo ich zur Stelle bin. Mein Gemahl würde sich über meine Nähe nicht zu beschweren haben. Ich würde Feuer und Flamme sein in der Brust seiner Soldaten. Ich würde...» Plötzlich hielt die Marquise inne. Sie wußte, daß das, was ihr Herz bewegte, die Zustimmung des Priesters nicht finden würde, der sich so viel Mühe gab, ihrer Leidenschaft entgegenzutreten.
Er mahnte auch jetzt ab: «Aber Ihre Kinder, Madame, Ihre Kinder!»
«Ja, meine Kinder! Sie haben recht, Monseigneur.»
Als sie wieder allein war, entrann ihr ein bitteres Lachen. «Vögel und Katzen werden mir vorgehalten, ein trefflicher Unterricht für junge Mütter. Ja, wenn in tiefem Frieden die Welt ihre Bahnen geht. Aber die Menschen haben ihre Bestimmung verlassen. Die niedrigen Triebe des Pöbels bedrohen die Ordnungen Gottes. — Ah, mein guter, biederer Abbé! — Bin ich nicht eine Scepeaux? — Bin ich nicht das Weib des Arthus de Bonchamps?
Nun denn, mein Vater und Priester, wenn die Tiere mir etwas sagen sollen, so sollst du mich sehen: die würdige Gefährtin des Adlers, die ihre Jungen über die zähnefletschende Meute hinwegträgt — Heldin und Mutter zugleich.»
Tage zerrannen und Wochen. Alles, was Augen hatte, spähte aus nach Merant, dem Jägermeister. Statt seiner sah man verdächtige Leute den Hohlwegen entlang schleichen. Beutegierige 31 Augen lugten aus den in herrlichem Grün erblühenden Büschen.
Endlich — es war in banger Morgenstille, noch schlief das Blütenmeer der Heide — hörte Toussaint unter seinem schmalen Fenster den Kauzenruf der Chouans. Er kroch in die schießschartenförmige Nische und guckte über den Graben. Es war Merant, der die Nacht benützt hatte, um sich heranzuschleichen. Toussaint lief hinunter und schloß auf.
«Bringst du guten Bericht?»
«Sieg über Sieg.»
Die beiden hatten kaum das Innere des Hofes betreten, als Merant seinen Namen rufen hörte. An einem Fenster des herrschaftlichen Wohnflügels stand die Marquise. Ihrem durch die Ungeduld geschärften Ohre war der Erkennungsruf nicht entgangen. In einen derben wollenen Mantel gehüllt, erwartete sie den Jäger an der Tür des Speisesaales.
«Wie steht es um deinen Herrn?»
Ohne die Antwort abzuwarten, ging Frau v. Bonchamps voran in den dämmerigen Saal — bis in die Fensternische. Sie wollte dem Boten in die Augen blicken und seinen Bericht fern von der schlecht schließenden Türe hören.
«Um den Herrn Marquis steht es gut. Er ist der Schrecken der Blauen. Aber er konnte 32 sich nicht entschließen unsern Wunsch zu erfüllen.»
«Welchen Wunsch?»
«Ich sollte ihn doch bitten, unsre Leute wieder hieher zu senden zu Ihrem Schutz, Frau Marquise, oder, wenn möglich selber mit einem Teil des Heeres einen Streifzug in unsre Gegend zu unternehmen.»
«Wer hat dich geheißen, das zu tun?»
«Madame, es war unser aller Wunsch.»
«Merant, bemühe dich nicht, mich zu täuschen. Gelt, es war Monseigneur?»
Der Jäger schwieg.
«Daß ihr euren Herrn noch nicht besser kennt! Du hättest dir den gefährlichen Gang ersparen können. Aber sage mir, wie lautete deines Herrn Bescheid?»
«Meine Freunde, so sagte der Herr Marquis, als wir alle ihn um die Erlaubnis bestürmten, habt dank für eure Treue; aber wißt: ich dulde nicht, daß auch nur ein Tropfen Blutes eines königlichen Soldaten fließe zur Verteidigung meiner Habe. Einer seiner Freunde erinnerte unsern gnädigen Herrn daran, daß er Gefahr laufe all sein Besitztum einzubüßen. Und wenn! bekam er zur Antwort. Haben wir das Glück, unsern König wieder auf dem Thron zu sehen, so wird es uns an nichts fehlen. Andernfalls brauchen wir überhaupt nichts mehr.»
«Das ist Arthus, mein Gemahl,» sagte die Marquise leise für sich, und ihre schönen Augen flammten im Dämmerschein.
33 «Aber nun erzähle mir etwas von den Siegen deines Herrn. Wie steht es um die Sache der Königlichen?»
«Vielleicht steht in diesem Briefe Genaueres, als was ich der Frau Marquise zu berichten vermag.»
Der Jäger übergab seiner Herrin einen versiegelten Brief. Rasch griff sie danach und wollte ihn öffnen. Da klopfte es an der Türe, und der durch Toussaint von der Heimkehr Merants unterrichtete Abbé trat ein.
«Gott segne unsern Herrn und sein Haus, seine tapfern Scharen und die Sache des Königs!» sagte er zum Morgengruß. «Frau Marquise, ich wünsche Ihnen Glück zu den guten Nachrichten.»
Die Marquise barg den Brief in den Falten ihres Mantels und wandte sich überlegen lächelnd gegen den alten Herrn: «Ich danke Ihnen, Monseigneur, und ich freue mich zu hören, daß Sie trotz Ihren weißen Haaren noch immer etwas Neues an meinem Manne zu entdecken haben. Lassen Sie sich von Merant erzählen, welchen Bescheid der Marquis gab. Ihm werden Sie vielleicht glauben, was Sie mir nicht geglaubt hätten.»
Während sich der Abbé Bericht geben ließ, trat Frau v. Bonchamps dicht an das Fenster, brach die Siegel des Briefes und las: «Meine Teuerste! Man bittet mich, eine Diversion zum Schutz von La Baronniere zu unternehmen. Wie leid tut es mir, darauf nicht eingehen zu können! 34 Aber ich getröste mich Ihres Mutes und Ihrer Hingabe an die Sache des Königs. Wir haben — im Vertrauen gesagt — vor Wochen eine Schlappe erlitten, indem uns Fontenay verloren ging, und nun stehen wir im Begriff diese Stadt wieder zu nehmen. Dürften wir da unsre Kräfte zersplittern? Und dazu noch, um unser eigen Hab und Gut zu retten? Jeanne, teuerste Gefährtin, würden Sie selbst dafür einen einzigen Soldaten des Königs opfern wollen? Sie werden mich verstehen. Ich habe gelobt, alles daran zu geben. Unser Beispiel wird alles retten, alles verderben. Lassen Sie in Gottes Namen fahren, was Motten und Rost fressen, was das Feuer verzehrt und wonach die Diebe graben. Grund und Boden verbleiben dem König und werden nach dem Sturm seine Diener ernähren. Retten Sie die Kinder und fliehen Sie nach Beaupreau. Der Marquis von Civrac wird Sie in seine Obhut nehmen, und vielleicht finden Sie dort auch Ihre Patin, die Frau Marschallin d’Aubeterre.
Lassen Sie mitgehen, wer Ihnen folgen will, vor allen den Abbé. Um Pferde wenden Sie sich an Guenhut. Nehmen Sie mit, was ich an brauchbaren Waffen und Munition zurückließ. Merant weiß alles. Jedenfalls bringen Sie die beiden langen Pistolen mit, die im grünen Turmzimmer im kleinen Schrank neben dem Kamin liegen.
Sobald Fontenay in unsrem Besitz ist, werde ich Sie in Beaupreau aufsuchen und, so Gott 35 will, wohlbehalten und frohgemut treffen. Vergessen Sie sich nie und reiten Sie behutsam.
Seien Sie Gott befohlen von Ihrem treu ergebenen
Arthus.»
Unterdessen hatte sich Merant, der Augenzeuge des heldenmütigen Kampfes der Vendéer um Vrine gewesen und selber mitgefochten, gegenüber dem Abbé in Eifer hineingeredet und sprach mit glühender Begeisterung von den Taten seines Herrn und der andern Führer, von d’Elbée, Lescure und La Rochejaquelein, die sich willig unter den Oberbefehl des Bauern Cathelineau gestellt, um damit dem Volk die Heerfolge leichter zu machen.
Die Marquise horchte zu, ohne ihre Blicke von dem Briefe zu erheben, bis der Priester die Frage an sie richtete: «Und nun, Frau Marquise, was werden wir tun, um uns gegen einen Ueberfall zu schützen?»
Mit triumphierendem Blick antwortete sie: «Wir werden dem Befehle meines Mannes gehorchen und heute noch nach Beaupreau aufbrechen.» Damit reichte sie Courgeon den Brief und verfolgte mit Spannung das Spiel seiner Züge, während er die eilig hingeworfenen Zeilen entzifferte.
Zitternd gab der Greis ihr den Brief zurück. «Es sei!» sagte er, «der Herr Marquis wird seine guten Gründe haben. Wenn Sie ihn sehen... wenn Sie ihn sehen, Frau Marquise, so bitte ich, ihm meinen innigsten Dank zu sagen für sein treues Gedenken.»
36 «Monseigneur», unterbrach ihn Frau v. Bonchamps mit groß aufgerissenen Augen, «Sie werden ihm dies am besten selbst sagen.»
«Ob ich ihn wieder sehen werde, sei Gott anheim gestellt. Einstweilen kann ich seinen Absichten nur dienen, indem ich hier bleibe. Meine Gebrechlichkeit würde Ihrer Reise hinderlich sein und dem Leben Ihrer Kinder zur Gefahr werden. Ich werde Ihnen hier, vor dem Altar kniend, das Geleite geben.»
«Oh, Monseigneur, das kann ich nicht verantworten.»
«Madame, Sie sind dieser Verantwortung enthoben. Ich erfülle den Willen dessen, dem mein Leben geweiht ist. — Nun wir uns aber trennen müssen, möchte ich Ihnen nicht hinderlich sein, sondern raten, daß Sie rasch handeln. Jede Stunde kann Ihren Weg gefährlicher machen.»
Nachdem der Priester sich zurückgezogen, wurde das Gesinde zusammengerufen. Mit schlecht verhaltenem Feuer erteilte die Marquise ihre Befehle. Die Ställe des Schlosses waren leer, und es kostete nicht wenig Mühe, drei brauchbare Pferde aufzutreiben. Für die Marquise galt es ein weichtrabendes Tier zu finden, für die Kinder ein ruhiges, für das Gepäck ein ausdauerndes, starkes. Es ging schon gegen Abend, als man alles beisammen hatte. Der Jägermeister sollte die Führung der kleinen Karawane übernehmen, das Pferd mit den Kindern wurde Toussaint anvertraut. «Es wird schon gehen», sagte man ihm, «schau nur, daß das faule Luder 37 nicht stolpert. Halt ihm den Kopf hoch, wenn es müde wird.» Chanzeaux übernahm das Packpferd, und Loiseau, ein guter Schütze, bildete die Nachhut. Die beiden Kinder jubelten, als man sie mit ihren Lieblingsspielzeugen in einen großen Bastkorb setzte, der an der einen Flanke des schweren Pferdes hing, während auf der andern ein gleicher Korb voll Waffen und Munition Gegengewicht hielt.
Als endlich alles marschbereit war, trat der Abbé Courgeon auf die Freitreppe heraus, besprengte Menschen und Tiere, beschrieb mit der Hand ein Kreuz und sprach seinen Segen. Lisette wurde ihres Jammers nicht Meister, als sie Abschied nahm von den Kindern. «Allons», rief ihr die Marquise zu, «sei vernünftig, Lisette! Mach mir die Kinder nicht unruhig!»
Während die andern sich in Bewegung setzten und den Hof verließen, ritt Frau v. Bonchamps noch einmal an den Priester heran, beugte sich nieder und küßte des Greises zitternde Hand. Dann rief sie der kleinen Gruppe der Zurückbleibenden zu: «Auf Wiedersehen! Tragt mir Sorge zu dem hochwürdigen Herrn Abbé! Und wenn es schlimm gehen sollte, so opfert euer Leben nicht um eitle Dinge, sondern sucht Schutz, wo ihn der Himmel euch gewähren mag. Habt Dank für eure Treue. Gott sei mit euch!»
In kurzem Trab holte die tapfere Frau die kleine Kolonne ein, als Merant ihr voraus auf einen Pfad durch niedriges Gebüsch einbog. Bald zögernd, bald rasch ausschreitend marschierte 38 man wohl zwei Stunden schweigsam und vorsichtig durch das unübersichtliche Gelände. Weitab von der Straße ging es durch lichte Kiefernbestände, durch Heideland, auf welchem niedriges Gebüsch den Ausblick in die Ferne verwehrte. Mitunter mußte in einem Gehölz von Ulmen und Schwarzpappeln angehalten werden, bis Merant und Loiseau festgestellt hatten, ob ein in Büchsenschußweite vorbeistreifender Mensch verdächtig sei oder nicht. Dunkler und dunkler wurde die Dämmerung, immer ungewisser das Feld, gespenstischer der Busch. Jedes Knacken im Geäst, jeder Flügelschlag eines Vogels wurde zum Alarm. Die Dämmerung ging über in Nacht, als man endlich in einer Lichtung die Metairie vor sich zu haben glaubte, wo man den Morgen abzuwarten gedachte. Unter einer großen Eiche wurde Halt gemacht, während Merant sich gegen den Hof hinschlich, dessen Firstlinien sich nur schwach von dem sternfunkelnden kalten Himmel abzeichneten. Loiseau lauerte mit schußbereiter Flinte nach allen Seiten. Die Marquise, selber des Rittes müde, blickte sinnend auf die in ihrem Korb endlich eingeschlummerten Kinder. Was hatte es nicht schon gekostet, sie zum Stillesein zu verhalten! Kaum eine halbe Stunde nach dem Verlassen der Baronniere waren sie der Unbequemlichkeit ihrer Lage inne geworden. Der gute Toussaint hatte das Unmögliche versucht, um sie über die Qual des engen Pferches hinwegzutäuschen, und oft genug hatte es grausam harter Worte von den Lippen der Mutter bedurft, 39 um lautes Weinen zu verhindern. «Ihr armen Geschöpfe», sagte sie sich jetzt über den eng Zusammengekauerten, «wie frühe schon bekommt ihr euer Teil an den Leiden der Zeit zu tragen!» Ein heißes «Warum?» wollte in der Seele der Mutter aufkeimen. Und die Finger schlossen sich enger um den Rosenkranz, der neben den Zügelriemen durch ihre Hand glitt. Sie betete, bis des vorschleichenden Jägers Kauzenruf in der dunklen Masse des Pachthofes ein Licht aufgeweckt hatte. Bald daraus wurden sie herangeholt und fanden in rußiger Küche Labung, in niedriger Bauernstube erquickenden Schlummer.
Allzu rasch aber verstrich die Nacht. Es kostete die Mutter nicht wenig Ueberwindung, sich mit den zerschlagenen Gliedern und dem müden Leib in den Sattel zu setzen. Der kleine Hermenée wollte nicht mehr in seinen Korb. Alle List Toussaints versagte. Eine Strecke weit saß der Knabe rittlings auf dem Widerrist des Pferdes. Aber es ging auch so nicht. Und aller Tränen ungeachtet, wurde er wieder zu der Schwester in den Korb gesteckt. Von einem Hügelrücken erblickten die Fliehenden weit hinter sich eine träg über den Wald hinstreichende Rauchsäule. Man war nicht einig, ob sie in der Richtung der Baronniere liege, hatte aber auch nicht Zeit darüber zu disputieren, denn die Leute in der Metairie hatten von Patrouillen der Blauen zu erzählen gewußt, welche letzter Tage die Gegend unsicher gemacht.
Die Marschtaktik bestand darin, daß man die 40 Pferde so viel wie möglich in den tief eingeschnittenen, beidseitig von Bäumen überwölbten und von Hecken besäumten Karrwegen gehen ließ, während Merant vorn links, Loiseau hinten rechts außerhalb der Hecken auf freiem Feld ging.
Vom Feinde war nichts zu merken, und der Marsch konnte stundenlang ohne Störung fortgesetzt werden. Doch wurde zuweilen der Weg mühsam durch das Wasser, welches in den Karrgeleisen lief und an manchen Stellen den felsigen Untergrund bloßgespült hatte, sodaß die schlecht beschlagenen Hufe nicht recht Boden zu fassen vermochten. Im Laufe des Nachmittags, als schon Mensch und Tier recht müde waren, kam die Karawane an einen steilen Hang. Der ausgewaschene Pfad führte in breiter Rinne schnurgerade in die enge Talsohle hinunter, die man zu durchqueren hatte. Spärliches Geröll brachte die Pferde häufig zum Gleiten, und selbst die Männer hatten Mühe aufrecht zu bleiben. Frau v. Bonchamps, der die harten Stöße Qualen verursachten, zog es vor, aus dem Hohlweg auf den felsigen, mit Ginsterstauden dicht bewachsenen Hang hinauszukommen. Des Reitens kundig, brachte sie ihr Pferd ohne Schwierigkeit dorthin. Da es ihr schien, es sei dort leichter vorwärts zu kommen, befahl sie Toussaint, ihr zu folgen. Der alte Mann stieg in die Böschung und zog das schwere Roß nach. Da es aber in den Steinplatten vergeblich Halt suchte, fing es an zu bocken und drohte rückwärts zu gleiten. 41 Die Gefahr erkennend, versetzte der mit dem Packpferd folgende Chanzeaux dem störrischen Tier einen derben Hieb auf die Kruppe, um es hinaufzujagen. Das Pferd setzte zum Sprung an, warf Toussaint zu Boden, geriet, da es nicht fassen konnte, in Angst und jagte in wilden Sätzen die steile Rinne hinunter bis an den Fuß des Abhanges, wo es sich, den Inhalt seiner Tragkörbe vorausschleudernd, überschlug. Vom Schrecken gelähmt, waren die Marquise und ihr Begleiter auf dem Fleck geblieben, wo sie gerade standen. Der erste, der sich rührte, war Merant. Er stürzte sich in langen Sprüngen zu den am Wegbord liegenden Kindern. Toussaint folgte ihm, so schnell es ihm seine steifen Glieder erlaubten. Nur Loiseau, der nicht gesehen, was sich vorne zugetragen, warf einen Blick auf die Marquise, die totbleich vom Pferd zu sinken drohte. Er hob sie aus dem Sattel, mußte aber die in wütenden Schmerzen Zuckende auf die Erde niederlegen. Starr lag sie da, bis das Geschrei der aus ihrer Betäubung erwachenden Kinder an ihr Ohr schlug.
«Was ist’s mit den Kindern?» schrie sie auf. «Geh’, lauf, Loiseau! — Gib her!»
Die sich mühsam Aufrichtende riß ihrem Helfer die Zügel aus der Hand und hielt sich am Sattelzeug fest, um nicht wieder hinzusinken. Bald darauf brachte Toussaint die unversehrten, aber vor Schreck noch immer schreienden Kinder herauf. Um die Kleinen nicht noch mehr zu ängstigen, zwang sich Frau v. Bonchamps aufrecht 42 zu bleiben. Die Kinder hingen sich an ihr Kleid, und sie strich ihnen mit der linken Hand beruhigend über die Lockenköpfe. Ihr bleiches, in Schmerzen verzerrtes Gesicht barg sie am Hals des Pferdes, bis Toussaint die Kinder wieder von ihr losgelöst hatte. Nun ließ sie sich von den Dienern ins Gras setzen und nahm entgegen, was man ihr zur Stärkung reichte.
Dann wurde beraten, was weiter geschehen sollte. Die Marquise erklärte sich außerstande, die Reise bis nach Beaupreau fortzusetzen und fragte Merant, ob nicht näher Unterkunft zu finden wäre. Der Jäger erbot sich, im Schloß La Gaubretiere, das wenige Meilen von hier liegen mußte, Hilfe zu holen. Unterdessen sollten sich die andern Knechte bemühen, in nächster Nähe ein schützendes Obdach zu suchen. Kaum aber hatte Frau v. Bonchamps vernommen, daß La Gaubretiere noch abends erreichbar wäre, so befahl sie, alles wieder marschfertig zu machen. Sie ließ sich selber in den Sattel heben, und es gelang ihr, den Dienern und den Kindern zu verheimlichen, in welchem Zustande der Angst und des Leidens sie sich befand.
Ahnend, um was es bei seiner Herrin ging, gab sich Merant die äußerste Mühe, gangbare Wege zu finden. Toussaint, der in jungen Jahren ein tüchtiger Soldat gewesen, kämpfte in seiner Zerknirschung mit brennenden Tränen. Dazu quälte er sein altes Hirn um Späße zur Aufmunterung der Kinder. Das Roß hielt er am 43 Zaum, als führte er eine Prinzessin durch den Urwald. Und bei alledem suchte er auch noch die in gezwungener Haltung voraus reitende Marquise im Auge zu behalten. Einmal, als ihm schien, die Herrin wanke im Sattel, warf er seinem Pferde den Zaum über den Hals und lief zu ihr vor, erhielt aber nur aus mühsam geöffneten Lippen den Bescheid: «Schau zu den Kindern, alter Trottel!» Das schnitt wie Peitschenhieb; aber es war, kaum vernommen, auch schon verziehen, und in unverminderter Aufmerksamkeit zog Toussaint seine teure Last hinter der Gestrengen her.
Zum andern Male seit der Ausreise sank die Sonne hinter das Gewirr der Bäume. Es wurde kalt. Ein feiner Regen begann zu rieseln. Da mußte es die Marquise zu des alten Dieners unaussprechlicher Genugtuung geschehen lassen, daß er ihr den Mantel um die zitternden Schultern warf. Ueber den Korb mit den Kindern warf er seinen eigenen Radkragen, was wenigstens ein paar Schritte weit ihre Laune verbesserte. Welche Erlösung bedeutete das Hundegebell, das nach dreistündigem Marsch die halb Träumenden aufschreckte! Zwischen hohen Bäumen blinkte ein Lichtlein. Es spiegelte sich in einer Wasserlache. War man an einem Teich oder dehnten sich bloß die Pfützen des Weges? Merant durchschritt einen finstern Hain und erkannte alsbald jenseits eines sumpfigen Grabens den Schattenriß von La Gaubretiere. Fortwährend den Kauzenruf an das alte Gemäuer hinübersendend, 44 ging er in weitem Bogen herum, bis er die Brücke fand.
Vom Pferde gehoben, vermochte Frau v. Bonchamps nicht mehr aufrecht zu stehen. Einer Sterbenden gleich wurde sie in das Schloß getragen. Auch die Kinder merkten kaum mehr, was mit ihnen geschah, als man sie zu Bett brachte. In ihrer Bestürzung über den Zustand der Marquise kümmerte sich die Herrin des Hauses, Madame de Boisy, nicht um den Rest der Karawane; doch fand Toussaint Hilfe an der Dienerschaft, die sich mit Eifer der Kinder annahm. Die ganze Nacht war viel Laufens in den düstern Korridoren, und am andern Morgen tuschelte man sich zu, daß die Marquise eines toten Knäbleins genesen sei.
Tagelang noch hing sie zwischen Tod und Leben. Ihre durch das Landleben gestählte Natur kämpfte wider die Erschlaffung, ihr gesundes Mark und Blut wollte leben und stritt mit keimenden Kräften wider die Lähmung. Das waren Stunden und Tage heißen Ringens, wie sie die Frau noch nie durchgemacht. Und doch war dieses Ringen des Leibes noch nicht das Schwerste. Grimmiger war der Kampf ihres Leben heischenden Herzens wider das Versinken in die Nacht der Verzweiflung. Ja, jetzt wußte sie, jetzt wandte ich durch die tiefste Kluft des finstern Tales, von dem der Psalmsänger spricht. Aber wo ein Tal eingeschnitten ist, stehen Berge. Auf den Bergen ist es licht, und für den Glaubenden gibt es keine unersteiglichen Wände.
45 Ihre einzige Frage in diesen Tagen und Nächten war: «Arthus? — Wo ist Arthus?» — Ach, daß sie ihren Mann herbeibeten könnte! Hatte er nicht seinen letzten Gruß am Vorabend einer Schlacht geschrieben? — Lebte er? — Hatte ihn nicht seine Herzensgüte auf die Schlachtbank geliefert? «Arthus, Arthus, hüten Sie sich! Kommen Sie! Tauchen Sie Ihre liebe tapfere Hand in die Finsternis meiner Seele! — Arthus, Ihre schützenden Arme! Ihr warm und stark schlagendes Herz! — Aber was werden Sie sagen, wenn ich Ihnen den Gegenstand unsres Hoffens tot vor die Füße lege? Was habe ich geschworen: Unter dem Lilienbanner wirst du ins Leben ziehen oder du wirst seine Schwelle meiden! Wer legte das Wort auf meine Zunge? Arthus! — Arthus! Mein Kind hat die Schwelle des Lebens gemieden. Was bedeutet das?»
«Die Mutter Gottes hat es aufgehoben. Es ist geborgen unter den Lilien ihres himmlischen Gewandes.»
Die Kranke schlug die Augen auf. Eine ihr wohlbekannte tiefe Stimme hatte ihr geantwortet. — Es war der Abbé Courgeon, den Frau von Loisy hatte holen lassen, damit er ihrer jungen Freundin die letzte Wegzehrung reiche.
Wie ein heller Glockenton hatte das Wort des Priesters das dunkle Tal durchzittert. Ein erster Riß im Gewölk. Und das Leben siegte. Der Kampf war entschieden.
Frau von Loisy sorgte für weitere Belebung. 46 Sie sandte Boten aus nach dem Revier, wo der Kampf tobte. Und die Boten brachten Siegesnachricht, Kunde von Heldentaten. Ueber Fontenay flatterte, weithin leuchtend, das Lilienbanner.
Alles atmete auf. Die Tore von La Gaubretiere durften tagsüber wieder offen bleiben. Zum erstenmal erging sich Frau v. Bonchamps wieder mit ihren Kindern im freien blühenden Felde. Die vielen neugierigen Fragen Hermenées aber blieben unbeantwortet, denn der Mutter Blicke schweiften unablässig über Land, nicht ängstlich ausschauend nach schleichenden Bösewichten, sondern sehnsüchtig nach einer Heldengestalt, die mit sieggekrönter Stirne das Gebüsch teilen und frohlockend einher reiten würde.
«Maman, Maman! dort kommen Leute!» rief die kleine Marie-Jeanne, die auf einen verkrüppelten Baum geklettert war. Wie hämmerte da das Herz der Genesenden! Sie mußte einen Augenblick an sich halten, bevor sie weiter zu schreiten wagte. Ueber hohem Grase bewegten sich weit draußen im Felde die Schlapphüte mehrerer Männer in gleichmäßigem Takte. Ihrer vier bewegten sich so. Dahinter wimmelten andere ohne Ordnung. Kein Reiter. Kein Pferd, noch Wagen. — Die vier, die sich im Takt bewegten, schienen unter sich verbunden. Sie trugen gemeinsam eine Last. Jetzt wuchsen sie aus dem Grase herauf. Ja, sie — trugen — eine — Bahre — einen — Menschen. — «O heilige 47 Maria! Mutter Gottes, erbarm dich unser!» Die Marquise preßte die Hände auf die Brust und blickte flehend nach dem Himmel und dann in atemloser Spannung nach den Kommenden, während die Kinder sich in ihre Kleider hingen. Es schien ihr, als brauchten die Männer Stunden, um die paar hundert Schritte bis zu ihr zurückzulegen. Endlich! Sie trat ihnen in den Weg.
«Arthus!»
Es blieb den Trägern kaum Zeit, ihre Last niederzulegen, so warf sich Jeanne de Bonchamps über ihren Gatten, indes die Kinder in jammerndes Schreien ausbrachen. Aber der strahlende Blick des Verwundeten beruhigte die Geängsteten, bevor auch nur die ersten Fragen ausgetauscht waren. Um die kleine Familie hatte sich, das Bild verfinsternd, der Kreis der neugierigen Männer geschlossen, auf deren Gesichtern kriegerischer Stolz sich mit kindlicher Teilnahme mischte. Als hätten sie ihr die ruhmreichste Trophäe zu Füßen gelegt, blickten sie alle erwartungsvoll auf die Herrin von La Baronniere.
«Was ist Ihnen geschehen, mein Teuerster?» fragte diese, Hände und Gesicht ihres Gatten mit Küssen bedeckend. Und während der junge General seinen Kindern zärtlich die tränenfeuchten Wangen streichelte, begannen schon ihrer drei oder vier von den Männern einander das Wort streitig zu machen, um unter verworrenem Erzählen das Lob ihres tapfern Anführers 48 zu singen. Fünfzehn Wegstunden hatten sie ihn abwechselnd getragen, und je näher sie dem Schloß La Gaubretiere gekommen, desto sehnlicher hatte jeder gehofft, an der Reihe zu sein, wenn es galt ihn seiner Gemahlin zu übergeben.
«Er war der erste in der Stadt, wie immer.» Das war die häufigste ihrer Beteuerungen. Und «wäre der Marquis nicht da gewesen, immer allen voran, wir wären nimmer hineingekommen», lautete ein anderer Refrain. Endlich ließen sie einem ältern Führer das Wort. Der erzählte: «So überrumpelt haben wir sie, daß sie zu Haufen in der Gasse drin standen und nicht wußten, wo ein, wo aus. Sie vertraten einander den Weg zur Flucht und fielen übereinander. Aus den Häusern schrien sie uns Willkommen zu und ließen den König hoch leben. Die Vordersten fielen auf die Knie und schrien um Gnade. Und unser guter Herr — o der gute edle Herr! Er wehrte den Nachstürmenden. Die Waffen nieder! Die Waffen nieder!»
«Ja, und...»
«Schweig doch! Laß mich reden!»
«Und da kommt einer und...»
«Ja so ein Schurke, ein niederträchtiger...»
«Einer aus der Vendée...»
«So ein Verräter...»
«Aber so laßt mich doch reden. Da kommt einer und fällt vor dem Pferd unsres Herrn...»
«In die Zügel gefallen ist er ihm, ich sah’s doch.»
49 «Nein, nein, dem Pferd vor die Hufe, auf die Knie und schreit um Gnade. Er sei Vater von fünf Kindern.»
«Von sieben hat er gesagt.»
«Nun meinetwegen. Wir wollten ihn greifen und wegführen.»
«Ich sah doch gleich, daß es nur ein Geflunker war.»
«Aber da befahl der Herr Marquis: die Waffen nieder! Laßt ihn laufen! Und wie er Luft hat und Raum genug...»
«Einem andern die Flinte aus der Hand gerissen hat er.»
«Er schlägt an und trifft — Gott sei’s geklagt! — den Herrn in die Brust — ja, der Schuft!»
«Aber das war sein letzter Schuß. — Und er blieb der einzige, der in der Stadt erschlagen wurde. Allen andern wurde Pardon gegeben, weil der Herr Marquis es so haben wollte. — Den Herrn haben wir nach Landebeaudiere gebracht und dann hieher, weil er vernommen hatte, daß die Frau Marquise hier sei.»
Unter Lächeln hatte der Marquis den stürmischen Bericht über sich ergehen lassen. Dann sagte er: «Seien Sie nur getrost, es ist so schlimm nicht. Mein Schlüsselbein ist entzwei, drum kann ich weder gehen, noch reiten. Die Brust ist nur obenhin abgeschürft.»
«Gott sei gelobt! — Aber nun laßt uns ins Schloß gehen, wackre Männer, ihr werdet hungrig 50 sein.» Mit diesen Worten erhob sich Frau v. Bonchamps, und man brach auf.
«Wußt’ ich’s doch», sagte die Marquise, neben der Bahre her schreitend, «daß Sie das Opfer Ihrer Herzensgüte sein werden. Ein Bösewicht vermag nun einmal nicht an so etwas zu glauben.»
Mit wehmütig teilnehmenden und fragenden Blicken maß der Verwundete die Gestalt seiner treuen Gefährtin. Aber erst im Schloß nahm er ihren Bericht entgegen, der ihn aufs tiefste bewegte.
«Es ist Gott gegeben», sagte Frau v. Bonchamps, «ich will nicht mehr klagen, habe ich doch Sie behalten dürfen, mein Herzliebster.»
Groß war die Freude des Marquis, als er seinen lieben Beichtvater wieder fand.
«Wie steht es um die Baronniere?» fragte er den alten Herrn. Dieser lenkte zuerst das Gespräch ab. Als aber der Marquis die Frage wiederholte, antwortete der Abbé: «Die Füchse haben Gruben, und die Vögel unter dem Himmel haben Nester...»
Da wußten sie, daß ihre Heimstätte ein Raub der Flammen geworden.
«Wer wird ein Schloß zum Obdach begehren, wenn sein König im Kerker schmachtet?» sagte der Marquis leise zu sich selbst.
Frau v. Bonchamps war sofort entschlossen, von nun an mit den Kindern ihrem Gatten ins Feld zu folgen; aber er wehrte es ihr und bat dringend, sie möchte den Kindern zuliebe auf 51 die Teilnahme am Krieg, die ihrem Heldenmut so lockend schien, verzichten.
«Wo soll ich denn nur Obdach suchen?» fragte sie. «Wir haben ja keine Heimat mehr. Haben wir die dem König geopfert, so mag er auch unser Leben hinnehmen!»
Der Abbé wandte ein: «Von nun an werden Sie am sichersten geborgen sein in dem, was von der Baronniere übriggeblieben ist. Von den Blauen wird dort keiner mehr etwas suchen.»
«Soll ich meine Tage in einem Kellergelaß zubringen, während ich den Fahnen des Königs folgen und Wunder verrichten könnte?»
Jeden andern würden die feuersprühenden Blicke der Generalin verwirrt haben. Wer konnte sich die Frau, wie sie dastand, freiwillig in einem dunklen Gewölbe hausend vorstellen? Aber der sicher schreitende Abbé antwortete:
«Vollbringen Sie das Wunder der Mutterliebe!»
Das fiel wie ein Hammerschlag von den schmalen Lippen des Greises. Das Wort war gemeint, wie es klang, und litt keinen Widerspruch noch Umweg.
Getroffen und dennoch trotzend stand die Marquise noch eine Weile da; aber ihre Augen wagten nicht recht aufzublicken, weder zu denjenigen des Beichtvaters, noch zu denjenigen ihres Gatten.
«Und wenn auch die Sorge um das Leben Ihrer Kinder Sie in ein Verlies zwingen würde», fuhr Monseigneur Courgeon fort, «so 52 kann es für Sie nur einen Entschluß geben, und Sie werden ihn leicht fassen, indem Sie der Mutter aller Mütter gedenken. Es wird keine Nacht je Ihnen so finster werden, daß Ihre Seele nicht erleuchtet würde durch die Erinnerung an die Leiden der allerseligsten Jungfrau: Stabat mater dolorosa iuxta crucem lacrimosa, dum pendebat filius. Cuius animam gementem, contristatam et dolentem pertransivit gladius.»
Jeanne de Bonchamps sah wohl ein, daß sie den Verzicht auch diesmal zu leisten hatte, obschon die Verwundung ihres Gatten ihr den Entschluß heute noch schwerer machte. O diese verschwendete Gutherzigkeit, diese unbesonnene Tapferkeit, sie werden den besten Mann der Vendée ins Verderben bringen! — Aber wie auch Angst, Sorge und Ehrgeiz ihre Brust durchtobten, wie eine Friedensglocke klang nun immer wieder das stabat mater in den Aufruhr. Und als der Tag erschien, da der Marquis sich wieder zu Pferde setzen und zur Armee abreiten konnte, brach sie mit ihren Getreuen auf, um in die Trümmer der Baronniere zurückzukehren.
Inzwischen war der Weg, der sie hieher geführt, durch die Nähe der Blauen ungangbar geworden, und Merant mußte einen weiten Bogen ausspüren. Dieser brachte die Karawane am Abend des ersten Marschtages an den Saum eines ausgedehnten Eichenforstes. Mit der äußersten Vorsicht wurde der dunkelgrüne Wall beobachtet. Erst als auch nicht das geringste Anzeichen von Menschennähe wahrgenommen worden, 53 rückte man in das feierlich stille Gewölbe der gewaltigen Kronen ein. Da drinnen aber wurde es lebendig. Wenige Schritte nur, und die kleine Kolonne war plötzlich von räuberhaft ausschauenden Gestalten umgeben. Loiseau’s Sperberaugen stellten aber zu aller Beruhigung alsobald fest, daß die Männer — es waren alles alte Leute, denen die grauen Haare wirr auf die Schultern hingen — an der Brust das «Heilige Kreuz» der Chouans trugen, ein mit einem roten Herzen und einem schwarzen Kreuz bemaltes Leinwandläppchen. Als man mit ihnen ins Gespräch kam, wurden die Reisenden ob ihrer Sorglosigkeit gescholten. «Reitet man so hoch zu Roß im Land herum!» hieß es. «Wir begleiten euch schon seit einer Stunde, und ihr habt nichts davon gemerkt.»
Als die Männer vernahmen, wen sie da in ihrer Mitte hatten, überboten sie sich an Dienstfertigkeit. Der Name Bonchamps wirkte wie eine Zauberformel. Der unbequemen Lage gewahr, in der die Kinder sich befanden, hoben die alten Männer Marie-Jeanne und Hermenée aus ihrem Korbe und trugen sie so behutsam durch den Wald, als fühlte sich jeder in der Rolle des heiligen Christophorus. Toussaint ließ sie nicht aus den Augen; weil sie aber neben der Marquise dahinschritten, durfte er sie ruhig gewähren lassen. Es ging sich in diesem Walde wie in einem Märchenlande. Schwarzen Säulen gleich trugen die Stämme der vielhundertjährigen Eichen das dunkelgrüne Gewölbe. Es war 54 fast kein Unterholz da, so daß man ziemlich weit in den dämmerigen Dom hineinsah. Es dauerte nicht lange, so hörte man Axthiebe und Stimmen. Die Marquise fragte, was das zu bedeuten hätte. «Wir kommen in die Stadt der Chouans», wurde ihr erklärt. Die Geräusche vermehrten sich. Man hörte Ochsen oder Kühe muhen, Schafe blöken, man hörte den Amboß klingen und Sägen knirschen.
«Was soll denn das alles? Sind wir hier so sicher?» fragte Frau v. Bonchamps.
«Wie in Abrahams Schoß», bekam sie zur Antwort. «In stundenweitem Umkreis sind Wachen ausgestellt. Hieher ist alles geflohen, was in den zerstörten Dörfern des Boccage gewohnt hat und nicht der Armee folgen konnte.»
Noch ein paar hundert Schritte gingen sie weiter. Da öffnete sich der Wald. Von grüner Mauer umhegt, breitete sich eine Lichtung. Durch die von Westen über den Baumwall schräg einfallenden Sonnenstrahlen stiegen aus einem Wirrwarr von Zelten, Strohhütten und Baracken viele Räuchlein in die blaue Luft. Zwischen den Hütten wimmelte es von Menschen, die den Hantierungen für das tägliche Brot oblagen. Mitten aus dem seltsamen Dorf, die Arme über das Gewirr breitend, ragte ein mächtiges Kruzifix, dessen Haupt eben noch die letzten Sonnenstrahlen küßten. Dorthin nahm die Karawane nun ihren Weg. Auf dem Platz vor dem hohen Kreuz ließ sich Jeanne de Bonchamps aus dem Sattel heben. Ihre Kinder links und rechts 55 neben sich, kniete sie hin, und während sie betete, traten von allen Seiten Bewohner der Zufluchtsstätte aus den Reihen ihrer dürftigen Zelte und schlossen sich mit dem Gefolge der Marquise dem feierlichen Vespergottesdienste an. Das Hämmern und Sägen verstummte mehr und mehr. Dafür erfüllte ein feierliches Murmeln, das sich zu lautem Chorgebet steigerte, die Abenddämmerung. In der dicht beisammen knieenden Menge sah man nur weiße und kahle Scheitel und dazwischen das wirre Gelock von Kinderköpfen. Ein Priester war an das Kruzifix getreten und brachte, mit kräftigen Lauten vorbetend, Ordnung und Rhythmus in das Gewoge der Stimmen. Nachdem er der Menge den Segen erteilt, begrüßte er die vornehmen Gäste.
«Sind diese Menschen alle obdachlos geworden?» fragte Frau v. Bonchamps den Priester.
«Alle», antwortete er, «und alle eins geblieben im Vertrauen auf den Sieg der Gerechtigkeit.»
Es waren viele Leute da, welche sich um die Ehre bewarben, der Marquise und ihren Kindern ein Nachtquartier herzurichten. Während dies geschah, besuchte Jeanne de Bonchamps das Zelt der Verwundeten, die man hier in Sicherheit gebracht. Da war nicht einer, der nicht in stolzer Genugtuung über das gebrachte Opfer die brennendsten Schmerzen überwand, nicht einer, der nicht aufleuchtete, wenn ihm der Name des Gastes genannt wurde.
«O wann werden meine Augen Zeugen sein 56 deiner Taten, mein Heißgeliebter!» murmelte die Marquise vor sich hin. Als sie sah, mit welchem Gleichmut diese vielen Menschen hier den Verlust ihrer Heimstätten ertrugen, kam sie die Lust an, in ihrer Mitte zu bleiben und ihr Schicksal zu teilen. Allein, sie hatte nun ihrem Gatten das Wort gegeben, und so brach sie am andern Morgen wieder auf, von vielen Neugierigen und Teilnehmenden bis an den äußern Waldsaum begleitet.
Bangen Herzens ritt sie ihrer zerstörten Heimat entgegen, und je näher man ihr kam, desto banger wurde ihr um das Herz. Endlich hatten sie die letzten Baumbestände hinter sich und erblickten das Schloß — ohne Dach und mit eingestürzten Giebeln. So groß schien aus der Ferne die Veränderung nicht. Aber als man dicht herankam und das Werk der Zerstörung im einzelnen sah, die wüsten Schutthaufen um das Schloß herum, die Schutthaufen im Hof, die leeren Fenster, die mit teuflicher Wut verwüsteten Gemächer, in die im Laufe glücklicher Jahre die Hausfrau mit so viel Freude an Schönheit und stillem Behagen hineingebaut hatte, was einem Menschen sein Obdach lieb machen kann, da brach der Jammer über sie herein, und sie warf sich schluchzend auf die Fliesen der Eingangshalle.
«Maman!» schrien die Kinder — und ihre Stimmchen wiederhallten kläglich in dem öden Raume — «Maman! Nicht weinen!»
Und daneben stand rat- und hilflos der gute 57 Toussaint, dem die hellen Tränen über das harte Gesicht liefen.
Nach einer langen dumpfen Stille trat der alte Diener zaghaft näher und zog die beiden Kinder zärtlich an sich, um sie wieder unter den blauen Himmel hinauszuführen. Wohin er mit ihnen sollte, wußte er nicht. Nur da hinaus aus der Stätte des Grauens!
Kaum aber hatte Frau v. Bonchamps seine Absicht bemerkt, begann sie sich ihrer Schwäche zu schämen. Sie richtete sich auf und befahl: «Geh’! Bring die Kinder in Sicherheit, damit wir schauen, wo wir uns einnisten können.»
Während Toussaint sich mit den Kindern entfernte, durchstöberte die Herrin von La Baronniere die Ruinen ihres Schlosses, um einen Winkel zu suchen, der sich bewohnen ließ. Sie fand ihn in einem Eckturm, dessen Dach zwar ebenfalls abgebrannt war, der aber gewölbte Räume enthielt, die dem Feuer widerstanden hatten.