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Es ist Sonntag. Die Glocken zweier Nachbarkirchen tönen feierlich herüber zur Hütte des Häuers. Ihr Klang ist so süß den Glücklichen; er verkündet ihnen den Frieden Gottes, den Sabbath des Herrn. In der Hütte drin ist es heute wie alle Tage: Lumpen bedecken die Blöße der Kinder und nicht einmal ein neugewaschen Hemd ist für sie vorhanden. Rümmler sitzt am Fenster, die umwölkte Stirn in die Rechte gestützt, hinausstarrend über die weiße Flur; und wie er das fleckenlose blendende Schneegewand betrachtet, denkt er: so rein wie dieser Schnee war vor wenig Tagen noch dein Kind, und wie er so denkt und hinausstarrt, da sieht er ein Weib gerade auf die Hütte zukommen. Es ist in einen prächtigen Mantel gehüllt und ein seidener Hut mit wallenden Straußfedern bedeckt seinen Kopf. Wer mag das sein? Wer anders, als das theure Kind, die gute Christel, jetzt des Waldmüllers – Wirthschaftsmamsell! Ein Freudenstrahl durchzuckt des armen Mannes bekümmertes Herz – mit dem Rufe: Unsere Christel! springt er auf und eilt ihr entgegen. Draußen unter dem blauen, sonnigen Himmel umarmt und preßt er sie an sein Herz. Er sieht ihr nicht in die Augen, er blickt ihr nicht auf die Wange – er will nichts sehen, was ihm die Seele durchbohren könnte – er will einen Augenblick lang die Wonne genießen, als wäre er noch der glückliche Vater von früher.
Der arme Vater! Als er sie hineingeleitet und sie den Hut heruntergerissen, den Mantel abgeworfen hatte, da sah er, wie die rosigen Wangen abgehärmt und ihre Augen getrübt waren. Sie gab sich zwar einen Schein von Heiterkeit, theilte freundlich Kuchen und andere Näschereien unter ihre Geschwister aus und äußerte sogar Zufriedenheit mit ihrem Loose; aber dem scharfen Blicke des Vaterherzens entging die Wahrheit nicht. Ein Fluch über den Mörder ihres Glückes entfuhr murmelnd seinen Lippen.
Christel blieb den ganzen Sonntag in der väterlichen Hütte, denn der Waldmüller hatte ihr Erlaubniß dazu gegeben. So übernahm sie für diesen Tag wieder wie früher die Besorgung des Hauswesens. Sie kochte, wusch, trug Wasser, fegte und that, was sie konnte, um die gestörte Ordnung in etwas wieder herzustellen. Sie hätte der Hände zehn haben mögen, so viel gab's zu thun, zumal da es die höchste Zeit war, daß das neugeborne Würmchen getauft wurde. So verging der Tag nur allzuschnell und als der Abend zu dämmern begann, setzte sie sich mit dem Vater an das Fenster, und erzählte ihm von ihres Herrn außerordentlicher Freundlichkeit und wie er ihr über Alles Macht gegeben im ganzen Hause. Dazu fügte sie, daß sie sich in ihr Geschick ergeben habe.
Nur Eins bekümmere sie: sie habe gehört, daß der Geigenfranz aus Rußland wiedergekommen sei. Sie glaube es zwar nicht, weil er sie sonst gewiß schon würde aufgesucht haben; wenn er aber ja käme, so könnte es leicht noch einen schweren Kampf geben. Den wünsche sie sich und ihm zu ersparen. Der Vater möchte daher Alles aufbieten, ihn von ihr fern zu halten – »und Ihr, lieber Vater!« schloß sie, »Ihr möget auch ruhig sein. Wer weiß, wozu das Alles gut ist – denkt nur nicht, daß ich unglücklich bin!«« Die Thräne, die sich dabei aus ihrem Auge stahl, strafte diese Worte Lügen. Der Vater aber bemerkte es nicht, weil seine Augen von stärkeren Zähren überflossen. Sie schickte sich jetzt an, die Hütte wieder zu verlassen. Ihre Geschwister drängten sich um sie und baten sie, doch noch zu bleiben – ach! sie wäre wohl gern da geblieben, aber sie konnte nur versprechen, bald wieder zu kommen. Liebevoll beugte sie sich nieder und küßte ein Jedes, sagte Allen ein freundlich Wort und ermahnte sie sanft zur Folgsamkeit. So stand sie von all den Ihrigen umringt, als sich schnell die Thür öffnete und hereintrat – der Geigenfranz.
Im schmucken Sonntagskleide, einen schweren Reisesack über den Schultern, frisch, rosig und keck, so trat der hübsche Bursch herein, grüßte zuerst den Vater Rümmler, dann die Mutter, dann die Kleinen, Allen treuherzig die Hand schüttelnd. Dann ging er, weniger keck – ja bei näherer Betrachtung sogar schüchtern – auf seine weit in den Hintergrund getretene Herzliebste zu. Mit gesenktem Gesichte streckte sie ihm ihre Hand entgegen; er ergriff sie mit stürmischer Hast – sie war ohne Regung – er wollte das Mädchen umarmen – sie wehrte es ihm.
»Mein Gott!« stammelte er betroffen, »was ist denn das? – Christel! hast Du mich denn nicht mehr gern? – Und wie bist Du verändert!«
Ein Strom von Thränen war die Antwort.
»Jesus! Maria! – Du weinst! Was ist denn vorgegangen? Vor länger denn einem Jahre habe ich als Dein treuer Bursch die Heimath verlassen, bin mit meiner Geige viele hundert Meilen weit gezogen, um Dich zu erringen, bin auch überall glücklich gewesen, habe Geld über Geld verdient und bin reicher heimgekehrt, als ich je zu werden geträumt. Und nun, da ich komme. Dir mein – unser Glück zu verkünden, finde ich Dich – anstatt zu frohlocken – in Thränen. Wie soll ich das deuten? Christel! bist Du Deinem Franz nicht mehr gut?«
»Frage mich nicht so, Franz! Ach, Franz! laß ab von mir! Ich kann niemals die Deine werden.«
»Was ist das? So bist Du mir wohl untreu geworden? Untreu, trotz dem Gelübde, das wir uns thaten, als ich Abschied von Dir nahm? Hat Dich etwa der reiche Hallunk, der Waldmüller, noch erkapert? – Sprich! Christel, sprich! – Dein Schweigen treibt mich zum Wahnsinn!«
Eine peinvolle Pause trat jetzt ein. Endlich brach Vater Rümmler dieselbe.
»Laßt ab!« ermahnte er, »laßt ab, guter Franz! Dringt heute nicht weiter in sie! Glaubt mir, sie hat Euch noch so lieb, wie ehedem! Ihr ist nur etwas widerfahren, was sie ganz außer sich gebracht hat. Darum laßt heute ab von ihr! Ein andermal wird sie Euch anders empfangen.«
»Aber warum wendet sie das Gesicht von mir ab und würdigt mich nicht eines Blickes, nicht einmal eines Druckes der Hand? – Christel! sprich! ist Deine Gesinnung noch die alte, oder hast Du mich verstoßen?«
Das arme Mädchen richtete sich auf, sah ihn mit unbeschreiblicher Wehmuth an und sprach: »Meine Gesinnung hat sich nicht geändert, und wie könnte ich Dich verstoßen? Aber – Du – Du mußt mich verstoßen – denn – ich – – ach! erlaß mir das! – Ich kann Dir's nicht sagen!«
»Ich fasse das nicht; – Du machst mich ganz verwirrt. Deine Gesinnung, sagst Du, sei noch dieselbe – Du könntest mich nicht verstoßen – aber ich müßte Dich verstoßen? – Wer sagt das? Ei, den will ich doch sehen, der mich dazu zwingen wollte, wenn Du mich liebst! – Christel, theures Herz! beantworte mir nur eine Frage: Liebst Du mich noch? Weiter will ich heute nichts von Dir wissen, als ob Du mich liebst. Ja oder nein!«
»Ja!« antwortete Christel leise und wandte sich wiederum ab.
»Nun,« jubelte Franz, »weiter brauch' ich nichts. Kommt, Vater Rümmler, da hab' ich Euch was mitgebracht, was Ihr gewiß lange entbehrt habt: ein paar Flaschen Ungarischen, echten Ausbruch.« Dann nahm er den Reisesack her und zog die genannten Gegenstände heraus. »Und hier hab' ich auch Euch 'was mitgebracht, Mutter Marthe, einen warmen Hauspelz – und hier eine wollene Jacke für Euch, Vater – und hier vier Stück dergleichen für die Buben da – und hier drei Röckchen für die kleinen Mädel. Das Alles holte er vergnügt wie ein Gott aus seinem weiten Reisesack hervor. Ganz unten aber befand sich noch etwas, das ließ er drin, jedenfalls war es die Hauptsache: ein Geschenk für seine Herzliebste. »Nun müßt Ihr aber auch ein Licht holen, daß Ihr Euch die Sachen recht ordentlich besehen könnt.«
Vater Rümmler erhob sich, doch Christel kam ihm zuvor, sie benutzte diese Gelegenheit, um, von der Dunkelheit begünstigt, ihren Mantel und Hut heimlich hinauszuschaffen. Als sie mit dem Lichte zurückkam und es auf den Tisch setzte, sah ihr Franz mit einem Blick voll Liebe ins Gesicht. O Gott! diese Blässe, diese leidende Miene – der ganz verstörte Ausdruck des lieblichen Gesichts, was er Alles vorher nicht bemerkt hatte, fuhr ihm wie Dolchstiche durch das Herz. Sie wendete sich schnell weg und eilte hinaus.
Franz schüttelte den Kopf; er wollte reden, aber die Beklommenheit schnürte ihm die Brust zusammen; seine Gedanken flossen ineinander. Jetzt war es ihm, als wenn die Hausthür knarrte, und das Geräusch versetzte ihn in eine unerklärliche Unruhe – es war aber nur der Wind, der es verursachte. Es verstrichen Minuten um Minuten – Franz wurde immer unruhiger – denn Christel kam nicht wieder. Endlich konnte er nicht mehr an sich halten.
»Wo bleibt aber die Christel?« fragte er mit ängstlicher Stimme.
»Sie ist vielleicht in die Nachbarschaft spazieren gegangen,« sagte Rümmler.
»Wie? Jetzt? Wo ich da bin – das erste Mal nach so langer Abwesenheit?«
»Oder vielleicht hat sie sich niedergelegt, weil ihr nicht wohl ist.«
»So konnte sie wenigstens gute Nacht sagen. Alter! ich weiß nicht, was ich denken soll. Dies Benehmen ist mir auffallend – ich ahne – ach! mein Herz möchte mir zerspringen – Gott im Himmel! wenn sie mich dennoch verrathen hätte – so wahr ein Gott lebt – so –«
»Um Gotteswillen! lieber, guter Franz, beruhigt Euch doch!«
»Beruhigt sich was, Alter, wenn man alle Qualen der Hölle empfindet – wenn man – nach jahrelanger Trennung von dem Mädchen seines Herzens, dem Mädchen, das man mehr liebt, als sich selbst – wenn man da, sag' ich, so von ihr empfangen wird. Nein, nein! Es mag sein, wie es will – es ist nicht, wie es sein soll. – O Christel! Christel! wer hätte das gedacht!«
»Guter Franz! denkt nichts Schlechtes von meiner Tochter. Wenn sie Euch heute wehe gethan, so geschah es nicht gern. Gewiß, sie hat Euch noch so lieb, wie sonst, glaubt mir das; aber sie hat viel erduldet in diesen Tagen.«
»Was sagtet Ihr da? Erduldet? Was ist ihr begegnet? War sie krank?«
»Das nicht, aber Schlimmeres ist ihr widerfahren. Forscht nicht danach! Bald sollt Ihr Alles wissen – ach! ich kann es nicht sagen.«
Da richtete sich Marthe im Bette auf.
»Warum ihm die Wahrheit verhehlen?« sagte sie, »da er sie doch einmal wissen muß! Und besser ist's, er weiß, woran er ist. Wer weiß, ob die Sache sich nun nicht noch anders lenken läßt. – Seht, Herzensfranz, ich sah es früher nicht gern, daß Ihr meiner Christel zu Gefallen ginget, weil Ihr keine Familie ernähren konntet; nun ist das aber 'was Anderes, wenn man Euren Worten glauben darf: Ihr habt Geld, Euch anzukaufen und einzurichten.«
»Weiß Gott, Mutter Marthe!« unterbrach sie Franz. »Zwölfhundert Gulden Zwanziger hab' ich mir erfiedelt.«
Das Ehepaar brach gleichzeitig in einen Ausruf des Erstaunens aus.
»Zwölfhundert Gulden?« fuhr Marthe fort. »Nun, was hat es denn da für Noth mit Euch? Da seid Ihr ja ein reicher Mann und könnt wo ganz anders anklopfen, als bei der armen Häuerstochter. Nein, da müßt ich eine Närrin sein, wenn ich länger schief dazu sehen sollte, daß Ihr um meine Tochter freit. Ich gebe gern meinen Segen dazu, und es kommt nur darauf an, sie dem Waldmüller aus den Händen zu reißen, denn bei dem ist sie jetzt.«
»Bei dem Waldmüller?« schrie Franz und fuhr, wie von einer Tarantel gestochen, in die Höhe. »Ist sie doch in dessen Hände gefallen? O, meine Ahnung!«
»Nicht freiwillig hat sie's gethan,« nahm Rümmler das Wort, »sie war gezwungen – der Himmel weiß, daß sie gezwungen war.«
»Und wer hat sie gezwungen? Wer hatte Gewalt über sie, als Ihr? Sagt, habt Ihr sie gezwungen?«
»O, Ihr seid schrecklich, Franz! Ich und mein Weib – da ist Gott unser Zeuge, daß wir sie Keines gezwungen haben. Aus Noth that sie den verhaßten Schritt. O Ihr wißt nicht, was wir, was sie zuvor gelitten. Erst nach hartem Kampfe zog sie zum Müller, weil der es in der Hand hatte – hört Ihr! – mich ins Zuchthaus zu bringen.«
»Euch? Unglücklicher! Was habt Ihr gethan?«
»Nichts, als einen elenden Rehbock geschossen, weil ich für mein krankes Weib und meine acht Kinder nichts mehr zu leben hatte. Begreift Ihr, was das zu bedeuten hat, Franz? Doch hört mich ruhig an, ich will Euch nun Alles ausführlich erzählen.«
Franz setzte sich nieder und Rümmler erzählte, wie's ihm seit sechs Tagen ergangen und was sich zugetragen bis zu dem Augenblicke, wo er sein Kind vermißte. Stumm, aber mit einem tobenden Vulkan in der Brust, hörte Franz der Erzählung zu. Als sie zu Ende war, sprang er, seiner nicht mehr mächtig, auf und stürzte fort. Vergebens eilte Rümmler, ihn aufzuhalten, umsonst rief er ihm zu, nichts Gewaltsames zu unternehmen – der Jüngling rannte dahin, als würde er von bösen Geistern verfolgt.
So ging ein Sonntag in der Häuerfamilie zu Ende.