Bertha von Suttner
Eva Siebeck
Bertha von Suttner

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XIII.

»Ist Graf Ra – ist mein Schwieg – ist Graf Siebeck abgereist?« fragte Eva den Kellner, der ihr am folgenden Morgen das Frühstück brachte.

»Ja, Frau Gräfin, um sieben Uhr früh. Er war kaum aus dem Thore gefahren, als ein Telegramm für ihn ankam; wir haben es ihm zur Bahn nachgeschickt und es konnte ihm noch übergeben werden.«

»Und für mich hat er nichts zurückgelassen?«

»Ich will beim Portier nachsehen.«

Eine Weile später kam der Kellner wieder herein und überreichte einen Brief.

Hastig riß Eva den Umschlag auf und überblickte den Inhalt.

»Diese Zeilen bitten Dich um Zweierlei: verzeih und vergiß. Ich schwankte, ob ich Dir das schreiben oder selber sagen sollte (Du siehst, noch immer ändere ich die Entschlüsse) und habe mich für schreiben entschieden. Es ist besser, wenn einige Zeit verfließt, das macht die Aufgabe des Vergessens leichter. Noch ein Wort muß ich Dir sagen, nämlich: Dank! Du hast durch Dein festes, Dein allein richtiges Betragen Dich und mich vor Reue und Unglück geschützt. Du bist ein braves, achtungswerthes Weib und ich – achte Dich. Verbrenne diese Zeilen, in falsche Hände gerathend, könnten sie zu falscher Deutung Anlaß geben. Behalte nur die vier Schlagworte: » Verzeihen und vergessen (dies von Dir für mich) Danken und verehren (dies für Dich von mir). Nach – sagen wir – sechs Monaten, werden wir einander wohl unbefangen wiedersehen. König.«

Eva vollbrachte das in dem Briefe enthaltene Geheiß. Sie schrieb die vier Schlagworte auf ein Zettelchen; dann zündete sie eine Kerze an und hielt den Brief, nachdem sie ihn zuvor an die Lippen geführt, in die Flamme. Hierauf schloß sie das Zettelchen in eine goldene Kapsel, die sie an der Uhrkette trug.

Es ist zwar kein gutes Mittel zum vergessen, wenn man sich stets daran mahnt, daß man etwas vergessen soll; aber es war ja auch nicht nöthig das Geschehene aus ihrem Gedächtniß zu verwischen: die volle Verzeihung – und um die handelte es sich ja – hatte sie ihm ohnehin schon gewährt ... Es hätte wahrlich keiner Trennung von sechs Monaten bedurft, um die Unbefangenheit des Verkehrs wieder herzustellen; am liebsten hätte sie Ralph schon heute wiedergesehen, und ohne Angst, ohne Reue würde sie ihm ins Auge geschaut haben, im frohen Bewußtsein, daß sie sich seinen Dank und seine Achtung erworben. Daß sie ihn nebstbei auch zu kühner Liebe entzündet – nun, das sollte ja eben das Vergessene sein. Aber ein ganz klein wenig sich dessen zu erinnern, war nicht ohne Zauber ...

Ein Zweifel befiel sie, der ihr sehr peinlich war. Würde Ralph nicht etwa wieder jahrelang wegbleiben? Wie einsam, wie leer lag da das Leben vor ihr! An Robert mochte sie gar nicht denken. Schon seit längerer Zeit war er ihr zum Fremden geworden; seit gestern aber, wo sie erfahren, daß er gar nicht Derjenige sei, der er zu sein glaubte, schien er ihr noch um tausend» Meilen weiter entrückt – war er zu einer identitätslosen Truggestalt geworden. Der Sohn des Fuhrmanns Schrein, des betrunkenen Zuchthäuslers, und der betrügerischen Bauerndirne, der falsch Getaufte, der unbewußte Usurpator des Namens, den er trug, und des Vermögens, das er erben sollte – war das ihr Mann? Ihr schauderte. Eigentlich war also auch sie nicht rechtmäßig das, wofür sie galt? »In solche Grübeleien darf ich mich nicht vertiefen,« sagte sie sich, diese Gedanken gewaltsam abschüttelnd. »Das wäre ja, um den Verstand zu verlieren! ...« Was gab es für einen Ausweg aus dieser verworrenen Lage? Keinen. Wo lag ihre Pflicht? Sie wußte es nicht. Wo ihre Zuflucht? Einzig in dem Gedanken an Ralph ...

Und was nun? Schweigend gedulden: sie konnte ja nichts thun. Einen Augenblick stieg ihr die Idee auf: nicht mehr nach Großstetten zurück, nicht mehr dem Menschen unter die Augen treten, den sie jetzt als Verbrechersohn kannte und – fürchtete. Aber wohin, wohin? Und mit welchen Mitteln? Und unter welchem Vorwand? Das ihr mitgetheilte Geheimniß durfte sie ja nicht verrathen und dann: – Ralph zählte offenbar darauf, sie bei seiner Rückkunft zu finden – ach wären doch diese Trennungsmonate schon vorbei! Und so kamen ihre irrenden Gedanken immer wieder bei Ralph an und fanden da Beruhigung.

Mit dem nächstabgehenden Zuge fuhr Eva nach Krems. Dies war ja das ursprüngliche Ziel ihrer Abreise von Großstetten gewesen, und sie war froh jetzt, unter dem Eindruck des Erlebten, nicht direkt und nicht allein nach Hause fahren zu sollen, sondern ihre einstige Freundin aufsuchen und hoffentlich in deren Begleitung zurückkehren zu können.

Doch die letztere Voraussetzung erfüllte sich nicht: Dorina weigerte sich, der Aufforderung zu folgen.

Eva fand ihre Freundin in tiefstem Traueranzuge, aber durchaus nicht in traurigster Stimmung. Der Tod des bärbeißigen Obersten war für die lebenslustige junge Frau eher eine Erleichterung denn ein Verlust.

»Das ist sehr, sehr freundlich und lieb von Dir,« sagte sie, als Eva ihre Einladung vorgebracht, »aber ich kann nicht annehmen. Frage mich nicht warum – ich kann nicht. Es wäre sogar abscheulich von mir, wenn ich ... Sag mir, kam die Idee von Dir ganz allein und hat sich Dein Mann nicht dagegen gesträubt?«

»Gesträubt? Im Gegentheile – ich gestehe Dir, daß die Idee – vielmehr der lebhafte Wunsch – von ihm ausgegangen.«

Während sie das aussprach, flog, einem Blitze gleich, ein Verdacht durch Evas Sinn. Sie faßte ihre Freundin am Arm.

»Dorina! Sag' die Wahrheit. Dir galten die Fensterparaden, nicht mir? ... Dorina!« – jetzt legte sie beide Hände auf der Andern Arm – »an jenem Abend, nicht wahr, wo man mich in Dein Zimmer gerufen ... Du standest da neben Deinem eben zurückgekehrten eifersüchtigen Gemahl und Robert ... oh, jetzt verstehe ich alles – sei offen ... leugne nicht ... der Heirathsantrag wurde nur gemacht, um den Verdacht von Euch abzuwälzen ... Robert war Dein Geliebter, Dorina!«

»Aber Eva, welch ein Einfall!«

»O, Du bist dunkelroth geworden – Du schaust mir nicht in die Augen ... Gestehe nur, Dorina – oder gleichviel: leugne zu – mir ist jetzt alles klar. Auch daß Du meine Einladung ablehnst, bestätigt nur, daß ich richtig sehe. O, Dorina, wenn Du wüßtest, wie wenig es mich kränkte, wie sogar – im Gegentheile – es mir eine Erleichterung wäre zu wissen, daß jener Mensch niemals in mich verliebt gewesen –«

»Jener Mensch? Auf solchem Fuße stehst Du mit Deinem Gatten? Ich bin zwar nicht erstaunt darüber. Robert Siebeck kann kein zartfühlender Gatte sein.«

»Wie er wohl auch kein zartfühlender Geliebter war? Freundin – zeige Dich freimüthig – gestehe! Du machst Dir keinen Begriff, wie befreiend, wie erlösend mir diese Sicherheit wäre. Dies ist keine Falle – ich rede wahr: nicht den geringsten Vorwurf hätte ich für Dich bereit, nur Dank. Ich schwör' es Dir – beim Andenken meiner Eltern.«

»Nun denn – so danke mir. Du hast richtig errathen. Diese Heirath war damals meine Rettung, und ich meinte, daß dieselbe zugleich ein Glück für Dich vorstelle. Bedenke, welche glänzende Partie –«

»O, das elende Wort »Partie«! Ich fange an einzusehen: alles Unglück, alle Unheiligkeiten, alle Schmach in den Ehen beruht auf dem Begriff »Partie«. Du hast wohl den Obersten Borrowetz auch nur genommen, weil er eine Partie vorstellte, nicht wahr?«

»Allerdings.«

»Eigentlich könnte ich Dir bittere Vorwürfe machen – warum hast Du mich nicht gewarnt – ich würde Dich nicht verrathen haben.«

»Du versprachst, mir keine Vorwürfe –«

»Es ist wahr, ich versprach, zu danken, und ich danke Dir. So kommst Du nicht nach Großstetten?«

»Ich staune, daß Du, nach dem Gesagten, diesen Vorschlag noch erneuerst.«

»O, ich bin nicht eifersüchtig.«

»Es wäre mir sehr unangenehm, Robert Siebeck wiederzusehen.«

»So liebst Du ihn nicht mehr? Er hingegen scheint sich sehr nach Dir zu sehnen – mit größtem, an ihm ganz ungewohntem Eifer hat er mir ans Herz gelegt, Dich mitzubringen.«

»Ich finde das schändlich. Glaubt er denn, daß ich das damals so gewaltsam zerrissene Band wieder anknüpfen würde – und in Deinem Hause? Er hält mich für schlechter, als ich bin.«

»Du hast meine Frage nicht beantwortet.«

»Welche Frage?«

»Du liebst ihn nicht mehr?«

»Nein. Die unselige Liebschaft war überhaupt keine Liebe. Undankbarer, unzarter kann ein Mann die eroberte Gunst einer Frau nicht lohnen, als – aber wozu sage ich Dir das? Du scheinst ihn ja noch viel besser kennen gelernt zu haben als ich.«

Nach zwei Stunden reiste Eva, von Dorina zur Bahn begleitet, wieder ab. In Wien fuhr sie von einem Bahnhof zum andern, und noch am selben Abend, ziemlich spät, kam sie an ihrer Zielstation an.

Es war kein Wagen von Großstetten da, da sie nicht, wie verabredet, die Stunde ihrer Ankunft angegeben. Doch sie konnte ja auf der Station einen Lohnkutscher nehmen, was sie denn auch that.

Die Entfernung bis zum Schlosse betrug ungefähr eine Stunde. Diese Zeit verbrachte Eva damit, sich zum so und so vielten Male den Verhaltungs-Plan zu wiederholen, den sie Robert gegenüber einhalten wollte. »Wir sind geschiedene Leute« sollte ihr erstes Wort sein. »Ich weiß nun, aus welchem Grunde Du mich geheirathet hast – und somit betrachte ich diese Heirath als ungiltig.« In der That, eine Ehe, auf falscheren Voraussetzungen gegründet als diese, konnte man sich kaum denken; zuerst der unberechtigte Civilstand – doch davon durfte sie nichts sagen – dann die unfreie, erlogene Wahl: nur um eine andere Frau aus schiefer Lage zu retten, hatte er sie zum Altare geführt. Dieses konnte sie ihm vorhalten und darauf ihr Recht stützen, sich jede weitere Annäherung von ihm zu verbieten. Mochte er seine Freiheit wieder nehmen, zu Dorina zurückkehren oder jeder beliebigen Anderen sich zuwenden – ihr sollte es fortan gleichgiltig sein ... War darum ihr Herz, ihre Zukunft leer? Nicht ganz. Eine Freundschaft, eine warme, innige Freundschaft – mehr als dies: eine tiefe, lebensverklärende Liebe – war ihr Besitz; ach, wären doch die sechs Monate unnützer Trennung nur schon vorüber! »Unnütz,« denn sie fühlte sich im Bewußtsein ihrer Lauterkeit so stark, daß an die Gefahr einer Verirrung gar nicht zu denken war.

Der Wagen näherte sich dem Schlosse.

Es schien Eva, als wäre etwas Ungewöhnliches hier vorgegangen. Die Fenster des Saales waren unerleuchtet, hingegen brannte Licht auf jener Seite, wo das Schlafzimmer der alten Gräfin lag. Als der Wagen in die Auffahrt bog und vor dem Thore hielt, bemerkte Eva, daß da bange Bewegung herrschte. Gestalten huschten her und hin, unter der Einfahrt stand eine Gruppe Menschen.

Jemand eilte herbei, den Wagenschlag zu öffnen.

»Was ist denn geschehen?« fragte Eva erschrocken.

»Wissen gräfliche Gnaden nicht? Die alte Frau Gräfin ist zum Sterben ... Man ist schon gegangen, den Herrn Pfarrer holen.«

Eva sprang hastig über das Trittbrett und eilte unter das Thor, wo ihr Irene entgegenkam.

»Ah, gut, daß Du da bist – wir wollten schon nach Krems telegraphieren.

»Wie ist das gekommen? – sag' – so plötzlich?« fragte Eva atemlos und ganz erschüttert unter dem gewaltigen Eindruck, den der Begriff »Sterben« wenn so nahe gerückt – stets hervorzubringen pflegt.

»Man weiß nicht recht ... ein Anfall gestern Abend ... und jetzt, vor einer Stunde, wieder. Der Doktor sagt, es ist nur wenig Hoffnung.«

»Aber doch Hoffnung? Kann man sie sehen?«

»Natürlich – komm mit mir ... Wir sind Alle dort ... ich kam nur herunter, weil ich den Wagen gehört – ich dachte mir, daß Du es bist.«

»Hat sie nicht nach ihrem Sohn verlangt?«

»Ja, das war ihr Erstes, als sie zu sich kam. Wir haben auch gleich eine Depesche nach Wien geschickt.«

»Schrecklich!«

Sie waren in dem Vorraum der von der alten Gräfin bewohnten Zimmerreihe angelangt. Auch hier waren viele Menschen, beinahe die ganze Dienerschaft, in banger Erwartung versammelt.

Im Nebengemach, wo man durch die offene Thür das röchelnde Athemholen der alten Frau schon hörte, warf Eva Hut und Reisemantel ab und trat – hinter Irene – in das Krankenzimmer.

Dasselbe war nur schwach erleuchtet. Im ersten Augenblick konnte sie die Leute nicht erkennen, die das Bett umstanden. Erst nach und nach erkannte sie die Anwesenden. Fräulein Ottilie – der Arzt – Georg und Heinrich, die beiden Kammerjungfern der Gräfin; – Robert sah sie nicht. Und wer mochte jene Männergestalt sein, die am Fußende des Bettes knieete, den Kopf in den Decken vergraben und wie von unterdrücktem Schluchzen geschüttelt, sollte das Robert sein? Dieser Schmerz um seine Großmutter – das sah ihm nicht gleich.

Eva wollte sich dem Bette nähern; da faßte sie Irene am Arm: im Nebenzimmer ertönte ein Geklingel, und jetzt trat, gefolgt von einem Kirchendiener, der Pfarrer herein.

Die Frauen knieeten nieder.

Da erhob sich die Gestalt am Bettende. Eva vermochte kaum einen Schrei zu unterdrücken: es war Ralph.

Dieser neigte sich zu seiner Mutter und sprach ein paar leise Worte. Nachdem er ihre Antwort vernommen, trat er hervor und dem Pfarrer entgegen:

»Meine Mutter wünscht zu beichten, Hochwürden. Wir werden uns indeß alle entfernen.« Und er winkte den Uebrigen, ihm in das Nebenzimmer zu folgen.

Nachdem er die Thüre zu dem Krankenzimmer zugelehnt, ging er auf Eva zu und drückte ihr stumm die Hand. Der Ausdruck des Schmerzes, der in seinen Zügen lag, machte ihr ihn wieder um einen Grad theurer: ein Mann, der um seine Mutter weint – was kann es Ergreifenderes geben?

Ihr Staunen, ihn hier zu finden, war indessen gewichen. Sie hatte sich des Umstandes erinnert, den ihr der Kellner mitgetheilt: die dem Grafen nachgetragene Depesche. Er hatte sie noch rechtzeitig erhalten, und da sie ihm die Nachricht von der Erkrankung seiner Mutter gebracht, so war er vom Südbahnhof auf den Westbahnhof gefahren, um – statt ins Ausland – nach Großstetten zu eilen.

»Es ist doch noch Hoffnung?« fragte Eva leise.

Er schüttelte den Kopf:

»Ich glaube nicht. Sie fühlt ihr Ende – sie war's, die nach dem Pfarrer verlangt – und von mir hat sie Abschied genommen.« In seiner Stimme zitterten noch immer die Thränen.

Wie gern hätte Eva seinen Kopf an ihre Brust gezogen, daß er da sich ausweine!

»Abschied thut furchtbar weh,« fügte er hinzu. »Das habe ich in den letzten drei Tagen mehrfach empfunden.«

Eva faltete die Hände:

»O, so trenne Dich nicht mehr,« sprach sie bittend, »freiwillig nicht mehr von solchen, die Dich lieben.«

Er dankte ihr mit einem gerührten, vielsagenden Blick.

Nach einer bangen Viertelstunde öffnete sich die Thür des Krankenzimmers, und der Pfarrer kam wieder heraus.

Ralph eilte auf ihn zu.

»Nun?!«

»Die Frau Gräfin ist ganz bei Bewußtsein und fühlt sich sehr beruhigt. Vielleicht kommt sie sogar noch auf. Es geschieht ja mitunter, daß der Empfang der letzten Sakramente die Genesung herbeiführt.

Ralph unterdrückte die so nahe liegende Bemerkung daß »mitunter« auch solche genesen, welche die Sakramente nicht empfangen und daß die Aufeinanderfolge von Begebenheiten – wenn dieselbe nicht untrügerisch jedesmal eintritt – durchaus keinen Schluß auf ursächlichen Zusammenhang ziehen läßt. Aber der Augenblick wäre schlecht gewählt gewesen zu einer solchen Auseinandersetzung – der Augenblick und die Person.

»Mögen Sie recht haben, Herr Pfarrer,« sagte er nur.

Der Arzt, der eben hinzugetreten, schüttelte traurig den Kopf.

»Leider kann ich diese Hoffnung nicht teilen,« sagte er. »Und Sie müssen sich gefaßt machen, mein lieber Herr Graf, Ihre Frau Mutter wird den morgigen Tag nicht mehr erleben.«

Ralph bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen.

»König, mein lieber König!« sprach Eva sanft, ihre Hand auf seine Achsel legend.

Die Stunden, die nun folgten, waren bange Stunden.

Ralph hatte Irene und ihre Brüder zu Bette geschickt; er selber wich nicht aus dem Zimmer, in welchem seine sterbende Mutter lag. Auch Fräulein Ottilie und eine Kammerjungfer wachten. Der Arzt hatte sich im Nebenzimmer auf das Sofa gelegt und schlummerte – »zu helfen war nicht mehr« – hatte er erklärt. Eva, trotz Ralphs Bitten, sie möge ihr Zimmer aufsuchen, um der Ruhe zu pflegen, weigerte sich, das Krankenzimmer zu verlassen.

Sie hatte nach Robert gefragt. Es hieß, derselbe sei, wie gewöhnlich, um acht Uhr Abends in das Dorf hinausgegangen; ob er jetzt – es war elf Uhr – zu Hause sei, wisse man nicht.

Ein leises Klopfen an der Thür und – Robert steckte den Kopf zur Thüre herein:

»Eva!« rief er.

Sie folgte widerwillig und trat zu ihm in das Nebenzimmer.

»Jetzt hab' ich unten erst erfahren, daß Du schon zurück bist. Nun – und Dorina – die Borowitz, will ich sagen?«

»Sie kommt nicht.«

»Kommt nicht! Warum denn das?«

»Weil –« Aber Eva hielt inne. Hier, wo nebenan eine Sterbende lag, war der Ort nicht, von solchen Dingen zu reden, wie die, welche zwischen Robert und ihr anläßlich Dorinas gesprochen werden mußten. »Sie kommt nicht. Warum – werde ich Dir morgen sagen. Du fragst gar nicht, wie es der Großmutter geht?«

»Zu Ende geht's – das hat man mir unten gesagt? Kommst Du nicht schlafen?«

»Nein; ich bleibe hier.«

»Das ist eine Idee! Du – unter Anderm: mir ist die Geschichte mit dem Liebesbrief im Kopf herumgestiegen und da bin ich noch einmal in Papas Zimmer gegangen ... die Mappe war aber weg ... hast Du sie mitgenommen?«

»Ich habe sie eingeschlossen – ja.«

»Und den Brief vorher gelesen?«

»Nein.«

»Ich möchte doch wissen, ob die Liuba ... Aber' lassen wir jetzt die Liuba und komm schlafen, Weiberl. Es war mir schon gestern fad, Dich nicht im Nebenzimmer zu wissen.« Eine Flamme blitzte in seinem Augen auf.

Eva erbebte.

»Ich höre die Kranke klagen, ich will nachsehen, Adieu!«

Robert faßte sie an der Hand: »Sei nicht fad!«

»Laß mich.«

Er zuckte mit den Achseln.

»Mir auch recht ... wie Du willst ... So geh ich.«

Er wandte sich um und ging. Eva trat in das Krankenzimmer zurück. Sie hatte sich nicht getäuscht. – vom Bette her drangen klagende Laute. Ein leiser Schauer erfaßte die junge Frau: Sollte da der Tod sein unerbittliches Werk begonnen haben und waren diese Klagen etwa – Sterberöcheln?

Weinend warf sich Eva auf ein nahe der Tür stehendes Sofa. Nicht, daß ihr der Verlust der alten Frau als ein so schwerer gedroht hätte; aber die zahlreichen in den letzten Tagen durchgemachten Erregungen hatten ihre Nerven auf's Äußerste gespannt; dazu die eben gehabte Unterredung mit Robert – der ihr jetzt in jeder Hinsicht ein Fremder geworden, dabei aber dennoch ihr Gatte war; dort jener am Sterbebette seiner Mutter zitternde, so teure Mann, dessen Schmerz sie in tiefster Seele mitfühlte: das Alles war zu viel für sie, und sie schluchzte laut.

Indessen beruhigte sich die Kranke. Nach einigem immer leiser werdenden Stöhnen verstummte sie.

Ralph bog sich über sie herab.

»Sie ist eingeschlafen,« flüsterte er der nebensitzenden Ottilie zu, »ihr Atem geht ganz ruhig ...«

Dann ging er an jenes Ende des Zimmers, wo Eva noch immer heftig weinend in ihrer Sofaecke lehnte. Er setzte sich an ihre Seite.

»Eva,« bat er leise, »weine nicht so ... Du könntest die Kranke aus dem Schlafe reißen und sie erschrecken. Ich wußte nicht, daß Du meine arme Mutter so sehr geliebt!«

»Ich weine um Dich, König. Dein Schmerz thut mir so weh. Und auch weil ich selber elend bin ... ich wollte, daß der Tod, wenn er schon seinen Einzug hier halten muß, daß er mich zum Opfer –«

»Frevle nicht, Kind! Ein so herrlich schönes, junges Leben ... Sei vernünftig, meine kleine Eva – begieb Dich zur Ruhe ... wir sind hier genug, um bei der Kranken zu wachen – Du kannst ihr doch nicht helfen. Und jetzt schläft sie. Vielleicht schläft sie so bis zum Morgen – thu' ein Gleiches, geh!«

»Schick' mich nicht fort, König... Ich mag jetzt um keinen Preis – um keinen Preis der Welt in unsere Zimmer gehen.«

Er blickte sie ein paar Sekunden an.

»Ich verstehe,« sagte er. »So trachte wenigstens hier, ein wenig zu schlummern... Strecke Dich nur auf diesem Sopha aus.« Er stand auf und legte ein paar Kissen unter ihrem Kopf zurecht.

Nach einer Weile schlief die Müde wirklich ein. Doch es war ein unruhiger, oft unterbrochener Schlaf. Alle zehn Minuten kehrte ihr das Bewußtsein zurück, daß sie da in einem Sterbezimmer lag, daß aber in demselben Raume eine geliebte Person weilte; – sie hörte immer wieder die Athemzüge der Kranken, das leise Walten der Pflegenden und den Nachhall einzelner Worte, welche, ehe sie einschlief, Ralph zu ihr gesprochen – das Alles vermengt mit den Vorstellungen des Traumes, aus welchem sie eben aufgewacht und in den sie gleich wieder zurück verfiel.

Plötzlich aber erwachte sie mit einem jähen Schreck. Noch gellte in ihrem Ohr ein Schrei. Sollte das ein Todesschrei? – – Sie richtete sich rasch auf.

Es war schon Tag. Im Zimmer herrschte Verwirrung ... eben kam der Arzt herein ... Ein zweiter Schmerzenslaut, so wie jener, welcher Eva aus dem Schlaf gerissen, drang jetzt von dem Bette her, und der ihn ausstieß, war Ralph, welcher an der Seite seiner – todten Mutter in die Knie fiel.

Ganz ruhig, ohne Kampf, wahrscheinlich ohne es zu wissen, war die alte Frau entschlafen. So bestätigte der Arzt. Der Tod war schon vor einer Stunde eingetreten, und keiner von den Wachenden hatte einen Klagelaut vernommen – Alle glaubten, daß sie schlafe. – Doch Ralph, geängstigt, sie nicht mehr athmen zu hören, hatte sich über sie gebeugt und erkannt, daß Alles aus sei. Da hatte er aufgeschrieen.

Eva ging hin und kniete an Ralphs Seite nieder. Ergriffen von Ehrfurcht und Wehmuth betete sie still. Dann aber, während das Todtengemach mit allen Hausgenossen sich zu füllen begann, schlich sie hinaus. Dem Sohne hätte sie nicht gewagt, in diesem Augenblicke Trost zu bieten, und das Sprechen mit den Andern – welche nach der Reihe ihre Ausrufungen und Fragen vorbrachten, war ihr peinlich.

Auf der Stiege begegnete sie Robert. Er wollte sie anreden, sie huschte aber an ihm vorbei.


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