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Hans-Albrecht Nagel hatte als Brauer gelernt in einer großen Bierbrauerei am Rhein.
Zu jener fernen Zeit war das Bierbrauen noch nicht die mechanisierte Sache großer Fabriken, sondern ein sehr angesehenes, gutlohnendes Gewerbe, eine Kunst fast; jedenfalls ein Beruf, zu dem man tüchtige Leute brauchte, nicht Hergelaufene oder Unbegabte.
Hans-Albrecht war auf besondere Weise zu diesem Beruf gekommen. Sein Vater, ein stattlicher, vornehm aussehender Mann, war Organist und Musiklehrer in einer Stadt am Rhein. In seiner Jugend hatte er seinen Eltern zuliebe in Bonn und Heidelberg Theologie studiert, ohne mit der Seele dabei zu sein. Nach der ersten Predigt ging er heimlich durch nach Paris, um an dem damals hochberühmten Konservatorium Musik zu studieren und so der höchsten Liebe seiner Seele zu folgen.
Es war ein kühnes und wohl kindlich unüberlegtes Unterfangen für den fast gänzlich Mittellosen. Aber das starke Müssen eines heißen Künstlerherzens steckte dahinter, und trotz aller kommenden Entbehrungen und Enttäuschungen bereute der Mann seinen Schritt nicht. Wenn er auf den 36 Steinbänken des Luxembourg-Gartens sein Nachtlager fand, wenn er in einer Kneipe weiße Bohnen in Öl aß, wenn er seinen Lebensunterhalt dadurch bestritt, daß er in einer Instrumentenhandlung den Käufern vorspielte, so war ihm das alles kein zu schwerer Leidensweg, vor dem er zurückgeschreckt oder mutlos umgekehrt wäre, sondern der schmale Pfad, der zum herrlichen neuen Leben führt, und den er ungebrochenen Mutes und des Zieles gewiß schritt, ohne viel nach rechts und links zu sehen.
Aber bei aller Tapferkeit, allem Fleiß, allem Idealismus – den »Kranz in den Sternen«, den steilen seligen Gipfel höchsten Künstlertums erreichte der Mann nicht. Er kam zurück mit glänzenden Zeugnissen und von den Wünschen und Erwartungen treugläubiger Studienfreunde geleitet. In seiner Heimat machte man ihn zum Organisten, gab ihm ein auskömmliches Gehalt und eine hübsche Wohnung in einem kleinen, grünumsponnenen Haus, von dessen Fenstern aus man nach fernen Hügeln sah.
Die Mädchen der Stadt schauten mit freundlichen Augen auf den schönen, feinen Musiker, der eine so besondere Vergangenheit hatte. Aber der merkte nicht viel davon. Seine Gedanken, seine Seele waren in einer anderen Welt. Nur manchmal huschte durch diese Welt eines Mädchens zierliche Gestalt, und ein junges, schönes Gesicht schaute ihn mit klaren Augen an: Hast du mich denn vergessen?
Dann fingen ferne, frühlingsgrüne Wälder, wie sie den 37 Heidelberger Schloßberg umrauschen, so oft der Lenz übers Land geht, heimlich zu raunen an, und vom Duft des Maien umflogen stand sie vor ihm, mit der er einstmals Hand in Hand gewandert war, die Tochter seiner Hauswirtsleute zu Heidelberg, das junge kluge Bürgerskind, das ihn wie einen weltunerfahrenen Bruder behandelt und bemuttert hatte und das – langsam wurde ihm das jetzt erst klar – treu und ehrlich daran mitgearbeitet hatte, daß er Mut und Entschlußkraft fand, sich aus den Fesseln eines ungeliebten Studiums zu befreien und den anderen Lebensweg zu suchen.
Und langsam wurde ihm nun in der Erinnerung auch das andere klar: daß sie ihn lieb gehabt hatte mit jener großen Liebe, die nicht das Ihre sucht, sondern einzig und allein das Glück des anderen.
Solche späte und rückschauende Art des Erkennens ist so recht die Weise des Künstlers, der, auch wo alles nach eisernem Willen und klarer Bewußtheit aussieht, sein Leben lebt als ein Müssender und ein Getriebener.
Das Erinnern an Dorothea Maria ließ den Mann nicht mehr los. Die Tochter aus dem Heidelberger Kaufmannshaus ward des Musikers Frau. Ein großes Glück zog damit in das kleine Häuschen, aber keineswegs großer äußerer Reichtum, denn Dorothea Maria war die Jüngste aus einer vielköpfigen Geschwisterschar, und wenn der Kuchen in viele Teile geht, gibt's kleine Stücke. Das Paar 38 vermißte nichts. Ihre große Liebe zueinander und die Freude an des Mannes schöner Kunst trug sie über alles hinüber.
Aber dann kam Jahr um Jahr ein Kind. Sie wurden alle freudig begrüßt und so stolz bewillkommnet, als seien es Prinzen und Prinzessinnen von Geblüt, die da anrückten. Nur das eine, das heimlich Bittere, das uneingestanden Herbe brachten sie mit: daß der Vater mehr und mehr seine ganze Zeit ausfüllen mußte mit Musikunterricht. Für ein freies, richtiges Schaffen oder auch ein echtes künstlerisches Ruhen und Sammeln blieb keine Stunde.
Die kleine Mutter der wachsenden Schar hielt mit staunenswerter Umsicht, Tatkraft und Klugheit das immer teurer werdende Hauswesen in guter Ordnung. Dabei verstand sie es, jedem Versinken in Alltag und Nüchternheit geräuschlos zu wehren. Sie fand und machte Feste und Freudestunden, sie hielt das Drückende der Sorgen fern von Mann und Kindern, sie fesselte einen Kreis feinsinniger Menschen und treuer Freunde an ihr Haus. Aber so weit reichte auch ihre große Kraft nicht, daß sie den Vater ihrer Kinder von den umgarnenden Schlingen einer fast handwerklichen Berufsausübung hätte befreien können.
So kam's, daß dieser Mann mit dem echten Künstlerherzen und der reichen Welt in der Seele die Höhe nicht erklimmen durfte, von der er sehnend geträumt hatte in seiner Jugend.
Aber er wurde deshalb nicht verbittert. Wohl spürte er 39 zuzeiten tief den Schmerz, der über alle Schmerzen ist: den Schmerz, auf dem Wege liegen zu bleiben, wo das Ziel in der Ferne lockt und leuchtet. Aber er hatte zugleich eine heimliche seltsame Gewißheit in sich, daß dieses Anszielkommen nur hinausgeschoben sei. Daß irgendwie und irgendwann trotz allem einmal die Stunde kommen müsse, die die Erfüllung bringe; sei es in diesem irdischen, sei es in einem anderen, unbekannten Leben.
Sein schönes, männliches, bartloses Gesicht trug den Stempel derer, die in Gelassenheit ausschreiten, als folgten sie einem an sie ergangenen Ruf, demgegenüber es kein Weigern und kein Ausbiegen gibt, auch wenn man wollte.
Die harte klägliche Lebensnot blieb dem Musikerhause fern. Aber die vielfachen Hemmungen und Reibungen des Keingeldhabens waren da und wurden größer mit den emporwachsenden Kindern. Das grünumsponnene Häuschen in der Schiffergasse, von dem aus man nach den Hügeln sah, war längst zu klein und mit einer Wohnung in der inneren Stadt vertauscht worden. Hier war alles geräumiger, aber auch sehr viel nüchterner. Am nüchternsten wohl der Hof, der gegen die Rückseite einer großen Bierbrauerei ging.
Doch auch mit dem, was man Nüchternheit nennt, ist es eine eigene Sache. Auch hier gilt das Wort: Was dem einen Eule ist, ist dem anderen Nachtigall.
Die Buben der Musikerleute fanden den Hof nicht im geringsten nüchtern. Es gab hier im Gegenteil die 40 geheimnisvollsten und interessantesten Dinge; man mußte nur zu suchen und zu finden wissen.
Wie unerschöpflich reizvoll waren allein schon die mächtigen Tonnen, die aufgeschlagen und des Auspichens harrend beständig an den roten Backsteinmauern der Brauerei lagen.
Hans-Albrecht, der Älteste, der schon ins Gymnasium ging, spielte in solch einer Tonne Diogenes. Die Kleineren hielten in einer anderen Schule oder versuchten, sie sachte ins Rollen zu bringen. Und seinen besonderen Reiz erhielt jedes Spiel durch die ewig lauernde Gefahr, die in Gestalt eines Brauknechts zu jeder Minute nahen konnte, wo dann das einzige Heil in wilder Flucht lag.
Und welche Fülle großer Eindrücke, wenn die Tonnen gepicht wurden! Da kamen Knechte mit mächtigen Kufen und glänzenden Pechstücken. Es wurden Feuer entzündet, die hoch aufschlugen und wirbelnde, qualmende Wolken nachtschwarzen Rauchs über die Dächer sandten. Der zähe, spiegelnde Fluß des Pechs, in dem es so oft geheimnisvoll von allen Farben des Regenbogens spielte – er war so über die Maßen schön, daß die Musikerbuben, zusamt den Brauknechten, wie in Andacht versunken davorstanden, die Hände in den Hosentaschen und den starren Blick in das schöne Wunder versenkt.
Und einmal, an einem wundervollen Vorfrühlingstag, als die Riesenfässer für das berühmte Märzenbier gepicht 41 werden sollten und der heiße, zähe Pechfluß wieder in den Kufen schmolz, stand Hans-Albrecht noch länger als sonst davor. Seine Augen wurden groß und blicklos, und als ihn endlich der arbeitende Knecht scheuchte, kam er wie aus einem Traum heraus zu sich und lief fast verstört ins Haus und zur Mutter.
Die kleine Mutter stand mit ihrem Ältesten wie eine vertraute Freundin. Die zwei hatten keine Geheimnisse voreinander, und wie Frau Dorothea Maria die Leiden der Schule mit Hans-Albrecht trug – der Bub hatte keine sonderliche Freude am Lernen, es sei denn an den mathematischen Fächern und allem, was mit Mathematik zusammenhing –, so war Hans-Albrecht von der Mutter längst eingeweiht in ihre Sorgen und Künste, mit denen sie die Not und den Mangel aus dem Leben der Ihrigen fernhielt, ohne daß deshalb des Knaben junge Schultern mit zuviel des Schweren belastet worden wären. Trug doch die Mutter selbst die Sache mit tapferem, heiterem Mut, ja, sie sah es so an, als ob das alles so sein müsse, weil sonst das Leben auf der Erde viel zu schön wäre.
»Mutter,« sagte Hans-Albrecht, der kleinen Frau, die ihn kaum noch überragte, ins Gesicht sehend, »Mutter, kann das sein?«
»Ja, was denn, mein Bub?«
»Ich meine, ob das sein kann, daß ich in dem Pech drunten beim Faßpichen etwas gesehen habe?« 42
Frau Dorothea Maria lachte nicht. Wenn Hans-Albrecht so eindringlich wurde und solche Augen machte, gab's nichts zu lachen. »Wenn du etwas gesehen hast, Junge, dann muß es doch auch sein können,« sagte sie ermunternd.
»Ich möchte wissen, ob es sein kann, daß ich mir das nur eingebildet habe,« beharrte er zäh.
»Nun, weißt du, das kann dir niemand sagen. Das müßtest du eigentlich selbst wissen. Was hast du denn gesehen?«
»Ach, es hat ja keinen Wert, davon zu reden, wenn es doch vielleicht nur Einbildung ist.«
»Sieh, Junge, das kann ich nun nicht leiden, daß du da so halbe Dinge sagst! Wie soll ich denn da draus klug werden? Der Mensch muß doch wissen, was er will!« Sie wandte sich, als wolle sie in die Küche entschlüpfen.
Da hielt sie der Sohn am Arm fest. »Nein, höre doch! Ich sah da ganz deutlich in dem schwarzen Spiegel ein Haus, wie hier herum keines steht. Ganz weiß war es und nicht hoch, aber breit, mit einer Terrasse vorne dran und hohen Fenstern und überall Blumen. Es war wie von Blumen zugedeckt, das Haus, und ringsum auf weiten Feldern waren Blumen, nichts als Blumen, keine Bäume, und dazwischen – ich weiß nicht, was das war – große, weiße, sitzende Vögel – ich weiß nicht – –« Hans-Albrechts Augen bekamen wieder etwas Blickloses, als er das sagte, 43 seine Stirne furchte sich, als suche er angestrengt in der Erinnerung. Der Mutter Hand fuhr ihm übers Haar und dann übers Gesicht. »Mein Junge, ich sage nicht: Das hast du gesehen, und ich sage nicht: Das hast du nicht gesehen. Aber ich sage: Das bedeutet etwas.« In ihre Augen kam ein lustiges Blinken. »Ich sage, das war dein künftiges Landhaus, das du gesehen hast; du wirst einmal ein reicher Mann, wie Herr Poohl dort drüben, der Brauereibesitzer, der draußen am Wald sein Landhaus hat mit dem schönen Pferdestall, in dem die beiden Braunen stehen, mit denen er täglich in die Stadt hereinfährt. Glaub mir nur: so ist's.«
Der Knabe schaute ihr mit jenem eindringlichen Prüfen ins Gesicht, das herausbringen wollte, ob sie im Ernst oder nur im Scherz rede. Denn bei der Mutter war das oft nicht so leicht zu unterscheiden.
»Wie soll ich denn aber so viel Geld verdienen?« fragte er dann, schon ganz hingenommen von dem Plan, der da auf einmal wie eine Wunderblume aus der Enge des Sparens und Sorgens emporgewachsen war.
Die Mutter nickte bedenklich. »Ja, das wird wohl das Schwerste an der Sache sein. Du mußt eben etwas Tüchtiges werden.«
In seltsamem Ernst schaute der Knabe vor sich hin. »Mutter, Vater ist doch auch etwas Tüchtiges, und wir haben nie viel Geld.«
Die kleine Frau sah sich fast erschrocken um, als fürchte 44 sie, es könne jemand diese Rede gehört haben. »Junge,« sagte sie dann vorwurfsvoll, »was schwatzest du da! Vater ist doch Künstler! Künstler können etwas sehr Tüchtiges sein und doch nie Geld haben. Die sind etwas ganz Besonderes. Das wirst du später erst recht verstehen. Du aber willst doch nicht Künstler werden! Magst ja nie eine Stunde ruhig am Klavier sitzen. Hast ja immer etwas auszumessen, auszurechnen, auszudenken. Zum Architekten, meinte ich, hättest du das Zeug; aber das zu lernen, wird wohl sehr viel kosten. Vielleicht gehst du doch später zu Onkel Fritz nach Heidelberg in die Lehre und wirst Eisenhändler.«
Das war ein Gedanke, den die Mutter mit Vorliebe immer wieder heranholte. Aber Hans-Albrecht konnte sich nicht damit befreunden. Erstens war Onkel Fritz nicht sein Mann, denn er spürte mit jener instinkthaften Sicherheit, gegen die es kein Auflehnen gibt, diesem nüchternen und ein wenig eingebildeten Geschäftsmann an, wie geringschätzig er im Grunde von Vater und dem ganzen Musikerhaushalt dachte, und dann hatte der Knabe einen fast unüberwindlichen Abscheu vor dem Schmutz und Staub der Eisenhandlung, wo die Lehrlinge und wohl auch Onkel Fritz selbst beständig mit schwarzen Händen und Gesichtern herumliefen, als könne das gar nicht anders sein.
Selbst die dickbelegten Butterbrote, die großen saftigen Braten und all die reichgefüllten Schüsseln, die auf Onkel Fritzens Tisch zu stehen pflegten und die so sehr abstachen 45 von den mageren Gerichten der mütterlichen Tafel, selbst sie konnten in des Knaben Seele die Vorstellung von einer Eisenhandlung als etwas Dunklem, Bedrückendem und die Freude Dämpfendem nicht verwischen. »Mutter,« meinte er aus tiefem Nachsinnen heraus, »könnte ich denn nicht Bierbrauereibesitzer werden wie Herr Poohl?«
Die Mutter lachte. »Du hast es gut im Sinn! Möchtest mit dem Ende anfangen! Da muß man erst Bierbrauer werden, muß alles verstehen im ganzen großen Geschäft, muß sich in der Fremde umsehen, muß eine gute Stelle finden, auf der man viel lernt und viel verdient, muß Unternehmungsgeist haben und Glück, muß klein anfangen und sich emporarbeiten – so leicht, wie du meinst, geht das nicht, wenn man deiner Eltern Sohn ist.«
Der Knabe dachte nach. Die Gestalten der Knechte und Bierbrauer vom Hof drunten zogen an seinem Geist vorüber. Es waren Männer, die ihm im Grund gefielen, wenn man ihnen auch meist ein wenig aus dem Weg ging, weil man der Tonnen halber nie ein ganz tadelloses Gewissen hatte. Manche, wie zum Beispiel der blonde hochgewachsene Herr Rudolf, der immer in den blitzblanken hohen Stiefeln ging und meist eine Blume an sich stecken hatte, sahen sogar recht vornehm aus, so daß man gerne »Herr« sagte.
»Mutter,« meinte Hans-Albrecht nach langem Überlegen, »Bierbrauer werden möchte ich gerne. Ich weiß auch schon, wie man Fässer auspicht. Und in die Fremde kann ich wohl 46 auch gehen. Vater ist doch auch in der Fremde gewesen. Du weißt doch, wie er im Jardin du Luxembourg geschlafen hat! Und Glück werde ich dann schon haben; du sagst doch, ich hätte einen doppelten Wirbel –« und er beugte den blonden Kopf und zeigte der Mutter die beiden Wirbel im struppigen Bubenhaar, auf die er sich nicht wenig zugute tat.
Der Mutter kleine, vom Arbeiten rauhe Hand fuhr ihm über den Schopf. Es glitzerte in den Augen der Frau, der es durch den Sinn fuhr, wie der treue Glaube an diese Anwartschaft auf Glück so ziemlich das einzige sein würde, was ihr Ältester vom Vaterhaus dereinst mitbekommen könnte.
»Gut,« sagte sie dann in ihrer entschlossenen Art, »mir soll es recht sein, wenn du Brauer wirst. Wir wollen Vater fragen. Du kostest dann nicht soviel und wirst bald selbständig. Aber zwei Jahre mußt du noch im Gymnasium bleiben. ›Viel gelernt, ist gut beim Kesselflicken‹ hat mir einmal ein Zigeuner gesagt, und der hat recht.«
Der Vater, von der geschäftlichen Überlegenheit seiner kleinen Frau und ihrem schärferen Blick in allen diesen Dingen tief durchdrungen, gab ohne weiteres seine Zustimmung, als sie ihm vorschlug, den Ältesten Bierbrauer werden zu lassen. Er hatte in seinem Künstlerherzen eine vielleicht ganz unbewußte, tiefe Hochachtung vor allen Berufen, die Körperkraft und ‑gewandtheit und geschäftliche Tüchtigkeit erforderten, weil diese Dinge einer ihm fremden Welt 47 angehörten und weil der echte Künstler derjenige Mensch ist, der am ehesten Fremdem gerecht werden will.
So war der scheinbar öde und nüchterne Hof mit den lagernden Tonnen und dem siedenden Pech schuld daran, daß Hans-Albrecht, des Organisten ältester Sohn, Bierbrauer wurde. Daß er im Geschäft des Nachbars Poohl in die Lehre gehe, wollte die Mutter nicht. Vielleicht wäre es ihr, die mit ihrem Ältesten heimlich doch stolzere Pläne gehabt hatte, schwer geworden, ihn nun täglich in der ledernen Arbeitsschürze zu sehen, vielleicht dachte sie auch, ihrem Jungen werde das Einleben in die neue Welt leichter in ganz neuer Umgebung.
Die Trennung vom Elternhaus wurde Hans-Albrecht erleichtert durch die völlig sichere Zuversicht, mit der er seiner glänzenden Zukunft entgegenging. Und all die harte Arbeit, all das Schwere, Ungewohnte, ihm äußerlich und innerlich Fremde, was ihm in dem großen, geräuschvollen Betrieb und unter den Arbeitsgenossen und Vorgesetzten entgegentrat, es konnte eigentlich gar nicht mit voller Wucht an seine Seele herankommen, weil diese Seele ganz erfüllt war von der Gewißheit, daß dies alles nur Übergang, nur der etwas seltsame Weg zu einem sehr schönen, ferne leuchtenden Ziel sei. Dieses Von-der-Zukunft-Leben war väterliches Erbteil. – Wenn der Junge oder, wie man jetzt eher sagen mußte, der werdende Mann hätte angeben sollen, was sein Ziel eigentlich sei, er hätte wohl zur Antwort gegeben: ein Besitz 48 und eine Wohlhabenheit wie im Hause Poohl; damit Vater nicht mehr soviel Stunden zu geben, Mutter nicht mehr soviel zu sorgen und zu sparen hat. In seiner Überlegung und Vernunft malte sich die Sache so. Aber ganz in der Tiefe, dort, wo diese Lichtlein nicht hinreichen, war noch etwas anderes, was mächtig oder vielleicht am allermächtigsten als fernes Ziel lockte und sich nicht in Worte fassen, nicht recht heraufholen ließ an den nüchternen Tag. Es hing zusammen mit jenem blütenüberschütteten weißen Haus inmitten der Blumenfelder und der großen weißen Vögel, das damals, als Hans-Albrecht vor dem glänzenden Fluß des siedenden Pechs in stilles Schauen versunken stand, aufgetaucht war, so wahr und doch so unerklärlich, daß man nicht einmal mit der Mutter richtig davon sprechen konnte.
Der Lehrling im Schurzfell, wenn er an dieses Erlebnis dachte, mußte immer ein wenig innehalten mit der Arbeit und ins Weite sehen. Er hatte keine Ahnung, und niemand war da, es ihm zu sagen, daß damals das ererbte Blut, das echte Künstlerblut, ihm etwas vor die Füße gespült hatte, was wie ein Wanderstab war fürs Leben: eine große Sehnsucht, ein Sichstrecken nach dem, das vorne ist, eine Art Wandertrieb der Seele nach Fernem und Schönem, der sich nicht zu lange aufhalten kann bei den flachen und grauen Dingen, als da sind: Geld verdienen und lohnende Geschäfte machen, oder gar bei Niedrigem und Gemeinem. 49
So wuchs unmerklich mit dem jungen Menschen etwas Besonderes heran, das ihn in einen gewissen Abstand zu den Arbeitsgenossen brachte. Und weil er sich zudem aus den Gepflogenheiten des Elternhauses heraus, nicht etwa aus Geckenhaftigkeit, immer etwas sorgfältiger kleidete und besonders am Sonntag, wenn er Vaters schwarze Röcke auftrug, recht gepflegt und fast vornehm aussah, so bekam er unter seinen Kameraden bald den Namen »der Herr Pastor«.
Er wußte das, aber es focht ihn nicht an. Ohne sich von den Arbeitsgenossen zurückzuhalten, ohne ihre ihm fremde Art zu verachten, ohne sich bedrückt zu fühlen oder sich den anderen anzupassen, ging er seinen Weg in der gleichen Gelassenheit, wie sein Vater dies tat, und hatte, wie dieser, ein fernes Ziel, wenn nicht im klaren Bewußtsein, so doch in der sehnenden Seele. Wenn er mit seiner Mutter Briefe wechselte, so klang von hüben wie von drüben immer die Freude durch, daß dank der Berufswahl Vaters Geldbeutel entlastet und eine Möglichkeit gegeben war, bald einen richtigen »Verdiener« in der Familie zu haben, durch dessen Tüchtigkeit all die kleinen und kleinlichen Sorgen und Hemmungen hinausgejagt würden mit einem Schlag.
Dieses Plänemachen und diese Zuversicht war etwas vom Schönsten in der Lehrzeit Hans-Albrechts, und immer wieder wuchs seine Kraft und sein Mut daran, so daß er sich zum Schluß ein gutes Können und ein gutes Zeugnis erworben hatte und um eine Stelle nicht zu sorgen brauchte. 50
Aber als ihm diese Stelle angeboten wurde und als die Seinen ihm rieten, zuzugreifen, kam es zum erstenmal in seinem Leben über ihn, als dürfe er nicht weiter in dem wohlgebahnten Gleise gehen, als müsse er sich irgendeinen eigenen Weg suchen. Seine reifende und gärende Männlichkeit wachte auf, das dumpfe Sehnen und Wollen in seiner Seele drängte stärker und immer stärker nach irgendeinem Erlebnis, so wie die Quelle den Ausweg und das Freie sucht.
Hans-Albrecht war unglücklich und voll Rastlosigkeit in diesen Tagen inneren Erwachens, und doch konnte er, so weit und so gründlich er sein gegenwärtiges Leben durchsuchte, eigentlich nichts finden, was der Grund gewesen wäre zu dieser Unruhe. Manchmal dachte er ganz scheu und gleichsam wie von ferne, sein Beruf gefalle ihm nicht restlos. Aber wenn er dann wieder den so mannigfaltigen, lebendigen Betrieb, dieses sinnvolle Ineinandergreifen aller Räder und Rädchen in dem gutgeleiteten Geschäft ansah, wenn er die sichere Wohlhabenheit betrachtete, die das Leben doch so viel leichter und sorgloser machte, als Vater und Mutter es hatten, dann kam er zu dem Schluß, daß hier der Fehler nicht liegen könne. Ein paarmal wollte er von seiner Not der Mutter schreiben. Aber was hätte er ihr anvertrauen sollen? Griff er nicht in die Luft, sobald er seine Sache festlegen wollte? Sollte er schreiben: Liebe Mutter, ich weiß nicht, was ich will; aber ich will etwas? Da fiel ihm an einem Frühlingstag, als die fernen Hügel in blauem, 51 schimmerndem Dunst lagen, wie etwas ganz Neues ein, daß der Vater dereinst ohne Geld, ohne Verbindungen, ohne fremde Hilfe nach Paris gereist war, um sein Leben nach seinem Sinn zu gestalten.
In seiner hochgelegenen sonnigen Kammer stand er am offenen Fenster, als ihm dies einfiel. Wie gebannt mußte er ins Weite schauen, wo der glitzernde Rhein durch hügeliges Land zog. Als ob ein Schleier ringsum niedersinke, sah er auf einmal die Schönheit des Tages und der strahlenden Welt, und er wußte mit einem Schlage, daß er auf die Wanderschaft gehen würde, einem fernen Glück entgegen.
Die Sitte, als wandernder Handwerksgeselle Arbeit und Brot zu suchen, war damals schon stark im Zurückgehen. Seit das stählerne Roß über die Erde jagte und die Schaufelräder des Dampfschiffs den grünen Rhein aufpflügten, verlor sich der alte Brauch, wie so vieles Schöne, was von jener Zeit an leise verschwand.
Aber doch zog noch mancher tüchtige Geselle auf Schusters Rappen und mit dem Felleisen auf dem Rücken seinem Glück entgegen, und ganz besonders waren manche darunter, die es mit starkem Gefühl der neuen Zeit abspürten, daß sie nicht eitel Gutes bringe, sondern vieles totschlage, was nicht zu ersetzen sei. Idealisten oder Romantiker würden wir sie nennen, wenn wir uns nicht daran gewöhnt hätten, diese Namen nur noch Federfuchsern oder sonst lebensfremdem Volk zu geben. 52
So schrieb denn Hans-Albrecht den Seinen, daß er nicht, wie sie meinten, am 1. Mai bei Ruff & Sohn in B. eintreten, sondern auf die Walze gehen werde, rheinabwärts, den Niederlanden zu.
Als Vater und Mutter das lasen, schauten sie sich ins Gesicht mit fast erschrockenen Augen; dann füllten sich die der kleinen Frau verstohlen mit Tränen. Die des Mannes aber bekamen einen tiefen Glanz wie von heimlichem schönem Erinnern. Es wußten die beiden in dieser Stunde, daß ihr Ältester ein Mann geworden sei, ein flügger Vogel, der das Nest verläßt, um sein Leben auf eigene Faust zu führen, und in beiden war Stolz und leise Wehmut beieinander.
Der Vater, der den Briefwechsel mit dem Sohn seither ganz der Mutter überlassen hatte, setzte sich hin und packte einen Taler ein. Dazu schrieb er: »Mein lieber Junge! Mehr habe ich heute nicht, und mehr hatte ich einstmals nicht, als ich in die Fremde ging. Mit viel Geld reisen, ist keine Kunst. Die Kunst aber war mein einziges Trachten. Tu Du Dir auch ein einziges Trachten ein, dann wirst Du überall durchkommen! Leicht ist's nicht. Aber ein leichtes Leben macht keinen tüchtigen Kerl. Wenn Du durch Wetzlar kommen solltest, grüße das achte Jägerbataillon; ich habe auch einmal diesen Rock ein Jahr lang getragen und – –«
Als er so weit gekommen war, hielt der schreibende Mann inne. Es war ihm, als reiße ihn das Erinnern mit wie eine starke Strömung, gegen die es kein Wehren mehr gibt. Und 53 das durfte nicht sein; dazu gab es keine Zeit so mitten im Tag. Mit einem kühnen, schönen Schnörkel schloß er den Brief an seinen Ältesten und ging ruhig an seine Arbeit, das klare Leuchten in den Augen und auf der freien Stirne, das er immer hatte und das keiner aufbringt, der nicht innerlich gekämpft und gesiegt hat.
*
Was war das für ein Wandern mit jungem Herzen und junger Kraft in die blühende Welt hinein! In Hans-Albrecht sprangen die Knospen auf wie rings auf den sonnigen Fluren. Die weißen Straßen schienen ihn alle zu rufen und ihm ein fernes Glück zu versprechen. Die Wellen des Rheins glitzerten zu ihm herauf, als grüßten sie den Wandergenossen. Die ziehenden Wölkchen am blauen Frühlingshimmel lachten herab auf den Gesellen, der unter ihnen zurückblieb. Weit, weit ging ihm da das Herz auf, und das schönste Erbteil derer, die Künstlerblut in den Adern haben, begann mächtig in ihm zu erwachen: das tiefe Einssein mit Gottes schöner Welt und allen seinen Kreaturen.
Manchmal sprach er da oder dort um Arbeit vor. Aber er tat es immer mit einer heimlichen Angst, man könne ihn einstellen. Es war, wie wenn der Mutter Gewissen ihm zurede: »Verbummle nicht! Du wanderst nicht, um zu wandern, sondern um dir eine Stelle zu suchen!« Und eine andere Stimme rief dagegen: »Nur noch eine Zeitlang! Die 54 Welt ist so wunderschön, und es ist nicht eine Stelle, die ich suche, sondern ein anderes, ein viel Wunderbareres!«
Oft fand er einige Stunden oder auch Tage Gesellschaft auf seinen Wegen. Andere Wanderburschen, die ihr Glück in der Fremde suchten, oder Bauern und Bürgersleute, die von der neuen Art zu reisen immer noch nichts wissen wollten und ihren eigenen marschgewohnten und marschtüchtigen Beinen mehr Gutes zutrauten als jeder anderen Gelegenheit. Und in der Wechselrede mit diesen zufälligen Genossen lernte er Ohren und Augen und alle Sinne auftun. Sein Wissen und Begreifen von Welt und Leben wuchs dabei wie die Saat im warmen Regen. Gegenden und Landstriche, die ihm seither nur Namen und Kartenbilder gewesen waren, wurden etwas Lebendiges mit Körper und Gesicht, mit Wesen und Eigenschaften. Er spürte mit einer seltsamen Deutlichkeit die Fäden, die von den Menschen zu ihrer Scholle gehen, von der Landschaft zu ihren Kindern. Und es war ihm oft, als ziehe er selbst einen langen zähen Faden am Fuß mit, der ihn auch in dieser Fremde kennzeichne als den Sohn der Stadt, in der er geboren, und der ihn von der Heimat niemals loskommen lasse, so weit er auch in die Welt hineinschweife. Oft hatte er wochenlang keine Nachricht von daheim, und doch fühlte er immer Vater und Mutter um sich. Ja, der Vater, der zu Hause ein wenig in Wolkenhöhe gewesen war, er trat oft so nahe her, als halte er mit seinem Ältesten Tritt auf den Straßen der Fremde. 55
So ging es weiter und weiter ins Land hinaus und in den Sommer hinein. Manchmal, wenn die Gelegenheit günstig und die Mittel sehr knapp waren, arbeitete Hans-Albrecht bei einem Bauern im Taglohn. Seine junge Kraft, sein geschmeidiger, anstelliger Körper ließ ihn sich leicht hineinfinden in das Ungewohnte, und die Arbeit unter dem freien blauen Himmel im sonnigen, fruchtbaren Land war ihm Freude.
Einmal kam er gegen Abend auf einen einsamen Hof. Zwischen weiten, noch grünen Getreidefeldern lagen die niederen Häuser mit den blanken Schieferdächern eingebettet wie Inseln im Meer. Der blaue Rauch kräuselte sich über dem Schornstein, ein Hund bellte, aber nicht zornig und feindlich, sondern lustig, als sei ihm die Schönheit des friedlichen Abends Grund zu lauter Freude.
Von einer leichtgeschwungenen Anhöhe her, der einzigen in der weiten Runde, kam Hans-Albrecht mit ziemlich müden Füßen, denn er hatte an diesem Tag einen tüchtigen Marsch hinter sich.
Als er das Anwesen im goldenen Abendlicht liegen sah, kam ihm der Gedanke, wie schön es sein müsse, in solchem Frieden zu wohnen, und zum erstenmal stieg ein Unmut in ihm auf, daß ihn sein Beruf immer in den Lärm der Städte und in das Getriebe der Menschen führen würde. Aber er erschrak über diese Regung und wies sie von sich. Sie kam ihm vor wie ein Unrecht und eine Untreue gegen die Mutter, 56 der er doch zur Hilfe da sein wollte, er, der künftige reiche Mann, der Retter aus aller Enge!
Langsam schritt er dem Hof zu. Sein Weg zum heutigen Nachtquartier führte ihn daran vorüber. Aber er vermochte nicht, flüchtig vorbeizugehen. Die Stille, der tiefe Frieden, die weltferne Schönheit ließ ihn nicht los. Als hätte er Pech an den schweren Sohlen, schlich er auf der einsamen Straße fort.
Da trat der Bauer auf die Schwelle des niederen Hauses. Eine hohe, stattliche Gestalt, die die Türe fast füllte. Er sah gegen Westen, wo die Sonne tief und strahlenlos am glühenden Himmel stand, und seine Augen tranken, ohne zu zucken, die scharfe Helle. Völlig in Glanz gehüllt war alles, auch der einherschreitende Wanderbursch, der Felleisen und Stecken trug. Erst war's, als sehe ihn der Bauer nicht. Dann wandte er den mächtigen Kopf nach ihm und rief etwas in einer Sprache, die Hans-Albrecht nicht verstand.
Er erwiderte mit einem lauten deutschen Gruß. Da trat der Mann von der Türschwelle auf die Straße und schaute dem Gesellen scharf ins Gesicht. »Ein deutscher Junge,« rief er dann in jenem Platt, das am Niederrhein gesprochen wird und das der Wandernde von der Heimat her schon kannte, »wo kamst du über die Grenze?«
Da merkte der Bursch erst, daß er – weiß Gott wo – über den äußersten Saum des Vaterlandes hinausgetreten war auf seinen Kreuz- und Querfahrten, ohne daß ihn 57 irgendwo ein gestrenger Wächter oder Zöllner angehalten, und auch ohne daß er Schlagbaum oder Grenze bemerkt hätte.
Erstaunt, fast erschrocken sagte er dem Bauern Bescheid. Der lachte hellauf. »Du hast Glück, mein Jung! Wanderst wie die Sonne dort, die auch nichts weiß von Grenzen und Schlagbäumen. Na ja! Deine Papiere werden in Ordnung sein, und Holland ist ein gastlich Land, das muß ich wissen! So sag' ich: Gottwillkommen in des Lands Namen! Halt dich wie ein guter Deutscher! Wo willst du hin?«
Wenn der Abendglanz den Burschen nicht überflammt hätte, wäre dem Hofbauern vielleicht aufgefallen, daß ein roter Schein über das junge Gesicht flog. Wohin – ja wohin? Einem Glück entgegen, einem Unbekannten, einem Wunderbaren! Aber das konnte man doch nicht sagen! Man sagte sich's ja selbst kaum!
Nüchtern und sachlich, so daß es ihm selbst fremd klang, gab er dem Bauern Auskunft, daß er als Brauer sich umsehen und vielleicht im Haag oder in Amsterdam Stelle suchen wolle, oder auch irgendwo im Belgischen.
Wieder lachte der Bauer kurz und klingend auf. »Du denkst, hierherum müsse das Brauerparadies sein, weil der König Gambrinus nicht weit ist! Wenn du nach Gent oder Amsterdam fährst, kannst mir meine Vettern grüßen, die sind von deinem Gewerbe.«
Mit einer stummen Bewunderung, von der er selbst 58 nichts wußte, schaute der Bursch an dem schönen, stattlichen Mann in die Höhe. Etwas Vertrautes und Vertrauenerweckendes hatte der an sich, von dem dem Wandernden das junge Herz aufging.
»Wie heißen sie denn, die Vettern?« fragte er, und es stand schon halb und halb in ihm fest, daß er diese Leute aufsuchen würde.
Wieder lachte der Bauer und, als hätte er dem Fremdling ins Herz gesehen, sagte er: »Du hast wohl Zutrauen gefaßt, junges Blut! Und bist rasch von Entschlüssen! So lieb' ich mir's an einem deutschen Jungen. Tritt ein! Kannst nächtigen bei mir. Kommst noch früh genug nach 's Gravenhage, um Millionär zu werden.«
Verwundert, fast bestürzt, und doch, als müsse es so sein, folgte da Hans-Albrecht dem voranschreitenden Mann in das Haus, in dessen blanken Fenstern das Gold der versinkenden Sonne lohte, und als er hinter der hohen Gestalt herging, war ihm, als sei es der Vater, der vor ihm ausschreite.
Der Abend und die Nacht, die für den müden Wanderburschen folgte, blieb diesem wie ein Märchen in der Erinnerung. Aber als ein Märchen voll Stille und Glanz, nicht voll Abenteuer oder bunter Ereignisse.
In einer weiten und vielfensterigen, aber nicht sehr hohen Stube saß er mit seinem Gastgeber an einem großen, schweren eichenen Tisch, von dem ein mit blauen Streifen 59 durchwirktes prächtiges Tuch fast bis auf den Fußboden hing. Eine alte Magd in kleidsamer Haube und breiter, die ganze rundliche Gestalt umhüllender weißer Schürze stellte Teller auf und trug Speisen herzu. Schinken und Eierkuchen und fetten Käse brachte sie und köstliche, mit Rahm bestrichene Kuchenschnitten.
Ihr rundes, rosiges Gesicht war voll Freundlichkeit, ihre blauen, etwas hervorstehenden Augen voll Neugierde. Aber von dem, was sie sagte, konnte Hans-Albrecht nur dann und wann ein Wort verstehen, und der Hausherr mußte den Dolmetscher machen. Nach dem Woher und Wohin fragte sie und nach Eltern und Geschwistern. Auch was die Mutter zu Abend koche und ob sie die Speisen so zubereite wie hierzulande, wollte sie gerne wissen, und ein guter Geist gab dem wacker Schmausenden ein, das köstliche Essen aus freudigem Herzen zu loben und dabei doch auch die weit magereren Kochkünste der fernen Mutter in ein rosiges, von der Erinnerung verklärtes Licht zu stellen.
Es war seltsam still im Haus; Menschenstimmen und Arbeitslärm drangen nur gedämpft und wie aus der Ferne manchmal auf und verstummten wieder. Die Magd, die aus und ein ging, schien das einzige Wesen zu sein, das um diese Stunde um den Herrn sein durfte, und dieser selbst, so wenig er einen abweisenden oder nur zurückhaltenden Eindruck machte, sprach während des Essens nur wenig; eigentlich nur das, was er der Magd übersetzen mußte. 60
Hans-Albrecht hatte Muße, sich in der weiten Stube umzusehen. Da waren weißgestrichene Wände, auf denen in sorgfältiger Anordnung fremdartige Jagdtrophäen hingen und dazwischen auf holzgeschnitzten Borden die schönen blauen Porzellane, wie sie im Land angefertigt werden. Spiegelblank polierte Möbel aus ganz hellgelbem Holz, wie es Hans-Albrecht nie gesehen hatte, standen an den Wänden, und vor den Fenstern blähten sich zarte, blütenweiße Vorhänge im leisen Sonnenuntergangswind, der hereinströmen durfte. So traulich, rein und vornehm war alles, was der Wanderbursch sah, so ganz anders als alles, was er sonst auf Bauernhöfen gefunden hatte, daß er sich wohl verzaubert vorgekommen wäre, wenn ihm seine müden, brennenden Füße und sein kräftiger Hunger nicht gesagt hätten, daß alles lebendige Wirklichkeit sei.
Nach der Mahlzeit trug die Magd in zwei kleinen, kostbaren Gläsern einen goldklaren Likör herzu. Sie lachte dabei so freundlich und mütterlich und sagte etwas, das wie eine Aufmunterung, ein Zuspruch klang.
»Sie meint,« übersetzte der Hausherr, »du werdest gut darauf schlafen und schöne Träume haben.«
Da flog dem Burschen wieder das helle Rot übers Gesicht. Das Herz war ihm so warm und freudig, daß er nicht mehr schweigen konnte. »Ach,« sagte er, »schöne Träume habe ich am hellichten Tag; daran fehlt es bei mir nicht.«
Wieder schaute ihn da der große Mann prüfend und 61 eindringlich an; dann stand er vom Tisch auf und mit ihm sein Gast, und sie reichten sich die Hand und wünschten sich gesegnete Mahlzeit. Aber bei den abgebrauchten und herkömmlichen Worten war es den beiden, als müsse noch etwas dahinter liegen, als wollten sie sich etwas ganz anderes sagen als diese Redensart.
Der Hausherr fragte nun seinen Gast, ob er noch Lust habe, einen kurzen Gang rund um den Hof mitzumachen, den Abendgang, der jeden Tag abschließe, oder ob man ihm gleich sein Nachtlager zeigen solle? So müd Hans-Albrecht war, es lockte ihn dennoch, länger um diesen Mann zu sein, der im bäuerlichen Gewand steckte und doch kein Bauer wie andere war.
Sie traten miteinander hinaus auf den gepflasterten Hof hinter dem Haus; sie sahen nach den niederen, weitläufigen Wirtschaftsgebäuden, gingen durch den Garten, den eine lebende, weiß und rot blühende Hecke umschloß, aus der noch da und dort ein leises, verschlafenes Vogelstimmchen klang. Wohlgepflegt und in schönster Ordnung waren die Beete, aus dem beschnittenen Buchs strömte mit der Sonnenwärme des dahingegangenen Tages der herbe, starke Duft, und unzählige späte Tulpen in allen Farben standen mit geschlossenen Kelchen, wie versunken in ihr Abendgebet und in Erwartung der nahenden Nacht.
Hans-Albrecht ging wie im Traum neben dem schweigenden, ruhig ausschreitenden Mann her, der diesen Abendgang 62 als einen Pflichtgang tat und seine Augen aufmerksam prüfend überall hatte.
Durch ein Pförtlein an der Gartenhecke traten sie hinaus aufs Feld. Ein breiter Wassergraben mit nur leicht erhöhten, grasbewachsenen Ufern lief da vorüber. Der Widerschein des letzten Abendglanzes lag auf dem fast stehenden, dunklen Wasser, und wie in schüchternem Versuchen schrie da und dort ein Frosch oder eine Kröte, als warte sie auf Antwort und Aufmunterung.
An diesen grasigen Uferstreifen setzte sich der Mann, so daß seine langen Beine fast das Wasser berührten, und eine Handbewegung, ein leises Wort lud Hans-Albrecht ein, dasselbe zu tun. Und wieder war es diesem, als säße der ferne Vater da, so seltsam ähnlich war die Gebärde, war das ganze Wesen des fremden Mannes.
»Mein Jung,« sagte der jetzt und schaute seinem Gast in die Augen, »du kannst schweigen, und du kannst sehen, was um dich ist! Das sind zwei von den wichtigsten Dingen in diesem Erdenleben. Die Alten können es selten, die Jungen fast nie; deshalb ist so viel Wirrwarr in der Welt. Du mußt aus einem guten Hause kommen. Wie ist dein Name?«
Vor Hans-Albrecht versanken auf einmal die Jahre, da er in der Fremde gewesen war. Es schien ihm, als hätte er gestern den Fuß aus dem Vaterhaus gesetzt. Wie ein kleiner Junge kam er sich vor, der sorglos in Ferien ist und vor dem unbekannte Herrlichkeiten liegen. 63
Und aus diesem warmen Herzen heraus erzählte er nun in jener kindlich-männlichen Weise, wie sie die Söhne guter und feiner Eltern oft an sich haben, von Vater und Mutter, von Geschwistern und Kindheit, von Berufswahl und Zukunftsplänen. Die Art, wie sein Zuhörer lauschte und manchmal ein Wort dazwischenwarf, lockte ihn weiter und weiter, so daß er zuletzt auch die Dinge sagte, die ihm sonst verdeckt und wohlgehütet im Herzen ruhten und von denen er höchstens in Stunden des Alleinseins mit der Mutter zu dieser geredet hatte, weil sie der Mensch war, der ihn am besten verstand. Auch auf des Vaters kämpfereiche Jugend kam er zu sprechen, auf seine Flucht nach Paris und seine Studien am Konservatorium, auf die täglichen weißen Bohnen in Öl und die harte Schlafbank im Luxembourg-Garten.
Indes sie redeten, verglühte mählich der Glanz im Wasser, die grauen Schleier der Dämmerung sanken aufs Feld und spannen um die Gartenhecken; die Vogellaute verstummten, und voll und vielstimmig erschallte der Chor der Frösche.
Und auf einmal deutete der lauschende Mann nach dem Mond, dessen goldene Sichel hoch und still und strahlend über der nächtlichen Erde stand. »Sieh,« sagte er leise, und man hörte die Bewegung aus seiner Stimme, »so stand der Mond über dem Montmartre, als ich mit einem Deutschen ins Gespräch kam, der auch, wie ich, zum erstenmal von der Höhe aus südwärts über die laute Riesenstadt hinsah. Er war so groß wie ich und so breit wie ich, und er hieß Ludwig 64 Albrecht Nagel und war dein Vater. Sag' nein, wenn du kannst!«
Verstummt saß der Wanderbursch und verstummt der Mann. Es war, als ob sie sich fürchteten, etwas zu zerstören, wenn sie jetzt redeten. Das Wunderbare war über ihren Weg gehuscht und machte sie schweigen.
Und dann, nach langer Stille, fing der Mann zu erzählen an. Ein schicksalsreiches Leben legte er mit schlichten und spärlichen Worten vor seinen jungen Gast hin. Friesischen Stammes, trug er Germanenblut in den Adern und damit die Sehnsucht nach der Ferne. So trieb es den früh Verwaisten und Begüterten schon in der Jugend aus der Heimat. Einen guten Schulsack, Kenntnisse in Land- und Forstwirtschaft und die zähe Beharrlichkeit des Holländers nahm er mit hinaus. Paris war ihm kein Ziel, nur eine Station auf seinen Wanderfahrten. Fremd und verkauft kam er sich vor in dieser mächtigen Stadt, die, nicht mehr angeschmiegt an die Erde, für ihn wie mit Luftwurzeln im Leeren hing, ein Menschengebilde von unerhörter Vielgestaltigkeit und Farbigkeit, aber losgelöst vom tragenden, nährenden Grund und ihm darum unheimlich, fremd und unnatürlich – und doch voll dämonischen Reizes.
Und da, als er sich einmal so recht einsam fühlte, abgestoßen und angezogen zugleich von der rätselhaften Stadt, da hatte er den hochgewachsenen, auch einsamen Deutschen getroffen, aus dessen schönem, blassem Gesicht die Augen 65 leuchteten, als er über das Häusermeer hinsah. Wie sie ins Gespräch gekommen, wußte er nicht mehr. Aber er wußte noch, wie sie sich dann öfters getroffen, bald zufällig, bald verabredeterweise; denn in dem Rheinländer und in dem Friesen lief verwandtes Blut, und das zwingt nie stärker zueinander als in der Fremde.
Dazu standen sie beide im Banne der Kunst. Wie dem Deutschen die Musik, so hatte es dem Niederländer die Malerei angetan, und sie erlebten zusammen das schöne Wunder, daß, wer den Schlüssel zur letzten Türe der einen Kunst hat, auch in die andere eindringen und ihre Herrlichkeiten und Heimlichkeiten schauen und erleben kann. Versunken in seine Erinnerungen und wie zu sich selbst sprach der Mann. Dann hob er die Stimme: »Mußt deinen Vater fragen, ob er noch daran denkt, wie wir zusammen zu dem großen Marienfest die Seine hinabfuhren, dann aus dem Schwarm der lachenden, geputzten Menschen ausbogen und eigene Wege suchten.«
»Ja,« fiel da Hans-Albrecht ein, »und wie Sie dann mit Vater an die Kapelle kamen, die am Rand eines Gehölzes stand und um die die wilden Rosen blühten wie um Dornröschens Schloß.«
»Siehst du,« sagte der Mann, »es stimmt alles! Und wie wir dann ein wunderschönes und wunderfrommes Altarbild in der Kapelle fanden, eine heilige Cäcilie, die vor dem Kind in der Krippe die Harfe spielt –« 66
»Und wie Vater dann das Lied niederschrieb, das die Cäcilie spielte,« schaltete der Wanderbursch ein.
»So klang das Lied,« sagte der Mann und fing leise und klar eine Weise zu singen an, die Hans-Albrecht wohl kannte, weil Mutter sie oft gesungen an der Wiege der Geschwister.
Da saßen nun die zwei Männer am Rand des dunklen Wassers und sangen miteinander das Wiegenlied in das immer lauter werdende Froschkonzert hinein, und die goldene Sichel leuchtete ob der blühenden, duftenden Welt.
Als sie zu Ende waren, zog der Holländer die Knie hoch, stützte die Ellbogen darauf und legte den Kopf in die Hände. Versunken und stumm saß er lange so und Hans-Albrecht reglos daneben, wie gebannt und gelähmt von der tiefen Wunderbarkeit dieses Erlebens.
Dann hob der Ältere den Kopf. »Also er hat mich nicht vergessen, dein Vater; er hat seinen Kindern von mir erzählt?«
Hans-Albrecht atmete auf, wie erwacht. »Viel hat er uns erzählt von dem ›langen Friesen‹, dem Philip Krusekerk, der Paris so bitter gehaßt und doch auch so sehr geliebt habe und der dann plötzlich verschwunden sei, wie von der Erde verschluckt.«
Der große Mann lachte leise. »Ja, ich habe französischen Abschied genommen. Ich traute mir selber nicht. Zehnmal habe ich abreisen wollen, und zehnmal bin ich nicht 67 losgekommen. Dann bin ich Hals über Kopf davon. Weit hinaus in die Welt hat es mich verschlagen. Auf Java bin ich hängengeblieben. Fünfzehn Jahre lang habe ich Rauch und Nebel um den Gipfel des Semiru wallen sehen, ich habe gepflanzt und geerntet und gejagt zwischen qualmenden Kratern und in üppigen Talgründen, und ich habe gesehen, daß Gottes Erde ein Paradies ist, solang die Menschen keine Hölle daraus machen.
Dann kam ich nach Holland zurück. Den Hof hier habe ich mir gekauft. Hier lebe ich. Und auch sterben möchte ich hier.«
Er hatte zuletzt kurz und abgehackt, wie widerwillig, gesprochen, und Hans-Albrecht hatte das Gefühl, als fehle dazwischen vieles, vielleicht das Wichtigste. Aber er scheute sich, eine Frage zu tun.
Sie schauten noch eine Zeitlang in die traumhaft schöne Nacht, jeder versunken in seine Gedanken, der Ältere in Vergangenes, der Junge in Zukünftiges verloren; dann standen sie auf und gingen in das stille Haus zurück, in dessen langem, kühlem Flur die Kerzen am Lichterweibchen brannten.
Aus einer der vielen Türen trat freundlich die alte Magd und sagte etwas; dann schritt Philip Krusekerk seinem Gast voran in ein Zimmer, das gegen den Garten ging, und er entzündete dort eine kunstvolle Ampel, die von der niederen Decke hing.
Seinen Ranzen und seinen Stock sah der Wanderbursch 68 auf einem mit Fellen belegten Langstuhl liegen, und er begriff mit frohem Erstaunen, daß er hier schlafen sollte.
Ein schneeweißes, breites Bett war einladend aufgedeckt, auf dem geräumigen Waschtisch stand ein wannenartiges Gefäß mit Wasser, den Tisch unter der Ampel schmückte eine große Schale mit Orangen und Datteln, weiche Teppiche und Felle deckten den Fußboden. Hans-Albrecht stammelte einen Dank. Wie verzaubert kam er sich vor, und er sagte es seinem leise lächelnden Wirt.
»Nun ja,« antwortete dieser, »mir geht es nicht anders mit dir! Meine Jugend ist vor mir aufgestiegen; denn du gleichst deinem Vater, wie er damals war.« Sein Gesicht wurde ernst, fast hart, als er fortfuhr: »Ich bin ein trockener und nüchterner Kerl geworden, dem das Herz nicht mehr rascher klopft um die Dinge, die das Leben heranspült. Aber der Abend heute, der hat mir gut getan, wie ein Regen nach langer Dürre. Von Zeit zu Zeit muß der Mensch das Wunderbare über seinen Weg huschen sehen, sonst verholzt er. In deiner Jugend spürt man das doch noch nicht. Da ist noch alles wunderbar und voll quellendes Saftes. Aber dein Vater, der wird wohl auch davon wissen.«
Hans-Albrecht erschrak fast. Daran hatte er nie gedacht, daraufhin den Vater niemals angesehen. Aber dann sagte er seltsam zuversichtlich: »Mein Vater – – – ich glaube, der bleibt immer jung und sieht immer und überall das Wunderbare. Nur sieht er es immer von weitem.« 69
Der Mann lachte auf. »Wie recht hast du! So war er damals, und so muß wohl ein echter Künstler sein Leben lang sein. Nun schlaf dich aus und laß dir's schmecken! Morgen bei Tag sieh dir die Wände an; es lohnt sich wohl!«
Er deutete auf die Bilder, die die hellgetünchten Wände schmückten, und schritt zur Tür, sie leise hinter sich zuziehend, als liege sein Gast schon im besten Schlaf.
Als Hans-Albrecht gewaschen und erfrischt in das weiche, weiße Bett sank, kam er sich vor wie ein richtiger Märchenprinz, dem die Zauberkraft gütiger Feen die Tür aufgetan hat zu allen Glücksmöglichkeiten der Welt. Seine Müdigkeit hatte nichts Quälendes mehr; er spürte sie als ein wohliges Ausstrahlen aus seinem jungen Körper. Immer leichter und froher ward ihm zumute, so, als ob ihm Flügel wüchsen, und diese Flügel trugen ihn durch die stille Nacht unter dem Leuchten der Mondsichel und der tausend Sterne heimwärts zu Vater und Mutter.
*
Als des nächsten Tages erster Morgenschimmer schüchtern heraufstieg, erwachte Hans-Albrecht und konnte sich erst gar nicht zurechtfinden. Verwundert und suchend gingen seine Augen durch den fremden Raum und blieben dann auf einmal hängen an etwas so Schönem, daß es dem Schauenden fast den Atem benahm.
An der hellen Wand in der Nähe des Fensters hing ein 70 Bild, in dem sich auf eine wundersame Weise das ganze schimmernde Licht des Morgens zu fangen schien. Eine Landschaft war es mit hohem Himmel, an dem ein fast brennendes Blau die ganze Tiefe und Weite des Äthermeeres hinter den balligen Wolken zeigte. Ein flaches Feld mit ein paar fernen Windmühlen dehnte sich darunter, und es war nicht anders, als hätte der Maler zeigen wollen, wie klein, still und selig die Erde mit all dem Ihren in der schimmernden Unendlichkeit eingebettet ist.
Hans-Albrecht sprang aus dem Bett und trat vor das Bild. Zum erstenmal in seinem Leben bekam er ein ganz großes Kunstwerk der Malerei zu Gesicht. Es war ihm, als ob eine harte Hand ihm Herz und Kehle zusammenschnüre. Eine tiefe Erschütterung, wie Erinnerung und Offenbarung zugleich, durchschüttelte ihn und trieb ihm das klare Wasser in die Augen. Seine junge Seele mit all ihren schlummernden Möglichkeiten, ihren geheimnisvollen, noch ruhenden Kräften, Trieben und Keimen war durchzittert von einer unbegreiflich heiligen, zugleich schmerzvollen und wonnigen Berührung. Jenes Erlebnis, das er vor dem schwarzglänzenden Strom des geschmolzenen Pechs im Hof daheim zum erstenmal gehabt hatte, es war jetzt wieder da, aber klarer, stärker, bewußter: ein Schauen in ferne, fremde Schönheit, die man nicht mit wandernden Füßen mühselig suchen muß, sondern zu der der Schlüssel in der eigenen Seele liegt.
Und diesmal war keine praktische Mutter da, die das 71 Erlebnis frischweg umdeutete in das künftige Landhaus des künftigen Brauereibesitzers; deshalb mußte Hans-Albrecht selbst an eine Deutung gehen. Und er tat es, ohne zu grübeln und ohne zu klügeln, einfach so, wie er fühlte. Eine klare und feste Stimme in ihm sagte: »Also das war es: ich hätte sollen Maler werden!«
Als er das in sich sagen hörte, erschrak er nicht. Es war auch gar nicht wie ein jäher Umsturz in ihm. Er nahm sich nicht vor, seinen Beruf an den Nagel zu hängen, er träumte nicht von einer phantastischen Zukunft. Nur eine seltsame Erleichterung fühlte er, so, als ob etwas Drängendes und Verschwommenes nun auf den Begriff gebracht und festgelegt worden sei.
Lange, lange stand er vor dem Bild. Nicht als ob er sich die Einzelheiten genauer angesehen hätte. Wenn er später an diese Stunde dachte, war ihm, als habe er in jenem Frühlicht eine ganze Reihe von Bildern vor sich vorüberziehen sehen. Bilder, die alle aufgetaucht und entschwunden waren aus der Äthertiefe hinter den weißgrauen Wolkenballen heraus.
Endlich kleidete er sich an und trat ans Fenster. Die Morgensonne lag über dem Garten; die Tulpen hatten sich weit aufgetan und zeigten ihre Stempel und Staubgefäße; die Vögel sangen in den Hecken; im strahlenden Himmelsblau schwammen die gleichen balligen Wolken wie auf dem Bild, nur nicht in so dichter Masse, und jenseit des 72 Gartens, auf dem flachen Feld hinter dem Wassergraben, waren Männer an der Arbeit, mitten unter ihnen der stattliche Hausherr. Wie die Gestalten in die klare Luft ragten, wie ein Vogelzug hoch im Blauen ohne Laut vorüberzog und sich in dem Wasser spiegelte, das alles sah Hans-Albrecht auf eine so neue Weise, als hätte das Schauen vor dem Bild seine Augen verwandelt. Denn wenn eine Hülle von der Seele fällt, fällt eine Hülle von den Sinnen.
Es klopfte jetzt an der Türe, und die alte Magd brachte eine Kanne voll warmen Wassers. Wieder hatte sie das mütterlich-freundliche Lächeln und offenbar wohlmeinende Worte, von denen aber der Gast wenig verstand. Doch schien es ihm eine Einladung zum Frühstück zu sein, in der von Eiern und Milch die Rede war. Zum Überfluß deutete sie jetzt auf ein Bildchen an der Wand, auf dem schmausende Menschen um einen vollbeladenen Tisch saßen, indes im Vordergrund sich die Hunde balgten.
Als sie gegangen, sah Hans-Albrecht erst die anderen Bilder an. Die eine Landschaft hatte ihn ganz vergessen gemacht, daß auch noch anderes da war. Er kannte die großen Malersnamen nicht, hatte nie unter kundiger Führung Bilder betrachtet. So trat er ohne Befangenheit und ohne Vorurteil, fast wie ein Kind, an die heimlichen Schätze heran, die in der stillen niederen Stube hingen. Es waren zumeist Miniaturen in tiefen alten Rahmen; ein Hühnervolk, von einem Hosenmatz gefüttert, ein Goldfasan in köstlicher 73 Photographierstellung, als hätte das Tier um seine Schönheit gewußt, ein geschlossenes Kirchenportal in flackernder Fackelbeleuchtung, über dem ein so beklemmend Unheimliches lag, als müßten die Torflügel im nächsten Augenblick aufgehen und etwas Ungeheuerliches zeigen. Hans-Albrecht hatte keine Ahnung von dem materiellen Wert dieser Bilder und Bildchen. Aber sehnsüchtig dachte er: Wenn man so etwas immer um sich hätte, immer ansehen könnte, dann müßte die Arbeit und das ganze Leben hell sein, als ob beständig die Sonne schiene. Eine tiefe Ergriffenheit, halb Schmerz und halb Seligkeit war in ihm, weil es so schöne Dinge auf der Welt gab, Dinge, vor denen alle Mühsal zu Boden sank, so daß es war, als ob man Flügel hätte und in immer herrlichere Fernen dringen könnte.
Zögernd und ungern, als hielten ihn klammernde Hände fest, ging er endlich aus dem Zimmer, und es gab ihm einen schmerzvollen Stich, als er dachte, daß er diese Bilder nun wohl in seinem Leben nicht wiedersehen würde.
Die Magd führte ihn wieder in den Raum, in dem er gestern abend gegessen. Der Tisch war wieder für zwei wohlgedeckt. Fleisch und Eier, goldgelbe Butter und köstliches Gebäck stand zwischen den Tellern. Aber Hans-Albrechts Augen suchten die Wände ab nach Bildern, als sei sein Hunger und Durst nach dieser Seite gewandert. Wie ein Sehendgewordener erkannte er jetzt viel deutlicher als am Abend zuvor die Schönheit und Harmonie des eigenartig 74 ausgestatteten Raumes, der zwar keine Bilder enthielt, aber plötzlich selbst wie ein Bild auf den Beschauenden wirkte.
Nach kurzer Zeit trat der Hausherr ein. Sein glattrasiertes, vom stark drängenden Bartwuchs dunkles Gesicht schaute frisch darein, als liege ein Abglanz des prächtigen Sommermorgens darauf. Seine durchdringenden, von den dichten, buschigen Brauen überschatteten Augen blitzten freundlich auf, als sie den Gast gewahrten. »Schon munter?« fragte er und streckte Hans-Albrecht die Hand hin. »Man kann nicht ruhig liegen, wenn die Sonne hochklettert.«
»Ja,« meinte der Wanderbursch, »und wenn solche Bilder an den Wänden hängen.«
Ein rascher Blick ging vom Hausherrn auf den Gast. »Haben sie dich aufgetrieben? Das ist gut. Ich weiß nichts anzufangen mit Gästen, die meine Bilder nicht sehen. Darum habe ich sie in jenes Zimmer gehängt. An ihnen müssen sich für mich die Schafe von den Böcken scheiden. Es ist gut, daß du dich auf die richtige Seite geschlagen hat. Du wärst sonst deines Vaters Sohn nicht. Setze dich, wir wollen frühstücken!«
Der Mann sprach kurz, wie ein ans Befehlen Gewöhnter; aber es lag nichts Verletzendes darin, viel eher erweckte es in Hans-Albrecht ein Gefühl des Geborgenseins unter dem Willen dieses Starken und zugleich Gütigen.
Die Magd trug duftenden Kaffee und schäumende Milch 75 herzu, und wie Vater und Sohn saßen sich die zwei vertraut und froh gegenüber und ließen sich die köstlichen Dinge schmecken.
Dann fingen sie von den Bildern zu reden an. Mit einer fast andächtigen Ehrfurcht sprach der Hausherr von den großen holländischen Malern, die Unsterbliches geschaffen, und nannte seinem Gast die Städte und Stätten, an denen die Kunstwerke gehütet wurden. Von den Bildern in seinem eigenen Besitz wußte er von jedem die Geschichte, als sei jedes ein gesondertes Wesen mit einem gesonderten Schicksal, dem nachzudenken wohl der Mühe wert sei. Feinhörig vernahm der schweigend und andächtig lauschende Hans-Albrecht, daß diesem Manne die Bilder nicht nur ein schöner Schmuck seiner Wände, sondern eine ganz eigene Welt waren, eine Welt, in der er sich umsah und bewegte wie in einem Heiligtum, in das der Alltag mit seinem Drum und Dran nicht herein darf. Es war ihm das gar nicht verwunderlich. Hatte er doch selbst in der Morgenfrühe vor den Bildern das Erlebnis gehabt, dies Hinüber- und Hinausgehobensein aus dem Werktag in eine höhere Welt und ein höheres Leben.
Manchmal hörte er die Stimme des Redenden nur noch wie von weitem, so sehr trugen ihn neue Gedanken, neue Gefühle mit sich fort. Sein ganzes junges Leben sah er in einem anderen Licht. Es war ihm, als hätte er geträumt und geschlafen, um nun endlich zu erwachen. Als sei alles bis auf 76 den heutigen Tag nur Vorbereitung gewesen für das, was jetzt kommen würde, kommen müßte! Alle mit der Mutter geschmiedeten Pläne, alle Zukunftshoffnungen, sie standen vor ihm da, als seien es Bilder gewesen, die er geschaut und nie recht verstanden habe.
»Hast du nie gezeichnet oder gemalt?« fragte jetzt die Stimme des Hausherrn.
Hans-Albrecht schrak förmlich zusammen. Es durchfuhr ihn: Mit Stift und Pinsel nie; aber sonst eigentlich immer. Ich habe es nur nicht gewußt! Er schüttelte den Kopf. Sein Gesicht war ganz bleich.
»Nein, – nur in der Schule –«
»Dann dank deinem Herrgott,« sagte mit einem kurzen, bitteren Auflachen der Hausherr, und seine Züge hatten auf einmal einen ganz veränderten, fast gequälten Ausdruck. »Ich habe mein halbes Leben damit kaputt gemacht und bin heute noch der Stümper, der ich immer war. Scheußlicheres gibt's nicht, als immer Gipfel vor sich sehen und immer unten krabbeln! Eine Schnecke, die am Scheunentor hochkriecht und jedesmal wieder herunterfällt, hat ein königliches Los dagegen. Aber das wenigstens kann mir kein Gott und kein Teufel nehmen, daß ich den Glorienschein sehe, der um ein echtes großes Kunstwerk ist.«
Er war, wie in tiefer Erregung, aufgestanden, seine Augen hatten einen dunklen Glanz, seine Hände, die sich um die Stuhllehne krampften, zitterten. 77
Auch Hans-Albrecht stand auf. So jung und unerfahren er war, begriff er doch, daß er eben einen Blick getan hatte in ein sonst verschlossenes Fach in dieses Mannes Herzen. Er ahnte und spürte ein Lebensbild, das da, vielleicht gegen den Willen des Sprechenden, hervorgeblitzt war; das machte ihn stumm und befangen.
Und dann gab es einen kurzen Abschied. und der Wanderbursch verließ das gastliche Haus mit dem Gedanken, daß er es wohl nie mehr betreten werde und daß es wie ein freundliches Wunder hinter ihm bleibe und nur noch in der Erinnerung nachglänze.
Die Namen und Adressen der Vettern in Gent und Amsterdam nahm er mit. Was er aber sonst noch mittrug in seinem aufgewühlten und wachgewordenen Herzen, das zeigte sich erst im Lauf kommender Jahre.
*
Von diesen kommenden Jahren wäre viel zu erzählen. Sie führten Hans-Albrecht durch Holland und Flandern, ließen ihn viel Neues sehen und lernen in seinem erwählten Beruf, mehr noch aber, wenn auch ganz heimlich und auf jene unmerkliche und wunderbare Weise, wie lebendiges Wachstum sich auswirkt, führten sie ihn aufwärts in dem Beruf seiner innersten, verborgen reifenden Künstlerseele, von dem vorerst nur ein Ahnen wußte.
Mit einem Hunger und einer Sehnsucht, gegen die es 78 kein Widerstreben gab, suchte er, wo er in dem lichtgesegneten Land hinkam, die Kunstwerke auf, von denen ihm Philip Krusekerk gesprochen hatte. Mit einer Andacht sondergleichen stand er dann davor, und es war ihm, als flute ein Strom von Licht und Kraft von ihnen zu ihm her. Er bekam ganz neue Augen, eine neue Art, die Dinge ringsum zu sehen. Mit Ehrfurcht wurde er gewahr, daß diese großen Künstler die echte Wirklichkeit schauten und aufzeigten, wo andere Menschen wie mit verbundenen Augen achtlos an der wahren Welt und der Welt der Wahrheit vorübertaumelten.
Vom klaren Schauen aber ist zum Gestalten nur ein Schritt. – Als Hans-Albrecht diesen entscheidenden Schritt tat, als er sich zum erstenmal an Pinsel, Öl und Leinwand wagte, war er zu Amsterdam bei Philip Krusekerks reichem Vetter, dem Brauereibesitzer Wilhelm Krusekerk, in Stellung. Dieser schon weißhaarige, kinderlose Herr glich seinem Vetter äußerlich und innerlich. Er hatte, wie dieser, etwas Gebieterisches und zugleich Väterliches, war tüchtiger, umsichtiger Geschäftsmann und trug zugleich eine zweite, höhere Welt in der Seele. Über Hans-Albrecht und seine Herkunft hatte ihn wohl sein Vetter unterrichtet, und es machte sich ganz allmählich, daß die beiden Männer, der junge und der alte, einander näherkamen. Von diesem seinem Herrn erfuhr Hans-Albrecht auch bruchstückweise Näheres über Philip Krusekerk. Er hörte, daß dieser jahrelang mit 79 leidenschaftlich heißem Bemühen um die Palme des Malers gerungen, daß er fast übermenschlich gearbeitet und studiert habe, um das Ziel zu erreichen, das ihm vorschwebte. Seine ganze Jugend, sein bestes Mannesalter habe er an dieses Ziel gehängt, ohne es erreichen zu können. Seine Arbeiten seien sicher über dem Durchschnitt gewesen, ja, sogar Preise habe er davongetragen und das Lob seiner Lehrer hören dürfen, aber ihm selbst habe nie genügt, was er geschaffen hatte. In bitterer Unbefriedigung habe er immer wieder zerstört und zurückgestellt, was er mit heißer Hoffnung begonnen hatte, um zuletzt, des Kampfes müde, den Pinsel wegzulegen und nach dem Pflug zu greifen. Und dieses schwere, aufreibende Ringen habe er, so gut es ging, vor Menschen, auch vor seinen Nächsten, verborgen. In einer scheuen und keuschen Art, als sei es ein Heiligtum, habe er den Kampf um die Kunst geführt und zuletzt sich selbst als einen nicht Vollwertigen zum Verzicht verurteilt.
Als Hans-Albrecht, von seinem Herrn unterstützt und ermuntert, den Schritt ins neue Leben tat, war es kein rascher Siegeszug, den er antrat. Es war für den ausgelernten Braumeister nicht leicht, wieder Schüler und Anfänger zu werden, und manchmal ging er seinen Weg nur mit Zittern und Zagen. Aber immer wieder kam ihm eine heimliche Getrostheit zu Hilfe, ein Gefühl des Müssens und des Rechttuns.
Eine tiefe reine Freude war es für ihn, daß die Seinen 80 keine Enttäuschung und kein Mißtrauen zeigten, als er ihnen von dem Wandel in seinem Leben schrieb. Ja, in den seltenen Briefen des Vaters klangen Töne auf, wie er sie bisher für den Sohn nicht gefunden hatte. Einmal schrieb er, daß er schon damals, als sein Ältester in der Mathematik, dieser unsichtbaren Form-, Formen- und Formelnwelt soviel Sicherheit, Verständnis und Freude bewiesen habe, in aller Stille bei sich gedacht habe, ob das nicht zuletzt doch auf den bildenden Künstler hinauslaufe! Aber er habe nichts sagen, nichts Werdendes berühren wollen, denn zur Kunst müsse jeder aus seiner eigenen Seele heraus kommen. Die Mutter, die vielleicht doch manche Hoffnung begraben mußte, war am schnellsten bereit, für ihren Ältesten die neue Zukunft in eitel Goldglanz zu sehen. Nur das verzieh sie sich nicht, daß sie ihres Sohnes Begabung nicht erkannt und ihn auf einen falschen Weg gestellt habe.
Aber Hans-Albrecht ließ das nicht gelten. Er schrieb zurück, daß er ganz sicher sei, keinen Umweg gemacht, sondern auf eine Weise und auf einem Weg gegangen zu sein, wie es für ihn passe. –
Nun brauchte eigentlich nur noch gesagt zu werden, daß Hans-Albrecht ein Maler wurde, um dessen Bilder Philip Krusekerk, der unbestechliche Richter, jenen Glorienschein entdeckte, von dem er einst mit dem Wanderburschen gesprochen hatte.
Aber ein feines Erlebnis soll doch noch erzählt werden, 81 eines von der Art, die man nicht mehr vergißt, wenn sie einem den Weg kreuzten.
Als Hans-Albrecht schon anfing, berühmt zu werden, zog er, wie er das liebte, an einem Sommermorgen hinaus, um, fern von dem Getriebe der Stadt, eine einsame Wanderung ins Blaue und jene tausend Entdeckungen zu machen, aus denen er Kraft und Freudigkeit für sein Schaffen holte.
Wenn ihm vor den Meisterwerken der Großen der Atem ausging und das Selbstvertrauen dahinschmolz, so wußte er sich nicht anders zu helfen, als mitten unter den Werken Gottes sich neuen Mut zu holen.
Wie ein offenes Bilderbuch sah er dann die leuchtende Welt, und ein fast herzbeklemmendes Glücks- und Kraftgefühl durchströmte ihn, wenn er dachte, wie unerschöpflich die Schönheit der Erde doch sei, und daß ein Menschenleben, ein Malerleben kaum hinreiche, um nur ein wenig an dem schäumenden Kelch zu nippen.
Unter der lachenden Sonne wanderte er dahin, trunken von Licht und Farben. Auf einmal wurden seine Augen groß wie im Schrecken. War es ein Traum, was da vor ihm auftauchte?
Er blieb still stehen und starrte. Ein Haus war da, ein weißes, niederes Haus mit großen, blanken Fenstern und blütenüberdeckter Terrasse. Und davor und ringsumher ganze Felder voll leuchtender Blumen, so weit das Auge reichte. Und da waren auch die seltsamen großen weißen Vögel, die 82 der Knabe einst geschaut und nicht recht erkannt hatte. Doch nein, es waren ja keine Vögel, es waren die Segel kleiner Boote, die auf den tiefen Kanälen zwischen dem blühenden Gelände hinzogen!
Hans-Albrecht stand wie festgebannt und konnte den Blick nicht wenden. In seinem Herzen rief es: »Mutter, sieh, hier ist es ja, das Haus, das ich damals sah und aus dem du mir Glück und Reichtum prophezeitest!«
In tiefer Ergriffenheit setzte er nach langem Zögern seinen Weg fort. Was war es, was er da erlebt hatte? Ein Zufall, ein Gaukelspiel der Sinne, eine Einbildung? Er mußte lächeln. Wie tot und leer wird doch, was man in Worte und Begriffe faßt oder fassen will! Mutter, du und ich, wir wissen besser, was von der Sache zu halten ist!
Das Haus unter der Blütenlast ist wenige Jahre später Hans-Albrechts Eigentum geworden. Seine schönsten Bilder hat er dort gemalt. Geld und Ehren strömten ihm zu in reicher Fülle. Aber ein tieferes Glück schöpfte er aus dem starken Gefühl, daß eine gütige Hand sein Leben gelenkt und geformt habe und ihn weiter führen werde auf der Erdenwanderschaft.
Eine blonde junge Frau und blühende Kinder schauten später von der Terrasse auf die Blumenfelder, und eine kleine Greisin im Witwenkleid trug das jüngste auf den Armen. Welk und faltig war ihr Gesicht, aber hell ihre Auge, wenn sie auf das Kind ihres Erstgeborenen herniedersah. 83