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Meine Schule

Als ich mich den Vierzigern näherte, eröffnete ich eine Schule in Bengalen. Das hatte man sicherlich nicht von mir erwartet, der ich den größten Teil meines Lebens damit zugebracht hatte, Verse zu machen. Daher dachten die Menschen natürlich, daß diese Anstalt wohl keine Musterschule werden würde; jedenfalls aber würde sie etwas unerhört Neues sein, da ich mich so ganz ohne alle Erfahrung an das Unternehmen gewagt hatte.

Dies ist der Grund, warum ich so oft gefragt werde, was denn eigentlich die Idee ist, die meiner Schule zugrunde liegt. Die Frage setzt mich sehr in Verlegenheit, denn ich darf nichts Alltägliches darauf antworten, wenn ich die Erwartung der Fragenden befriedigen will. Ich will jedoch der Versuchung, originell zu sein, widerstehen und mich damit begnügen, nur wahr zu sein.

Ich muß gleich gestehen, daß es schwer für mich ist, diese Frage überhaupt zu beantworten. Denn eine Idee ist nicht etwas wie ein festes Fundament, worauf man ein Gebäude errichtet. Sie ist mehr wie ein Samenkorn, das auch nicht gleich, so wie es anfängt zu keimen und zu wachsen, auseinandergelegt und erklärt werden kann.

Nun aber verdankt diese Schule ihren Ursprung gar nicht irgendeiner neuen Erziehungstheorie, sondern einfach der Erinnerung an meine eigene Schulzeit.

Wenn diese Zeit für mich eine unglückliche war, so liegt der Grund dafür nicht nur in meiner persönlichen Anlage oder in den besonderen Übelständen der Schulen, die ich besuchte. Es kann schon sein, daß ich, wenn ich etwas robuster gewesen wäre, mich dem Druck allmählich angepaßt und es schließlich bis zum Abschluß des Universitätsstudiums gebracht hätte. Aber Schulen sind nun einmal Schulen, wenn auch einige besser sind als andere, je nach dem Maßstab, den sie an sich legen.

Die Vorsehung hat dafür gesorgt, daß die Kinder sich von der Milch der Mutter nähren. Sie finden ihre Mutter und ihre Nahrung zu gleicher Zeit, und Körper und Seele kommen zugleich zu ihrem Recht. So lernen sie gleich die große Wahrheit, daß die wahre Beziehung des Menschen zur Welt die persönliche Liebe ist und nicht das mechanische Kausalgesetz.

Einleitung und Schluß eines Buches haben ähnlichen Charakter. In beiden wird die Wahrheit als Ganzes vor den Leser hingestellt, ohne daß die Einzelheiten entwickelt werden. Der Unterschied ist nur, daß diese Wahrheit uns in der Einleitung einfach erscheint, weil sie noch nicht analysiert ist, und am Schluß, weil die Analyse vollständig ist. Zwischen beiden entfaltet sich die Wahrheit, hier verwickelt sie sich, stößt sich an Hindernissen und bricht ganz auseinander, um sich endlich in vollkommener Einheit wiederzufinden.

So wird auch dem Menschen gleich beim Eintritt in die Welt der Weisheit letzter Schluß in dieser einfachen Form offenbart. Er wird in eine Welt geboren, die für ihn intensivstes Leben ist, wo er als Einzelwesen die volle Aufmerksamkeit seiner Umgebung in Anspruch nimmt. Wie er heranwächst, geht ihm die naive Sicherheit in der Auffassung der Wirklichkeit verloren, er kann sich in der Kompliziertheit der Dinge nicht mehr zurechtfinden und trennt sich von seiner Umgebung, oft im Geiste des Widerspruchs. Doch wenn so die Einheit der Wahrheit zerbricht und ein hartnäckiger Bürgerkrieg zwischen seiner Persönlichkeit und seiner Umgebung anhebt, so kann Sinn und Ziel doch nicht ewige Zwietracht sein. Um diesen Sinn und den rechten Schluß für sein Leben zu finden, muß er über den Umweg des Zweifels wieder den Weg zur schlichten, vollkommenen Wahrheit finden, zur Einheit mit der Welt durch das Band unendlicher Liebe.

Daher sollte man dem Menschen in seiner Kindheit sein volles Maß vom Trunk des Lebens geben, nach dem ihn so unaufhörlich dürstet. Das junge Gemüt sollte ganz von dem Gefühl durchdrungen werden, daß es hineingeboren ist in eine Menschenwelt, die in Harmonie ist mit der umgebenden Welt. Und dies gerade ist es, was unsere herkömmliche Schule mit überlegener Weisheitsmiene streng und hochmütig übersieht. Sie reißt die Kinder mit Gewalt aus einer Welt, die voll ist von dem geheimnisvollen Wirken Gottes, voll von Hindeutungen auf persönliches Leben. Aus bloßen Gründen der Schulzucht weigert sie sich, das einzelne Kind zu berücksichtigen. Sie ist eine Fabrik, die eigens dazu eingerichtet ist, Waren von möglichst gleichförmigem Schliff herzustellen. Sie zieht eine gerade Linie nach dem Durchschnittsmaß, und dieser Linie folgt sie, wenn sie die Kanäle des Unterrichts gräbt. Aber das Leben hält sich nicht an die gerade Linie, es hat seinen Spaß daran, mit dieser Durchschnittslinie auf- und abzuwippen, und lädt so den Zorn der Schule auf sein Haupt. Denn nach der Auffassung der Schule ist das Leben vollkommen, wenn es sich behandeln läßt, als ob es tot sei, so daß man es nach Belieben symmetrisch zerlegen kann. Das war es, worunter ich litt, als ich zur Schule geschickt wurde. Denn plötzlich entwich meine Welt rings um mich her und machte hölzernen Bänken und geraden Wänden Platz, die mich mit dem leeren Blick des Blinden anstarrten. Der Schulmeister hatte mich nicht geschaffen, das Unterrichtsministerium war nicht zu Rate gezogen, als ich in diese Welt kam. Aber war das ein Grund, das Versehen meines Schöpfers an mir zu rächen?

Doch die Sage lehrt uns ja, daß man nicht im Paradiese bleiben darf, wenn man vom Baum der Erkenntnis ißt. Daher müssen die Kinder der Menschen aus ihrem Paradiese in ein Reich des Todes verbannt werden, in dem der Geist der Uniform herrscht. So mußte mein Geist sich in die enge Hülle der Schule zwängen lassen, die wie die Schuhe der Chinesin meine Natur bei jeder Bewegung überall drückte und quetschte. Ich war glücklich genug, mich ihrer zu entledigen, bevor mein Gefühl ganz abstarb.

Obgleich ich nicht die volle Bußzeit abzudienen brauchte, die die Menschen meines Standes auf sich nehmen müssen, um Zutritt zu der Gesellschaft der Gebildeten zu erlangen, so bin ich doch froh, daß mir ihre Plage nicht ganz erspart blieb. Denn so habe ich an mir selbst das Unrecht erfahren, das die Kinder der Menschen erleiden.

Die Ursache dieses Unrechts ist, daß der Erziehungsplan der Menschen dem Plan Gottes zuwiderläuft. Wie wir unsre Geschäfte betreiben, ist unsre Sache, und daher können wir in unserm Geschäftsbureau schaffen und wirken, wie es unserm besonderen Zweck entspricht. Aber solch ein Geschäftsbetrieb paßt nicht für Gottes Schöpfung. Und die Kinder sind Gottes eigene Schöpfung.

Wir sind in diese Welt gekommen, nicht nur, daß wir sie kennen, sondern daß wir sie bejahen. Macht können wir durch Wissen erlangen, aber zur Vollendung gelangen wir nur durch die Liebe. Die höchste Erziehung ist die, welche sich nicht damit begnügt, uns Kenntnisse zu vermitteln, sondern die unser Leben in Harmonie bringt mit allem Sein. Aber wir finden, daß man diese Erziehung zur Harmonie in den Schulen nicht nur systematisch außer acht läßt, sondern daß man sie konsequent unterdrückt. Von klein auf werden wir so erzogen und unterrichtet, daß wir der Natur entfremdet und unsre innere und äußere Welt in Gegensatz zueinander gestellt werden. So wird die höchste Erziehung, die Gott uns bestimmte, vernachlässigt, und man nimmt uns unsre Welt, um uns dafür einen Sack voll Wissen zu geben. Wir berauben das Kind seiner Erde, um es Erdkunde zu lehren, seiner Sprache, um es Grammatik zu lehren. Es hungert nach Heldengeschichten, aber man gibt ihm nüchterne Tatsachen und Daten. Es wurde in die Menschenwelt geboren, aber es wird in die Welt lebender Grammophone verbannt, um für die Erbsünde, in Unwissenheit geboren zu sein, zu büßen. Die Natur des Kindes lehnt sich mit der ganzen Kraft des Leidens gegen solch Elend auf, bis sie schließlich durch Strafen zum Schweigen gebracht wird.

Wir alle wissen, Kinder lieben den Staub der Erde; Leib und Seele dieser kleinen Geschöpfe dürsten nach Luft und Sonnenschein wie die Blumen. Sie sind immer bereit, den Einladungen zu unmittelbarem Verkehr zu folgen, die fortwährend aus der Welt an ihre Sinne gelangen.

Aber zum Unglück für die Kinder leben ihre Eltern in ihrer eigenen Welt von Gewohnheiten, wie sie ihr Beruf und die gesellschaftliche Tradition mit sich gebracht haben. Das läßt sich in mancher Beziehung nicht ändern. Denn die Menschen sind durch die Verhältnisse und durch das Bedürfnis nach sozialer Gleichförmigkeit gezwungen, sich nach einer bestimmten Richtung hin zu entwickeln.

Aber unsre Kindheit ist die Zeit, wo wir noch frei sind – oder sein sollten – frei von dem Zwang, uns innerhalb der engen Grenzen zu entwickeln, welche berufliche und gesellschaftliche Konventionen aufgerichtet haben.

Ich erinnere mich noch sehr gut, welch unwilliges Erstaunen ein erfahrener Schuldirektor, der den Ruf hatte, vorzügliche Disziplin zu halten, zeigte, als er sah, wie einer meiner Schüler auf einen Baum kletterte, um oben auf der Gabelung eines Astes seine Aufgaben zu lernen. Ich mußte ihm zur Erklärung sagen: die Kindheit ist die einzige Zeit, wo ein zivilisierter Mensch noch die Wahl hat zwischen den Zweigen eines Baumes und einem Wohnzimmerstuhl; sollte ich, weil mir als einem Erwachsenen dies Vorrecht versagt ist, es darum dem Knaben rauben? Überraschend ist es, daß derselbe Direktor ganz damit einverstanden war, daß die Knaben Botanik studierten. Er legt Gewicht auf eine unpersönliche Kenntnis von dem Baume, weil das Wissenschaft ist, aber er hält nichts von einer persönlichen Bekanntschaft mit ihm.

Diese wachsende Erfahrung bildet allmählich den Instinkt, der das Ergebnis der Methode ist, nach welcher die Natur ihre Geschöpfe lehrt. Die Knaben meiner Schule haben eine instinktive Kenntnis von der äußeren Erscheinung des Baumes gewonnen. Durch die leiseste Berührung wissen sie, wo sie auf einem scheinbar ungastlichen Baumstamm Fuß fassen können; sie wissen, wie weit sie sich auf die Zweige wagen dürfen, wie sie ihr Körpergewicht verteilen müssen, um den jungen Ästen nicht zu schwer zu werden. Meine Schüler verstehen es, den Baum auf die bestmögliche Weise zu benutzen, sei es nun, daß sie seine Früchte pflücken, auf seinen Zweigen ausruhen oder sich vor unerwünschten Verfolgern in ihnen verbergen. Ich selbst bin in einem gebildeten städtischen Heim aufgewachsen und habe mich mein ganzes Leben lang so benehmen müssen, als ob ich in einer Welt lebte, in der es keine Bäume gäbe. Daher betrachte ich es als einen Teil meiner Erziehungsaufgabe, meinen Schülern in vollem Maße begreiflich zu machen, daß Bäume in diesem Weltsystem eine wirkliche Tatsache sind, daß sie nicht nur dazu da sind, um Chlorophyll zu erzeugen und die Kohlensäure aus der Luft zu nehmen, sondern daß sie lebendige Wesen sind.

Von Natur sind unsre Fußsohlen so gemacht, daß sie die besten Werkzeuge zum Stehen und Gehen auf der Erde sind. Von dem Tage an, wo wir anfingen, Schuhe zu tragen, setzten wir die Bedeutung unsrer Füße herab. Dadurch, daß wir ihre Verantwortlichkeit verminderten, nahmen wir ihnen ihre Würde, und jetzt lassen sie sich Socken und Pantoffeln von allen Preisen und Formen oder Unformen gefallen. Es ist, als ob wir Gott Vorwürfe machten, daß er uns nicht Hufe gegeben hat, statt der mit schöner Empfindungsfähigkeit ausgestatteten Sohlen.

Ich will gar nicht die Fußbekleidung völlig aus dem Gebrauch der Menschen verbannen. Aber ich möchte doch dafür eintreten, daß man den Fußsohlen der Kinder die Erziehung, die ihnen die Natur kostenlos gibt, nicht vorenthalten soll. Von allen unsern Gliedern sind die Füße am geeignetsten, mit der Erde durch Berührung vertraut zu werden. Denn die Erde hat ihre fein geschwungenen Konturen, die sich nur ihren echten Liebhabern, den Füßen, zum Kusse darbieten.

Ich muß wiederum gestehen, daß ich in einem respektablen Hause aufwuchs, wo meine Füße von klein auf sorgfältig vor der nackten Berührung mit dem Staube gehütet wurden. Wenn ich versuche, es meinen Schülern im Barfußgehen gleichzutun, dann wird es mir schmerzhaft klar, welch dicke Schicht von Unwissenheit in bezug auf die Erde ich unter meinen Füßen trage. Ich suche mit unfehlbarer Sicherheit die Dornen aus, um darauf zu treten, in einer Weise, daß es eine wahre Lust für die Dornen ist. Meinen Füßen fehlt der Instinkt, den Linien zu folgen, die am wenigsten Widerstand bieten. Denn selbst die ebenste Erdfläche hat ihre winzigen Hügel und Täler, die nur fein gebildete Füße spüren. Ich habe mich oft gewundert über das scheinbar zwecklose Zickzack von Wegen, die über vollkommen ebene Felder führten. Und es ist noch unbegreiflicher, wenn man bedenkt, daß ein Fußpfad nicht durch die Laune eines Einzelnen entsteht. Wenn nicht die meisten Fußgänger genau dieselbe Laune hätten, so könnten solche augenscheinlich unzweckmäßigen Steige nicht entstehen. Aber die wahre Ursache liegt in den feinen Eingebungen von seiten der Erde, denen unsre Füße unbewußt folgen. Die, denen solche natürlichen Beziehungen nicht abgeschnitten sind, können die Muskeln ihrer Füße mit großer Schnelligkeit dem geringsten Winke anpassen. So können sie sich gegen das Eindringen von Dornen schützen, selbst wenn sie auf sie treten, und sie können ohne das geringste Unbehagen barfuß über einen Kiesweg gehen. Ich weiß, daß es in der Praxis heutzutage ohne Schuhe, ohne gepflasterte Straßen und ohne Wagen nicht geht. Aber sollte man die Kinder nicht in ihrer Erziehungszeit die Wahrheit erfahren lassen, daß die Welt nicht überall Gesellschaftszimmer ist, daß es so etwas wie Natur gibt, und daß ihre Glieder für den Verkehr mit ihr wunderbar geschaffen sind?

Es gibt Leute, welche glauben, daß ich durch die Einfachheit der Lebensweise, die ich in meiner Schule eingeführt habe, das Ideal der Armut, das das Mittelalter beherrschte, predigen will. Ich kann diesen Gegenstand an dieser Stelle nicht nach allen Seiten erörtern; aber wenn wir ihn vom Standpunkt der Erziehung aus betrachten, müssen wir da nicht zugeben, daß die Armut die Schule ist, in der der Mensch seinen ersten Unterricht und seine beste Erziehung empfängt? Selbst der Sohn eines Millionärs wird in hilfloser Armut geboren und muß die Aufgabe seines Lebens von Anfang an lernen. Er muß gehen lernen wie das ärmste Kind, wenn er auch die Mittel hat, ohne Beine durch die Welt zu kommen. Die Armut bringt uns in die engste Berührung mit dem Leben und der Welt, denn als Reicher leben, heißt meistens durch Stellvertreter leben und infolgedessen in einer Welt von geringerer Wirklichkeit. Dies mag gut sein für unser Vergnügen oder unsren Stolz, aber nicht für unsre Erziehung. Der Reichtum ist ein goldener Käfig, in dem den Kindern der Reichen ihre natürlichen Gaben künstlich ertötet werden. Daher mußte ich in meiner Schule, zum Entsetzen der Leute mit kostspieligen Gewohnheiten, für diese große Lehrmeisterin – diese Dürftigkeit der Ausstattung – sorgen, nicht um der Armut selbst willen, sondern weil sie zu persönlicher Welterfahrung führt.

Mein Vorschlag ist, daß jedem Menschen in seinem Leben ein begrenzter Zeitraum vorbehalten sein müßte, wo er in ursprünglicher Einfachheit das Leben des Naturmenschen lebt. Die geschäftigen Kulturmenschen müssen das ungeborene Kind noch in Frieden lassen. Im Leib der Mutter hat es Muße, die erste Entwicklungsstufe vegetativen Lebens durchzumachen. Aber sobald es geboren ist, ausgerüstet mit allen Instinkten für die nächste Stufe, nämlich für das natürliche Leben, da stürzt sich sofort die Gesellschaft mit ihren kultivierten Gewohnheiten darauf und reißt es aus den offenen Armen von Erde, Wasser und Himmel, von Luft und Sonnenlicht. Zuerst sträubt es sich und weint bitterlich, und dann vergißt es allmählich, daß Gottes ganze Schöpfung sein Erbe ist; dann schließt es seine Fenster, zieht die Vorhänge herab und ist stolz auf das, was es auf Kosten seiner Welt und vielleicht gar seiner Seele angehäuft hat.

Die Welt der Zivilisation mit ihren Konventionen und toten Dingen beherrscht die Mitte des täglichen Lebenslaufs. Anfang und Ende desselben sind nicht ihr Reich. Ihre ungeheure Kompliziertheit und ihre Anstandsregeln haben ihren Nutzen. Aber wenn sie sie als Selbstzweck ansieht und es zur Regel macht, daß dem Menschen kein grünes Fleckchen bleibt, wohin er aus ihrem Gebiet von Rauch und Lärm, von drapierter und dekorierter Korrektheit, fliehen kann, dann leiden die Kinder, und bei der Jugend entsteht Weltmüdigkeit, während das Alter es verlernt, in Frieden und Schönheit alt zu werden, und nichts weiter als verfallene Jugend ist, die sich ihrer Löcher und Flicken schämt.

Es ist jedoch gewiß, daß die Kinder, als sie bereit waren, auf dieser Erde geboren zu werden, kein Verlangen hatten nach einer so eingeengten und verhangenen Welt äußeren Anstands. Wenn sie geahnt hätten, daß sie ihre Augen dem Licht nur öffneten, um sich in der Gewalt des Schulbetriebes zu finden, bis sie die Frische ihres Geistes und die Schärfe ihrer Sinne verloren haben, so würden sie es sich noch einmal überlegt haben, bevor sie sich auf die menschliche Lebensbahn wagten. Gottes Einrichtungen haben nicht die Anmaßung spezieller Einrichtungen. Sie haben immer die Harmonie der Ganzheit und des ununterbrochenen Zusammenhanges mit allen Dingen. Was mich daher in meiner Schulzeit quälte, war die Tatsache, daß die Schule nicht die Vollständigkeit der Welt hatte. Sie war eine besondere Einrichtung für den Unterricht. Sie konnte nur für Erwachsene passen, die sich der besonderen Notwendigkeit solcher Orte bewußt und bereit waren, mit dem Unterricht die Trennung vom Leben in den Kauf zu nehmen. Aber Kinder lieben das Leben, und es ist ihre erste Liebe. Es lockt sie mit all seinen Farben und seiner Bewegung. Und sind wir unsrer Weisheit so sicher, wenn wir diese Liebe ersticken? Kinder werden nicht als Asketen geboren, daß sie geeignet wären, sich sogleich der Mönchszucht zu unterwerfen, indem sie ihr Streben ganz auf den Erwerb von Kenntnissen richten. Ihr erstes Wissen sammeln sie durch ihre Liebe zum Leben, dann entsagen sie dem Leben, um Wissen zu erwerben, und endlich kehren sie mit reicher Weisheit zum volleren Leben zurück.

Aber die Gesellschaft hat ihre eigenen Einrichtungen getroffen, um den Geist der Menschen nach ihrem besonderen Muster zuzustutzen. Diese Einrichtungen sind so dicht gefügt, daß es schwer ist, eine Lücke zu finden, wo die Natur hineinkommen kann. Eine ganze Reihenfolge von Strafen droht dem, der es wagt, gegen irgendeine dieser Einrichtungen zu verstoßen, und gelte es auch sein Seelenheil. Daher heißt, die Wahrheit erkennen, noch nicht, sie praktisch anwenden, da der ganze Strom des herrschenden Systems ihr entgegenläuft. So kam es, daß ich bei der Frage, welche Erziehung ich meinem Sohn geben sollte, in Verlegenheit war, wie ich sie praktisch lösen könnte. Das erste, was ich tat, war, daß ich ihn aus der städtischen Umgebung fortnahm und in ein Dorf brachte, wo er, soweit es heutzutage möglich ist, ein Leben in natürlicher Freiheit leben konnte. Da war ein Fluß, der als gefährlich bekannt war; hier konnte er nach Herzenslust schwimmen und rudern, ohne durch die Ängstlichkeit der Erwachsenen gehindert zu werden. Er verbrachte seine Zeit draußen im Feld und auf den unbetretenen Sandbänken, und niemand stellte ihn zur Rede, wenn er zu spät zum Essen kam. Er besaß keinen von jenen Luxusgegenständen, die Knaben seines Standes sonst haben und von denen man meint, daß sie sie anständigerweise haben müssen. Ich bin sicher, daß die Leute, denen die Gesellschaft die Welt bedeutet, ihn wegen dieser Entbehrungen bemitleideten und seine Eltern tadelten. Aber ich wußte, daß Luxusgegenstände für Knaben eine Last sind, die Last der Gewohnheiten anderer, die Last, die sie um des Stolzes und Vergnügens ihrer Eltern willen tragen müssen.

Doch als Einzelner, mit beschränkten Mitteln, konnte ich meinen Erziehungsplan nur zum Teil ausführen. Immerhin hatte mein Sohn Bewegungsfreiheit; es waren nur sehr wenige von den Schranken geblieben, die der Reichtum und die Gesetze äußeren Anstandes zwischen den Menschen und der Natur aufrichten. So hatte er eine bessere Gelegenheit, diese Welt wirklich kennen zu lernen, als ich sie je gehabt habe. Aber eine Frage beschäftigte mich, die mir wichtiger schien als alles andere. Das Ziel der Erziehung ist nicht, dem Menschen einzelne Kenntnisse zu vermitteln, sondern ihn zur Erkenntnis der Wahrheit als Ganzes zu führen. Früher, als das Leben noch einfach war, da waren all die verschiedenen Elemente des Menschen in vollständiger Harmonie. Aber als das Intellektuelle sich vom Seelischen und Physischen trennte, legte die Schulerziehung den ganzen Nachdruck auf die intellektuelle und physische Seite des Menschen. Wir widmen unsre ganze Aufmerksamkeit der Vermittlung von Kenntnissen und bedenken nicht, daß wir durch diese einseitige Ausbildung des Intellekts einen Bruch herbeiführen zwischen dem intellektuellen, physischen und seelischen Leben des Kindes.

Ich glaube an eine geistige Welt, nicht als etwas, was außerhalb dieser Welt ist, sondern als ihre innerste Wahrheit. Mit jedem Atemzuge müssen wir diese Wahrheit fühlen: daß wir in Gott leben. Als Kinder dieser großen Welt, die erfüllt ist von dem Geheimnis des Unendlichen, können wir unser Dasein nicht als eine flüchtige Laune des Zufalls ansehen, das auf dem Strom der Materie einem ewigen Nichts zutreibt. Wir können unser Leben nicht ansehen als Traumgebilde eines Träumers, für den es nie ein Erwachen gibt. Wir sind als Persönlichkeiten geschaffen, für die Stoff und Kraft nichts bedeuten, wenn sie nicht auf eine unendliche Persönlichkeit bezogen werden, deren Natur wir in gewissem Maße wiederfinden in der menschlichen Liebe, in der Größe des Guten, im Martyrium der Heldenseelen, in der unaussprechlichen Schönheit der Natur, die nicht eine rein physische Tatsache, sondern nur der Ausdruck einer Persönlichkeit sein kann.

Die Erfahrung dieser geistigen Welt, die uns nicht zuteil wird, weil wir von klein auf gewöhnt werden, sie zu übersehen, müssen die Kinder dadurch gewinnen, daß sie ganz darin leben; sie kann ihnen nicht durch theologische Belehrung zugänglich gemacht werden. Aber wie dies geschehen soll, ist heutzutage ein schwieriges Problem. Denn die Menschen haben es fertig gebracht, ihre Zeit so zu besetzen, daß sie gar nicht Muße haben, darüber nachzudenken, wie ihre ganze Tätigkeit nur Bewegung ist, ohne wahren Sinn, und wie heimatlos ihre Seele ist.

In Indien halten wir noch die Überlieferung von den Waldkolonien großer Lehrer in hohen Ehren. Diese Orte waren weder Schulen noch Klöster im heutigen Sinn des Wortes. Sie bestanden aus Heimstätten, wo Männer mit ihrer Familie lebten, deren Ziel war, die Welt in Gott zu sehen und ihr eigenes Leben in ihm zu begreifen. Obgleich sie außerhalb der menschlichen Gesellschaft lebten, so waren sie ihr doch, was die Sonne den Planeten ist, der Mittelpunkt, von dem sie Leben und Licht empfing. Und hier wuchsen die Knaben auf im nahen Anschauen des Ewigen, bevor man sie für geeignet hielt, Haupt einer Familie zu werden.

So war im alten Indien Schule und Leben vereinigt. Da wurden die Schüler nicht in der akademischen Atmosphäre von Gelehrsamkeit und Wissenschaft oder in dem verstümmelten Leben mönchischer Abgeschlossenheit erzogen, sondern in der Atmosphäre lebendigen Wirkens und Strebens. Sie brachten das Vieh auf die Weide, sammelten Brennholz, pflückten Obst, waren gütig zu allen Geschöpfen und nahmen zu an Geist zugleich mit ihren Lehrern. Dies war möglich, weil der Hauptzweck dieser Orte nicht der Unterricht war, sondern denen Zuflucht und Schutz zu bieten, die ein Leben in Gott leben wollten.

Daß diese Überlieferung von dem familienhaften Zusammenleben von Lehrern und Schülern nicht eine bloße romantische Erdichtung ist, sehen wir noch an vereinzelten Schulen, die ein Überbleibsel dieses einheimischen Erziehungssystems sind. Dies System ist, nachdem es Jahrhunderte hindurch seine Unabhängigkeit bewahrt hat, jetzt im Begriff, der bureaukratischen Kontrolle der Fremdherrschaft zu erliegen. Diese catuspâtî, wie man auf Sanskrit die Universitäten nennt, haben nicht den Charakter einer Schule. Die Schüler leben im Hause ihres Lehrers wie die Kinder des Hauses, ohne für Wohnung, Kost und Erziehung zu bezahlen. Der Lehrer geht seinen eigenen Studien nach, indem er ein Leben der Einfachheit lebt und seinen Schülern bei ihrem Studium hilft, was er nicht als sein Geschäft betrachtet, sondern als einen Teil seines Lebens.

Dies Ideal einer Erziehung, die darin besteht, daß der Schüler an dem Leben und hohen Streben seines Lehrers teilnimmt, ließ mich nicht los. Die kerkerhafte Enge unsrer Zukunft und die Trostlosigkeit unsrer beschnittenen Möglichkeiten drängten mich nur noch mehr zu seiner Verwirklichung. Die in anderen Ländern mit unbegrenzten Aussichten auf weltlichen Gewinn begünstigt sind, können sich solche Dinge zum Ziel der Erziehung setzen. Der Spielraum ihres Lebens ist mannigfach und weit genug, um ihnen die Freiheit zu gewähren, die sie zur Entfaltung ihrer Kräfte brauchen. Aber wenn wir die Selbstachtung bewahren sollen, die wir uns und unserm Schöpfer schulden, so darf unser Erziehungsziel nicht hinter dem höchsten Ziel des Menschen überhaupt, der größten Vollkommenheit und Freiheit der Seele zurückbleiben. Es ist kläglich, wenn man nach kleinen Gaben irdischen Besitzes haschen muß. Laßt uns nur trachten nach dem Zugang zum Leben, das über alle äußeren Lebenslagen erhaben ist und über den Tod hinausgeht, laßt uns Gott suchen, laßt uns leben für jene endgültige Wahrheit, die uns frei macht von der Knechtschaft des Staubes und uns den wahren Reichtum gibt: nicht Reichtum an toten Dingen, sondern an innerem Licht, nicht an Macht, sondern an Liebe. Solche Befreiung der Seele haben wir in unserm Lande gefunden bei Menschen, denen jede Bücherweisheit fehlte und die in vollständiger Armut lebten. Wir haben in Indien das Erbe dieses Schatzes geistiger Weisheit. Laßt das Ziel unsrer Erziehung sein, es vor uns auszubreiten und die Kraft zu gewinnen, im Leben den rechten Gebrauch davon zu machen, auf daß wir es einst, wenn die Zeit kommt, der übrigen Welt darbieten als unsern Beitrag zu ihrem ewigen Heil.

Ich war ganz in meine literarische Tätigkeit vertieft, als dieser Gedanke mich mit schmerzhafter Heftigkeit packte. Ich hatte plötzlich ein Gefühl wie jemand, der unter einem Alpdruck stöhnt. Nicht nur meine eigene Seele, sondern die Seele meines Landes schien in mir nach Atem zu ringen. Ich fühlte klar, daß das, was uns not tut, nicht materieller Art ist, nicht Reichtum, Behagen oder Macht, sondern ein Erwachen zum vollen Bewußtsein unsrer seelischen Freiheit, der Freiheit, ein Leben in Gott zu führen, wo wir nicht in Feindschaft leben mit denen, die nicht anders können als kämpfen, und nicht im Wettbewerb mit denen, deren einziges Ziel Geldgewinn ist, wo wir vor allen Angriffen und Schmähungen sicher sind.

Zum Glück hatte ich schon einen Platz bereit, wo ich meine Arbeit beginnen konnte. Mein Vater hatte auf einer seiner zahlreichen Reisen sich diesen einsamen Ort erwählt, der ihm geeignet schien zu einem Leben stiller Gemeinschaft mit Gott. Diesen Ort hatte er mit allem, was zum Lebensunterhalt nötig war, denen gestiftet, die Ruhe und Abgeschlossenheit für religiöse Übungen und Betrachtungen suchten. Ich hatte etwa zehn Knaben bei mir, als ich dorthin ging, und begann mein neues Leben ohne irgendwelche frühere Erfahrung.

Die Gegend, die unsre Einsiedelei umgibt, ist weites offenes Land, ganz kahl bis an den Horizont hin, nur daß hier und da ein paar verkümmerte Dattelpalmen oder Dornsträucher die Ameisenhügel zu überragen suchen. Jenseits der Felder und tiefer als diese erstreckt sich eine Fläche mit zahllosen Erdhügeln und kleinen Hügelchen von rotem Kies und Kieseln von allen Formen und Farben, die von schmalen Regenrinnen durchschnitten wird. In geringer Entfernung nach Süden zu, nahe beim Dorfe, sieht man durch eine Reihe von Palmen hindurch die stahlblaue Fläche des Wassers glitzern, das sich in einer Vertiefung des Bodens angesammelt hat. Ein Pfad, den die Dorfleute benützen, wenn sie ihre Einkäufe in der Stadt machen, schlängelt sich durch die einsamen Felder und schimmert rötlich in der Sonne. Die Reisenden, die diesen Pfad hinaufkommen, können schon in der Ferne auf dem höchsten Punkt des welligen Hügellandes die Spitze eines Tempels und das Dach eines Gebäudes sehen. Denn hier liegt inmitten von Myrobalanenhainen die Einsiedelei Santi-Niketan, zu der eine Allee von stattlichen Salbäumen hinanführt.

Und hier hat sich nun seit mehr als fünfzehn Jahren die Schule entwickelt. Manchen Wechsel und manche ernste Krisis hat sie erlebt. Da ich den üblen Ruf hatte, ein Dichter zu sein, wurde es mir sehr schwer, das Vertrauen meiner Landsleute zu gewinnen und dem Verdacht der Bureaukratie zu entgehen. Wenn ich am Ende einen gewissen Erfolg hatte, so liegt es daran, daß ich ihn nie erwartete, sondern meinen eigenen Weg ging, ohne auf Beifall, Rat oder Hilfe von außen zu warten. Meine Mittel waren außerordentlich gering, da das Unternehmen mich tief in Schulden gestürzt hatte. Aber diese Armut selbst gab mir Kraft und lehrte mich, mein Vertrauen auf die Macht der Idee zu setzen, statt auf äußere Hilfsmittel.

Da die Entwicklung der Schule meine eigene Entwicklung bedeutete und nicht die bloße Verwirklichung meiner Theorien, so wandelten sich ihre Ideale auch während ihres Reifens, wie eine reifende Frucht nicht nur größer wird und sich tiefer färbt, sondern auch in der Beschaffenheit ihres Fleisches Veränderungen erfährt. Als ich anfing, hatte ich die Idee, daß ich einen wohltätigen Zweck verfolgte. Ich arbeitete angestrengt; doch die einzige Befriedigung, die ich hatte, war, daß ich mir ausrechnete, welche Opfer an Geld und Kraft und Zeit ich brachte, und dabei meine unermüdliche Güte bewunderte. Aber was dabei herauskam, hatte wenig Wert. Ich baute nur immer ein System auf das andere auf, um nachher alles wieder umzureißen. So tat ich im Grunde nichts anderes, als meine Zeit ausfüllen; was ich schuf, war innerlich leer. Ich weiß noch, wie ein alter Schüler meines Vaters kam und zu mir sagte: »Was ich hier sehe, ist wie ein Hochzeitssaal, wo alles bereit ist, nur der Bräutigam fehlt.« Der Fehler, den ich gemacht hatte, war, daß ich meinte, mein eigener Zweck sei dieser Bräutigam. Aber allmählich fand mein Herz diesen Mittelpunkt. Er war nicht in der Arbeit, nicht in meinen Wünschen, sondern in der Wahrheit. Ich saß allein auf der oberen Terrasse des Hauses Santi-Niketan und schaute auf die Baumwipfel der Salallee vor mir. Ich löste mein Herz los von meinen eigenen Plänen und Berechnungen, von den Kämpfen des Tages, und hob es schweigend hinauf zu dem, dessen Gegenwart und Frieden den Himmel durchflutete, und allmählich wurde mein Herz von ihm erfüllt. Ich begann, die Welt rings um mich her mit den Augen meiner Seele zu sehen. Die Bäume erschienen mir wie stille Lobgesänge, die aus dem stummen Herzen der Erde aufstiegen, und das Rufen und Lachen der Knaben, das durch die Abendluft zu mir herauftönte, erklang mir wie ein Quell von lebendigen Tönen, der aus der Tiefe des Menschenlebens aufstieg. Ich vernahm die Botschaft in dem Sonnenlicht, das meine Seele in ihrer Tiefe berührte, und ich fühlte ein süßes Gestilltsein in den Lüften, die das Wort des alten Meisters zu mir sprachen: »Ko hy evânyât ka? prânyât yady e?a âkâúa ânando na syât.« Taittirîa-Up. 2, 7, 1. »Wer könnte je in dieser Welt leben und hoffen und streben, wenn der Raum nicht mit Liebe gefüllt wäre.« Und als ich dann den Kampf um Erfolg und meinen Ehrgeiz, andern wohlzutun, aufgab und das eine, was not tut, begriff; als ich fühlte, daß der, der sein eigenes Leben in Wahrheit lebt, das Leben der ganzen Welt lebt, da klärte sich die trübe Atmosphäre äußeren Kampfes, und die natürliche Schöpferkraft brach sich Bahn zum Kern aller Dinge. Und wenn es jetzt noch mancherlei Oberflächliches und Wertloses im Betrieb unsrer Anstalt gibt, so hat es seine Ursache in dem Mißtrauen gegen den Geist, das uns noch immer anhaftet, in der unausrottbaren Überzeugung von unsrer eigenen Wichtigkeit, in der Gewohnheit, die Ursache unserer Fehlschläge anderswo als bei uns zu suchen, und in dem Bestreben, alle Lockerheit und Schlaffheit in unsrer Arbeit dadurch wieder gutzumachen, daß wir die Schrauben der Organisation fester anziehen. Aus eigener Erfahrung weiß ich, daß da, wo der Eifer, andere zu belehren, allzu groß ist, besonders wenn es sich um geistige Dinge handelt, das Ergebnis dürftig und nicht ganz wahr ist. Alle Heuchelei und Selbsttäuschung bei unsern religiösen Überzeugungen und Übungen sind die Folge von dem Übereifer geistlicher Mentoren. Auf geistigem Gebiet ist Erwerben und Spenden eins; wie die Lampe andern Licht gibt, sobald sie selbst leuchtet. Wenn ein Mensch es zu seinem Beruf macht, seinen Mitmenschen Gott zu predigen, so wird er viel mehr Staub aufwirbeln, als zur Wahrheit führen. Religion läßt sich nicht in der Form von Unterricht mitteilen, sondern nur durch religiöses Leben selbst. So bewährt sich das Ideal der Waldkolonie jener Gottsucher auch heute noch als die wahre Schule religiösen Lebens. Religion ist nicht etwas, was man in Stücke zerlegen und in bestimmten Wochen- oder Tagesrationen austeilen kann als eins der verschiedenen Fächer des Schulprogramms. Sie ist die Wahrheit unsres ganzen Seins, das Bewußtsein unsrer persönlichen Beziehung zum Unendlichen; sie ist der wahre Schwerpunkt unsres Lebens. Sie kann uns in unsrer Kindheit zuteil werden, wenn wir ganz an einem Orte leben, wo die Wahrheit der geistigen Welt nicht durch eine Menge von Notwendigkeiten verdunkelt wird, die sich Bedeutung anmaßen; wo das Leben einfach ist und reich an Muße, an Raum und reiner Luft und an dem tiefen Frieden der Natur, und wo die Menschen in festem Glauben den Blick auf das Ewige gerichtet haben.

Nun wird man mich fragen, ob ich in meiner Schule das Ideal erreicht habe. Ich muß darauf antworten, daß die Erreichung unsrer höchsten Ideale sich schwer nach äußern Maßstäben messen läßt. Ihre Wirkung läßt sich nicht gleich an Resultaten nachweisen. Wir tragen in unsrer Einsiedelei den Ungleichheiten und Mannigfaltigkeiten des menschlichen Lebens in vollem Maße Rechnung. Wir versuchen nie, eine Art äußere Gleichförmigkeit zu erzielen, indem wir die Verschiedenheiten der Anlage und Erziehung unsrer Schüler auszurotten suchen. Einige von uns gehören zur Sekte des Brâhma Samâdsch, einige zu andern Hindu-Sekten, und einige von uns sind Christen. Da wir uns nicht mit Bekenntnissen und Dogmen beschäftigen, entstehen aus der Verschiedenheit unsres religiösen Glaubens durchaus keine Schwierigkeiten. Auch weiß ich, daß das Gefühl von Ehrfurcht für das Ideal dieser Schule und für das Leben, das wir hier führen, unter denen, die sich in dieser Einsiedelei versammelt haben, an Ernst und Tiefe sehr verschieden ist. Ich weiß, daß unsre Begeisterung für ein höheres Leben doch noch immer nicht weit hinausgekommen ist über unser Trachten nach weltlichen Gütern und weltlichem Ruhm. Und doch bin ich vollkommen gewiß und habe zahlreiche Beweise dafür, daß das Ideal unsrer Einsiedelei von Tag zu Tag immer mehr in unsrer Natur Wurzel faßt. Ohne daß wir es merken, werden die Saiten unsres Lebens zu immer reinerem, seelenvollerem Klang gestimmt. Was es auch war, das uns zuerst hierher führte, durch alle Disharmonie tönt doch unaufhörlich der Ruf: úântam, úivam, advaitam – du Gott des Friedens, Allgütiger, Einziger! Die Luft scheint hier von der Stimme des Unendlichen erfüllt, die dem Frieden des frühen Morgens und der Stille der Nacht tiefen Sinn gibt und durch die weißen Scharen von shiuli-Blumen im Herbst und mâlatî-Blumen im Sommer das Evangelium von der Schönheit predigt, die anbetend sich selbst als Opfer darbringt.

Es ist schwer für die, die nicht Inder sind, sich klar zu machen, welche Vorstellungen sich alle mit dem Wort âúrama, Waldheiligtum, verbinden. Denn es blühte wie die Lotusblume in Indien unter einem Himmel, der freigebig ist mit Sonnenlicht und Sternenglanz. Indiens Klima ruft uns ins Freie; die Stimme seiner mächtigen Ströme ertönt in feierlichem Gesang; die endlose Weite seiner Ebenen umgibt unsre Heimstätten mit dem Schweigen einer andern Welt; die Sonne steigt am Rand der grünen Erde auf wie eine Opferflamme, die das Unsichtbare auf dem Altar des Unbekannten entzündet, und sie steigt am Abend im Westen herab wie ein prächtiges Freudenfeuer, mit dem die Natur das Ewige begrüßt. In Indien ist der Schatten der Bäume gastlich, der Staub der Erde streckt seine braunen Arme nach uns aus, die Luft schlägt liebend ihren warmen Mantel um uns. Das sind die unwandelbaren Tatsachen, die immer wieder zu unsrer Seele sprechen, und daher empfinden wir es als Indiens Aufgabe, durch diese Verbundenheit mit der Seele der Welt die menschliche Seele als eins mit der göttlichen Seele zu erkennen. Diese Aufgabe hat in den Waldschulen der alten Zeit ihre natürliche Form gefunden. Und sie treibt uns an, das Unendliche in allen Gestalten der Schöpfung, in den Beziehungen menschlicher Liebe zu suchen; es zu fühlen in der Luft, die wir atmen, in dem Licht, dem wir unsre Augen öffnen, im Wasser, in dem wir baden, in der Erde, auf der wir leben und sterben. Daher weiß ich – und weiß es aus eigener Erfahrung –, daß die Schüler und Lehrer, die sich in dieser Einsiedelei zusammengefunden haben, an Freiheit des Geistes täglich wachsen und immer mehr eins werden mit dem Unendlichen, nicht durch irgendwelchen Unterricht oder äußere Übungen, sondern kraft der unsichtbaren geistigen Atmosphäre, die diesen Ort umgibt, und des Andenkens an einen frommen Mann, der hier in inniger Gemeinschaft mit Gott lebte.

Ich hoffe, es ist mir gelungen, darzulegen, wie das bewußte Streben, das mich leitete, als ich meine Schule in der Einsiedelei gründete, allmählich seine Selbständigkeit verlor und eins wurde mit dem Streben, das die Seele dieses Ortes ist. Mit einem Wort: mein Werk erhielt seine Seele durch den Geist der Einsiedelei. Aber diese Seele hat ohne Zweifel ihre äußere Gestalt in der Einrichtung der Schule. Und ich habe alle diese Jahre hindurch versucht, in dem Lehrsystem dieser Schule meine Erziehungstheorie zu verwirklichen, die sich auf meine Erfahrung von der Kindesseele gründet.

Ich glaube, wie ich schon vorher andeutete, daß das unbewußte Empfinden bei den Kindern viel tätiger ist als das bewußte Denken. Eine große Menge der wichtigsten Lehren ist uns durch jenes vermittelt. Die Erfahrungen zahlloser Generationen sind uns durch seine Wirksamkeit in Fleisch und Blut übergegangen, nicht nur ohne uns zu ermüden, sondern so, daß sie uns froh machten. Diese unterbewußte Fähigkeit des Gewahrwerdens ist ganz eins mit unserm Leben. Sie ist nicht wie eine Laterne, die man von außen anzündet und putzt, sondern wie das Licht, das der Glühwurm durch die Ausübung seiner Lebensfunktionen erzeugt.

Zu meinem Glück wuchs ich in einer Familie auf, wo der Sinn für Literatur, Musik und Kunst instinktiv geworden war. Meine Brüder und Vettern lebten im freien Reich der Gedanken, und die meisten von ihnen hatten natürliche künstlerische Anlagen. Durch solche Umgebung angeregt, begann ich früh zu denken und zu träumen und meine Gedanken zum Ausdruck zu bringen. In bezug auf religiöse oder soziale Anschauungen war unsre Familie frei von aller Konvention, da sie wegen ihrer Abweichung von orthodoxen Glaubenslehren und Sitten von der Gesellschaft in den Bann getan war. Dies machte uns furchtlos in unsrer geistigen Freiheit, und wir wagten neue Versuche auf allen Gebieten des Lebens. So war die Erziehung, die ich in meiner frühesten Kindheit hatte, Freiheit und Freude in der Übung meiner geistigen und künstlerischen Kräfte. Und weil dies meinem Geist lebhaft zum Bewußtsein brachte, wo sein natürlicher Nährboden war, wurde die Schleifmühle des Schulbetriebes so unerträglich für mich.

Diese Erfahrung aus meiner frühen Kindheit war alles, was ich an Schulerfahrung hatte, als ich an mein Unternehmen ging. Ich fühlte, daß das Wichtigste und Notwendigste nicht die äußere Lehrmethode, sondern der lebendige Odem der Kultur selbst war. Zum Glück für mich gewann Satish Chandra Roy, ein hochbegabter junger Student, der sich auf sein Staatsexamen vorbereitete, lebhaftes Interesse für meine Schule und machte es sich zur Lebensaufgabe, meine Idee auszuführen. Er war erst neunzehn Jahre alt, aber ein Mensch von hohem Geistesfluge, mit einer für alles Große und Schöne wunderbar empfänglichen Seele. Er war ein Dichter, der sicher unter den Unsterblichen der Weltliteratur seinen Platz gefunden hätte, wenn er am Leben geblieben wäre; aber er starb schon mit zwanzig Jahren und konnte so unsrer Schule seine Kraft nur ein kurzes Jahr lang widmen. Bei ihm hatten die Knaben nie das Gefühl, auf ihr Unterrichtsfach beschränkt zu sein, sondern es war, als öffnete er ihnen alle Tore der Welt. Mit ihm gingen sie in den Wald, wenn im Frühling die Salbäume in voller Blüte standen; dann deklamierte er ihnen, ganz berauscht von Begeisterung, seine Lieblingsgedichte. Er las ihnen Shakespeare und selbst Browning – denn er war ein großer Verehrer Brownings – und erläuterte ihnen mit wunderbarer Kraft des Ausdrucks die Dichtungen in bengalischer Sprache. Niemals zweifelte er an der Verständnisfähigkeit der Knaben, er sprach und las ihnen über jeden Gegenstand, der ihn selbst interessierte. Er wußte, daß es durchaus nicht nötig war, daß die Schüler alles wörtlich und genau verstanden, sondern daß ihr Geist aufgerüttelt und ihre Seelen geweckt wurden, und dies gelang ihm immer. Er war nicht, wie andre Lehrer, ein bloßer Vermittler von Bücherwissen. Er gestaltete seinen Unterricht persönlich, er schöpfte aus seiner eigenen Tiefe, und daher war das, was er den Schülern bot, lebendige Nahrung, die die lebendige menschliche Natur sich leicht aneignet. Der wahre Grund seines Erfolges war seine intensive Teilnahme an dem Leben, an den Ideen, an allem um ihn her, vor allem an den Knaben, die mit ihm in Berührung kamen. Er schöpfte seine Begeisterung nicht aus Büchern, sondern aus der unmittelbaren Berührung seiner empfänglichen Seele mit der Welt. Der Wechsel der Jahreszeiten hatte auf ihn dieselbe Wirkung wie auf die Pflanzen. Er schien in seinem Blut die unsichtbaren Boten der Natur zu spüren, die immer durch den Weltenraum eilen, in der Luft schweben, am Himmel schimmern und aus den Wurzeln der Grashalme aus der Erde herauftönen. Seine Literaturstudien hatten nicht den Modergeruch der Bibliothek an sich. Er hatte die Gabe, die Ideen so greifbar deutlich und lebendig vor sich zu sehen, wie er seine Freunde sah.

So hatten die Knaben unsrer Schule das seltene Glück, ihren Unterricht von einem lebendigen Lehrer und nicht aus Büchern zu erhalten. Haben nicht unsre Bücher, wie die meisten Dinge des täglichen Gebrauchs, sich zwischen uns und unsre Welt gestellt? Wir haben uns gewöhnt, die Fenster unsres Geistes mit ihren Seiten zu verdecken und Bücherphrasen als Pflaster auf unsre geistige Haut zu kleben, so daß sie für jede direkte Berührung der Wahrheit unempfindlich geworden ist. Wir haben uns aus einer ganzen Welt von Bücherweisheit eine Festung gebaut mit hohen Ringmauern, wohinter wir uns verschanzt haben und vor der Berührung mit Gottes Schöpfung sicher sind. Gewiß würde es töricht sein, den Wert von Büchern im allgemeinen zu bestreiten. Aber man muß auch zu gleicher Zeit zugeben, daß Bücher ihre Grenzen und ihre Gefahren haben. Jedenfalls sollten den Kindern in den ersten Jahren ihrer Erziehung die Wahrheiten, die sie zu lernen haben, auf natürlichem Wege, das heißt durch die Menschen und die Dinge selbst vermittelt werden.

Da ich hiervon überzeugt bin, habe ich alles, was ich konnte, getan, um in unsrer Einsiedelei eine geistige Atmosphäre zu schaffen. Ich mache Lieder, aber ich mache sie nicht eigens für die. Jugend zurecht. Es sind Lieder, die ein Dichter sich zu seiner eigenen Freude singt. So sind die meisten meiner Gitanjali-Lieder hier entstanden. Diese Lieder singe ich, so wie sie mir erblühen, den Knaben vor, und sie kommen scharenweise, um sie zu lernen. Sie singen sie in ihren Mußestunden, in Gruppen unter freiem Himmel sitzend, in Mondscheinnächten oder im Schatten der drohenden Juliwolken. Alle meine späteren Dramen sind hier entstanden und unter Teilnahme der Knaben aufgeführt. Ich habe ihnen lyrische Dramen für ihre Jahresfeste geschrieben. Sie dürfen immer dabei sein, wenn ich den Lehrern irgend etwas von meinen neuen Sachen in Prosa oder Versen vorlese, welchen Inhalts es auch sei. Und von dieser Erlaubnis machen sie Gebrauch, ohne daß der geringste Druck auf sie ausgeübt wird, ja, sie sind sehr traurig, wenn sie nicht aufgefordert werden. Einige Wochen vor meiner Abreise von Indien las ich ihnen Brownings Drama »Luria« und übertrug es, während ich las, ins Bengalische. Es nahm zwei Abende in Anspruch, aber die zweite Versammlung war ebenso zahlreich wie die erste. Wer gesehen hat, wie diese Knaben ihre Rollen spielen, ist überrascht, wie stark sie als Schauspieler wirken. Das kommt daher, weil sie nie eigentlichen Unterricht in dieser Kunst gehabt haben. Sie erfassen instinktiv den Geist der Dichtung, obgleich diese Dramen keine bloßen Schuldramen sind und ein feines Verständnis und Mitempfinden erfordern. Bei aller Ängstlichkeit und überkritischen Empfindlichkeit, die ein Dichter der Aufführung seines Stückes gegenüber hat, war ich nie enttäuscht von meinen Schülern, und ich habe selten einem Lehrer erlaubt, die Knaben in ihrer eigenen Darstellung der Charaktere zu stören. Häufig schreiben sie selbst Stücke oder improvisieren sie, und dann werden wir zu der Aufführung eingeladen. Sie haben ihre literarischen Vereine und haben mindestens drei illustrierte Zeitschriften, die von drei Gruppen der Schule geleitet werden. Die interessanteste dieser Zeitschriften ist die der »Kleinen«. Eine ganze Anzahl unsrer Schüler haben ein beachtenswertes Talent für Zeichnen und Malerei gezeigt. Wir entwickeln dies Talent nicht mit Hilfe der alten, hier in den Schulen noch immer üblichen Kopiermethode, sondern lassen die Schüler ihrer eigenen Neigung folgen und helfen ihnen nur dadurch, daß wir hin und wieder Künstler zu uns einladen, die die Knaben durch ihre eigenen Arbeiten anregen und begeistern.

Als ich meine Schule anfing, zeigten die Knaben keine besondere Liebe zur Musik. Daher stellte ich zuerst noch keinen Musiklehrer an und zwang die Knaben nicht, Musikstunden zu nehmen. Ich sorgte nur für Gelegenheiten, wo die, die für diese Kunst begabt waren, sie üben und zeigen konnten. Dies hatte die Wirkung, daß das Ohr der Knaben sich unbewußt übte. Und als nach und nach die meisten von ihnen große Neigung und Liebe zur Musik zeigten und ich sah, daß sie bereit sein würden, regelrechten Unterricht darin zu nehmen, berief ich einen Musiklehrer.

In unsrer Schule stehen die Knaben des Morgens sehr früh auf, bisweilen vor Tagesanbruch. Sie besorgen selbst das Wasser für ihr Bad. Sie machen ihre Betten. Sie tun alle die Dinge, die den Geist der Selbsthilfe in ihnen entwickeln.

Ich glaube an den Wert regelmäßiger religiöser Betrachtung, und ich setze morgens und abends eine Viertelstunde dafür an. Ich halte darauf, daß diese Zeit innegehalten wird, ohne jedoch von den Knaben zu erwarten, daß sie so tun, als ob sie in religiöse Betrachtungen versenkt wären. Aber ich verlange, daß sie still sind, daß sie Selbstbeherrschung üben, wenn sie auch, statt an Gott zu denken, die Eichhörnchen beobachten, die die Bäume hinauflaufen.

Jede Schilderung solcher Schule kann nicht anders als unzulänglich sein. Denn das Wichtigste von ihr ist ihre Atmosphäre und die Tatsache, daß es keine Schule ist, die den Knaben von autokratischen Behörden aufgezwungen ist, in der sie ihr eigenes Leben leben sollen. Sie nehmen teil an der Schulverwaltung, und in Straffällen verlassen wir uns meistens auf ihren eigenen Gerichtshof.

Zum Schluß möchte ich meine Zuhörer warnen, ein falsches oder übertriebenes Bild von dieser Einsiedelei mit nach Hause zu nehmen. Wenn man so seine Ideen vorträgt, so erscheinen sie ganz einfach und vollkommen. Aber ihre Verkörperung in der Wirklichkeit ist nicht so klar und vollkommen, weil das Material lebendig und mannigfach und immer wechselnd ist. Es treten uns Hindernisse entgegen sowohl in der menschlichen Natur wie in den äußeren Umständen. Einige von uns vergessen nur zu leicht, daß die Geister der Knaben lebendige Organismen sind, und andere sind von Natur geneigt, das Gute mit Gewalt durchsetzen zu wollen. Die Knaben ihrerseits sind nicht alle in gleichem Maße empfänglich, und so haben wir manchen Mißerfolg zu verzeichnen. Vergehen treten unerwartet auf, die uns an der wirkenden Kraft unsrer Ideale zweifeln lassen. Es kommen trübe Zeiten, voll von Rückschlägen und Zweifeln. Aber dies Schwanken und diese Konflikte gehören nun einmal zum wahren Bilde des wirklichen Lebens. Lebendige Ideale können nicht als Uhrwerk aufgezogen werden, das nun jede Sekunde genau angibt. Und wer den festen Glauben an ein Ideal hat, muß die Wahrheit desselben dadurch beweisen, daß er sich durch die niemals ausbleibenden Widerstände und Mißerfolge nicht vom Wege abbringen läßt. Ich für mein Teil halte mehr von dem Prinzip des Lebens, von der Seele des Menschen, als von Methoden. Ich glaube, daß das Ziel der Erziehung die sittliche Freiheit ist, die nur auf dem Wege der Freiheit erreicht werden kann, obgleich die Freiheit ihre Gefahren und ihre Verantwortung hat, wie das Leben überhaupt sie hat. Ich weiß gewiß, wenn auch die meisten Menschen es vergessen zu haben scheinen, daß Kinder lebendige Wesen sind, lebendiger als Erwachsene, die schon in einer Rinde von Gewohnheiten stecken. Daher ist es für ihre geistige Gesundheit und Entwicklung unbedingt nötig, daß man sie nicht in Schulen steckt, deren einziger Zweck der Unterricht ist, sondern daß sie in einer Welt leben, deren leitender Geist die persönliche Liebe ist. Solch eine Welt ist die Einsiedelei, der âúrama, wo die Menschen sich im Frieden der Natur zu dem höchsten Lebensziel vereint haben; wo sie sich nicht nur frommen Betrachtungen hingeben, sondern auch mit offenen Augen in die Welt schauen und tätig wirkend in ihr schaffen; wo man den Schülern nicht unausgesetzt den Glauben beibringt, daß die Selbstvergötterung der Nation das höchste Ideal für sie ist; wo sie begreifen lernen, daß diese Menschenwelt Gottes Königreich ist, dessen Bürger zu werden sie streben sollen; wo Sonnenauf- und -untergang und die stille Herrlichkeit der Sterne nicht täglich unbeachtet bleiben; wo der Mensch freudig teilnimmt an den Festen, die die Natur mit ihren Blüten und Früchten feiert, und wo jung und alt, Lehrer und Schüler sich an denselben Tisch setzen und das tägliche Brot wie das Brot des Lebens miteinander teilen.


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