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Die Mine war jene Weißhaarige, hinter der ich, der Pfarrwilhelmle, und mein Freund, des Bäckenfritzen Ludwig, der Luile, herzuschreien pflegten: »Bleibende Statt, bleibende Statt.«
Die Alte schaute sich dann langsam um und zeigte ein runzeliges Gesicht mit roten Bäckchen, das in seiner welken Rosigkeit aussah wie ein schöngefärbter Winterapfel im Mai, wenn er über die Zeit gelegen ist.
Hellblaue Augen blickten voll Freundlichkeit aus dem Altweibergesicht, und ein stilles Lächeln lief darüber hin, von dem ich erst viel später merkte, zu welcher Sorte es gehörte. Als Bub habe ich, wie meine Kameraden, dieses Lächeln immer in ein ganz verkehrtes Fach geschoben.
Ich mußte jeden Abend knapp vor dem Betglockläuten mit einer blechernen Kanne hinten um den 234 Kirchhof herum und mußte Milch holen bei der alten Mine, die etwas abseits von unserem Dorf einschichtig wohnte und eine ebenso einschichtige Kuh im kleinen Stall hatte. Meine Mutter pflegte zu sagen: »Der Mine ihre Milch ist die beste im Dorf, weil sie aus dem friedlichsten Stall kommt.«
Der Vater zog stärker an seiner Pfeife und warf mit Stirnrunzeln hin: »Drücke dich richtiger aus, Luise! Sage: Der Mine ihre Kuhmilch, oder: Die Milch von der Mine ihrer Kuh –«
Meine Mutter lachte dann (sie hatte eine etwas leichtfertige Art zu lachen) und sagte: »Gott, ja! Kuhmilch, Geißmilch – ich meine halt der Mine ihre Milch –«
Darauf verwies es ihr der Vater, den Namen Gottes ins Gespräch zu ziehen, worauf sie alsbald einen roten Kopf bekam. Aber nicht aus Beschämung, denn sie hatte in dieser Hinsicht eine ganz respektable Hornhaut, sondern einfach aus Zorn, der ihr ungemein leicht auflohte.
Sie sagte dann oft ganz kräftige Sachen, die mir einst äußerst treffend vorkamen, von denen aber mein Vater meinte: »Luise, Luise, – vor dem Buben –« 235
Dann nahm sie mich an der Hand, schob mich vor die Tür und sagte: »Hinaus, Wilhelmle! Horch lieber von außen.«
Und ich habe sehr oft von außen gehorcht und habe meine Freude gehabt an den Ansichten meiner Mutter.
Aber sie ist jetzt auch tot. Acht Tage nach meinem Vater ist sie gestorben. Man weiß nicht an was. Unser alter Doktor sagte an Herzkrämpfen. Aber von unserem alten Doktor behauptete meine Mutter bei Lebzeiten, er sei ein alter Esel, der den Typhus mit dem Wochentölpel verwechsle. Schließlich ist's ja auch ganz einerlei, an was einem die Mutter gestorben ist. Sie ist eben nicht mehr da, und die Welt – na also –.
Zu mir hat sie gesagt, ehe sie ging: »Wilhelmle,« sagte sie, »wenn ich mich verteilen könnte, dann täte nur die eine Hälfte zum Vater hinüber gehen, und die andere Hälfte täte bei dir bleiben. Aber ich kann's nicht, in Gottes Namen. Da gehe ich halt ganz zum Vater. Der braucht mich noch nötiger als du. Du weißt ja, was für ein Mensch er gewesen ist. Hast ihn ja gekannt – Gott verzeih mir's –« 236
Und sie schloß ihre Augen und tat sie nicht mehr auf zu diesem irdischen Licht, und ich konnte ihr nicht sagen, was früher der Vater so oft gesagt hat: sie solle den Namen Gottes nicht ins Gespräch ziehen.
Da hat denn auch nicht sie, sondern ich den roten Kopf bekommen an jenem Tag. Einen roten Kopf, als wolle mir alles Blut zu den Augen hinaus, hinter den paar armen Tränen her, die auf meiner Mutter stilles Gesicht fielen. –
Aber ich hab' ja vom Milchholen reden wollen.
Also ich kam dann mit meiner blechernen Kanne in das einschichtige Häuschen zu der einschichtigen Mine mit ihrer einschichtigen Kuh.
Meistens war das Weib schon im Stall, saß auf dem Melkschemel und sprach mit dem Vieh, das den Kopf mit den großen Augen nach ihr umgewendet hatte. Ich blieb dann unter der Türe stehen, lehnte mich an den Pfosten, an dem das alte Hufeisen festgenagelt war, und grinste so dumm, wie Buben grinsen, die aussehen wollen, als ob sie sich über etwas lustig machen, während ihnen inwendig ein scheues Staunen, fast ein Grauen an die junge Seele klopft. 237
Die Mine sprach in einer Mundart, die sich nicht schreiben läßt, weil sie fort und fort über die Stränge schlägt und wild abirrt von den Pfaden, die die Feder gehen kann. Alte Geschichten erzählte sie der Kuh, in denen viel von Hexen vorkam, die am Mittwoch nacht die Kühe reiten, sofern diese nicht geschützt sind durch mächtige Bannsprüche. »Gott der Vater oben, Gott der Sohn unten, Gott der Heilige Geist in der Mitte. Wer stärker ist als diese drei, der komme und greife an!« Langsam und in reinem Deutsch sprach die Mine die beschwörenden Worte.
Die Kuh stieß ein kurzes Brüllen aus, und das Weiße ihrer großen Augen wurde für einen Augenblick sichtbar.
Ich wollte einen Einwurf machen. Einen von der Art, wie sie der Vater zu machen pflegte. Die Mine solle nicht den Namen Gottes ins Gespräch ziehen oder ähnliches. Aber ich verpaßte die Zeit, weil ich erst die innerliche Gänsehaut wieder glatt werden lassen mußte.
So brachte ich es auch nicht weiter als die Kuh, nämlich zu einem kurzen Brüllen und einem Augenrollen. 238
Die Mine ließ sich dadurch nicht stören. Solange ihre Hände an den Strichen des Euters waren, und der weiße Strahl in den Melkeimer zischte, sprach sie eintönig fort, von allem, was sie für gut und recht hielt.
Wer es so weit brächte, daß er seelenruhig jeden Buben und jede Kuh brüllen und die Augen verdrehen ließe, solange er nur selbst am rechten Ende zieht!
Waren die Striche leer, dann stellte die Mine den Eimer weg, schob den Schemel im knisternden Stroh zurück und murmelte ächzend im Aufstehen: »Wir haben hier keine bleibende Statt.«
So oft das Wort mir vor die Seele tritt, denke ich seitdem dabei an einen dumpfigen und halbdunkeln Kuhstall, aus dem es hinausgeht unter den Abendhimmel, an dem der erste Stern aus seliger Ferne leuchtet als ein Herold seiner goldenen Brüderschar.
Die drückende Unheimlichkeit, die für mich um die Melkprozedur und ihre Zaubersprüchlein lag, verflog. Ich vermochte dumm und bubenmäßig aufzulachen und meine Blechkanne im Henkel zu schwingen, daß sie knarrte. Dann wandte mir die Mine das freundliche Apfelgesichtlein zu und forderte mich auf: »Wilhelmle, fing' ebbes!« 239
Das Singen war mein Erbteil von der Mutter her. Schön konnten wir's nicht; aber kräftig. Und uns hat es jederzeit gefallen. Wenn ich zurückdenke, wie ich mit meiner Mutter im Pfarrgarten ganz hinten bei dem großen Nußbaum zu singen pflegte: »Zu Straßburg auf der langen Brück'«, dann rieselt mir etwas über den Rücken, und ich möchte meine Hände ausstrecken wie ein Blinder, der ertasten muß, was er nicht mehr sehen kann.
Oder wenn wir Sonntags nebeneinander im Pfarrstuhl in der Kirche sangen! –
»Wilhelmle,« sagte die Mutter vorher, »heut aber fest.«
Und dann sangen wir, daß uns die Gesichter blau wurden.
Die Gemeinde hing wie ein Bleiklotz hinten an unserem Singen, und wir zogen gleich dem Petrus, da ihm der liebe Herr das Netz gefüllt hatte, dazumal.
Nach dem zweiten Vers pflegte die Mutter zu sagen: »Wilhelmle, noch fester.« Aber nach dem dritten Vers konnte sie gewöhnlich nicht mehr, weil ihr der Hals brannte. Dann tat ich allein meine Pflicht und Schuldigkeit. Und oft, wenn ich so recht im Zug war, ist mir's gegangen wie einem Wagen, 240 an dem die Bremse zu spät gezogen wird: ich fuhr zu weit vor und stand dann einsam weit vor der Front mit meinem hellen Sang.
Dann schaute die Gemeinde zu uns her, und die Wohlgesinnten sagten: »Ja, ja, des Pfarrers Wilhelmle.«
Die Übelgesinnten aber raunten: »Ja, ja, des Pfarrers Wilhelmle.«
Und so ist es gekommen, daß ich sehr früh merkte, daß die, die gleich reden, deshalb noch nicht gleich gesinnt zu sein brauchen.
Mein Vater hat von meinem Singen und von dem der Mutter nicht absonderlich viel gehalten.
Er pflegte zu sagen, die Quantität schlage zu stark vor. Er war sehr musikalisch und hatte ein Cello in seiner Studierstube stehen, einen großen, braunen Kasten, der einst eine Masse Gulden gekostet haben sollte und über den jetzt die Mutter manchmal die feuchten Nudelkuchen hängte, wenn sie in der Küche ausgewellt hatte und auf Vaters Ledersofa nicht Platz für alle war.
Die Mine schätzte meinen Gesang aufs höchste. Zwar durfte ich vor ihren Ohren nicht alles singen, was ich mit der Mutter sang; aber dafür konnte 241 sie von gewissen Liedern nicht genug kriegen. »Ich bete an die Macht der Liebe« gehörte zu dieser Sorte, und unter den weltlichen: »Auf dem Meer bin ich geboren, auf dem Meere ward ich groß.«
Das Weib legte ein weißes Seihtuch über einen weißen Kübel und filtrierte so die schäumende Milch. Ich aber sang dazu vom Meer, als von meiner ewigen Braut, bis mir die Stimme überschnappte, und die Kuh brüllend das Weiße ihrer Augen zeigte. Dann füllte mir die Mine meine Kanne, nahm mein Geld, band es in den Zipfel ihres roten Sacktuchs und fuhr sich mit dem Ärmel übers Gesicht.
»Vergelt's Gott, Wilhelmle,« sagte sie, »ka' sei', du kommst no' aufs Meer. Dir sieht's gleich. Du host so ebbes in de Auge und ums Maul 'rum. Denk an mi'. Des wär' net 's erst' Mol, daß i profezeit han und 's ist eintroffe. I sag' bloß: Wir haben hier keine bleibende Statt.«
In der Dämmerung ging ich mit meiner Kanne heim, hinten her um den Kirchhof, wo die Klettenbüsche im Lehmboden wachsen, deren klebrige Blüten man den Kühen in die Schwänze und den Mädchen in die Zöpfe warf. Auch der kleine Tümpel mit dem gelben Wasserrest ist dort, in dem, ob er gleich 242 nur eine Spanne hoch ist, einmal einer ersoffen sein soll; aus keinem andern Grund, als weil ihm der Teufel selbst immer wieder den Kopf niederdrückte, wenn er sich aufrichten wollte. Die Mine hat das mir und der Mutter erzählt, und die Mutter sagte darüber, so sei's keine Kunst. Wenig Menschen begegneten mir dort hinten. Und wenn je einer des Wegs kam, so fragte er im Vorübergehen: »Host Milch g'holt, Wilhelmle?« Ich aber, dem das gewaltige Singen im Kuhstall und das Prophezeien der Mine das Hirn durcheinander gebracht hatte, ich sagte dann wohl harmlos: »Nein, ich komm' g'rad' vom Meer. Mein Schiff liegt dort hinten.« Und ich zeigte irgendwohin an den Horizont, an dem des Tages letzte Helle schwand.
Da hieß es, des Pfarrers Wilhelmle sei ein Lügenbeutel, wie keiner mehr herumlaufe. Und doch hat von den Bauern keiner wissen können, was ich selbst heut noch nicht sicher weiß: ob nicht mein Schiff dort hinten liegt, irgendwo in einer fernen, stillen Bucht, und ob es nicht just jetzt Dampf macht und Segel setzt und mich zu holen kommt zur entscheidenden Fahrt.
Die Mutter ließ mich an jenen dämmerigen Abenden das Blaue vom Himmel herunter lügen ohne zu 243 zucken. Nur wenn ich Kittel und Hosen von oben bis unten mit Milch überschüttet hatte, dann kriegte sie mich für einen Augenblick an den Ohren.
Danach kam jenes verkehrte Jahr, da der April war wie ein strahlender Sommertag und der folgende Sommer wie ein einziger April.
Was Wunder, daß da auch der Menschen Tun und Denken ein verkehrtes war, und daß in meines Vaters Kopf der Plan wuchs, mich in eine Anstalt zu stecken, wo der Mensch drei, vier Sprachen lernt und darüber die Zeit nicht mehr findet, zu untersuchen, wie der liebe Herrgott spricht und seinen großen Haushalt führt, und ob man die Kuh mit dem Kopf oder mit dem Schwanz an die Krippe stellt.
Meine Mutter sah blaß aus, als ich ging. »Wilhelmle,« sagte sie, »versimpel' mir nicht, wenn du jetzt so gescheit werden mußt.«
Sie wollte noch weiter reden; aber der Vater mahnte: »Luise, Luise!«
Da schluckte sie ein paarmal und schaute ihn fast feindselig an mit großen, blanken Augen. Dann drehte sie sich um und nahm ein Büchlein von ihrem Nähtisch und steckte mir's in den Rucksack. 244
Ich fragte nicht, was es sei. Um Bücher lief ich mir damals noch lange nicht die Sohlen durch.
Auch als ich in der Stadt den Rucksack auspackte, schaute ich nicht mehr als den Titel an. Der lautete: »Aus dem Leben eines Taugenichts.« Erst ziemlich später hab' ich in dem Ding gelesen. Ziemlich später.
Auch von der Mine nahm ich Abschied, ehe ich in jenem verrückten Jahre aus dem Dorf ging.
Ich traf sie in ihrem Gärtchen, wo sie auf der schwarzen Erde kniete und spanische Wicken steckte. Jeden Kern sah sie an, ehe sie ihn versenkte, und mit jedem sprach sie ein paar Worte.
Sie richtete sich nicht auf, als ich zu ihr trat, nur ihr welkes Apfelgesichtlein schaute freundlich empor. »Guck, Wilhelmle,« sagte sie: »Jetzt steck i do e braun's Kernle in den schwarze Bode. Und nix dahinter und nix davor. Bloß e weng Sonn und e weng Rege. Und uf eimol kommet do grüne Blättle raus und no lange Ranke, die hebet sich an mein'm Gartezau', und krebslet uffe, älls uffe (klettern empor, immer empor). Und am e schöne Tag send Blümle do, nix denn Schöners. Jetzt, wenn des net e Hexerei ist, Wilhelmle, no weiß i net –« 245
Ich nickte nur. Sie sprach mir vollständig aus dem Herzen. Auch mir grinste damals aus jedem Grashalm am Weg eine lachende Hexerei entgegen. Und heute noch, da ich die Sache nach allen Seiten hin durchstudiert habe, steht jede Blüte, die sich zur Sonne reckt, vor mir wie ein Wunder, das die Seele erzittern läßt in dunkler Ahnung.
»Mine,« sagte ich, als sie sich wieder zu ihrer Arbeit wendete, »Mine, ich geh' jetzt fort und will dir adieu sagen.«
Da legte sie ihre Samentüte erschrocken weg. »Du, Wilhelmle? Jetzt scho'? I han g'meint, du lügst äls ebbes daher.«
Ich wunderte mich ihrer Rede nicht. Kein Mensch nahm mich ernsthaft damals, als mir alles, was ich sagte, sang, träumte und erzählte, aus der innersten Seele kam.
»Ja, Wilhelmle, wer soll denn mir jetzt singe?« fragte sie, indem sie schwerfällig von der Erde aufstand.
Ich wußte ihr keinen Rat. In mir stand die Überzeugung fest, daß mit meinem Weggang aus dem Dorf für dieses der große Zusammenbruch käme.
Stumm und trübselig standen wir am Gartenzaun beisammen. Dann sagte die Mine leise: »Komm, 246 Wilhelmle, komm in mei' Stub! I will dir ebbes schenke zum Andenke.«
Ich trabte hinter ihr her die dunkle Stiege empor in die Stube, in der es nach Anis roch, trotz der offenen Fenster, vor denen ein wilder Kirschbaum blühte. Das Weib schob mir einen Stuhl zu. »Sitz na'!« Dann ging sie nebenan in die Kammer.
Ich saß auf der Stuhlecke, hatte meine Kappe in den Händen und war begierig, was ich bekommen würde.
Als die Mine zurückkam, hielt sie etwas unter der Schürze und schaute mir scharf ins Gesicht.
»Büeble, du g'hörst's Pfarrers. Aber deswege bist no net über älle Berg. Horch, was i dir sag': bleibe fromm und halte dich recht, denn solchen wird es zuletzt wohlgehen!«
Ich schwenkte meine Kappe, dachte, daß das eine alte Geschichte sei, und schaute nach der Schürze, die das Geheimnis barg. Da zog sie eine kleine Schachtel aus Pappe hervor, die mit schwarzem Glanzpapier beklebt war. Sie stellte sie auf den Tisch und schlug sie auf, dicht vor meiner Nase, die sich nahe herzudrängte. 247
Weißgewesene, beschmutzte und altersgebräunte Papierröllchen standen darin in Reih und Glied, eins am andern.
Ich schaute stumm darauf nieder. Was ich vermutet hatte in der Schachtel, weiß ich nicht, aber ich weiß, daß ich bös enttäuscht war. »Wilhelmle,« sagte die Mine, »die Schachtel stellst nebe' dei' Bett, und äll Morge', wenn du betet host, eh du aufstehst, ziehst ei's vo' dene Zettele raus und merkst dir selle Tog, was drufstoht. – I sag' dir bloß: no kommt nix U'rechts an di'. –« Ein Schimmer von Interesse wachte in mir auf. Nicht die Verheißung, die daran geknüpft war, nur die gerollten Zettel selbst lockten mich.
Probeweis zog ich einen heraus und las ihn. Dicht über mich gebeugt, las von hinten her die Mine halblaut mit: »Machet Euch Freunde mit dem ungerechten Mammon!«
Ich legte das Blättchen weg und wollte nach einem andern greifen. »Halt,« sagte die Mine, »nie zwei an ei'm Tag, sonst battet's net – und des do ist e' guets –«
Sie nahm das Mammonsröllchen und las das seltsame Wort noch einmal laut und langsam. 248
»Büeble,«sagte sie, »verstohst, was des bedeutet?«
»Ja,« entgegnete sicher meines Vaters Sohn, »das bedeutet, man soll wohltun mit seinem Geld –«
Die Alte setzte sich auf den Stuhl neben mich und legte die Hände über den Tisch. Ein seltsamer, fast spöttischer Zug war in ihrem Gesicht, und die lichtblauen Augen glitzerten.
»Jo,« sagte sie, »jo. Aber jetzt horch: Mei' Mann selig hot kein Fehler g'hät, als daß er z' b'häb (genau, geizig) g'we ist. Jeden Kreuzer hot er mir abverlangt, und wenn i e halbe Mark für Milch ei'gnomme han, no' hot er e ganze von mir wölle. Kein Rock und kein Kittel han i mir kaufe dürfe, und kaum gnug z'esset hot er mir vergönnt. Johr und Tag hab i's so triebe mit Händel und Zorn und Herzweh. 's Schaffe hot me nemme g'freut und der Feiertag zweimol net. Ei'mol, wie er wieder tobt hot, weil i für en Gulde Garn kauft han zu Winterstrümpf, do ben i in mei Kammer nei und bin na'kniet und han g'schrie zu mei'm Herrgott, er soll dere Sach e End mache'. Und no han i mei Schächtele ufg'macht und han e Zettele zoge. Und was stoht druf: ›Machet Euch Freunde mit dem ungerechten Mammon!‹ Guck, Wilhelmle, do 249 hot mer's grad en Stich ge'. Mine, han i denkt, Mine, jetzt gibst ihm aber g'wiß ohne Händel und Streit jeden Kreuzer, wo du einnimmst. Und wenn du kein Strumpf meh' am Fuß und kein Kittel meh' am Leib host, no disputierst net um en neue. D'r Herrgott wird dir scho' für Strümpf und Kittel sorge, wenn nur du für de Friede' sorgst. So han i's g'macht, Wilhelmle. Jeden Kreuzer Milchgeld han i a'guckt und han denkt: Du bist ein ungerechter Mammon, mit dir kann i nix Bessers a'fange, als mein Mann zum Freund mache. E paar Jährle druf ist mei' Mann g'storbe. Denn wir haben hier keine bleibende Statt. Und er hot nix mit untern Bode g'nomme als sei Sterbkleid. 's ist e ganz billig's g'we'. 's Nagelschmieds Christiane hot's b'sorge müaße, so lang er no' g'lebt hot. – Guck, Wilhelmle, – des bedeutet der Spruch.« –
Sie zog die Hände an sich, blickte vor sich nieder und nickte mit dem Kopf. Mir war nicht recht klar, wie ich den Spruch auf meine Verhältnisse hätte anwenden können. Zwei Hosentaschen voll schöner Birnhutzeln wären mir überhaupt lieber gewesen als diese ganze Weisheit. Aber ich nahm doch die 250 Schachtel an mich, weil ich dachte, es sei besser als gar nichts.
Die Mine stand auf, legte ihr Kopftuch ab, spuckte in die Hände und strich sich die grauen Haare glatt.
Ich hatte sie noch nie ohne das Tuch gesehen, und sie kam mir fremd und sehr alt vor.
»Wilhelmle,« sagte sie feierlich: »Der Herr segne dich und behüte dich! Der Herr segne deinen Ausgang und Eingang in Ewigkeit, Amen!«
Ich schaute auf meine Kappe und auf die schwarze Schachtel und wußte nicht, sollte ich das Maul verziehen oder nicht. Wenn der Vater ähnliche Dinge sagte, kam mir's in der Ordnung vor, weil es zu seinem Beruf gehörte. Aber bei der Mine hatte die Sache einen Beigeschmack, der fast quälend auf mich wirkte, wie Salz auf den Blutegel, dem es das Innerste heraustreibt.
Auf der Gasse begegnete mir des Bäckenfritzen Ludwig, der Luile. »Wo kommst her?« fragte er.
Ich schnitt eine Fratze gegen das kleine Haus. »Von der bleibende Statt« –
»Spinnt se wieder?« grinste der Luile.
»Fest«, entgegnete ich und mußte hell hinauslachen. 251
* * *
Um es gleich zu sagen: im Gymnasium machte ich schlechte Geschäfte. Mein Vater sagte, das hätte er sich gedacht, und meine Mutter sagte, das hätte sie vorausgesehen. Ich selbst hatte es auch ziemlich deutlich geahnt, und ich begriff nur nicht, warum ich doch hatte hinein müssen.
Zu einem richtigen Schulelend ist's aber nicht gekommen. Dafür war mein Vater zu klug und gottvertrauend, meine Mutter zu frohherzig, und ich zu sorglos, was schließlich alles aufs gleiche herauskommt.
Ich schlug mich so durch mit Ach und Krach, war meistens der hintere Primus und konnte mich dabei nie genug wundern, wie viel ich mehr wußte als z. B. des Bäckenfritzen Luile, den ich pflichtschuldigst examinierte, wenn ich in den Ferien heimkam. Auf diese Weise war ich immer höchlich zufrieden mit dem Stand meiner Kenntnisse, und außer meinem Vater war niemand im Dorf, der nicht ebenso zufrieden damit gewesen wäre.
Aber zum Pfarrer habe ich's nicht gebracht, leider Gottes. Schade drum. Des Bäckenfritzen Luile sagte immer, nichts anderes müsse ich werden als ein Pfarrer, weil ich so stark sei im Kopf. Die Bäcker, 252 die müssen mehr stark sein in den Armen, wegen dem Teigschaffen. Er streifte dann den Kittelärmel zurück und ließ mich seine Arme sehen, denen ich nichts ähnliches an die Seite zu stellen hatte. Meine Mutter war im ganzen nicht übel zufrieden mit mir, wenn sie auch nicht mit der gleichen Bewunderung wie der Luile an mir emporsah. »Männle,« sagte sie, »dein Kopf wär' grade nicht dein schwächster Teil; aber dein Sitzfleisch! Du gibst nichts Gelehrtes, Alterle. Die Gelehrsamkeit steckt im Sitzfleisch.« Als ich ans Griechische kam, entbrannte in mir eine heftige Sehnsucht nach Griechenland, dieweil ich dort nicht hätte in der Schule sitzen und die Sprache Homers und aller Schulmeister studieren müssen.
Mein Vater schrieb mir, ich sei ein verächtlicher Mensch. Denn das Griechischlernen sei nicht etwa eine Sache, die hohe Begabung erfordere und deshalb nicht schlechtweg verlangt werden könne, sondern es sei eine Sache der Gewissenhaftigkeit und der Pünktlichkeit und des ehrlichen Fleißes. Griechischlernen sei keine Verstandes-, sondern eine Charakterprobe. Ich weiß noch, daß ich den Brief in meine Hosentasche steckte mit dem Gedanken, wenn mein Charakter durchaus erprobt werden solle, dann könnte 253 es auch mittels anderer Dinge als mit dem verwünschten Griechischen geschehen. Hatte mir nicht meine Mutter einmal einen ganzen Gugelhopf geschickt und hatte dazu geschrieben: »Alterle, wenn du ein anständiger Charakter bist, dann mampfst du nicht alles auf einmal und gibst deinem Zimmerkameraden auch davon.«
Und wurde mir's damals nicht schon nach der Hälfte übel? Und hätte ich nicht meinem Zimmergenossen etwas gegeben, wenn er nicht an dem Tag verreist gewesen wäre, weil sein jüngster Bruder getauft wurde, von wannen er dann massig Kuchen und Gugelhopf mitbrachte? –
Aus meiner Verbitterung heraus schrieb ich damals an die Mutter, ob denn der Vater glaube, daß ich so einer sei? Langsam schritt ich in der Wissenschaft dahin, wie ein Bauer über den lehmigen Acker, wenn es wochenlang geregnet hat.
Und an einem schönen Tag ließ ich die Stiefel stecken in der zähen Lettenschicht.
Ich rede jetzt nicht gerne darüber. Ich bin älter geworden seitdem, und meinem kühleren Blut fällt es schwer, sich noch einmal die Hitze von einst zu vergegenwärtigen. 254
Mutter, wieviel Tüchlein hast du naß geweint dazumal? Und du warst ja keine von denen, bei denen gleich alle Bächlein fließen. Kein voller Schwamm, aus dem es tropft, wenn man ihn anrührt. Aus der Tiefe heraus ist bei dir das salzige Wasser gekommen, und ich, dein einzig Kind, habe es angebohrt und habe mich nicht besonnen.
Mutter, laß dich's nicht reuen! Sieh, mich reut's im Grund genommen auch nicht mehr. Hättest du nicht um mich weinen und mir so viel vergeben müssen, vielleicht hätte ich auch nie das Vergeben gelernt und das Gelassensein und das Zuwarten, wie des lieben Herrgotts Pflanzen wachsen. Und was ist ein Mensch wert, der das nicht kann? Nicht einmal so viel als einer, der kein Griechisch gelernt hat.
Kurz und gut: ich bin Kellnerlehrling geworden in London. Später Kellner in Paris. Danach Manager im Grand Hotel in Luxor. Dann Direktor im »Imperial« in Tokio.
Ganz so schnell, wie ich es da schreibe, ist's nicht gegangen. Auch nicht ganz so glatt. Etliches Stolpern und Anstoßen, einige Fußtritte und Püffe, ein bißchen Hin und Her und Aus und Ab lief mit 255 unter. Griechisch und Hebräisch brauchte ich nicht zu meiner Laufbahn. Nicht einmal in Athen und Jerusalem, wo ich auch Gastrollen gab. Auch mein schlecht ausgebildetes Sitzfleisch störte mich nicht wesentlich. Aber das, glaube ich, ist mir zugute gekommen, daß meine Mutter auf ihre Weise meinen Charakter gestählt und geprüft hat, und daß mein Kopf dem des Bäckerluile einigermaßen über war.
Den Luile habe ich übrigens in Luxor als Hausknecht in meinem Hotel untergebracht. Er ist jetzt längst ein sehr wohlhabender Mann, der mit seinen gut ausgebildeten Armen die stärkste Kuponschere handhabt, als wäre sie ein Kinderspielzeug. Er lebt im Winter in Kairo, im Sommer in Deutschland, wo er Englisch spricht und für einen Lord gehalten wird. Meine Eltern haben es noch lange überlebt, daß ich zurückkam und mir den großen Garten kaufte hinter unserem Dorf, in dem der Zwiebelapfelbaum stand, den meine Mutter den Baum der Erkenntnis nannte, dieweil sie, als sie von seinen Früchten aß, zum erstenmal merkte, was ein guter Apfel sei.
Ich habe mir in jenem Garten ein Haus gebaut mit einem kleinen Turm, von dem aus man über unsere ganze Markung hinsieht. Im Anfang wollte 256 mir das ein bißchen wenig scheinen. Ich stand oft oben und meinte das Meer und der Fujiyama und die Pyramiden und die Kuppel von St. Peter und sonst noch einige Kleinigkeiten müßten und müßten auftauchen am Horizont. Aber nach und nach schrumpfte die Sehnsucht zusammen. Sie leckte nicht mehr mit züngelnden Flammen nach allen vier Winden.
In der stillen und unbewegten Luft des Älterwerdens brennt sie jetzt ruhig fort in einer Richtung und einer Flamme.
Aber von dem allem sollte gar nicht die Rede sein, sondern nur von der Mine, hinter der der Luile und ich herschrieen: »Bleibende Statt.«
Zwanzig Jahre vielleicht mochte es her sein, daß ich durchgebrannt war. Ich hatte längst meine Stelle drüben im Land der Blumen und der aufgehenden Sonne.
An einem Sonntagmorgen war's. Ich war zu kurzem Urlaub, den ich nötig hatte, draußen in Yoshiwara. Am Ufer des blauen Flüßleins, wo die breiten, flachen Boote angepflöckt waren, saß ich im Sand und hängte meine Füße ins Wasser.
Über die dunstige Ebene und die Dächer der niederen Häuser her grüßte der heilige Berg, dessen 257 weißer Gipfel in die wundervolle Klarheit des Morgenhimmels stieg. Ich weiß nicht, an was ich dachte.
Versunken saß ich und schaute zu dem fernen Berg hinüber, auf dessen schimmerndem Haupt der Fuß der Gottheit steht. Vielleicht schaute und dachte ich weiter hinauf, immer weiter. Vom Fuß bis zu der mächtigen Brust, an der wir alle liegen, und dann noch empor in das lichte Angesicht, das unser aller Nächte hell machen muß. Wie gesagt, ich weiß das nicht.
Ich weiß nur, daß hinter mir plötzlich eine Stimme sagte: »Wilhelmle, host denn's no?«
Ich schaute mich um, ganz scheu und ganz langsam. Nicht wie ein freudig Überraschter, sondern wie ein von Bangen Erfüllter.
Aber hinter mir war nichts als ein niederer Hang, an dem das Gras in kümmerlichen Büscheln stand; und über den, wie vom Wind hergeweht, dürres Reisstroh hingebreitet lag, in dem es knisterte, als trippelten Mäuse darüber. Da kam ein Gefühl unendlicher Einsamkeit über mich. Ich schloß die Augen wie ein übermüdeter Mann. Grenzenlos lag leeres Dunkel um mich her, in dem ich ohne Richtung hintrieb, wie eine tote Qualle im Ozean. 258
Und aus dieser furchtbaren, dunklen Öde heraus schaute plötzlich das Apfelgesichtlein der Mine. Ich sah die welken und doch so rosigen Wangen, die lichtblauen, freundlichen Augen, den Streifen weißen Haares unter dem Kopftuch. Und wieder tat sie den Mund auf, und in ihrer fast unschreibbaren Sprache fragte sie klingend in die schwarze Stille hinein: »Wilhelmle, host denn's no?«
Weiß der Geier, warum mir die Tränen aus den geschlossenen Lidern drangen. – Ich war ein halbkranker Mann damals. Ich legte mich zurück, langen Weges in den Sand, und die freundliche Sonne Japans leckte mir die Tropfen vom Gesicht.
Der heilige Fujiyama mit seinem leuchtenden Scheitel, die weite Ebene und das blaue Flüßchen rückten zur Seite wie Kulissen, die an Schnüren laufen. Ein Kirchturm war da und grüne Ackerbreiten und Apfelbäume mit tausend rosigen Blüten. Am Abend jenes Tages schrieb mir Mister Murata, mein japanischer Hotelsekretär, hundert Gäste des Mikado seien angemeldet für Donnerstag, sechs Köche seien durchgebrannt, und der Dampfer von Singapore habe eine dicke deutsche Post gebracht. 259
Da brach ich meinen Urlaub vor der Zeit ab. Ich weiß nicht mehr, wie ich die hundert Gäste unterbrachte und die sechs durchgebrannten Köche ersetzte; aber ich weiß noch, daß unter der dicken deutschen Post ein Brief von meiner Mutter war. Er liegt da vor mir. »Bei der Mine bin ich gestern gewesen,« heißt es darin; »sie wird anheben recht alt. Jedesmal fragt sie nach Dir, und ob Du noch das Schächtele habest mit den Sprüchen darin. Sie sagt, Du sollst's nicht von Dir lassen, weil ein Segen darin sei. Ich glaub', es reut sie halben, daß sie Dir's geschenkt hat. Oder doch, so will ich sagen: es fehlt ihr sehr, das Schächtele, weil sie's doch als Konfirmandin gekriegt hat von ihrem Schulmeister und alle Tag darin gelesen. Wilhelmle, ich hab' schon denkt, Du sollst's ihr wieder schicken. Dir tät's vielleicht nicht so fehlen. Es hat ja doch jeder Mensch selber ein Schächtele, wo sein lieber Herrgott drin ist und wo er aufmachen kann, alle Tag.
Liebes Wilhelmle, wenn Du's aber nicht hergeben magst, so b'halt's nur. Du wirst's jetzt auch gewohnt sein, ein Zettele lesen für den Tag. Oder schreib's ab. Weiße Papierzettele und ein Schächtele 260 wird man dort auch haben können. Oder kannst's ja in ein leeres Zigarrenschächtele tun. Oder in das Schächtele, wo ich dir damals nach Paris geschickt hab' mit den Honiglebküchle.
Abgeschrieben ist's bald, und Du wirst's der Mine wohl zulieb tun. Sie fragt immer nach Dir.
Sie hat auch eine Kuh metzgen lassen müssen und auf der Freibank aushauen. Da ist immer Geld hin, man mag's machen, wie man will.
Uns geht's recht gut. Wir sprechen immer von Dir, und daß Du auf der heurigen Photographie fast aussiehst wie dem Vater sein jüngster Bruder, wo nach Amerika ist. Könntest Du den nicht einmal besuchen? Der Vater sagt zwar, das sei weit. Aber wenn ich einmal nach Eningen will zum Tante Nanele, dann sagt er auch, das sei weit.
Also mach's wie Du willst. Bleib nur brav und vergiß Deinen Herrgott nicht. Ein Ochse kennet seinen Herrn und ein Esel die Krippe seines Herrn. Schlechter als ein Tier braucht der Mensch nicht sein, mein' ich. Schreib auch, wenn Du kommst. Aber schreib auch bald. Ach, Wilhelmle, schreib doch bald.
Deine Mutter. 261
Ich hab' Dich sehen im Traum Schlitten fahren die Steig herunter. Jetzt mein' ich immer, das bedeutet, daß Du bald kommst. Es ist flott gelaufen.
Dein Mutter.«
Murata, mein Sekretär, kann mir bezeugen, wie ich mich an jenem Tag umgetan habe nach weißen Papierzettelchen und einem Schächtelchen.
Das aber kann er mir nicht bezeugen, wie ich unter meinen Habseligkeiten nach dem Geschenk der Mine suchte. Er kann's nicht bezeugen, weil ich ganz allein war bei dieser Arbeit, ein beschämter, stiller, heimwehkranker Mann. Ganz unten in einem alten Kabinenkoffer bei vergilbten Briefen und verjährten Rechnungen steckte es.
Auf den niederen Tisch, neben meine Mandoline hin, stellte ich die kleine schwarze Schachtel.
Ach, mir kam's vor, als schlügen lauter Flämmchen aus dem Glanzpapier, als könnte ich nie mehr den Deckel heben, ohne mich zu verbrennen.
Und dann hob ich ihn doch und sah die schmutzigen Röllchen stehen wie vor vielen Jahren. Und wie vor vielen Jahren überkam mich die Neugier, was in dem vordersten der Dinger stehe. 262
Ich nahm es, rollte es auf und las.
Es stand aber da: »Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen, und zu ihm sagen: Vater, ich habe gesündiget in dem Himmel und vor dir.«
Ich warf das Röllchen weg und wollte ein zweites ziehen, da hörte ich eine Stimme sagen: »Net zweimol an ein'm Tag, sonst battet's net, und des do ist e guets. –«
Auf einem Binsenstühlchen saß ich in meiner kleinen japanischen Stube, im blauseidenen Kimono, die Haussandalen mit den gekreuzten roten Bändern an den Füßen.
Aber auf einmal roch es stark nach Anis, trotz der offenen Fenster, und eine Kammer nebenan tat sich auf, und ich drehte meine alte Bubenkappe in den Händen und wartete auf etwas.
›Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen!‹ Herrgott, der Mikado will hundert Gäste bei uns unterbringen, und sechs Köche sind durchgebrannt. Pfarrwilhelmle, es eilt, du mußt deinen Kopf zusammennehmen.
Ja doch, ja. Ich werde das alles einrichten und möglich machen. Hab' mich schon in schlimmeren Lagen zurechtgefunden. 263
Aber dann: ›Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen.‹
Unversehens nach langen, tollen, heimwehlosen Jahren war die Sehnsucht in mir aufgewacht.
Ein heiliger Berg mit leuchtendem Scheitel ragte die Heimat empor, drüben über allem Dunst meines ruhelosen Lebens, und ich konnte den Blick nicht mehr abwenden.
Aber so schnell ging das Loskommen nicht. Da waren tausend Ranken, die mir um die Füße lagen.
Inzwischen wollte ich die Zettelchen in der Schachtel abschreiben und das Original der Mine schicken.
In Japan gibt's großartiges Papier und großartige Schachteln. Aber – der Kuckuck weiß – es kam mir immer etwas dazwischen.
Da packte ich die Geschichte zusammen, legte sie wieder in den alten Kabinenkoffer und dachte: ›Bald, bald. Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen.‹
Und dann kam ein Tag, da ich meine Habseligkeiten zusammenpackte. Ein Jahr Urlaub sollte ich haben und dann wiederkommen. Ich sagte das zu. Das sonnige, freudige Land mit seinen Blumen, 264 seinen frohen Menschen, seinen glücklichen Kindern war mir lieb, wie nur je eine Fremde einem lieb werden kann. Zu einer langen Reise wollte ich mich rüsten, nicht zum völligen Abschiednehmen.
Vollgestreut mit meinen Reichtümern lag die sonnige Stube, und ich pfiff mir ein Lied beim Einpacken.
Und auf einmal hatte ich die Schachtel aus schwarzem Glanzpapier in der Hand.
Ich weiß nicht, warum mich ein unangenehmes Gefühl beschlich.
›Verbrenne doch endlich das kindische Zeug‹, dachte ich.
Aber währenddem schlug ich den Deckel auf, und der alte Zauber fing an zu wirken, so daß ich eines der Röllchen nehmen und lesen mußte.
Da hörte ich auf zu pfeifen und legte ganz still Stück um Stück in die offenstehenden Koffer.
Danach machte ich Gänge, die zu machen ich erst nicht im Sinn gehabt hatte. Ich ordnete Dinge an, die mich vorher nicht weit hinaus bekümmert hatten. Kurzum, ich machte die Ranken los, die das sonnige Land um mich geschlungen hatte. 265
Als ich hinausdampfte aus dem Hafen von Yokohama, schneite es. Es schneite auf jene merkwürdige, japanische Weise, die ist, als ob verfrühte Kirschblüten fröhlich durch die Luft wirbelten. Ich stand auf Deck und biß die Zähne übereinander.
* * *
Vielleicht hätte ich meiner Mutter doch schreiben sollen, daß und wann ich heimkomme.
Sie ist arg blaß geworden, als ich an jenem Apriltag unter ihre Küchentüre trat.
»Jesus!« hat sie gerufen. Nicht mehr. Dann hat sie sich auf einen Schemel gesetzt und hat die Knie gehalten, wie wenn sie ihr auseinanderfallen wollten.
Ich aber habe nur ihre Haare gesehen, die schneeweiß geworden waren. Sonst sah ich nichts.
Linsen und Würste haben wir gegessen an jenem Tag. Linsen und Würste; ich vergess' es in meinem Leben nicht.
Es hat auch noch Spätzle geben sollen; aber die Mutter konnte ja nicht mehr stehen, nachdem ich da war. Rein nicht mehr stehen, weil ihr die Knie auseinanderfallen wollten. Und die Magd konnte keine 266 Spätzle machen. Die machte Dinger, faustgroß. Jawohl, faustgroß. Viel größer als der Mutter ihr Daumen. Solches Zeug kann doch kein Mensch essen! Höchstens der Großvater. Ja, der Mutter ihr Vater selig, der aß am liebsten Spatzen so groß wie eine Kinderfaust. Ist's wahr oder nicht, Mutter? Hast du das erzählt bei jenem ersten Mittagsmahl, oder nicht? Habe ich aufgemerkt wie einer, dem aus deinem lieben Mund das Evangelium gepredigt wird, oder nicht?
Und war nicht jeder Blick aus deinen glitzernden, alten Augen wie ein Schrei: Freuet euch mit mir, denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig worden!
Und war nicht alles, was du von Linsen und Würsten und Spatzen redetest wie eine Jubelhymne: Herr, Gott, ich danke dir, daß mein Bub wieder da ist, mein Wilhelmle!
»Luise,« sagte der Vater, »laß jetzt den Wilhelm erzählen.« Aber mir war der Kopf so leer bei jenem Mittagsmahl, als sei alles ins Herz gezogen, und ich wußte auch nichts zu reden als von Linsen und Würsten und Spätzle, die die Mutter gekocht. 267
Tagelang bin ich danach wie ein kleiner Bub nicht von der Mutter Schürzenzipfel gegangen.
Miteinander haben wir den ersten Besuch gemacht in dem einschichtigen Haus der Mine.
Bald neunzig Jahre war die Alte jetzt und doch nicht viel anders, als da ich einst aus dem Dorf ging.
Etwas welker und verschrumpfter das Gesicht, die Augen etwas trüber, aber immer von der alten Freundlichkeit.
Sie saß in ihrer Stube in der Sonne, hatte einen flachen Kübel voll warmen Wassers vor sich stehen und badete sich die Füße. Ohne großes Verwundern und ohne Befangenheit schaute sie uns entgegen.
Ihre runzelige Hand streckte sie mir zu. »Grüß di Gott, Wilhelmle, i' weiß scho', daß du wieder do bist. –«
Es roch nach Anis in der Stube, und ich stellte die Schachtel aus schwarzem Glanzpapier vor die Alte auf den Tisch.
Da fingen der Mine die Hände an zu zittern. Ein hilfloser Blick ging von mir zur Mutter, und der zahnlose Mund schnappte seltsam.
»Lieber Heiland!« sagte sie dann in die sonnige Stille hinein, und noch einmal: »Lieber Heiland!« 268
Da stand ich und riß die Augen auf und merkte endlich, daß ich durch alle die Jahre her eines Menschen liebsten und größten Besitz in einem alten Kabinenkoffer umeinander geschleppt hatte. Ich wollte hinzutreten, wollte die Banknote, die ich obenhin auf die Röllchen gelegt hatte, wegnehmen, weil ich die schnöde Ungehörigkeit empfand. Aber die Mine hatte schon die Hand auf die Schachtel gelegt und tat den Deckel auf. Ich sah den braunen Geldschein und schämte mich und wollte etwas sagen; aber das Weiblein warf den Lappen zur Seite, ohne ihn nur anzusehen.
Ihr verschrumpftes Gesicht glänzte. »Wilhelmle,« sagte sie und blickte mich strahlend an, »send se no älle do?«
Ich mußte mir auf die Lippen beißen. »Ja,« antwortete ich zögernd, »alle, bis auf eins –«
»Was isch mit dem passiert, Wilhelmle?«
Ich sah weg. Ich hätte etwas lügen mögen. Aber ich war so dumm an jenem Tag, mein Kopf so leer.
»Zerrissen hab' ich's und in den Wind gestreut, drüben, als ich abreiste.«
Sie machte ein ungläubiges Gesicht, die Alte, als ob man ihr von unerhörten Greueltaten erzählt hätte. 269
»Mine,« sagte meine Mutter über den Tisch her, »das ist 's Ärgste nicht. Ob so ein Zettele hin ist – das, was darauf steht, bleibt dennoch in Ewigkeit –«
Ich sah sie an, die Mutter in dem schneeweiß gewordenen Haar, und ich fühlte, daß sie mir soeben zum erstenmal in ihrem Leben gepredigt hatte, und das noch, ohne es zu wissen.
»Freile,« sagte die Mine, »Himmel und Erde werden vergehen; aber meine Worte werden nicht vergehen. Was ist denn drauf g'stande', Wilhelmle, auf dem Zettele?«
Ich blickte zwischen den zwei alten Gesichtern hindurch auf den wilden Kirschbaum, der vor dem Fenster in prangender Blüte stand und sagte: »Bestelle dein Haus, denn du mußt sterben.«
Es war still in der Stube, ganz still. Und dann plätscherte die Alte mit den Füßen leise im Wasser.
»Schad',« sagte sie, »schad', Wilhelmle, daß de grad' des verrisse' host. Des ist e guter Spruch. Wir haben hier keine bleibende Statt. Jedesmol, wenn i' des Zettele 'zoge' han – grad' des, wo du verisse' host –, no han i' meine Füß g'wäsche' und han denkt: ›Herr, wie du willst!‹ Heut morge' han i's au' wieder 'zoge' –« 270
»Mine,« warf meine Mutter ein, »Ihr habt ja die Schachtel gar nicht gehabt, bis jetzt.«
Sie lachte pfiffig, wie wenn ihr ein Streich gelungen wäre. »O, Frau Pfarrer, i' han des Dings älles im Kopf. Eins wie's ander! Äll Tag zieh' i' im Kopf e Zettele, do fehlt's net. I' brauch kei' Schächtele. Aber freue tu i' mi doch, daß i's wieder han – freue tu' i mi doch!«
Und sie deckte die alte, welke Hand fest auf die schmutzigen Röllchen.
Meine Mutter nahm ein Tuch hinter dem Ofen hervor.
»Raus, Mine, aus dem Wasser, jetzt ist's lang genug.«
Die Alte lachte. »Sie hänt recht, Frau Pfarrer. Wenn i' heut stirb, no send doch meine Füß' sauber g'wäsche' und d' Leiche'karlene hot kein G'schäft weiters mit mir.«
Dann schlüpfe sie in ihre weiten Schuhe und nahm die Schachtel vom Tisch. »Wilhelmle,« sagte sie, »gelt, du läßt mir se, bis i' voll stirb? Guck, i' glaub' jo, daß se dir au' fehle wird. Aber 's geht jetzt nemme lang mit mir. Wir haben hier keine bleibende Statt. Und wenn i' halt g'storbe' 271 bin – kei andrer Mensch als du soll mei' Schächtele kriege, weil du's so guet aufg'hebt host die Johr do 'rei'. – Des Zettele, wo du verrisse host, des mußt jetzt halt auswendig b'halte'.«
Sie schlurfte in ihre Kammer, und meine Mutter nahm die Banknote vom Tisch.
»Wilhelmle,« sagte sie, »da, steck' das wieder ein! Mit dem tut sie nichts. Was zerrissen ist, machst du mit dem nicht mehr ganz. Kauf dem Vater ein Paar schwarze tuchene Hosen dafür. Er hat seine dem Steinhauers Paule geschenkt.«
Und so geschah es.
Noch etliche Male hat sich die Mine die Füße umsonst gewaschen. Den Zettel, der in ihrem Schächtelchen fehlte, zog sie immer im Kopf, aber just nicht am richtigen Tag. Denn damals, als die Mutter sie tot im Bett fand, da hatte sie nach einem anderen Spruch gegriffen. In ihrer erstarrten Hand hielt sie den Zettel, auf dem da stand:
Selig sind, die reinen Herzens sind;
Denn sie werden Gott schauen.