Bertha von Suttner
Eva Siebeck
Bertha von Suttner

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XXI.

Fünf Tage später; Gräfin Liuba Dürenberg war wieder abgereist.

Jetzt pflegte Eva den ganzen Tag zu Hause zu bleiben. Weder wollte sie nach Monte Carlo fahren, noch in Nizza selber unter die Leute gehen; sie begleitete ihre Tante nicht einmal in den Speisesaal des Hotels, sondern ließ sich ihre Mahlzeiten – von welchen sie übrigens nur Sperlingsportionen aß – auf das Zimmer bringen.

Diese Lebensweise trug natürlich dazu bei, das Gefühl der Mattigkeit und des Unwohlbefindens, unter dem sie litt, zu verstärken. Und das war ihr eben recht. Sie sollte – sie mußte ja krank, sterbenskrank sein, um vor ihren eigenen Augen für den abgesandten Brief Entschuldigung zu finden. Der Husten hatte nachgelassen und das Blutsspucken sich nicht wiederholt – sollte sie am Ende gar von keinem tödtlichen Uebel befallen sein? Dieser Zweifel ergriff Eva mit einer Art Angst – denn wenn der Gerufene kam, in der Meinung, den letzten Wunsch einer Sterbenden zu erfüllen, und er fände die Rufende frisch und gesund – welche Schmach: Kam er hingegen gar nicht, dann war ihr das Leben schon vollends unerträglich; dann hätte sie so bald als möglich ins Grab sinken mögen – wäre es nur, damit der Theure sich trauernd über dasselbe neigte, wie sie das so oft in ihren düsteren Phantasten gesehen...

Fünf Tage seit der Absendung ihres Schreibens: – jetzt konnte Ralph jeden Augenblick kommen. Wenn ihn der Brief in Großstetten gefunden, und wenn er ohne Säumen abgereist, so mußte er heute noch in Nizza eintreffen. Freilich war der Fall auch nicht ausgeschlossen, daß Ralph eine seiner gewohnten Reisen unternommen; wer weiß, in welchem fernen Welttheil er eben weilte, wo ihr Brief – wenn überhaupt – ihn erst nach Wochen erreichen konnte?

Eva war ganz Erwartung. Sie konnte keinen anderen Gedanken fassen als: Kommt er, kommt er nicht? – An diesem Tage war Gräfin Koloman wieder nach Monaco gefahren. Zwar hatte das System sich neulich schlecht bewährt; aber seither war durch Anwendung sorgfältiger Rechnungen und Gleichungen die letzte verwundbare Stelle desselben weggeschafft; durch Hinzufügung einer neuen Kombination mit verbesserter Steigerungs-Skala war ein Verlust gar nicht mehr denkbar ... Nur mußte man – damit der vorige Schaden hereingebracht werde – die Einsätze verdoppeln, und zu diesem Behufe war das gewisse Checkbuch von Neuem in Anspruch genommen worden. Eva zeigte sich solchem Ansinnen gegenüber um so willfähriger, als sie für die kurze Lebensfrist, die sie noch vor sich sah, die vorhandene Summe mehr als genügend fand.

In den Speisesaal pflegte sie nicht zu gehen, da in ihrer gegenwärtigen Stimmung der Anblick und die Nachbarschaft fremder Menschen ihr eine Qual war; aber in das Lesezimmer des Hotels verfügte sie sich dessen ungeachtet täglich. Es lag da die »Neue freie Presse« auf, und diese las sie regelmäßig durch, hoffend, unter den Lokalnachrichten einmal etwas über das Verbleiben der Grafen Siebeck zu erfahren.

So auch heute. Das Lesezimmer und der anstoßende Salon waren sehr gefüllt. Um das Pianino stand eine ganze englische Familie gruppirt, um einem ihrer Glieder zu lauschen, das den Walzer »Les gardes de la Reine« in Trauermarsch-Tempo vortrug. Ein paar sehr laut sprechende Polen gestikulirten in einer Fensternische: Vor dem Pfeilerspiegel oldnete ein auffallend gepudertes Dämchen ihre kupferblond gefärbten Stirnlocken; im Lesezimmer waren mehrere Personen mit Briefschreiben beschäftigt; andere saßen um die Tische und lasen Times und Figaro. In all diesem ausländischen Treiben, unter all den wildfremden Menschen, mit welchen sie durch keinerlei Interessen verbunden war, von denen sie nichts wußte, – ebenso wie Jene von ihr nichts wußten, – überkam Eva plötzlich ein namenloses Heimwehgefühl. Wie schön war es doch in Großstetten – die von ihr zuletzt bewohnte, so behaglich eingerichtete Zimmerreihe der Park, der Teich (»Barcarolen ... nichts als Barcarolen«), die Bewohner des Dorfes, welche sie alle so ehrfurchtsvoll grüßten, die glänzende Nachbarschaft von Dornegg: welches Paradies müßte ein Großstetten sein, wenn sie dort als Herrin leben dürfte, an der Seite eines – Ralph. Solche seligen Geschicke giebt es hienieden auch – warum war ihr kein ähnliches zu Theil geworden? Warum hatte sie aus der Heimath fort müssen, vor einem verhaßten Gatten fliehen, mit einer unglückseligen Liebe im Herzen, um hier vereinsamt, unverstanden, ungeliebt an fremdem Orte zu – sterben.

Sie riß sich aus diesen Gedanken los. Jetzt war die »Neue freie Presse«, welche auch in Händen gewesen, frei geworden; sie setzte sich an den Tisch und begann zu blättern. Unter den »Hof- und Personal-Nachrichten« wieder nichts, wieder keine Notiz über die Grafen Siebeck. Dagegen fiel ihr an anderer Stelle, unter den politischen Berichterstattungen, der Name Dürenberg in die Augen. Mittelbar knüpfte dies ja auch an Großstetten an – und mit Eifer laß sie die betreffende Stelle. Es war die Wiedergabe einer Rede, mit welcher der durchlauchtige Reichsrath in der letzten Parlamentssitzung ein reaktionäres Programm entwickelt hatte. »Anknüpfend an die ehrwürdigen, alten Traditionen;« »Rückkehr zu den gesunden Zuständen des feudalen Staates;« »Wiedereinführung der Innungen;« »Schutz der Landwirthschaft durch Erhöhung der Einfuhrzölle;« »Bekämpfung des moralbedrohlichen Judenliberalismus;« »Ueberantwortung der Schule in die Gewalt des Klerus« u.s.w. Lauter Dinge, von deren praktischer Bedeutung Eva sich keine Vorstellung machte, aber von welchen sie wohl wußte, wie Ralph dieselben beurtheilen und bekämpfen würde; – bekämpfen, nicht im Interesse der Machtstellung des eigenen Standes, nicht im Namen eines anerzogenen Vorurtheils, einer Parteilosung – sondern vom Standpunkt des fortschreitenden Volkswohls. Sie sah ihn vor sich, wie damals im Dürenberg'schen Salon, wo er mit leuchtendem Blick, mit erhobener Stimme seine politische Parole ausgegeben: Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit.

Ein Telegraphenbote, von einem Kellner hineingewiesen, trat in das Zimmer.

»Madame la comtesse Siebeck« las er laut die Ueberschrift des in seinen Händen befindlichen lichtblauen Papiers.

Eva sprang auf und nahm das Blatt in Empfang. Mit vor Aufregung zitternder Hand unterfertigte sie den Begleitschein. Sie war überzeugt: das Telegramm kam von ihm. Das wollte sie nicht hier – nicht unter fremden Leuten lesen. Sie eilte damit die Treppe hinauf; erst in der Einsamkeit ihres Zimmers wollte sie diese Botschaft, die sie in Händen hielt, vernehmen – gewiß: er kündigte ihr seine Ankunft an.

Als sie ihr Zimmer betrat, sah sie auf dem Kanapeetisch einen Brief liegen. Was sollte sie zuerst lesen? Sie entschied für die Depesche. Dieselbe lautete:

»Ventimiglia-Nizza. Bin in einer Stunde bei Dir. Ralph.«

Mit einem Schrei sank Eva auf den nächstehenden Sessel – ein Schrei heftiger Freude und bangenden Entzückens. Ihn wiedersehen! ... in einer Stunde! So war er denn auf den Empfang ihres Briefes, auf die Nachricht von ihrer Erkrankung hin augenblicklich zu ihr geeilt. – Erkrankung? War sie denn auch krank? Sie schöpfte tief Athem, um zu konstatiren, daß dies ein Stechen und ein Husten zur Folge hatte – aber nichts ... Würde er etwa glauben, daß sie ihn angelogen? Dieser Gedanke trieb ihr brennende Schamröthe in die Wangen.

Jetzt erblickte sie wieder den auf dem dunklen Tischteppisch weißblinkenden Brief. Sie ging hin und nahm ihn zur Hand. Was war das? Ihr eigenes an Ralph adressirtes Schreiben mit dem Vermerk: »Abgereist – – unbekannt, wohin.« Also hatten ihre Zeilen ihn nicht erreicht, er kam ungerufen, ohne von ihrer Krankheit etwas zu wissen – das war ja auch noch viel beglückender. »Geduld und Vertrauen«: jetzt sollte ihr beides gelohnt werden; wie gut, daß er es nicht erfahren, daß die »Geduld« sie schon verlassen hatte.

Es dauerte keine Stunde, so hörte Eva einen nahenden Schritt – seinen Schritt, unter Hunderten hätte sie ihn gekannt –; die Thür ging auf, und Ralph Siebeck trat herein.

Er öffnete ihr die Arme und sie flog an seinen Hals.

»Evinka!« »Mein König!«

So fanden sie Beide nichts Anderes zu sagen. Und doch, wie deutlich sprachen ihre Küsse, daß es Seligkeit, einander wiederzuhaben, daß die vergangene Trennung ein unerträglich bitteres Leid gewesen.

Er zog sie zu dem Kanapee hin und setzte sich neben sie.

»Jetzt laß uns reden, Evinka – ich habe Dir so viel, so viel zu sagen und so Großes! So Unglaubliches, daß ich Dir es erst mittheilen wollte, bis es zur Gewißheit geworden ... Ich habe es schon kommen sehen, als ich Dich fortgeschickt; aber so lange noch ein Zweifel bestand, wollte ich Dir keine falsche Hoffnung machen – daher die gewaltsame Trennung.«

Eva schaute erstaunt und verständnißlos zu dem Sprecher auf. Was konnte das nur sein, was sie da erfahren sollte? Ralph fuhr fort:

»Was würdest Du dazu sagen, Eva – wenn ich Dir den Vorschlag machte, nach Großstetten zurückzukehren, nach kurzer Frist – nehmen wir an: vier Monate – als Gräfin Ralph Siebeck?«

Ein zweitesmal stieß Eva einen Freudenschrei aus, aber schnell besann sie sich:

»O König, das ist ja unmöglich.« Er zog sie wieder an sein Herz:

»Es ist möglich, mein Schatz – meine Geliebte – meine süße – Frau. Ja, Gattin sollst Du mir sein vor dem Gesetz, vor aller Welt – und so Gott will, die Mutter meiner Kinder – würdigere Erben meines Namens als –«

»Das ist ja ein Traum! Ein wahnsinniger Traum!«

»Wahrheit ist es. Wirklichkeit, positive, unbestreitbare und dabei herrliche Wirklichkeit. Laß Dir erklären– –«

Jetzt folgte eine lange, durch viele Fragen und Ausrufungen – auch durch verschiedene Küsse unterbrochene Auseinandersetzung, deren Inhalt in Kürze folgender war.

Doktor Süller hatte jenes Papier, auf welchem Ralphs Frau ihre Beichte niedergelegt, nicht vertilgt, sondern zu sich genommen und sorgfältig aufbewahrt. Als er in Großstetten Zeuge des Auftritts zwischen Vater und Sohn gewesen, und als Ralph hierauf dem alten Freunde anvertraut, wie unglücklich er sich fühlte in seinem Haß zu Robert und seiner Liebe zu Roberts Frau – da rief der Doktor: »Euch kann geholfen werden!« Und er holte das kostbare Dokument hervor. Dann ließ er aus der Bücherei das Gesetzbuch bringen und wies auf § 58, worin es heißt, daß ein Ehemann, dessen Gattin noch vor der Trauung von einem Andern in gesegnete Umstände gekommen, das Recht habe, die Ehe für ungiltig erklären zu lassen. Und auf einen nächsten Paragraphen, der dieses Recht auch nach dem Tode der betreffenden Gattin gelten läßt. War einmal festgestellt, daß Robert nicht aus rechtmäßiger Ehe entsprossen, so war auch seine Ehe ungiltig, da in derselben ein »Irrthum in der Person« vorlag. Somit konnte erreicht werden, daß Eva ihre Freiheit wiedererlange, und ihrer Verbindung mit Ralph Siebeck war kein Ehehinderniß im Wege, da ihr erster Mann mit dem zweiten ja thatsächlich gar nicht verwandt war. Der eine Theil des Prozesses – die Ungiltigkeitserklärung von Ralphs Ehe – war in den vergangenen drei Monaten erledigt worden; die zweite Frage – die Auflösung der Ehe Evas war nur mehr eine Formsache.

»Und Robert?« fragte Eva, nicht ohne Schaudern – wie nahm er das hin? Seines Namens, seines Erbrechts beraubt zu werden, Alles zu verlieren?«

Ralphs Gesicht verfinsterte sich.

»Robert ist abgefunden«, antwortete er. »Er hat sich bitter zur Wehr gesetzt ... Bewaffneten Armes ist er in meine Wohnung eingebrochen, um jenes Papier zu entwenden, und schon hatte sich seine mörderische Hand gegen mich erhoben, als mein Freund Söller mir rechtzeitig zur Hilfe kam, und wir uns dann des Räubers bemächtigten. Wir hatten nun die Möglichkeit, ihn den Gerichten auszuliefern. – Da flehte er um Gnade, und diese wurde ihm unter der Bedingung gewährt, daß er verschwinde und niemals in die Heimath zurückkehre. Mit einer genügenden Geldsumme versehen, hat er sich nach Brasilien eingeschifft, wo ich ihm – mit Hilfe früherer Beziehungen – einen Posten in der Armee verschafft. Doktor Söller ist jedoch der Ansicht, daß Robert nicht lange leben könne. Das angeerbte Laster des Trunkes hat ihn schon zu sehr geschädigt ... Du bist frei, Eva, und Du bist mein. Die Zukunft –«

Bei diesem Worte bedeckte Eva, laut stöhnend, ihr Gesicht mit beiden Händen. Ihr war das Todesurtheil eingefallen, welches sie in der letzten Zeit über sich gesprochen wähnte.

»Was ist Dir, Kind? rief Ralph erschrocken.

Sie zeigte auf den Brief, der vor ihr auf dem Tische lag:

»Da – lies.«

»Wie? – Du hattest mir geschrieben?« sagte er, den Umschlag betrachtend; und dann, nachdem er den Inhalt gelesen:

»Um Gottes Willen!« schrie er auf – »das ist nicht möglich! ... Du – brustkrank? Eva – wie kannst Du glauben? Hast Du mit einem Arzt – – –«

»Nein, ich habe keinen gefragt; aber –«

Ralph drückte an den Telegraphenknopf.

»Bitten Sie den Herrn,« sagte er zu dem an der Thür erscheinenden Kellner, »den Herrn, der mit mir gekommen ist, und der unten im Salon blieb, er möge sich heraufbemühen.«

Eine Minute später trat Doktor Söller in das Zimmer – und zum zweiten Mal erwies er sich als der Wohlthäter des liebenden Paares. Nachdem er Eva ausgefragt und untersucht, konnte er nämlich die bestimmte Erklärung abgeben, daß Brust und Lungen der jungen Frau vollständig gesund seien; daß das einmalige Blutspucken eine zufällige Erscheinung – ein gesprengtes Aederchen oder so etwas – gewesen; daß ihr leidender Zustand, das nervöse Husten miteinbegriffen, nur als Folge der gedrückten Stimmung, der ungestillten Sehnsucht, des tiefen Liebeskummers sich eingestellt. Diese Ursachen waren nunmehr gehoben, somit –

»Somit«, schloß Doktor Süller seine Diagnose, »Wird unsere Patientin in kurzer Zeit wieder in blühender Gesundheit strahlen.«

»Schon jetzt fühle ich mich lebenskräftig und wohl wie noch nie«, sagte Eva.

Ralph schüttelte des Doktors Hand:

»Und was verordnen Sie zunächst?«

»Sofortige Einreichung des Gesuchs bei den zuständigen Behörden um Auflösung der Ehe wegen »Irrthums in der Person« aber zuerst – wenn Sie nichts dagegen haben – es ist 12 Uhr ... könnten wir ein ordentliches Frühstück ...

»Einverstanden!« unterbrach Eva. »Und nachher wollen wir eine Kahnfahrt machen – Du mußt rudern, König ... Und auf dem Klavier spiele ich fortan nurmehr Barcarolen – nichts als Barcarolen.«

Ende.


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