Auguste Supper
Muscheln
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Der Fremde

Trotz ihres klangvollen, schönen Namens ist die Brigittenau eines der häßlichsten Viertel der Stadt.

Vielleicht hat sich in den fernen Zeiten, als noch nicht jede menschliche Siedelung von einem Fabrikschlot überqualmt war, tatsächlich eine Aue dort ausgebreitet, wo jetzt die schwarzen häßlichen Häuser, die düsteren Straßen, die sonnenlosen Höfe, die lärmerfüllten Fabriken zu sehen sind.

Vielleicht zog das Flüßlein, das jetzt in die steinernen Ränder eines schmutzigen Kanals gezwängt ist, einstmals frei und froh zwischen blumigen Wiesen dahin, wurde zu keiner Arbeit gezwungen und trug, statt der dunklen, öligen Schichten der Abwässer, das lachende Spiegelbild der Sonne auf seinen fröhlichen Wellen.

Jetzt sieht man dem lautlos strömenden Wasser nichts mehr von Fröhlichkeit an. Kein Wellengemurmel, kein frohes Glucksen, kein leises, zufriedenes Plätschern und Raunen ist zu hören. Nur manchmal in Sturmnächten, etwa wenn im Frühling draußen im Land der Schnee allzu rasch schmilzt, oder im Herbst, wenn die schweren Regenschauer herunterströmen, dann bekommt auch das müde Wasser im Kanal Stimme. Aber es ist eine Stimme, vor 19 der man erschrickt. Ein unheimliches Brausen, Rauschen, Dröhnen, das sich dem nächtlichen Sturm gesellt in wilder, drohender Bruderschaft, als hätten diese zwei sich verschworen gegen das Menschenvolk und sein Werk.

Die Leute, die in der Brigittenau wohnen und arbeiten, horchen nicht viel nach den Stimmen von Wind und Wasser. Sie gehören meist zum Stamm jener Unglückseligen, die es fast oder ganz vergessen haben, daß sie Kinder der Erde und Schwestern und Brüder aller Kreatur sind. Wurzellos, von allen Quellen wahrer Kraft und echter Freude losgetrennt, herausgerissen aus dem Boden, auf dem schönes Menschentum gedeihen kann, führen sie ein Leben, so verrußt und verqualmt wie die armen Lungen in ihrer Brust.

Ihre Sonntage sind ohne Sonne und ihre Werktage ohne Werk; denn was sie tun, sind nur Handgriffe, davon sie das Ziel nicht sehen und nicht kennen, wie es zu einem rechten Werk gehört.

Was Wunder, daß in ihnen der unsichtbare Teil ihres Wesens, der ohne eine Sonne und ohne ein rechtes Werk nicht leben kann, vor Hunger und Pein sich oft wie toll gebärdet! Daß er verkümmert oder verludert, verhärtet oder verschrumpft und unendliche Qualen leidet, weil er nicht leben darf und doch auch nicht sterben kann.

Diese Leute mit den mißhandelten Seelen sind dann einer des anderen Feind. Sie sind Feind allem, was es besser 20 hat als sie, Feind allem Gesunden, Aufblühenden, Wachsenden.

Und dabei haben sie doch keine größere Sehnsucht als zu lieben, zu blühen, zu wachsen, gesund zu sein!

Wie die einst lachende Brigittenau noch ihren schönen Namen trägt und doch längst keine Aue mehr ist, so heißen sie noch Menschen und sind doch längst Maschinen geworden und Teile von Maschinen. –

Durch die dunkle, sonnenlose Gasse am Kanal entlang schritt einmal an einem Vormittag ein fremder Mann. Er war von ziemlich hoher Gestalt, aber etwas schmächtig, als sei seine Gesundheit nicht die allerfesteste. Seine Kleidung war sauber und gut; nur hatte sie einen eigentümlich altväterischen Anstrich, etwa so, als hätte sie schon sein Vater und Großvater vielleicht an Sonntagen getragen und sorgfältig geschont. Auch der breitrandige Hut, der auf des Mannes ziemlich langen Locken saß und dessen Krempe das blasse Gesicht überschattete, war nicht modisch in der Form; aber man hätte ihn doch gar nicht anders haben mögen. Das war überhaupt etwas Merkwürdiges an dieser ganzen Erscheinung: Sie fiel einem auf wie etwas Ungebräuchliches, und doch meinte man, es müsse alles an dem Manne so sein, wie es war.

Es war am Anfang der Woche, und in all den Fabriken und Höfen pulste mächtiges Leben und Treiben, während die Gasse selbst zu dieser Stunde nicht sehr belebt war. Ein 21 paar Kinder trieben sich da herum und ein kleiner Hund, der die Räude hatte und sich an den Eisenpfeilern des Kanalgeländers rieb und scheuerte.

Die Kinder spielten in dem kohlschwarzen Staub der Gasse mit Gluckern, die sie schreiend in aufgezeichnete Kreise warfen. Manchmal fielen sie wütend, hauend, heulend übereinander her, daß der Rußstaub um sie wirbelte; dann lachten sie wieder, spuckten sich an, zeigten sich die Zungen und spielten weiter.

Der Mann blieb bei der Kindergruppe stehen. Man sah jetzt, wie leuchtend und freundlich seine klaren Augen waren. Er verfolgte den Gang des Spiels, suchte seinen Sinn herauszufinden und fragte endlich, als er von selbst nicht darauf kommen konnte, nach den Spielregeln.

Erstaunt, fast feindselig schauten ihn die Gestörten an. Ein kleines hübsches Mädchen, das die Händlein voll Glucker hatte, warf sie mit hellem Lachen nach ihm, so daß sie an seinem Rock herniederrollten und staubige Spuren ließen.

»Ei, sieh,« sagte freundlich der Mann, »du willst mir wohl alle schenken? Wie heißt du denn?«

Wie auf ein geheimes Kommando stob da der Kinderschwarm davon, um ein paar Meter weiter oben in der Gasse haltzumachen und nach dem Fremden zu starren.

Er bückte sich nach den kleinen bunten Steinkügelchen, die da und dort aus dem Staub leuchteten, da brüllte die 22 Schar durcheinander: »Liegen lassen! Uns gehören sie! Der stiehlt!«

Der Fremdling richtete sich auf und bot auf seiner offenen flachen Hand die Glucker den Kindern hin, wie Futter scheuen Vögeln. Aber sie kamen nicht heran, sie lärmten nur, lachten, spuckten, balgten sich und drehten dem Manne lange Nasen.

Da ging es über die Klarheit in seinen Augen wie Wolkenschatten. Er ließ die Steinchen fallen, säuberte sich den Rock und schritt weiter.

Der kleine kranke Hund am Kanalgeländer kläffte jetzt nach ihm. Es war ein heiseres, stoßweises Kläffen, bei dem die spitzen weißen Zähne drohend aus dem schwarzen Kopfe blinkten. Der Mann ging leise lockend auf das Tier zu; aber es wich ihm aus, machte drohende Augen, knurrte und fletschte die Zähne. Aber als der Fremde seinen Weg die Gasse entlang weiterschritt, folgte ihm das Hündlein von ferne. Es tat langsam, wo er langsam tat, blieb stehen, wo er stehenblieb, und gebärdete sich, indes es ihn nicht aus den Augen ließ, als sähe es ihn gar nicht.

In den Fabriken ringsum erklang jetzt das Schrillen und Heulen der Sirenen. Es war Frühstückspause, und man sah dunkle Menschenmassen aus Höfen und Toren drängen und sich auf der Gasse verteilen und verlieren.

Der Fremdling schaute sich um, wie aus einem Traum aufgeschreckt. Seine Augen folgten den Menschen mit einem 23 merkwürdigen, fast hungrigen Blick. Es rief, es bat etwas aus diesen Augen. So, als bettle ein Einsamer: Kommt doch zu mir, ihr dort, oder laßt mich zu euch kommen; ich möchte so gerne euer Freund, euer Bruder sein!

Aber niemand achtete auf den Blick der bittenden Augen, niemand sah den fremden Mann an. Nur ein paar Burschen und Mädchen, die ganz dicht an ihm vorüberstreiften, sagten laut und mit bösem Ton: »Was tut der Faulenzer da in der Gasse? Das ist auch einer, für den unsereins schuften muß.«

Ein bleiches, unschönes, offenbar krankes Mädchen mit hinkendem Gang hob im Vorübergehen den Blick zu dem Fremdling und sah ihm frech ins Gesicht. Und plötzlich senkte sie die Augen, stieß ein häßliches Schimpfwort aus, schaute sich scheu um, ob niemand auf sie achte, und ging dann von ferne hinter dem Manne her, genau wie der räudige Hund, der, ohne daß sie darauf acht hatte, mit ihr Schritt hielt.

Jetzt kam der Fremde an einer Tür vorüber, durch die viele der Leute strömten. Er sah an dem dunkelverrußten Haus hinauf, was da drinnen wohl sein könne. Mit kaum mehr sichtbaren Buchstaben stand geschrieben: »Gasthaus zur Sonne«.

Einen Augenblick blieb er unschlüssig stehen: »Zur Sonne,« murmelte er vor sich hin, »zur Sonne –.«

Dann ließ er sich von dem Strom der Hineingehenden 24 mittragen und sah, daß da drinnen in dem dunklen Hausflur zur ebenen Erde eine Schenke war, ein schmieriges Schiebefenster nur, über dem auf einem Schild zu lesen stand: Fabrikskantine. Dorthin drängten sich die Scharen und ließen sich Getränke und dampfende Speisen reichen, die einen scharfen, aber lockenden Geruch ausströmten.

Laut, streitend ging es zu vor dem Schiebefenster. Jeder schrie um seine Portion, und jeder fürchtete, der Vorrat des offenbar beliebten Gerichts möchte zu Ende gehen, eher er sein Teil bekommen hätte. Eine halb lachende, halb scheltende Weiberstimme hinter dem Fenster schrie unverständliche Worte dazwischen.

Eingekeilt zwischen die hungrigen, drängenden Menschen wurde der Fremdling vorgeschoben gegen das Fenster. Er sah nicht, wie böse Blicke sich auf ihn richteten, er hörte nicht, daß böse Worte ihn hinwegwünschten, weil er da nichts zu suchen habe.

Er spürte plötzlich, daß er den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte, und freute sich, vielleicht da vorne ein wenig Speise bekommen zu können. Schon wollte er, am Fenster angelangt, sich eine Portion erbitten, da schrie es um ihn und hinter ihm: »Erst kommen wir! Der hat nichts da zu suchen! Der soll warten, was übrigbleibt!«

Erschrocken kehrte sich der fremde Mann ab. Wie Leid und Trauer zog es über sein Gesicht. Da reichte das lärmende Weib hinter dem Fenster ihm ein Brot und sagte 25 mit Lachen: »Da, der Mensch lebt auch vom Brot allein, wenn es nicht anders sein kann.«

Der Fremdling schaute sie an und nahm das Brot aus ihrer Hand, eine Münze dafür hinreichend. Da ließ sie plötzlich das Geld fallen, als sei es glühend, und stieß einen Fluch aus.

Fortgeschoben von den Nachdrängenden stand der fremde Mann jetzt wieder auf der Gasse und sah sich um, als müsse er Weg und Richtung suchen. Der räudige Hund und das häßliche Mädchen trotteten eben an ihm vorüber in ein Gäßchen hinein, das eigentlich nur noch ein Winkel zu nennen war. Wie in tiefen Gedanken verloren, kam er hinter ihnen her und schien sie nicht zu sehen.

Der Winkel lief zwischen Häusern hin, in die nie ein Strahl der Sonne, nie ein Hauch reiner und gesunder Luft dringen konnte. Schmutzige, zerrissene Wäsche hing aus den Fenstern; hinter offenen Türen zur ebenen Erde sah man in elenden Stuben zerlumpte Weiber, die da irgendeinen Kram, irgendeine Hantierung betrieben, um ihr Leben zu fristen.

In einer dieser Stuben, ganz nahe der Türe, sah der Fremde ein Vogelbauer hängen. Es hing da an der schmutzigen Wand, ein Gefängnis im Gefängnis, und kein Laut, kein Lebenszeichen drang daraus hervor.

Er trat hinzu und schaute hinein und sah ein Vöglein am Boden sitzen, einen Finken, der seine Federn sträubte, als 26 friere er, dem Sommer zum Trotz. Da schob der Mann das Türchen am Käfig in die Höhe, nahm das Vöglein auf seine Hand und ließ es frei. Es schwang sich in die Luft und zirpte leise einen Abschiedsgruß.

Jetzt stürzte ein Weib auf den Fremdling los. Wutverzerrt war ihr Gesicht, ihre Hände zu Fäusten geballt. »Da hört doch alles auf: Am hellen Tag mir meinen Vogel stehlen! Die Polizei rufe ich. Festnehmen laß ich dich, du Lump, du frecher!« Sie tobte fort, und die häßlichen Worte überstürzten sich in ihrem Mund.

Der Mann wandte den Blick, der seither ruhig dem Vöglein gefolgt war, und sah die Scheltende an.

Sie verstummte jäh und ließ die Fäuste sinken; nur noch ein zerdrückter Fluch erstarb in ihrem Mund.

Schweigend ging der Mann. Draußen nahm er seinen Hut ab und trocknete sich die Stirn, die ihm feucht geworden war. Sein Tuch entglitt ihm, und ein Kind, das vorüberging, nahm es auf und lief davon, den Bestohlenen höhnend.

Da fuhr der räudige Hund dem Kind an die Beine, daß es gellend aufschrie und der Mann zu Hilfe kommen mußte. Aber sein Tuch nahm er nicht zurück.

Im Weiterschreiten zog er das gekaufte Brot aus der Tasche und fing zu essen an. Eine Katze lief aus einer Tür, der warf er ein Bröckchen zu. Da schrie eine keifende Stimme: »Laß es liegen, Mieze, man weiß nicht, ob so einer nicht Katzen vergiften will und das Fell abziehen.« 27

Da trat das häßliche Mädchen, das sich seither immer an den Häusern entlang gedrückt hatte, mitten in den Weg und schrie gegen die Keifende: »Du meinst, weil du schlecht bist, sei er es auch. Nicht den Schuhriemen – –« ihr Schreien brach jäh ab, denn der schreitende Fremdling hatte einen Blick zurückgeworfen.

Der Winkel wurde jetzt immer enger und düsterer. Plötzlich mündete er hinaus auf den Kanal. Der Mann stand still vor dem dunklen, schweren Wasser. Er sah den irisierenden Farben zu, die in öligen Ringen und Schleifen talab zogen. Eng und tief war hier der Kanal, und hohe Fabrikgebäude mit vielen, meist offenen Fenstern traten überall ganz nahe an ihn heran.

Der Fremdling lehnte sich an das Geländer, an dessen unterer Stange sich der räudige Hund scheuerte, und er warf einem einsamen Entlein, das wie weltverloren über das häßliche Wasser geschwommen kam, zerkrümeltes Brot zu. Darüber merkte er nicht, daß von hinten her ein paar lachende Burschen mit einer dünnen Eisenstange aus einem offenen Fenster nach seinem großen Hute zielten.

Auch das hinkende Mädchen schaute, ein Stück von dem Fremden entfernt, über die dunklen Fluten hin, und ihr bleiches Gesicht hatte einen müden, fast verzerrten Ausdruck.

Plötzlich flog des Mannes Hut ins Wasser.

Ein vielstimmiges wieherndes Lachen erschallte aus vielen Fenstern, an denen wie auf Kommando Köpfe auftauchten. 28 Und dieses Lachen schwoll noch an, als der kleine Hund mit einem mächtigen Satz dem Hute nachsprang und ihn schwimmend gegen die Ufermauer brachte.

Aber die Mauer war hoch und ganz glatt, so daß das Tierlein sein Rettungswerk nicht allein vollenden konnte.

Da warf sich das Mädchen, schneller als man es ihrer halben Lahmheit zutrauen konnte, auf den Boden, kroch unter dem Geländer durch und streckte die Arme dem Hund entgegen. Aber die Plumpheit ihres kranken Körpers machte sie wohl unbeholfen und ungeschickt. Mit einem Schrei stürzte sie kopfüber ins Wasser.

Unter dem wilden Lärm, der jetzt plötzlich aus den offenen Fenstern brandete, stand der Fremde hochaufgerichtet und still. Seine Augen gingen in weite Ferne, seine Lippen formten Worte, die kein Menschenohr vernahm. Dann zog er mit einer gelassenen Gebärde den altväterischen Rock aus und legte ihn über das Geländer. Durch die Eisenstangen schlüpfte er und stand auf dem steinernen Rand über dem dunklen Wasser.

Jetzt hatte er die Hände hoch über dem Kopf – es sah aus, wie wenn einer in inbrünstigem Gebet die Erde vergäße und nach dem Himmel griffe – und stürzte sich in die schwärzliche Schmutzflut.

Mädchen und Hund brachte er schwimmend ans Ufer. Dann – hatte er einen Schrei ausgestoßen? Niemand wußte, niemand bestritt es nachher. Die Sirenen der 29 Fabriken ringsum heulten in diesem Augenblick auf, am Kanal begann es von Menschen zu wimmeln.

Lang hingestreckt auf die Ufermauer lag besinnungslos das bleiche Mädchen und stieß mit geschlossenen Augen furchtbare Schreie aus. Neben ihr heulte der kleine Hund in kläglichen Jammertönen.

Die Menschen sahen sich an, und es stand wie Irrsinn in ihrem Blick. Die wenigsten wußten, was geschehen war. Aber allen ging ein eisiges Frieren durchs Herz.

Ein Nachen trieb daher auf dem Wasser. Sie suchten den Fremden mit Stangen. Manche brüllten, er sei weiter unten auf die Steine gestiegen. Andere schrien, oben, hinter der Brücke sei er heraus. Dritte wollten sein bleiches Gesicht in dem schwarzen Wasser gesehen haben.

Jeder erzählte, schrie, brüllte seine eigene Geschichte und horchte nicht auf die anderen. Dazwischen gellten entsetzlich die Schreie der Besinnungslosen und die langgezogenen Jammertöne des Hundes.

Die im Nachen zogen die Stangen ein. Nur stinkenden Schlamm rührten sie auf, und wenn er da drunten lag, war ihm nicht zu helfen. Zuletzt trug man das Mädchen auf einer Bahre fort. Winselnd verkroch sich der Hund in einen Winkel.

Des Fremden Rock am Eisengeländer nahmen heimlich die Burschen an sich, die ihm den Hut ins Wasser gestoßen hatten. Sie warfen das Los darüber, wes er sein sollte. 30

Nach Tagen oder Wochen – niemand maß und zählte die öde Zeit – tauchte das kranke Mädchen wieder am Kanal auf.

Sie war gesund. Sie hinkte nicht mehr. Der Schrecken oder die Verrenkung bei ihrem Sturz ins Wasser hatte ihr offenbar die Lähmung im Bein behoben. Und ihr Gesicht, das so schmierig und von Lastern entstellt gewesen war, trug jetzt zarte Farben, wie von einem neuen Leben, und die Züge derer, die viel Leid, viel Reue, viel Liebe und Vergebung auf ihrem Weg gefunden haben.

Nur ihr Geist – so hieß es – war seit dem Sturz verwirrt.

Aber was schadete das! Sie konnte trotzdem in dem Saal voll Lärm und Gestank neben den Anderen Spulen aufstecken und wieder abnehmen. Daß sie in einem Wahn dahinlebte, das gab höchstens Kurzweil.

Sie bestand darauf, der Fremdling sei der Heiland gewesen.

In allen Gassen und Winkeln, wo man es hören wollte und nicht hören wollte, erzählte sie das.

Den spielenden Kindern sagte sie es. Die warfen ihre Glucker weg und liefen davon, schreiend vor Angst, und blieben von ferne stehen, um es nochmals zu hören. Dem Weib am Schiebefenster der Kantine trug sie es vor. Die lachte auf; aber ehe der Ton verklang, hatte sie sich mit dem Messer, womit sie hantierte, tief ins Fleisch geschnitten und wankte todesbleich aus dem Raum. 31

In die Stube, wo der leere Vogelkäfig an der schmutzigen Wand hing, trat das Mädchen.

»Was willst du, Marlene?« rief ihr mürrisch das Weib entgegen.

»Ich will dir sagen, daß es der Heiland war, der damals deinen Finken freigelassen hat.«

»Warum nicht gar!« schrie das Weib und wollte lachen. Aber von dem dunklen, sonnenlosen Winkel herein erklang ein Laut wie eines Vögleins fernes, leises Singen. Da legte sie den zerzausten Kopf auf den Tisch und weinte.

Marlene schritt weiter zu der Frau mit der Katze.

»Du, jetzt kann ich dir sagen, wer damals deine Katze füttern wollte. Du hast ihn grob angefahren, und es war doch der Herr Jesus.«

»Und du bist eine Närrin,« schrie das Weib; aber das letzte Wort blieb ihr fast im Halse stecken, denn urplötzlich fiel ihr etwas wieder ein, über das sie seither weggedacht hatte, als sei es nichts und bleibe nichts, wenn man nicht daran rühre.

Als jener fremde Mann, dessen sie sich so deutlich entsann, als sei er eben erst vorübergegangen, auf der Gasse seinen Hut abnahm, um sich die Stirne zu trocknen, da hatte sie zufällig durch ihre offene Türe geblickt. War es da nicht gewesen, als gehe ein goldener Schein wie ein Sonnenstrahl durch die dunkle Gasse? Ganz kurz war das; nur so lange, bis der Mann den großen Hut wieder über seine Haare 32 gestülpt hatte. Daß ihr dies jetzt wieder einfiel bei dem Geschwätz der blöden Marlene!

Einen kleinen Buben traf das Mädchen auf der Gasse.

»Hanfrieder, wo hast du das Tuch, das dem Heiland entfallen ist?«

Er sah sie an. Erst frech, dann scheu, dann voll Angst. »Ich habe es nicht mehr.«

»Du hast es, gib es mir.«

»Ich habe es nicht mehr,« beteuerte mit beginnendem Weinen der Junge.

Sie legte ihm die Hand auf den Kopf. »Gib es mir. Ich gebe dir all mein Geld. Der Herr Jesus hat sich damit die Stirn getrocknet.«

Mitten in den schwarzen Staub der engen Gasse setzte sich das Kind und schluchzte bitterlich. »Sie haben es der Mutter um den Kopf gebunden.«

»Wo ist die Mutter?«

Ein Weib ging vorüber. »Hanfrieders Mutter –, die ist doch letzte Woche gestorben.«

Verträumt schaute das Mädchen über die Sprechende hinweg. »So wird sie selig gestorben sein.«

Draußen am Kanal, an der Stelle des Unglücks, blieb Marlene stehen und blickte ins Wasser. Eine große Sehnsucht lag in ihren Augen, als schaue sie nicht auf schmutzige Wogen, sondern auf glitzernde Wellen, die im Sonnenglanz durch selige Gefilde strömen. 33

Ein kleiner schwarzer Hund kam herzu und winselte. Sie streichelte ihm das reine, glänzende Fell. »Du weißt es auch,« sagte sie leise, »du weißt es auch. Und alle, die es wissen, werden gesund.«

Scharenweise umstanden oft die Leute die arme Närrin. »Was die Gescheiten predigen, ist verlogen,« sagte ein freches Mädchen, »vielleicht ist wahr, was die Narren wissen.«

Eines sei gewiß, hieß es: daß das Öl und das scharfe Abwasser der Fabriken gegen die Räude der Hunde und gegen die Häßlichkeit der Mädchen gut sei. Denn des Sonnenwirts schwarzer Kläffer sei kuriert, und Marlene fange an, schön zu werden.

Ein Gelächter lief ringsum. »Wollen wir alle baden gehen in den Kanal?« Die Mädchen schüttelten sich: »Nicht, solang man nicht weiß, ob er noch drin ist.«

Aber dieser Er war nicht mehr drin.

Man ließ, als die Arbeit in den Fabriken nicht mehr so drängte, den Kanal ab. Er mußte ohnedies ausgeschlammt werden.

Nichts fand man als Gerümpel und des Fremden großen Hut. Sie schenkten ihn der blöden Marlene, die zitternd danebenstand. Sie trug ihn heim.

Am anderen Tag war ihre kleine, ärmliche Kammer leer.

Niemand wußte, wohin sie gewandert war, niemand 34 suchte sie. Eine andere steckte an ihrem Platz die Spulen auf und nahm sie ab. Sie ließ keine Lücke in der Brigittenau. Nur manchmal gingen ihre seltsamen Reden durch einen Kopf, durch ein Herz.

Dann sah irgendein rußiger dumpfer Mensch in der Ferne den Fremden vorüberschreiten. 35

 


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