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I.

Auf dem Feldweg, der vom Schloß Baronniere zwischen den keimenden Wintersaaten nach der Heide hinausführte, erging sich im lang ersehnten Sonnenschein des Vorfrühlings eine junge Frau mit ihren zwei Kindern, einer neunjährigen Tochter und einem siebenjährigen Sohne. Daß es eine Dame von hohem Adel war, verriet beinahe nur die Art und Weise, wie sie mit ihren Kindern umging, denn ihre Kleidung war sehr schlicht, ihre Gesichtsfarbe konnte an ländlicher Frische mit derjenigen irgend eines Bauernmädchens wetteifern, die Hände, welche freilich nur Auserwählte zu fassen bekamen, fühlten sich fast rauh an. Ihr Gang, ihre Haltung — ja, die waren königlich; aber das durfte von den meisten Töchtern des Boccage gesagt werden, jenes Landstriches, welcher das Herz der Vendée bildet.

«Maman», fragte die kleine Marie-Jeanne, «hörst du? — Was ist das?»

Aus einer dichten Reihe von Schwarzpappeln, die sich in einiger Entfernung über die gewellte Hochebene hinzog und den des Landes Unkundigen vermuten ließ, daß die Bäume einen Bach beschatteten, scholl ein seltsamer Gesang. 6 Langgezogene Töne folgten sich in melancholischem Rhythmus. Wie Litanei klang es. Doch ließen sich keine Worte unterscheiden.

«Kommt», antwortete die Marquise de Bonchamps, «ihr werdet es gleich sehen. Ein rodierender Bauer.»

Sie beschleunigten ihre Schritte und bogen auf einem ganz schmalen Pfad längs einer Feldmarche gegen die Baumreihe ab, als sie auch schon einen Bauersmann mit langem Stecken den Bäumen entlang schreiten sahen. Der war es, der den Sang erschallen ließ. Dabei blickte er beständig zwischen die Pappeln hinein, als schaute er den Wellen des Baches zu. Es floß aber dort gar kein Bach. Ein tief eingeschnittener Hohlweg war es, besäumt von Strauchwerk und Bäumen. Wie aus dem Boden tauchten jetzt zwei unterm Joch schwerfällig ziehende Ochsen auf und noch ein Paar und noch eins. Und den mächtigen Tieren folgte knarrend und schwankend ein hochbeladener zweiräderiger Karren. Diesen Tieren galt der Gesang, so erklärte die Marquise ihren Kindern, er machte ihnen die Marschmusik. Dafür brauchte der Bauer keine Peitsche. Sie hätte noch viel von dem merkwürdigen Gesang zu erzählen gewußt. War es nicht auch der Ruf, mit dem die jungen Burschen sich weithin ihren Liebsten kundtaten?

Ueber einem Graben, an dessen Böschung die Kinder Schneeglöckchen entdeckten, setzte sich Frau von Bonchamps auf einen Feldstein und ließ ihre Gedanken rückwärts streifen. Heute 7 waren es gerade zwei Monate, seitdem in Paris des Königs Haupt gefallen. Dieses furchtbare Ereignis bedeutete im Leben der Marquise — so schien es ihr wenigstens — den größten Wendepunkt. Es hatte sie auf einen Weg gewiesen, den sie niemals wieder verlassen würde, nachdem die Grundlage all ihrer Hoffnungen in Trümmer gegangen war. Aber welch seltsames Gemisch von Gefühlen beherrschte diesen Augenblick die Seele der jungen Frau. Es war ihr beinahe zumute, als sollte sie die zarten Frühlingsblumen, welche das Entzücken ihrer Kinder bildeten, mit hartem Fuß in den Boden treten. Nein, nein, das wollte, das durfte sie sich von diesen Vorboten der bessern Jahreszeit nicht sagen laßen, so wenig wie vom erquickenden Anblick ihrer Kinder, daß solch furchtbare Stürme, die alles, woran man geglaubt, zerbrochen, auch ihr Gutes bringen und einem neuen, der Wahrheit näher liegenden Leben Bahn brechen könnten. Nein — weg mit solchen Gedanken! Genug, daß schon so mancher sonst treue und brave Mensch durch sie verführt worden!

Gewiß, was nun da um sie her war, die Kinder, das schöne alte Schloßgut, das Haus mit seinem Frieden und seinem stillen Glück — eine Insel im tobenden Meere — es war alles erst jetzt so recht ihr Besitz geworden, seitdem der Zusammenbruch des Thrones ihren Gatten von aller Welt abgeschnitten. Was war zuvor ihr Leben gewesen? Eine ruhelose Irrfahrt, ein heißer Kampf um ein Ideal. So alt wie Hermenée, 8 ihr kleiner Sohn hier, war sie gewesen, als der Tod ihr die Eltern entrissen. Die Klöster von Port-Royal und Belle-Chasse hatten ihr eine Wohnstätte geboten, aber keine Heimat. Und als sie ihr Glück an der Seite ihres Gatten zu finden geglaubt, da harrten ihrer nur die schmerzlichen Trennungen des Kriegsdienstes. Erst nachdem den Offizieren der königlichen Armee ein schimpflicher neuer Fahneneid zugemutet worden und die alten Regimenter sich aufgelöst, durfte das junge Ehepaar seinen Weg gemeinsam gehen — aber welch’ einen Weg! Zur Hölle war ihnen Paris geworden, während sie unter tausend Gefahren ihr Leben für die Rettung des Königs einsetzten. — Hatte Gott sie durch diese Tiefen geführt, damit sie nun das Glück in der Stille desto höher schätzen lernten? Ja, als ein Gnadengeschenk des Himmels nahm sie es, wenn auch blutenden Herzens, hin und nur als das. Als eine Priesterin des Hauses wollte sie es verwalten. Mochten die Stürme weiter wüten! Thron und Krone konnten sie zu Fall bringen, das Werk einer Mutter nimmermehr.

Wenn erst der Marquis der jetzt seine Tage ohne Zweck und Ziel in Trübsinn hinbrachte, zur Erkenntnis kam, daß es sich lohnte, dieses Glück am heimischen Herde zu pflegen, dann würden doch vielleicht seine Wunden endlich vernarben. Er mußte es doch einsehen, daß es nun galt den Kindern die bisher hindurch gerettete Heimat zu erhalten, bis eine ruhigere Zeit heraufzog.

9 «Kommt, meine Kinder!» rief sie. Hermenée hob sie auf ihren kräftigen Arm und herzte ihn, während er ihr seinen kleinen Blumenstrauß ins Gesicht streckte. Marie-Jeanne lief neben ihr her und ordnete mit geschickten Händchen, was sie gesammelt. Am blauen Himmel segelten blendende Wolken und ließen leichte Schatten über die erwachende Erde gleiten. Da und dort schritten Lente von der ersten Feldarbeit ihren strohbedeckten Hütten zu. Alles noch treu ergebene Menschen, die keinen andern Gedanken hegten, als nach ihrer Väter Weise den Acker zu bauen und dem angestammten Herrn zu dienen. Mit kindlichem Vertrauen ruhten die Blicke der Marquise auf den altersgrauen Mauern des Schlosses, das von seiner Hügelwelle weit über Wald und Heide schaute. Aus dem grauen Gewirr eines in die Ferne sich dehnenden Forstes von alten Eichen klang von Zeit zu Zeit noch die Stimme des Fuhrmanns. Sie ging aber bald unter im zänkischen Gebell der in ihrem Pferch gefangenen Jagdmeute, die soeben gefüttert wurde. Dieses alltägliche Schauspiel lockte die Kinder von der Mutter weg. Sie mußte Hermenée zur Erde gleiten und es sich gefallen lassen, daß ihre Mahnung Sorge zu tragen von den Davoneilenden unbeachtet blieb. Natürlich patschte der Kleine in den Kot; aber das war man gewohnt. Es gab kein Wehegeschrei, und Marie-Jeanne half dem Brüderchen wieder zurecht. Die Marquise schenkte ihre Aufmerksamkeit zwei Männern, die soeben unter lebhaften 10 Gesten den Schloßhof verließen und den Weg nach der Fahrstraße einschlugen.

Als sie der Herrin begegneten, traten sie beiseite, zogen ihre verwetterten Schlapphüte und verbeugten sich tief, wobei ihnen die langen Haupthaare wirr über Stirn und Wangen fielen. Der eine war Merant, der Jägermeister des Schlosses.

«Madame», meldete er, sich aufrichtend, «der Metayer von La Gaubretiere brachte soeben einen Bericht, der Euer Gnaden nicht wenig interessieren wird.» Er ließ seinem Begleiter das Wort. «Ich hatte die Ehre», sagte der Metayer, «dem Herrn Marquis mitzuteilen, daß die Jungmannschaft des Boccage, welche auf den zehnten März zur Aushebung für die Armee der Republik nach Saint Florent aufgeboten war, sich weigerte das Los zu ziehen.»

«Brave Leute!» antwortete die Marquise. «Nun, wir sind es gewohnt, daß sie den Fahnen des Königs treu bleiben. Aber, sagen Sie mir, bedeutet das nicht Krieg?»

«Es bedeutet Erhebung und Sieg der gerechten Sache. Die Frau Marquise kann sich denken, daß die Schergen des Konvents nichts unversucht ließen, um ihren Willen durchzusetzen. Als sie merkten, daß ihre Lockungen und Drohungen in den Wind gingen, ließen sie ein Geschütz auffahren. Aber sie hatten sich verrechnet. Im Nu war die Kanone in den Händen unsrer wackern Burschen, und die erste ihnen zugedachte Kartätschladung fuhr in die Fenster der Mairie, 11 wo die Herren aus Paris ihre Kanzlei aufgeschlagen hatten. Hei, wie das klirrte!»

«Und dann?»

«Ha! Die Herren packten die leer gebliebenen Konskriptionslisten zusammen und suchten das Weite.»

Die beiden Männer lachten hell auf, während in den Zügen der Marquise Bewunderung und Bangen kämpften.

Das Gespräch wurde unterbrochen durch ein lautes Wehegeschrei der beiden Kinder. Raschen Schrittes wandte sich Frau von Bonchamps dem Hundezwinger zu, wo die fütternde Magd sich unter derben Schimpfwörtern bemühte, einen ausgebrochenen großen borstigen Griffon wieder einzufangen. Auf dem ausgetretenen Pflaster streichelten Marie-Jeanne und ihr Brüderchen eine tot gebissene Katze. Das arme Tier hatte seine Jungen gegen den übermütigen Hund verteidigt und seinen mütterlichen Wagemut mit dem Leben bezahlt. Die Marquise, an die kleinen Zwischenfälle des Landlebens gewöhnt, bekundete wenig Rührung. Sie nahm die beiden Kinder an der Hand und schritt den Ställen entlang gegen das Schloßtor. Im Vorübergehen warf sie einen Blick auf die jungen Kätzchen, die, noch blind, oben auf einer Strohaufschüttung an der Stallmauer, in warmem Nest übereinander krabbelten und mit ihren kleinen rosigen Schnauzen nach der Mutter tasteten.

«Oh, Maman, laß mich sehen», bettelten die beiden Kinder.

12 «Es gibt nichts zu sehen», sagte die Mutter kurz. «Toussaint wird sie alle töten müssen. Ohne ihre Mutter können die Jungen nicht leben.»

«Oh!» jammerten die Kinder. Aber die Marquise führte sie rasch ins Schloß. Sie verlor kein Wort weiter über das kleine Ereignis, bemühte sich jedoch umsonst den Eindruck, den es ihr gemacht, zu verwischen. Erst als sie die Kinder ihrer Wärterin Lisette übergeben hatte und durch die ausgelaufene Wendeltreppe eines Eckturms zum Bibliotheksaal hinaufstieg, wo der Marquis sich in letzter Zeit gewöhnlich aufhielt, traten ihr die Begebenheiten wieder vor die Seele, von denen der Metayer von La Gaubretiere gesprochen. Einen Augenblick lauschte sie vor der Türe, ob ihr Gatte wieder, wie all diese Tage, rastlos auf und nieder gehe. Stundenlang pflegte er das zu tun, nur mit kurzen Unterbrechungen, in denen er etwa ein Buch aufschlug oder eine Waffe betrachtete. Heute war es still. Frau von Bonchamps trat ein und fand den Marquis am Fenster stehend, wo er einen neuen Feuerstein in den Hahn einer Pistole schraubte. Rasch schritt sie auf ihn zu, die Frage auf den Lippen, was er zu den Nachrichten aus Saint Florent sage. Noch hatte sie kein Wort ausgesprochen, als der Marquis ihr mit sichtlichem Gefallen die Pistole zeigte. Er legte sie auf den Tisch zu andern Waffen, die dort wie zur Inspektion bereit lagen. Aus seinem Gesicht war der grämliche Zug, der ihn seit des Königs Tod entstellt, gewichen, und 13 aus seinen hellen Augen flammte etwas wie Genugtuung.

Die Marquise preßte die Hand auf das Herz und fragte: «Mein Herzliebster, Sie werden doch nicht daran denken, mit den Insurgenten von Saint Florent ins Feld zu ziehen?»

Lange blickte sie in banger Spannung auf den Gatten. Ohne ein Wort zu sagen, ergriff dieser ihre Hand und zog sie an seine Lippen.

Wieder blickte sie ihn fragend an, und als er abermals nur mit der kampflustigen Sprache seiner Augen antwortete, rief sie: «Ach nein, nicht doch! Mein Herzliebster!» und warf sich schluchzend an die Brust des stolzen Kriegers, dessen unbesonnene Tapferkeit ihr wohlbekannt war. Das Regiment Aquitaine hatte ihn zu den verwegensten seiner Offiziere gezählt. Und hätte nicht damals, als sie einsam in der Baronniere lebte, während Arthus in Longwy in Garnison stand, das Bewußtsein die junge Frau gehoben, daß ihr Mann für den König jeder Gefahr die Stirne biete, nimmermehr würde sie dieses Leben ertragen haben.

Der Marquis führte seine Gemahlin zu einem Sofa und setzte sich neben sie.

«Seien Sie tapfer, Jeanne,» fing er an. Aber sie unterbrach ihn: «Denken Sie an die Kinder! Es ist nicht mehr dasselbe wie in der Zeit von Longwy, wo wir an niemand als an den König zu denken hatten. Nun ist der König tot.»

«Aber sein Sohn lebt.»

14 «Man wird ihn nicht wieder zu seinem Recht kommen lassen.»

«Solange er lebt, solange ein Mitglied des königlichen Hauses lebt, dürfen wir uns nicht zur Ruhe setzen.»

«Aber es würde besser sein, den Sturm verbrausen zu lassen und den Tag zu erwarten, da das französische Volk sich wieder nach seinem alten Herrn sehnt.»

«Wir dürfen nicht warten, bis es völlig ruiniert ist.»

«Aber denken Sie an die Kinder, Arthus! Vielleicht ist es ihnen vorbehalten, den Thron wieder aufzurichten, die Kirchen Gott wieder zu geben. Unsre Aufgabe ist es doch wohl eher, ihnen die Heimat zu erhalten und sie zu treuen Dienern des Königs und der Kirche zu erziehen. Unsre Kraft ist gebrochen. Es bedarf eines neuen starken Geschlechtes, um der Gerechtigkeit wieder zum Siege zu verhelfen.»

«Ich denke an das Volk, das seinem König treu bleiben will. Dürfte ein Edelmann hinter ihm zurückbleiben? An die Spitze der Treuen gehören wir. Denken Sie an den Eindruck, den es machen würde, wollten wir untätig hinter unsern Mauern bleiben.»

«Verachten Sie die Mutter Ihrer Kinder nicht, Arthus. O, wie ich Sie bewundere und liebe, mein herzliebster Mann, aber meine Kinder — meine Kinder! — Ich werde Gott um Erleuchtung anflehen. Er hat sie uns geschenkt. 15 Er hat uns dieses stille Glück geschenkt. Er muß einen Weg für uns beide wissen.»

«Der Weg ist da, meine Teuerste. Meine Kinder haben eine Mutter, die ihnen das Höchste und Beste zu geben vermag, eine Mutter, die ihnen den Weg zu den Pforten des Himmels bahnt und zu den Stufen des Thrones. Frankreichs Mütter werden dem Könige das neue Geschlecht schenken, unser, der Alten Blut wird die Schuld des untergehenden tilgen.»

Noch lange währte das Gespräch zwischen den beiden. Die Marquise ging endlich mit blutendem Herzen wieder an ihre Hausgeschäfte; aber den Tränen, die ihr oft genug in die Augen traten, ließ sie nicht freien Lauf. Etwas war anders geworden in der stillen Baronniere. Der dumpfe Druck, den des Hausherrn Trübsinn auf das ganze Leben im Schlosse gelegt, war gewichen. Erhobenen Hauptes und in altgewohnter Beweglichkeit sah man den Marquis im Hof, in den Ställen, in der Sattelkammer erscheinen, wie früher an Tagen, die einer großen Jagd oder einem Feste vorangingen. Während er sich am Nachmittag in den Sattel schwang und über Feld ritt, empfing die Marquise seinen Beichtvater Monseigneur Courgeon. Sie vertraute ihm all ihre Sorgen an, indem sie von ihm einen Fingerzeig erhoffte, den sie als Wink des Himmels aufnehmen würde. Zu ihrem Erstaunen erklärte der ehrwürdige Herr nach sehr kurzem Besinnen: «Madame, der Marquis hat das Herz auf dem rechten 16 Fleck. Er ist würdig seiner Väter und des Adels des Boccage, der dem Volk von altersher das leuchtendste Beispiel gab. Diese Herren haben es verstanden, das Volk der Vendée zum treuesten von ganz Frankreich zu erziehen. Ihr Werk, ist es, wenn es aus eigenem Antrieb gegen die Feinde Gottes und des Königs zu den Waffen greift. Wie sollten es nun diese Braven verstehen, wenn auf einmal ihre Führer versagten? Jetzt geht es um die heilige Religion. Da ist kein Opfer zu groß.»

«Glauben Sie nicht, Monseigneur», antwortete Frau v. Bonchamps, «daß es mir an Opfermut fehle. Heute noch würde ich zu Pferde steigen und selbst mit zu Felde ziehen, allen voran, wenn nicht meine Kinder mich erbarmten.»

«Bei diesen ist auch Ihre Pflicht, Frau Marquise. Ich kenne Ihr ritterliches Herz. Lassen Sie es nicht Herr werden über die Gefühle der Mutter. Frankreich braucht Helden, aber ebenso sehr bedarf es hingebender Mütter.»

So schwand der jungen Frau die Hoffnung, ihren Mann durch Ueberredung an das Haus fesseln zu können. In schlafloser Nacht rang sie mit sich selbst. Nur die eine Möglichkeit schien ihr noch offen zu bleiben: daß der Anblick der Kinder selbst vielleicht ihres Gatten Entschluß abzuändern vermöchte. Sie wußte es einzurichten, daß am andern Morgen die Kleinen beständig in seiner Nähe blieben und daß er öfters genötigt war, sich mit ihnen abzugeben. Mit schlauer Aufmerksamkeit verfolgte sie jede Veränderung 17 seines Gesichtsausdrucks, und jedesmal, wenn sie das geringste Merkmal väterlichen Schmerzes darin wahrzunehmen glaubte, wußte sie die Kinder zu verdoppelter Zärtlichkeit gegen Papa anzuregen. Diese Qualen suchte die Marquise zu steigern, bis in ihr selbst die Frage sich erhob: Wie wird es um des Hauses Frieden bestellt sein, wenn es uns gelingt, den tapfern Mann und königstreuen Offizier von seinem Entschluß abzubringen? Sie verlor ihre Sicherheit, und das Mitleid mit dem so heißgeliebten, ja vergötterten Gatten bewog sie, die Kinder, wie gestern, mit sich ins Freie zu nehmen.

Noch hatte Frau v. Bonchamps den Hof nicht verlassen, als man ihr meldete, es sei eine große Schar bewaffneter Bauern im Anmarsch. Dem Marquis war das Glitzern blanken Eisens zwischen den kahlen Bäumen nicht entgangen. Mit aufleuchtenden Augen hatte er von seinem Fenster aus beobachtet, wie vereinzelte Männer in großen Schlapphüten vom Hohlweg auf den freien Feldweg heraustraten, wie sie sich rasch vermehrten und endlich zu einem schwarzgrauen Gewoge anwuchsen, aus welchem Stahlfunken aufblitzten. Nach Hunderten zählten die in ungeordnetem Haufen gegen das Schloß Anmarschierenden. Ihr sorgloses Daherlaufen ließ die friedliche Absicht bald erraten. Auf der nach dem Hofe führenden Freitreppe traf der Marquis mit der ihn suchenden Gemahlin zusammen. Die Kinder duckten sich hinter das Geländer und blickten verwundert nach dem gegenüberliegenden 18 Torbogen, der von verhaltenem Stimmengewirr dumpf widerhallte. Und jetzt traten auch schon die ersten aus dem Bauernhaufen, schüchtern nach allen Seiten spähend, in den Hof, an dessen Fenstern sich allsogleich auch das Gesinde zeigte.

Kaum hatten die Männer den Herrn des Schlosses entdeckt, traten sie entblößten Hauptes näher heran, verbeugten sich, wobei ihnen das ungeschnittene Haar über die Schläfen fiel. Als die letzten in den Hof traten, erhob sich der Anführer, schwenkte hoch seinen breitrandigen Filz und rief: «Es lebe der König! Es lebe der Marquis von Bonchamps!» Und der Hof widerhallte von dem dröhnenden Ruf der Menge, die den Gruß mit kräftiger Stimme wiederholte. Als das wilde Schwenken der Hüte nachgelassen und die bleiche Märzensonne unbehindert auf die krausen Scheitel schien, trat der Aelteste dicht an die Stufen der Freitreppe und begann dem Marquis die Lage im Boccage zu schildern. «Mögen sie immer im übrigen Frankreich den Nacken vor den Königsmördern beugen, in der Vendée hat man nie etwas anderes gewußt, als Gott und dem König dienen. So hielten es unsre Väter, so halten auch wir’s, und darum läßt sich unser keiner in den blauen Rock stecken. Wir haben die Werber des Konvents zum Teufel gejagt und sind frei geblieben. Aber nun wissen wir wohl, daß sie mit großer Heeresmacht wiederkehren und Rache nehmen werden. Wir sind entschlossen Haus und Hof, Schloß und 19 Kirche, Weg und Steg gegen sie zu verteidigen. Es ist nicht einer unter uns, der nicht bereit wäre, sein Leben in die Schanze zu schlagen. Das einzige, was uns noch fehlt, ist ein Hauptmann, der des Kriegs kundig wäre und uns zusammenhielte. Darum, Herr Marquis, sind wir hieher gekommen. Seien Sie unser Anführer! Retten Sie das Volk der Vendée! Retten Sie unsre Kirche!»

«Es ist kein Geringes, was ihr von mir verlangt, meine Lieben. Seht!» antwortete der Marquis und hob sein kleines Söhnchen über das Treppengeländer. «Bin ich nicht diesen meinen Kindern mein Leben schuldig?»

«Sehr wohl, Herr Marquis», scholl es ihm aus dem Haufen entgegen, «aber wieviele sind unter uns, die nicht Kinder oder Eltern und Geschwister zu erhalten haben? Wir werden auch Ihr Haus schützen.»

«Laßt mir wenigstens einige Tage Zeit zur Ueberlegung!»

«Oh, Herr Marquis, dazu ist es zu spät.» Die Männer drängten sich Kopf an Kopf an die Treppe, und aus hundert Augen schrie die Sorge vor dem Versäumen des Augenblicks. «Sie haben furchtbare Rache geschworen. Mann, Weib, Kinder, unser Vieh, ja selbst die Bäume sollen vernichtet werden. Jeden Augenblick können sie hereinbrechen. Wehe uns, wenn sie uns nicht in Reih und Glied geschlossen finden!»

«So sagt mir wenigstens, liebe Leute,» fragte der Marquis, «habt ihr euch wohl überlegt, was 20 ihr beginnt? Seid ihr vom ersten bis zum letzten fest entschlossen, euch zu opfern für die Verteidigung unsrer heiligen Sache?»

Einer Salve gleich brauste das kurze Ja in die Luft.

«Gut denn, so schwört mit mir, treu zu sein unsrer heiligen Religion und unsrem jungen in Ketten geschlagenen König!»

Waffen, Hüte, Rosenkränze fuhren in derben Mannsfäusten in die Luft, und die Vordächer warfen ein dröhnendes Gemenge von leidenschaftlichen Treuschwüren in den Hof zurück.

Noch einmal ermahnte der Marquis, der selbst mit erhobenem Arme geschworen, während er die bewundernden Blicke seiner Gattin, die groß aufgerissenen Augen seiner staunenden Kinder auf sich fühlte, die Männer zu treuem Ausharren in aller Not und Gefahr. Er warnte sie vor Rachsucht und Grausamkeit, die eines Christen unwürdig seien. Dann befahl er, den Männern einen Trunk zu spenden und sein Pferd zu satteln.

In schweigender Bewunderung, ergriffen durch die begeisterte Entschlossenheit der Landleute, folgte die Marquise mit den Kindern ihrem Mann in seine Gemächer. Voll inniger Zärtlichkeit schloß er sie in die Arme. Und während sie, keines Wortes mächtig, schluchzend an seinem Halse hing, sprach er mit der Erhabenheit eines Propheten: «Wappnen Sie sich mit Mut, meine Teuerste, verdoppeln Sie Ihre Geduld und Opferfreudigkeit, Sie werden ihrer bedürfen. 21 Auf irdischen Lohn dürfen wir nicht rechnen, das wäre der Reinheit unsrer Beweggründe und der Heiligkeit unsrer Sache unwürdig. Nicht einmal menschlicher Ruhm wartet unser, Bürgerkrieg trägt solchen nicht ein. Ja, wir werden unsre Schlösser in Flammen aufgehen sehen. Wir werden ausgeplündert, geächtet, verleumdet, vielleicht sogar geopfert werden.»

Die folgenden Worte sprach der Marquis seiner Gattin mit gedämpfter Stimme ins Ohr: «Danken wir Gott für diesen Einblick in die Dinge, die unser harren, er verdoppelt unser Verdienst und läßt uns zum voraus der Hoffnung auf die ewige Vergeltung unerschütterlicher Treue genießen. Halten wir unsre Blicke nach dem Himmel gerichtet, von wo wir Leitung, Kraft und unvergänglichen Lohn für die kurzen Leiden dieser Zeit erwarten.

Und wenn es geschehen sollte, daß ich...»

Frau v. Bonchamps riß sich los und verhielt sich die Ohren, indem sie mit glühenden Augen aufschrie: «Das sprechen Sie nicht aus! Das wenigstens wird uns Gott erlassen.»

Der Marquis ersparte ihr weitere schmerzliche Worte. Nachdem er sich feldmäßig ausgerüstet, herzte er nochmals Weib und Kinder und schritt, von ihnen gefolgt, in den Hof hinunter. Als er zu Pferde steigen wollte, baten ihn die Bauern davon abzusehen und wie einer der ihren zu Fuß in ihrer Mitte nach Saint Florent zu marschieren. Er gab ihnen nach, 22 winkte noch einmal zurück und verschwand dann inmitten des frohlockenden Haufens. Sattel- und Packpferd wurden ihm nachgeführt.

Die Marquise eilte mit den Kindern in ein Turmgemach, von dessen Fenster sie den Zug bis weit in die Heide hinaus verfolgen konnte. Wieder und wieder hob sie bald ihr Töchterchen, bald den kleinen Hermenée an das Fenster und ließ sie winken, bis endlich jede Antwort ausblieb. Dann nahm sie die Kinder mit auf ihr Zimmer und setzte sich zwischen sie auf das Ruhebett. Beide schmiegten sich eng an die Mutter, die lange, lange starr vor sich hinblickte und der Zärtlichkeiten nicht zu achten schien. Was sollte das, daß diese Bauern ihren Herrn und Gebieter nicht zu Pferde steigen ließen? Es schien ihr kein gutes Zeichen zu sein. Sie erriet nicht, daß die guten Leute damit nur darzutun gedachten, wie sie mit ihren Leibern den Führer schützen würden, wie sie aber auch von ihm blindes Vertrauen erwarteten.

Das lange Schweigen der Mutter machte die Kinder ungeduldig. Ohne Antwort zu erhalten, bedrängten sie die Marquise mit allmählich verdrießlicher werdenden Fragen und Zärtlichkeiten, die ihr das Verlassensein nur noch deutlicher zum Bewußtsein brachten. Plötzlich erhob sie sich, brachte die Kinder zu Lisette und stieg, ohne recht zu wissen warum, wieder in das Turmgemach hinauf. Als ob sie die Abziehenden noch irgendwo in der Ferne erspähen könnte, ließ sie ihre Blicke nach der Heide hinausschweifen. 23 Aber da war ja weit und breit nichts als das unübersehbare Heer alter Bäume, die in traurigem Schweigen dem Hinsterben des Lenztages zusahen. Ein rosiger Dunst verhüllte die Erde. Und auf einmal warf die in den kalten Gründen des Waldes lauernde Nacht ihren grauen Schleier über das Antlitz der entschlafenden Heimat. — Vergangen — vorbei. Ein Schauer durchrieselte die einsame Frau, und ein klemmender Schmerz überfiel sie mit solcher Macht, daß sie zusammenzubrechen wähnte. Aber sie raffte sich auf und entfloh dem Grauen der öden Turmkammer. Der zerbröckelnden Mauer entlang tastend, glitt sie, ein Schemen im Schatten, die Wendeltreppe hinab und schlüpfte in die Kapelle. Von niemand gesehen, glaubte sie. Aber das leise Gemurmel auf den hintersten Schemeln verriet ihr, daß auch das treue Gesinde seine Sorge um den Herrn vor Gottes Gnadenthron brachte.

Die Wucht der Eindrücke dieses Tages ließ die Ermüdete während der ersten Stunden der Nacht schlummern. Dann aber erwachte sie zu neuen Qualen, die nicht von ihr abließen, bis der Lichtgruß eines neuen Morgens sie vorzeitig vom Lager scheuchte und abermals vor den Altar in der Kapelle trieb.

Noch lag sie dort auf den Knien, als Monseigneur Courgeon erschien, um die Frühmesse zu lesen. Nach derselben führte der Priester die Marquise zu ihren Gemächern. Endlos schien ihr der Morgen. Sie vermochte kaum die Stunde 24 zu erwarten, da sie die Kinder wecken durfte, ohne ihnen etwas von dem ihnen nötigen Schlaf abzubrechen. Dann aber gab sie sich ihnen mit aller mütterlichen Zärtlichkeit hin.

Es ging gegen Mittag, als man ihr den Besuch ihres Bruders, des Hauptmanns de Scepeaux, meldete.

«Man sagt mir soeben, daß Arthus gestern abgeholt wurde,» begann der junge Herr nach kurzer Begrüßung. «Fiel es ihm schwer?»

«Ich glaube, es fiel ihm nicht leicht, sich von mir und den Kindern zu trennen; aber ich brachte es nicht über mich, ihn zurückzuhalten. Es war ja doch, seit wir hierher kamen, sein einziger Wunsch und Gedanke, wieder in des Königs Dienst zu treten.»

«Das weiß ich, er hat es mir oft gesagt.»

«Ich werde ihn opfern müssen, er wird nicht in die Baronniere zurückkehren.» Die Marquise heftete bei diesen Worten ein paar fragende Augen auf ihren Bruder, denn sie wollte damit nur einen beruhigenden Widerspruch herausholen. Aber Herr de Scepeaux schwieg. Nach seiner Ueberzeugung war der Untergang der alten Vendée ebenso unvermeidlich wie die Teilnahme des Adels an dem Aufstand. Er lenkte ab und sagte: «Gott weiß es, aber es darf keiner von uns zu Hause bleiben. Ich werde mich Arthus anschließen und bei ihm ausharren, wenn er mich brauchen kann.»

Toussaint Piccard meldete, daß das Essen 25 aufgetragen sei, und daß Monseigneur sich mit zu Tische setzen werde.

«Wie?» fragte Herr de Scepeaux, «der Abbé Courgeon? Ist er noch da oder schon wieder da?»

«Er ist immer bei uns verborgen geblieben, als längst alle Priester des ancien régime vertrieben waren.»

«Ach, der wackere Mann. Nun, da wird er sich freuen, wenn ich ihm melden kann, daß mit den Schergen des Konvents die falschen Priester verjagt wurden, welche der Pariser Regierung zuliebe das schändliche neue Gelübde abgelegt haben, und daß die vertriebenen Treuen wiederkehren.»

Der alte Hauspriester freute sich herzlich über die gute Kunde und fast noch mehr darüber, daß es ihm selber vergönnt war, an diesem Tage, der ihm das Tor ins Freie öffnete, die Marquise mit guter Nachricht zu beglücken. «Eben kommt einer der Jäger gelaufen», sagte er, «und berichtet, daß der brave Cathelineau mit seinen Bauern Jalais, Chemillé und Chollet eingenommen und einen stattlichen Park von Geschützen erbeutet habe.»

«Ah, welch ein Glück!» riefen die Geschwister gleichzeitig.

«Jetzt ist’s gut», fuhr Herr de Scepeaux fort. «Das ist ja, was uns fehlte. Wir hatten keine Artillerie. Nun wird Arthus der Sache eine Wendung zum Guten zu geben wissen.»

«Und ich bin sicher», erklärte der Abbé, «daß 26 die Nachricht von diesen Erfolgen die Anhänger des Königs jenseits der Loire bis tief in die Bretagne hinein zum Anschluß ermuntern wird. — Es kommt gut — es muß gelingen.»

Die Marquise war plötzlich Feuer und Flamme. «Wenn es so steht, dann lohnt es sich, das Letzte zu opfern. Du kannst Arthus melden, daß ich ihm alle Mannschaft nachsende, deren ich habhaft werden kann. Ich werde selber von Haus zu Haus gehn. Nennt mir einen, der mir nicht Folge leisten würde. O, ich werde sie selbst ins Feld führen.»

«Frau Marquise», warnte der Priester, «die Mütter, die Mütter!»

Kaum hatte Frau v. Bonchamps ihre Gäste entlassen, so machte sie sich an ihre Kleidertruhen. Ihr Brautkleid holte sie hervor, breitete es über den nächsten Tisch und schnitt sich daraus eine Fahne zurecht. Die goldenen Lilien dazu fand sie in einer alten Brokat-Taufdecke. Einen Augenblick zögerte sie, als das prachtvolle Erbstück vor ihr ausgebreitet lag. Erzählte nicht sein mattschimmerndes Farbenspiel von dem Ahnherrn, der bei Montcontour wie ein Löwe gegen die Hugenotten focht? Nur weniges aus seinem kostbaren Hausrat ward vor der Zerstörungswut der Ketzer gerettet, als sie seine Königs- und Glaubenstreue mit dem Niederbrennen von Pierre-Fitte bestraften. Wird nicht in wenigen Monaten ein neuer Nachkomme unter dieser Decke zur heiligen Taufe getragen werden? Nein, junger Bonchamps, der du unter 27 meinem Herzen dem Licht entgegenschlummerst, das Lilienbanner wird deine Taufdecke sein, das Lilienbanner, das deine Mutter für die tapfern Scharen deines Vaters genäht hat. Unter den siegleuchtenden Falten des Lilienbanners wirst du in das Leben einziehen oder du wirst seine Schwelle meiden.

Ein kurzes Besinnen, ein leises Gebet, dann stieß die kleine tatkräftige Hand die Schere den goldenen Lilien entlang.

Aus den Resten der Brautseide stellte die Marquise weiße Kokarden her, einen kleinen Korb voll. Die kleine Marie-Jeanne durfte ihr dabei helfen.

Zu der Arbeit summte sie immer und immer wieder ein altes Lied von der Königstreue mit dem Refrain:

Dem König, dem König mein Hab und Gut,
dem König mein Leben,
dem König mein Blut!

Und bald folgte der volltönenden Altstimme der leidenschaftlich erglühenden Mutter das feine dünne Stimmchen ihrer frohlockenden Tochter.


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