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Die Nacht ist ein dunkles Kind, das eben vom Tag geboren ist. Millionen von Sternen stehen dicht gedrängt um seine Wiege und beobachten es, regungslos, damit es nicht aufwacht.«
So will ich fortfahren, aber die Naturwissenschaft unterbricht mich lachend. Sie nimmt Anstoß an meiner Behauptung, daß die Sterne stillstehen.
Doch wenn ich mich irre, so bin nicht ich schuld daran, sondern die Sterne selbst. Es ist ganz offenbar, daß sie stillstehen. Es ist eine Tatsache, die sich nicht wegdisputieren läßt.
Allein die Wissenschaft hat nun einmal die Gewohnheit, zu disputieren. Sie sagt: »Wenn du meinst, daß die Sterne stillstehen, so beweist dies nur, daß du zu weit von ihnen entfernt bist.«
Ich antworte prompt: »Wenn ihr sagt, daß die Sterne umherrasen, so beweist das nur, daß ihr ihnen zu nahe seid.«
Die Naturwissenschaft ist erstaunt über meine Verwegenheit.
Aber ich bleibe hartnäckig bei meiner Behauptung und sage, daß, wenn die Naturwissenschaft sich die Freiheit nimmt, den Standpunkt der Nähe zu wählen und den der Ferne zu mißachten, sie mich nicht tadeln darf, wenn ich den entgegengesetzten Standpunkt einnehme und die Glaubwürdigkeit der Nähe bezweifle.
Die Naturwissenschaft ist unerschütterlich überzeugt, daß der Anblick aus der Nähe der zuverlässigste ist.
Aber ich zweifle, ob sie in ihren Ansichten konsequent ist. Denn als ich sicher war, daß die Erde unter meinen Füßen flach sei, da belehrte sie mich eines Bessern, indem sie mir sagte, daß der Anblick aus der Nähe nicht das richtige Bild gäbe und daß man Abstand nehmen müsse, um zur vollkommenen Wahrheit zu gelangen.
Ich will ihr gern zustimmen. Denn sehen wir nicht an uns selbst, daß wir, wenn wir unserm Ich zu nahe bleiben, es mit den Augen der Selbstsucht sehen und eine flache und isolierte Ansicht von uns gewinnen, aber wenn wir über uns hinausgehen und uns in andern sehen, so erhalten wir ein rundes und zusammenhängendes Bild, das uns unser wahres Wesen zeigt?
Aber wenn die Naturwissenschaft überhaupt glaubt, daß der Abstand von den Dingen uns ein richtigeres Bild von ihnen gibt, so muß sie auch ihren Aberglauben von der Ruhelosigkeit der Sterne aufgeben. Wir Kinder der Erde gehen in die Schule der Nacht, um einen Blick auf die Welt als Ganzes zu werfen. Unser großer Meister weiß, daß wir den vollen Anblick des Weltalls ebensowenig ertragen könnten wie den Anblick der Mittagssonne. Wir müssen sie durch ein geschwärztes Glas sehen. Die gütige Natur hält das dunkle Glas der Nacht vor unsre Augen und läßt uns das Weltall aus der Ferne sehen. Und was ist es, was wir sehen? Wir sehen, daß die Welt der Sterne stillsteht. Denn wir sehen diese Sterne in ihrer Beziehung zueinander, und sie erscheinen uns wie Ketten von Diamanten um den Hals einer schweigenden Gottheit. Aber die Astronomie reißt wie ein neugieriges Kind einen einzelnen Stern von der Kette los und stellt dann fest, daß er umherrollt.
Wem soll man nun glauben? Die Glaubwürdigkeit der Sternenwelt kommt nicht in Frage. Man braucht nur seine Augen aufzuheben und ihnen ins Antlitz sehen, so muß man ihnen glauben. Sie bringen keine scharfsinnigen Beweisgründe vor, und das erscheint mir immer als bester Beweis der Zuverlässigkeit. Sie geraten nicht außer sich, wenn man ihnen nicht glaubt. Aber wenn ein einzelner von diesen Sternen von der Tribüne des Weltalls heruntersteigt und der Mathematik verstohlen sein Geheimnis ins Ohr flüstert, so sehen wir, daß die Sache sich ganz anders verhält.
Daher wollen wir kühn behaupten, daß beide Aussagen gleich wahr sind. Laßt uns annehmen, daß die Sterne auf der Ebene des Abstands stillstehen und auf der Ebene der Nähe sich bewegen. Auf die eine Weise angesehen, sind die Sterne in Wahrheit regungslos und auf die andere in Bewegung. Nähe und Ferne sind die Hüter zweier verschiedener Reihen von Tatsachen, aber beide sind einer Wahrheit untertan. Wenn wir daher uns auf Seite der einen stellen und die andere schmähen, so verletzen wir die Wahrheit, die beide umfaßt.
Von dieser Wahrheit sagt die Ischa-Upanischad Eine der schönsten und der kürzesten Upanischaden (Texte der altindischen Mystik), gewöhnlich nach dem ersten Wort als Išâ-Upani?ad bezeichnet. S. Sechzig Upanishads des Veda, aus dem Sanskrit übersetzt von Paul Deussen. (Leipzig 1905.) S. 523-8.: »Sie bewegt sich. Sie bewegt sich nicht. Sie ist fern. Sie ist nahe.«
Der Sinn ist der: Wenn wir die Wahrheit in ihren einzelnen Teilen, die uns nahe sind, verfolgen, so sehen wir sie sich bewegen. Wenn wir die Wahrheit von einem gewissen Abstand aus als Ganzes überblicken, so steht sie still. Es ist, wie wenn wir ein Buch lesen: alles in ihm ist in Bewegung, so lange wir den Inhalt von Kapitel zu Kapitel verfolgen, doch wenn wir damit fertig sind, wenn wir das ganze Buch kennen, steht es still und umfaßt zugleich alle Kapitel in ihren gegenseitigen Beziehungen.
Es gibt im Geheimnis des Daseins einen Punkt, wo Gegensätze sich vereinen, wo Bewegung nicht nur Bewegung und Ruhe nicht nur Ruhe ist, wo Idee und Form, Inneres und Äußeres eins werden, wo das Unendliche endlich wird, ohne seine Unendlichkeit zu verlieren. Wenn diese Einheit aufgehoben ist, verlieren die Dinge ihr wahres Wesen.
Wenn ich ein Rosenblatt durch ein Mikroskop betrachte, sehe ich es ausgedehnter als es mir gewöhnlich erscheint. Je mehr ich seine Ausdehnung vergrößere, um so unbestimmter wird es, bis es im unendlichen Raum weder ein Rosenblatt noch sonst etwas ist. Es wird erst ein Rosenblatt, wo das Unendliche in einem bestimmten Raum Endlichkeit wird. Wenn wir die Grenzen dieses Raumes weiter oder enger ziehen, so beginnt das Rosenblatt seine Wirklichkeit zu verlieren.
Wie mit dem Raum, so ist es auch mit der Zeit. Wenn ich durch irgendeinen Zufall die Schnelligkeit der Zeit in bezug auf das Rosenblatt steigern könnte, indem ich, sagen wir, einen Monat in eine Minute verdichtete, während ich selbst dabei auf meiner normalen Zeitebene bliebe, so würde es mit solcher rasenden Geschwindigkeit vom Punkt des ersten Erscheinens bis zum Punkt des Verschwindens eilen, daß ich nicht imstande wäre, es wahrzunehmen. Wir können sicher sein, daß es Dinge in dieser Welt gibt, die andre Geschöpfe wahrnehmen, aber die für uns nicht da sind, da ihre Zeit der unsern nicht entspricht. Unsre Geruchsnerven halten nicht Schritt mit denen des Hundes, daher existieren viele Erscheinungen für uns gar nicht, die ein Hund als Geruch wahrnimmt.
Wir hören zum Beispiel von mathematischen Wunderkindern, die in unglaublich kurzer Zeit schwierige Aufgaben ausrechnen. Ihr Geist arbeitet in bezug auf mathematische Berechnungen auf einer andern Zeitebene nicht nur als unserer, sondern auch als ihrer eigenen in den übrigen Lebensgebieten. Es ist, als ob der mathematische Teil ihres Geistes auf einem Kometen lebte, während die andern Teile Bewohner dieser Erde sind. Daher ist der Vorgang, durch den sie zu ihrem Resultat kommen, nicht nur uns unsichtbar, sondern auch sie selbst sehen ihn nicht.
Es ist eine ganz bekannte Tatsache, daß unsre Träume oft in einem Zeitmaß dahinfließen, das ganz verschieden von dem unsres wachen Bewußtseins ist. Fünfzig Minuten der Sonnenuhr unsres Traumlandes sind vielleicht fünf Minuten unsrer Stubenuhr. Wenn wir von dem Terrain unsres wachen Bewußtseins aus diese Träume beobachten könnten, so würden sie wie ein Schnellzug an uns vorbeirasen. Oder wenn wir vom Fenster unsrer schnell dahingehenden Träume aus die langsamere Welt unsres wachen Bewußtseins beobachten könnten, so würde sie mit großer Geschwindigkeit hinter uns zurückzuweichen scheinen. Ja, wenn die Gedanken, die sich in andern Hirnen bewegen, offen vor uns lägen, so würden wir sie anders wahrnehmen als jene selbst, da unser geistiges Zeitmaß ein anderes ist. Wenn wir den Maßstab unsrer Zeitwahrnehmung nach Belieben vergrößern oder verkleinern könnten, so würden wir den Wasserfall stillstehen und den Fichtenwald wie einen grünen Niagara schnell dahinrauschen sehen.
So ist es fast ein Gemeinplatz, wenn wir sagen, die Welt ist das, als was wir sie wahrnehmen. Wir bilden uns ein, unser Geist sei ein Spiegel, der mehr oder weniger genau das zurückwirft, was sich draußen ereignet. Im Gegenteil, unser Geist selbst ist der eigentliche Schöpfer. Während ich die Welt beobachte, erschaffe ich sie mir unaufhörlich selbst in Zeit und Raum.
Die Ursache der Mannigfaltigkeit der Schöpfung ist, daß der Geist die verschiedenen Erscheinungen in verschiedener zeitlicher und räumlicher Einstellung wahrnimmt. Wenn er die Sterne in einem Raum sieht, den man bildlich als dicht bezeichnen könnte, so sind sie nahe beieinander und bewegungslos. Wenn er die Planeten sieht, so sieht er sie in weit geringerer Raumdichtigkeit, und da erscheinen sie weit voneinander entfernt und in Bewegung. Wenn wir die Moleküle eines Eisenstückes in einem ganz andern Raum sehen könnten, so würden wir sehen, wie sie sich bewegen. Aber da wir die Dinge in ihren bestimmten Raum- und Zeitmaßen sehen, ist Eisen für uns Eisen, Wasser ist Wasser und Wolken sind Wolken.
Es ist eine ganz bekannte psychologische Tatsache, daß durch Änderung unsrer geistigen Einstellung Gegenstände ihr Wesen zu verändern scheinen; was uns angenehm war, wird uns zuwider, und umgekehrt. In einem gewissen Zustande der Verzücktheit haben die Menschen in der Kasteiung ihres Fleisches Genuß gesucht. Die außerordentlichen Leiden der Märtyrer scheinen uns übermenschlich, weil wir die geistige Haltung, unter deren Einfluß man sie ertragen, ja ersehnen kann, noch nicht an uns erfahren haben. In Indien hat man oft gesehen, daß Fakire über glühendes Eisen gingen, wenn solche Fälle auch wissenschaftlich noch nicht untersucht sind. Man kann verschiedener Meinung sein über die Wirksamkeit der Glaubensheilung, die den Einfluß des Geistes auf die Materie zeigt, aber seit den frühesten Zeiten haben Menschen an sie geglaubt und danach gehandelt. Unsre sittliche Erziehung gründet sich auf die Tatsache, daß durch unsre veränderte geistige Einstellung unsre Perspektive, ja in gewisser Hinsicht die ganze Welt eine andre wird, worin alles einen andern Wert bekommt. Daher wird das, was für einen Menschen wertvoll ist, solange er sittlich unentwickelt ist, schlimmer als wertlos für ihn, wenn er zu einer höhern Sittlichkeit gelangt.
Walt Whitman zeigt in seinen Gedichten eine große Geschicklichkeit, seinen geistigen Standpunkt zu wechseln und damit seiner Welt eine neue und von der der andern Menschen verschiedene Gestalt zu geben, indem er die Verhältnisse der Dinge umordnet und ihnen dadurch eine ganz neue Bedeutung gibt. Solche Beweglichkeit des Geistes wirft alle Konventionen über den Haufen. Daher sagt er in einem seiner Gedichte:
Solide Institutionen von massivem Bau lösen sich in der Welt dieses Dichters in Dunst auf. Sie ist wie eine Welt von Röntgenstrahlen, für die manche festen Dinge als solche nicht bestehen. Dagegen hat die Bruderliebe, die in der gewöhnlichen Welt etwas Fließendes ist, wie die Wolken, die über den Himmel hinziehen ohne eine Spur zurückzulassen, in der Welt des Dichters mehr Festigkeit und Dauer als alle Institutionen. Hier sieht er die Dinge in einer Zeit, wo die Berge wie Schatten dahinschwinden und wo die Regenwolken mit ihrer scheinbaren Vergänglichkeit ewig sind. Hier erkennt er, daß die Bruderliebe wie die Wolken, die keines festen Fundamentes bedürfen, Halt und Dauer hat, ohne Haus, ohne Hüter und ohne Satzungen.
Whitman steht auf einer andern Zeitebene, seine Welt fällt noch nicht in Trümmer, wenn man sie aus den Angeln hebt, weil sie seine eigene Persönlichkeit zum Zentrum hat. Alle Geschehnisse und Gestalten dieser Welt haben ihre Beziehung zu dieser zentralen schöpferischen Kraft, daher sind sie auch ganz von selbst untereinander verbunden. Seine Welt mag wohl ein Komet unter Sternen sein und ihre eigene Bewegung haben, aber sie hat auch ihre eigene Gesetzmäßigkeit durch die Zentralkraft der Persönlichkeit. Es mag eine verwegene, ja eine tolle Welt sein, deren exzentrischer Schweif eine ungeheure Bahn beschreibt, aber eine Welt ist es.
Doch mit der Naturwissenschaft ist es anders. Denn sie versucht, jene zentrale Persönlichkeit ganz auszuschalten, durch die die Welt erst eine Welt wird. Die Naturwissenschaft stellt einen unpersönlichen und unveränderlichen Maßstab für Raum und Zeit auf, der nicht der Maßstab der Schöpfung ist. Daher wirkt seine Berührung so vernichtend auf die lebendige Wirklichkeit der Welt, daß sie zu einem leeren Begriff wird und ihre Dinge sich in Nichts auflösen. Denn die Welt ist etwas anderes als Atome und Moleküle oder Radioaktivität und andere Kräfte, der Diamant ist etwas anderes als Kohlenstoff, und Licht ist etwas anderes als Schwingungen des Äthers. Auf dem Wege der Auflösung und Zerstörung wird man nie zur Wahrheit der Schöpfung gelangen. Nicht nur die Welt, sondern Gott selbst wird von der Naturwissenschaft seiner Wirklichkeit entkleidet; sie unterwirft ihn im Laboratorium der Vernunft, wo jede persönliche Beziehung aufhört, einer chemischen Analyse und verkündet als Resultat, daß man nichts von ihm weiß noch wissen kann. Es ist eine bloße Tautologie, zu behaupten, daß Gott unerkennbar ist, wenn man den, der ihn allein kennt und kennen kann, die menschliche Persönlichkeit, ganz außer Betracht läßt. Es ist, als ob man von einer Speise sagte, sie sei ungenießbar, wenn niemand da ist, sie zu essen. Unsre trocknen Moralisten machen es ebenso, sie lenken unser Herz von dem Ziel seiner Sehnsucht ab. Statt uns eine Welt zu erschaffen, in der die sittlichen Ideale in ihrer natürlichen Schönheit leben, versuchen sie, unsre Welt, die wir uns, wenn auch noch so unvollkommen, selbst erbaut haben, zu verkümmern. Statt menschlicher Persönlichkeiten stellen sich moralische Grundsätze vor uns auf und zeigen uns die Dinge im Zustande der Auflösung, um zu beweisen, daß hinter ihrer Erscheinung abscheulicher Trug ist. Aber wenn man die Wahrheit ihrer äußern Erscheinung beraubt, so verliert sie damit den besten Teil ihrer Wirklichkeit. Denn die Erscheinung ist es, durch die sie zu mir in persönlicher Beziehung steht, sie ist eigens für mich da. Von dieser Erscheinung, die nur Oberfläche zu sein scheint, die aber von dem innern Wesen Botschaft bringt, sagt euer Dichter:
Unsre wissenschaftliche Welt ist unsre Welt des Verstandes. Sie hat ihre Größe und ihren Nutzen und ihre Reize. Wir wollen ihr gern die ihr gebührende Huldigung erweisen. Aber wenn sie sich rühmt, die wirkliche Welt erst für uns entdeckt zu haben und über alle Welten der einfältigen Geister lacht, dann erscheint sie uns wie ein Feldherr, der, durch seine Macht berauscht, den Thron seines Königs usurpiert. Denn die Welt in ihrer lebendigen Wirklichkeit ist das Reich der menschlichen Persönlichkeit und nicht des Verstandes, der, mag er noch so nützlich und groß sein, doch nicht der Mensch selbst ist.
Wenn wir ein Musikstück als das, was es in Beethovens Geist war, vollkommen erkennen könnten, so könnten wir selbst jeder ein Beethoven werden. Aber weil wir sein Geheimnis nicht ergründen können, so können wir auch bezweifeln, daß etwas von Beethovens Persönlichkeit in seiner Sonate lebt, – obgleich wir uns wohl bewußt sind, daß ihr wahrer Wert in ihrer Wirkung auf unsre eigene Persönlichkeit besteht. Doch es ist noch einfacher, diese Tatsachen zu beobachten, wenn diese Sonate auf dem Klavier gespielt wird. Wir können die schwarzen und weißen Tasten der Klaviatur zählen, die Länge der Saiten messen, die Kraft, Geschwindigkeit und Reihenfolge in den Bewegungen der Finger feststellen und dann triumphierend behaupten, dies sei Beethovens Sonate. Und nicht nur das, wir können vorhersagen, daß, wo und wann auch immer der Versuch in der beobachteten Weise wiederholt wird, auch genau dieselbe Sonate wieder ertönt. Wenn wir die Sonate nur immer von diesem Gesichtspunkt aus betrachten, so vergessen wir leicht, daß ihr Ursprung und ihr Ziel die menschliche Persönlichkeit ist und daß, wie genau und vollkommen auch die technische Ausführung sein mag, diese doch noch nicht die letzte Wirklichkeit der Musik umfaßt.
Ein Spiel ist ein Spiel, sobald ein Spieler da ist, der es spielt. Natürlich hat das Spiel seine Regeln, die man kennen und beherrschen muß. Aber wenn jemand behaupten wollte, daß in diesen Regeln das wahre Wesen des Spiels läge, so müßten wir das ablehnen. Denn das Spiel ist das, was es für die Spieler bedeutet. Es wechselt seinen Charakter nach der Persönlichkeit der Spieler: für einige hat es den Zweck, ihre Gewinnsucht zu befriedigen, andern dient es zur Befriedigung ihres Ehrgeizes; einigen ist es ein Mittel, die Zeit hinzubringen, und andern ein Mittel, ihrem Hang zur Geselligkeit zu frönen; und noch andere gibt es, die ganz frei von eigennützigen Zwecken nur seine Geheimnisse studieren wollen. Und doch bleibt bei allen diesen mannigfachen Gesichtspunkten das Gesetz des Spiels immer das gleiche. Denn die Natur des wahren Seins ist die Einheit in der Mannigfaltigkeit. Und die Welt ist für uns wie solch ein Spiel, sie ist für uns alle die gleiche und doch nicht die gleiche.
Die Naturwissenschaft hat es nur mit der Gleichartigkeit zu tun, mit dem Gesetz der Perspektive und Farbenzusammenstellung und nicht mit dem Gemälde –, dem Gemälde, das die Schöpfung einer Persönlichkeit ist und sich an die Persönlichkeit dessen wendet, der es sieht. Die Naturwissenschaft will aus ihrem Forschungsgebiet die schöpferische Persönlichkeit ganz ausschalten und ihre Aufmerksamkeit nur auf das Medium der Schöpfung richten.
Was ist dieses Medium? Es ist das Medium der Endlichkeit, durch das der Unendliche sich uns offenbaren will. Es ist das Medium, das seine selbstauferlegten Begrenzungen darstellt, das Gesetz von Zeit und Raum, Form und Bewegung. Dies Gesetz ist die Vernunft, die allen gemeinsam ist, die Vernunft, die den endlosen Rhythmus der schöpferischen Idee leitet, wenn sie sich uns in immer wechselnden Formen offenbart.
Unsre Einzelseelen sind die Saiten, die bei den Schwingungen dieser Weltseele mitschwingen und in der Musik von Raum und Zeit Antwort geben. Diese Saiten sind untereinander verschieden an Tonhöhe und Klangfarbe und sind noch nicht zur Vollkommenheit gestimmt, aber ihr Gesetz ist das Gesetz der Weltseele, des Instrumentes, auf dem der ewige Spieler seinen Schöpfungstanz spielt.
Durch diese Seeleninstrumente, die wir in uns haben, sind auch wir Schöpfer. Wir schaffen nicht nur Kunst und soziale Organisationen, sondern auch uns selbst, unsre innere Natur und unsre Umgebung, deren Wesenserfüllung von ihrer Harmonie mit dem Gesetz der Weltseele abhängt. Freilich sind unsre Schöpfungen bloße Variationen der großen Weltmelodie Gottes. Wenn wir Dissonanzen hervorbringen, so müssen sie sich entweder in Wohlklang auflösen oder verstummen. Unsre Schöpferfreiheit findet ihre höchste Freude darin, daß sie ihre eigene Stimme in den Chor der Welt-Musik einfügt.
Die Naturwissenschaft traut dem gesunden Verstand des Dichters nicht recht. Sie weist die paradoxe Behauptung, daß das Unendliche Endlichkeit annehme, zurück.
Ich kann zu meiner Verteidigung sagen, daß diese Paradoxie viel älter ist als ich. Es ist dieselbe Paradoxie, die an der Wurzel allen Seins liegt. Sie ist ebenso geheimnisvoll und einfach zugleich wie die Tatsache, daß ich imstande bin, diese Wand wahrzunehmen, was im letzten Grunde ein unerklärliches Wunder ist.
Kehren wir noch einmal zu der Ischa-Upanischad zurück, um zu hören, was der Weise über den Widerspruch des Unendlichen und des Endlichen sagt. Er sagt:
»Die geraten ins Dunkel, die sich nur mit der Erkenntnis des Endlichen beschäftigen, aber die geraten in ein noch größeres Dunkel, die sich nur mit der Erkenntnis des Unendlichen beschäftigen.«
Wer die Erkenntnis des Endlichen sucht um ihrer selbst willen, wird die Wahrheit nicht finden. Denn diese Erkenntnis ist ihm nur eine tote Mauer, die ihm das Drüben verbaut. Sie hilft ihm nur zu materiellem Gewinn, aber sie leuchtet ihm nicht. Sie ist wie eine Lampe ohne Licht, wie eine Geige ohne Musik. Man kann ein Buch nicht kennen lernen, wenn man es mißt und wägt und seine Seiten zählt oder sein Papier chemisch untersucht. Eine neugierige Maus kann sich in das Innere eines Klaviers hineinnagen und zwischen seinen Saiten herumstöbern, soviel sie will, der Musik kommt sie dadurch nicht näher. So machen es die, die das Endliche um seiner selbst willen suchen.
Aber die Upanischad lehrt uns, daß das alleinige Streben nach Erkenntnis des Unendlichen in ein noch tieferes Dunkel führt. Denn das schlechthin Unendliche ist Leere. Jedes Endliche ist etwas. Vielleicht ist es nur ein Scheckbuch ohne Guthaben auf der Bank. Aber das schlechthin Unendliche hat weder Geld noch Scheckbuch. Wie tief das geistige Dunkel des primitiven Menschen auch sein mag, der in der Überzeugung lebt, daß jeder Apfel nach seiner Laune zu Boden fällt, es ist noch nichts gegen die Blindheit dessen, der sein Leben im Grübeln über das Gesetz der Schwere verbringt, ohne den fallenden Apfel zu sehen.
Daher lehrt die Ischa-Upanischad:
»Wer da weiß, daß die Erkenntnis des Endlichen und Unendlichen eins ist, überschreitet den Abgrund des Todes mit Hilfe der Erkenntnis des Endlichen und erringt Unsterblichkeit durch die Erkenntnis des Unendlichen.«
Das Unendliche und das Endliche sind eins wie Lied und Gesang. Das Singen ist das Endliche, das durch beständiges Sterben das Lied, das vollkommen ist, hervorbringt. Das schlechthin Unendliche ist wie Musik ohne alle bestimmten Töne und daher ohne Sinn.
Das schlechthin Ewige ist Zeitlosigkeit, ein leeres Wort, das nichts sagt. Die Wirklichkeit des Ewigen umfaßt alle Zeiten.
Daher heißt es in der Upanischad:
»Die geraten ins Dunkel, die nur nach dem Vergänglichen streben. Aber die geraten in ein noch tieferes Dunkel, die nur nach dem Ewigen streben. Wer da weiß, daß Vergängliches und Ewiges eins sind, der überschreitet den Abgrund des Todes mit Hilfe des Vergänglichen und gewinnt Unsterblichkeit mit Hilfe des Ewigen.«
Wir haben gesehen, daß die Formen der Dinge in ihrem mannigfaltigen Wechsel keine absolute Wirklichkeit haben. Ihre Wirklichkeit ist nur in unsrer Persönlichkeit. Wir haben gesehen, daß ein Berg oder ein Wasserfall etwas ganz anderes oder auch nichts mehr für uns sein würde, wenn unser Geist seine Einstellung in bezug auf Zeit und Raum änderte.
Wir haben ebenfalls gesehen, daß diese relative Welt keine Welt der Willkür ist. Sie ist persönlich und allgemein zugleich. Meine Welt ist meine eigene, eine Welt meines Geistes, und doch ist sie nicht etwas ganz anderes als die Welt der andern. Sie hat also ihre Wirklichkeit nicht in meinem Einzel-Ich, sondern in einem unendlichen Ich.
Wenn wir das Naturgesetz an die Stelle dieser Wirklichkeit setzen, so löst sich die ganze Welt in Abstraktionen auf; dann besteht sie nur noch aus Elementen und Kräften, Ionen und Elektronen; sie verliert ihre äußere Erscheinung, man sieht und spürt sie nicht mehr; das Welt-Drama mit der Sprache der Schönheit verstummt, die Musik schweigt, die Bühne steht im Dunkel da wie ihr eigenes Gespenst, ein wesenloser Schatten, dem der Zuschauer fehlt.
Hier möchte ich wieder den Dichterpropheten Walt Whitman reden lassen:
Die Prosodie der Sterne, ihre rhythmische Bewegung, läßt sich durch Zeichnungen an der Wandtafel darstellen, aber die Poesie der Sterne liegt in der schweigenden Begegnung der Seele mit der Seele, beim Zusammenfluß von Licht und Dunkel, wo das Unendliche die Stirn des Endlichen küßt, wo wir die Musik des großen Welt-Ich von dem gewaltigen Orgelwerk der Schöpfung in endloser Harmonie erbrausen hören.
Es ist vollkommen klar, daß die Welt Bewegung ist. (Das Sanskritwort für Welt bedeutet »die sich Bewegende«.) All ihre Formen sind vergänglich, aber das ist nur ihre negative Seite. Durch all ihre Wandlungen geht eine Kette von Verwandtschaft, die ewig ist. Es ist wie in einem Geschichtenbuch, ein Satz folgt auf den andern, aber das positive Element des Buches ist der Zusammenhang der Sätze in der Geschichte. Dieser Zusammenhang offenbart, daß in dem Verfasser ein persönlicher Wille wirksam ist, wodurch eine Harmonie mit der Persönlichkeit des Lesers hergestellt wird. Wenn das Buch eine Sammlung losgelöster Worte ohne Bewegung und Sinn wäre, so könnten wir es mit Recht ein Zufallsprodukt nennen, und in diesem Fall würde es in der Persönlichkeit des Lesers keinen Widerhall finden. Ebenso ist auch die Welt in all ihren Wandlungen kein flüchtiger Schein, der uns entgleitet, sondern offenbart uns gerade durch ihre Bewegung etwas, was ewig ist.
Zur Offenbarung einer Idee ist Form unbedingt nötig. Aber die Idee, die unendlich ist, kann nicht in Formen ihren Ausdruck finden, die schlechthin endlich sind. Daher müssen die Formen sich beständig wandeln und bewegen, sie müssen vergehen, um das Unvergängliche zu offenbaren. Der Ausdruck als Ausdruck muß bestimmt sein, und das kann er nur in der Form; aber als Ausdruck des Unendlichen muß er zugleich unbestimmt sein, und das kann er nur in der Bewegung. Daher geht die Welt in allen ihren Gestalten immer über diese hinaus, sie zerbricht immer wieder achtlos ihre eigenen Formen, um zu sagen, daß sie ihren ganzen Sinn doch nie fassen können.
Der Moralist schüttelt traurig den Kopf und sagt, daß die Welt eitel ist. Aber diese Eitelkeit ist nicht Leere, nein, diese Eitelkeit selbst schließt Wahrheit in sich. Wenn die Welt stillstände und damit endgültig würde, dann würde sie zu einem Gefängnis verwaister Tatsachen, die die Freiheit der Wahrheit verloren hätten, der Wahrheit, die unendlich ist. Daher hat der moderne Denker darin recht, daß in der Bewegung der Sinn aller Dinge liegt, weil dieser Sinn nicht gänzlich den Dingen selbst innewohnt, sondern dem, worauf sie hindeuten, wenn sie über ihre Grenzen hinauswachsen. Dies meint die Ischa-Upanischad, wenn sie sagt, daß weder das Vergängliche, noch das Ewige für sich einen Sinn hat. Erst wenn wir sie im Einklang miteinander erkennen, gelangen wir über das Vergängliche hinaus und erfassen das Ewige.
Weil diese Welt die Welt unendlicher Persönlichkeit ist, ist es das Ziel unsres Lebens, uns in eine vollkommene und persönliche Beziehung zu ihr zu setzen. So lehrt die Ischa-Upanischad. Daher beginnt sie mit dem Verse:
»Wisse, daß alles, was in dieser Welt lebt und webt, von der Unendlichkeit Gottes getragen wird, und genieße das, was er dir hingibt. Begehre keinen andern Besitz.«
Das heißt, wir sollen erkennen, daß die Bewegungen dieser Welt nicht sinnlos und zufällig sind, sondern zu dem Willen eines höchsten Ich in Beziehung stehen. Ein bloßes Wissen um die Wahrheit ist unvollkommen, da es unpersönlich ist. Aber Freude ist persönlich, und der Gott meiner Freude ist Bewegung, Handeln, Selbsthingabe. In dieser Hingabe hat der Unendliche die Gestalt des Endlichen angenommen und ist daher Wirklichkeit geworden, so daß ich meine Freude in ihm haben kann.
Im Schmelztiegel unsrer Vernunft verschwindet die Welt der Erscheinungen, und wir nennen sie Täuschung. Dies ist die negative Seite des Erlebens. Aber unsre Freude ist positiv. Eine Blume ist nichts, wenn wir sie zergliedern, aber sie ist in Wahrheit eine Blume, wenn wir uns an ihr freuen. Diese Freude ist etwas Wirkliches, weil sie etwas Persönliches ist. Und die Wahrheit kann in ihrer Vollkommenheit nur durch unsre Persönlichkeit erkannt werden.
Und daher lehrt die Upanischad: »Weder Verstand noch Worte können ihn fassen. Aber wer die Freude Brahmas erkannt hat, für den gibt es keine Furcht mehr.«
Das Folgende ist die Übersetzung eines andern Verses aus der Ischa-Upanischad, der von der passiven und aktiven Natur Brahmas handelt:
»Er, der Fleckenlose, Körperlose, Unverwundbare, Reine, dem kein Übel anhaftet, geht in alles ein. Der Dichter, der Beherrscher des Geistes, der in allen Gestalten Lebende, aus sich selbst Geborene, spendet den endlosen Jahren vollkommene Erfüllung.«
Die negative Natur Brahmas ist Ruhe, die positive ist Bewegung, die in alle Zeiten wirkt. Er ist der Dichter, dessen Instrument die Seele ist, er offenbart sich in Schranken, und diese Offenbarung hat ihren Grund nicht in irgendeinem äußern Zwange, sondern in der Überfülle seiner Freude. Daher ist er es, der durch endlose Zeiten all unser Verlangen stillen kann, indem er sich selbst hingibt.
Mit dieser Erkenntnis haben wir auch den Sinn und Zweck unsres Daseins gefunden. Beständige Selbsthingabe ist die Wahrheit unsres Lebens, und je vollkommener unsre Selbsthingabe ist, um so vollkommener ist unser Leben. Wir müssen dies unser Leben in all seinen Ausdrucksformen zu einem Gedicht gestalten; es muß von unsrer Seele zeugen, die unendlich ist, und nicht nur von unserm irdischen Besitz, der keinen Sinn in sich selbst hat. Das Bewußtsein des Unendlichen in uns tut sich in der Freude kund, mit der wir uns aus der Fülle unsres Überflusses hingeben. Dann ist unser Leben ein unaufhörliches, selbstentsagendes Sichausströmen wie das Leben des Flusses.
Laßt uns leben. Laßt uns die wahre Lebensfreude kosten, die Freude des Dichters, dessen Seele sich in sein Gedicht ergießt. Laßt uns unser unvergängliches Wesen in allen Dingen um uns her zum Ausdruck bringen, in der Arbeit, die wir tun, in den Dingen, die wir gebrauchen, in den Menschen, mit denen wir zu tun haben, in unsrer Freude an der Welt, die uns umgibt. Laßt unsre Seele alles um uns her mit ihrem Wesen füllen und in allen Dingen Gestalt werden und ihren Reichtum offenbaren, indem sie das hervorbringt, was der Menschheit ewig Bedürfnis ist. Dies unser Leben ist mit den Gaben des unendlichen Gebers angefüllt. Die Sterne singen ihm ihr Lied, der Morgen überströmt es täglich mit segnendem Licht, die Früchte bieten ihm ihre Süße dar, und die Erde breitet ihren Grasteppich aus, damit es darauf ruhe. So laßt seine Seele bei dieser Berührung der unendlichen Seele in den vollen Strom ihrer Musik ausbrechen.
Daher sagt der Dichter der Ischa-Upanischad:
»Wenn du in dieser Welt schaffst und wirkst, so solltest du wünschen, hundert Jahre zu leben. So und nicht anders soll dein Wirken sein. Laß nicht dein Werk an dir haften.«
Nur wenn wir unser Leben voll leben, können wir darüber hinauswachsen. Wenn die Lebenszeit der Frucht erfüllt ist, die Zeit, wo sie im Winde tanzend und in der Sonne reifend den Saft aus dem Zweige sog, dann fühlt sie in ihrem Kern den Ruf des Jenseits und bereitet sich zu einem weiteren Leben. Aber die Weisheit des Lebens besteht in dem, was uns die Kraft gibt, es aufzugeben. Denn der Tod ist das Tor zur Unsterblichkeit. Daher heißt es: Tu deine Arbeit, aber laß nicht deine Arbeit dich festhalten. Denn die Arbeit ist nur Ausdruck deines Lebens, solange sie mit seinem Strom fließt; doch wenn sie sich festklammert, wird sie zum Hemmnis und zeugt nicht von deinem Leben, sondern nur von sich selbst. Dann ist sie wie der Sand, den der Fluß mitführt: sie hemmt den Strom deiner Seele. Die Tätigkeit der Glieder gehört zur Natur des physischen Lebens, doch wenn die Glieder sich im Krampf bewegen, so sind die Bewegungen nicht in Harmonie mit dem Leben, sondern eine Krankheit, wie eine Arbeit, die einen Menschen umklammert und seine Seele erdrosselt.
Nein, wir dürfen unsre Seele nicht töten. Wir dürfen nicht vergessen, daß unser Leben das Ewige in uns zum Ausdruck bringen soll. Wenn wir unser Bewußtsein des Unendlichen entweder durch Trägheit verkümmern lassen oder durch leidenschaftliches Jagen nach vergänglichen und nichtigen Dingen ersticken, so sinken wir ins Ur-Dunkel des Gestaltlosen zurück wie die Frucht, deren Same tot ist. Das Leben ist unaufhörliche Schöpfung, es findet seinen Sinn, wenn es über sich hinaus ins Unendliche wächst. Doch wenn es stillsteht und Schätze aufhäuft und immer wieder zu sich selbst zurückkehrt, wenn es den Ausblick auf das Jenseits verloren hat, so muß es sterben. Dann wird es aus der Welt des Wachstums ausgestoßen und zerfällt mit all seiner Habe in Staub. Von solchem Leben heißt es in der Ischa-Upanischad: »Die ihre Seele töten, gehen dahin ins Dunkel der sonnenlosen Welt.«
Auf die Frage: »Was ist die Seele?« gibt die Ischa-Upanischad folgende Antwort:
»Sie ist das Eine, das, obgleich bewegungslos, schneller ist als der Gedanke; die Sinne können es nicht erreichen; während es stillsteht, überholt es die, die dahineilen; in ihm sind die fließenden Kräfte des Lebens enthalten.«
Der Geist hat seine Schranken, die Sinnesorgane sind jedes für sich mit seinen Aufgaben beschäftigt, aber es ist ein Prinzip der Einheit in uns, das über die Gedanken des Geistes und über die Funktionen der Körperorgane hinausgeht, das in seinem gegenwärtigen Augenblick eine ganze Ewigkeit umfaßt, während durch seine Gegenwart der Lebenstrieb die Lebenskräfte immer weiterdrängt. Weil wir dies Eine in uns fühlen, das mehr ist als alles, was von ihm umfaßt wird, das im beständigen Wandel seiner Teile sich gleich bleibt, können wir nicht glauben, daß es sterben kann. Weil es eins ist, weil es mehr ist als seine Teile, weil es ein beständiges Überleben, ein beständiges Überfließen ist, fühlen wir, daß es jenseits der Schranken des Todes ist.
Dies Bewußtsein der Einheit und Ganzheit über alle Schranken hinaus ist das Bewußtsein der Seele. Und von dieser Seele sagt die Ischa-Upanischad: »Sie bewegt sich, und sie bewegt sich nicht. Sie ist fern, und sie ist nah. Sie ist in allem, und sie ist außerhalb von allem.«
Dies heißt, die Seele erkennen als jenseits aller Schranken des Nahen und Fernen, des Innen und Außen. Ich habe dies Wunder aller Wunder erkannt, dies Eine in mir, das das Zentrum alles wahren Seins für mich ist. Aber ich kann mit meiner Erkenntnis hier nicht stehenbleiben. Ich kann nicht sagen, daß es über alle Grenzen hinausgeht und doch von mir selbst begrenzt wird. Daher heißt es in der Ischa-Upanischad:
»Wer alle Dinge in der Seele und die Seele in allen Dingen sieht, der braucht sich nicht mehr zu verbergen.«
Wir sind in uns selbst verborgen, wie eine Wahrheit in den einzelnen Tatsachen verborgen ist. Wenn wir wissen, daß dies Eine in uns zugleich das Eine in allen ist, dann erst haben wir die letzte Wahrheit erkannt.
Aber diese Erkenntnis von der Einheit der Seele darf kein bloßes abstraktes Wissen sein. Nicht jene negative Art des Universalismus, die weder sich selbst noch andern angehört. Nicht eine abstrakte Seele, sondern meine eigene Seele muß ich in andern erkennen. Ich muß erkennen, daß, wenn meine Seele ausschließlich mein wäre, sie noch nicht zu ihrem wahren Wesen gelangt wäre, daß aber wiederum, wenn sie nicht zuinnerst mein wäre, sie überhaupt keine Wirklichkeit hätte.
Auf dem Wege der Logik wären wir niemals zu der Wahrheit gelangt, daß die Seele, die das Prinzip der Einheit in uns ist, in der Vereinigung mit andern ihre Vollendung findet. Wir haben diese Wahrheit durch die Freude, die sie gibt, erkannt. Denn unsre Freude ist, uns in andern wiederzufinden. Wenn ich liebe, mit andern Worten, wenn ich mein eigenes Wesen wahrer und reiner in andern erkenne als in mir selber, dann bin ich froh, denn das Eine in mir kommt zu seiner Verwirklichung, indem es sich mit andern vereint, und darin hat es seine Freude.
Daher braucht das Prinzip der Einheit in Gott die Vielen, um die Einheit zu verwirklichen. Gott gibt sich in Liebe allen hin. Die Ischa-Upanischad sagt: »Du sollst genießen, was Gott hingibt.« Er gibt beständig hin, und ich bin voll Freude, wenn ich fühle, daß er sich selbst hingibt. Denn diese meine Freude ist die Freude der Liebe, die aus meiner Selbsthingabe an ihn entspringt.
Da, wo die Upanischad uns ermahnt, diese Hingabe Gottes zu genießen, fährt sie fort: »Laß dich nicht gelüsten nach dem Besitz anderer.« Denn die Begierde hemmt die Liebe. Sie geht in einer der Wahrheit entgegengesetzten Richtung und gelangt zu der Täuschung, daß unser Ich unser letztes Ziel sei.
Daher hat die Verwirklichung unsrer Seele eine sittliche und eine religiöse Seite. Das Sittliche besteht in der Übung der Selbstlosigkeit, in der Zügelung der Begierden; das Religiöse in Mitgefühl und Liebe. Beide Seiten sollten nie getrennt, sondern immer vereint geübt werden. Die Entwicklung der rein sittlichen Seite unsrer Natur führt uns zu Engherzigkeit und Härte, zu Intoleranz und Pharisäertum; die einseitige Entwicklung des Religiösen führt uns zum Schwelgen im ungezügelten Spiel der Phantasie.
Indem wir dem Dichter der Upanischad soweit gefolgt sind, haben wir den Sinn alles wahren Seins gefunden: Die Endlichkeit ist die Form, in der sich der Unendliche hingibt. Die Welt ist der Ausdruck einer Persönlichkeit, ebenso wie ein Gedicht oder ein anderes Kunstwerk. Der Höchste gibt sich selbst in seiner Welt und ich mache sie zu der meinen, wie ich mir ein Gedicht zu eigen mache, indem ich mich selbst darin wiederfinde. Wenn meine eigene Persönlichkeit das Zentrum meiner Welt verläßt, so verliert diese in einem Augenblick ihr ganzes Wesen. Daraus erkenne ich, daß meine Welt nur in Beziehung zu mir existiert, und ich weiß, daß sie meinem persönlichen Ich durch ein persönliches Wesen gegeben ist. Die Naturwissenschaft kann wohl ihre Feststellungen darüber machen, wie dieses Geben vor sich geht, aber die Gabe selbst erfaßt sie nicht. Denn die Gabe ist die Seele, die sich der Seele schenkt, daher kann nur die Seele sie sich durch Freude zu eigen machen, aber nicht die Vernunft durch Logik.
Daher ist es immer das sehnlichste Verlangen des Menschen gewesen, den Höchsten zu erkennen. Vom Anfang seiner Geschichte an hat der Mensch in der ganzen Schöpfung die Berührung eines persönlichen Wesens gespürt und versucht, ihm Namen und Gestalt zu geben; er hat sein Leben und das Leben seines Geschlechts mit Sagen von ihm umwoben, ihm Altäre gebaut und durch unzählige heilige Bräuche Beziehung zu ihm hergestellt. Dies Ahnen und Fühlen eines persönlichen Wesens hat dem zentrifugalen Triebe im Menschenherzen den Impuls gegeben, in einem unerschöpflichen Strom von Gegenwirkung hervorzubrechen in Liedern und Bildern und Gedichten, in Statuen und Tempeln und Festlichkeiten. Dies Gefühl war die Zentripetalkraft, die die Menschen bewog, sich in Haufen und Stämmen und Gemeindeorganisationen zusammenzuschließen. Und während der Mensch seinen Acker pflügt und seine Kleider webt, heiratet und Kinder aufzieht, sich um Reichtum abmüht und um Macht kämpft, vergißt er nicht, in Worten von feierlichem Rhythmus, in geheimnisvollen Symbolen, in majestätischen Steinbauten zu verkünden, daß er im Herzen seiner Welt dem Unsterblichen begegnet ist. Im Leid des Todes und im Schmerz der Verzweiflung, wenn das Vertrauen verraten und die Liebe entweiht wurde, wenn das Dasein fade und sinnlos wird, streckt der Mensch, auf den Trümmern seiner Hoffnungen stehend, die Hände zum Himmel, um durch das Dunkel seiner Welt hindurch die Berührung dieses Einen zu spüren.
Der Mensch hat die Beziehung seines Ichs zu diesem Welt-Ich auch unmittelbar erfahren, unmittelbar, nicht durch die Welt der Formen und Wandlungen, die Welt der Ausdehnung in Raum und Zeit, sondern in der innersten Einsamkeit des Bewußtseins, in der Welt der Tiefe und Intensität. Durch diese Begegnung hat er die Schöpfung einer neuen Welt gefühlt, einer Welt von Licht und Liebe, die keine Sprache hat als die Musik des Schweigens.
Von dieser Welt hat der Dichter Songs of Kabir (s. S. 32) LXXVI, p. 121. gesungen:
Nein, es kann nicht geschildert, es muß erlebt werden; und wenn dem Menschen dies Erlebnis zuteil geworden ist, singt er Ebenda XVII, p. 67.:
Der Dichter hat das wahre Sein erlangt, das unaussprechlich ist, wo alle Widersprüche sich in Harmonie gelöst haben. Denn dies wahre Sein, die letzte Wirklichkeit, liegt in der Persönlichkeit, nicht in Gesetz und Stoff. Und der Mensch muß fühlen: wenn dies Weltall nicht die Offenbarung einer höchsten Persönlichkeit wäre, so wäre es ein ungeheurer Betrug und eine beständige Schmach für ihn. Er muß wissen, daß unter einer solch ungeheuren Last von Fremdheit seine eigene Persönlichkeit gleich am Anfang zermalmt und zu einer leeren Abstraktion geworden wäre, für die selbst die Grundlage eines Geistes fehlte, der sie hätte konzipieren können.
Der Dichter der Upanischad bricht am Ende seiner Lehren plötzlich in ein Lied aus, das in seiner tiefen Schlichtheit das lyrische Schweigen der weiten Erde in sich trägt, wenn sie die Morgensonne anschaut. Er singt:
»In dem goldnen Gefäß verbirgt sich das Antlitz der Wahrheit. O du Spender des Lebens, decke es auf, daß wir das Gesetz der Wahrheit erkennen. O du Spender des Lebens, der du aus eigener Kraft wirkst und schaffst, der du die Schöpfung lenkst, du Herr aller Kreaturen, breite aus deine Strahlen, sammle all dein Licht, laß mich in dir das heiligste aller Wesen schauen, – den Einen, der da ist, der da ist, das wahre Ich Der Schluss ist kaum richtig wiedergegeben. Genauer Deussen: »ja, ich sehe sie, deine lieblichste Gestalt; und jener dort, der Mann dort, ich bin es selbst!« (Tagore: he is I Am.).«
Und am Schluß singt dieser Dichter der unsterblichen Persönlichkeit vom Tode:
»Der Lebensodem ist der Odem der Unsterblichkeit. Der Leib wird zu Asche. O mein Wille Das vieldeutige Wort kratu ist eher mit Geist wiederzugeben., gedenke deiner Taten! O mein Wille, gedenke deiner Taten! O Gott, o Feuer, du kennst alle Taten. Führe uns auf guten Wegen zur Vollendung. Halte die Sünde von uns fern, die krumme Wege wandelt. Dir bieten wir unsern Gruß.«
Hiermit endet der Dichter der Upanischad, der vom Leben zum Tode und vom Tode wieder zum Leben gepilgert ist; der die Kühnheit gehabt hat, in Brahma das unendliche Sein und das endliche Werden zugleich zu sehen; der verkündet, daß wahres Leben Arbeit bedeutet, Arbeit, in der sich die Seele ausdrückt; der uns lehrt, daß unsre Seele ihr wahres Wesen in dem höchsten Wesen findet, indem sie sich selbst aufgibt und eins mit dem All wird.
Die tiefe Wahrheit, die der Dichter der Upanischad verkündet, ist die Wahrheit des einfältigen Herzens, das das geheimnisvolle Leben mit tiefer Liebe liebt und nicht an die Endgültigkeit jener Logik glauben kann, die mit ihrer zersetzenden Methode das Weltall an den Rand der Auflösung bringt.
Erschien mir nicht das Licht der Sonne heller, der Glanz des Mondes weicher und tiefer, wenn mein Herz in plötzlicher Liebe aufwallte in der Gewißheit, daß die Welt eins ist mit meiner Seele? Wenn ich die heraufziehenden Wolken besang, so fand der prasselnde Regen seinen leidenschaftlichen Ausdruck in meinen Liedern. Vom Anfang der Geschichte an haben die Dichter und Künstler dieses Dasein mit den Farben und der Musik ihrer Seele getränkt. Und dies gibt mir die Gewißheit, daß Erde und Himmel aus den Fibern des Menschengeistes, der zugleich der Allgeist ist, gewoben sind. Wenn dies nicht wahr wäre, so wäre Poesie Lüge und Musik Täuschung, und die stumme Welt würde des Menschen Herz für immer in Schweigen erstarren machen. Der große Meister spielt die Flöte: der Atem ist sein, das Instrument ist unsre Seele, durch die er seine Schöpfungslieder ertönen läßt; und daher weiß ich, daß ich kein bloßer Fremdling bin, der auf der Reise seines Daseins in der Herberge dieser Erde Rast macht, sondern ich lebe in einer Welt, deren Leben mit dem meinen eng verknüpft ist. Der Dichter wußte, daß das Sein dieser Welt ein persönliches Sein ist, und sang Songs of Kabir LXXXII, p. 129.: