Auguste Supper
Holunderduft
Auguste Supper

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Der lange Adolf.

Ich will vom langen Adolf erzählen und muß bei mir anfangen.

Denn wir Menschen sind wie ein Klumpen klebriger Kletten, die Gott oder der Teufel zusammen geballt und der Erde auf den struppigen Pelz geschleudert hat.

Ob wir wollen oder nicht: mit tausend Häkchen hängen wir ineinander.

Daß unter den Häkchen ein Kern steckt, der einsam ist und einsam bleibt, das ist eine Sache für sich.

Wenn es nach der Tradition gegangen wäre, wäre ich Pfarrer geworden.

Aber es ist nach mir gegangen. Das heißt, sofern es etwa nach einem Frosch geht, der in einen Strom hüpft, und den die Wellen an ein Ufer spülen, wo er quakend sitzt und sitzend quakt: »Seht, ich bin hierher geschwommen!« 180

Nun bin ich Arzt in einem Städtchen mit großem Hinterland.

Das Hinterland nährt mich mehr als das Städtchen.

Es wachsen in diesem Hinterland unendliche Wälder, die nach und nach in den Besitz des Staates kommen, sintemal ihre bisherigen Eigentümer entweder selbst trinken wie die Polen oder Nachkömmlinge sind von solchen durstigen Vorvätern.

Dieser unendliche Durst, der Wälder hinwegspült und den Besitz alter Geschlechter fortschwemmt, ist vielleicht erwähnt in den geheimen Ausführungsbestimmungen zu jenem gewaltigen Naturgesetz, das da lautet: »Es soll auf und ab gehen mit den Geschlechtern der Menschen«. Vielleicht rangiert er in den Plänen, die die höchste Macht mit der Menschheit hat, mit der Schwindsucht, die ganze Familien auffrißt, oder mit der merkwürdigen Hirnhypertrophie, die die Kraft eines Geschlechtes mit einem Knalleffekt in irgendeinem Genie erschöpft. Wer sieht da klar?

Also die Bauern dort saufen, wie das liebe Vieh sich schämen würde, zu trinken.

Es gibt nur wenige Namen da hinten. Ganze Sippen hausen dort fast unvermischt und brechen jetzt 181 nach und nach zusammen wie Pilzgruppen, die lang genug im Schatten gewuchert haben.

Einen der bekanntesten unter diesen Namen trägt der lange Adolf.

Und einer der bekanntesten Säufer war sein Vater.

Als er am Delirium starb, hinterließ er vier Kinder. Zwei Töchter, die bis auf ein bißchen Blödigkeit normal waren und andere Säufer von einem anderen Zweig ihrer Sippe geheiratet hatten.

Die Ehen blieben kinderlos.

Dann noch zwei jüngere Söhne mit Namen Georg und Adolf. Der »Schorschle« war notorisch schwachsinnig, so daß er nicht recht begriff, was seines Vaters geräuschvolle Leiche zu bedeuten hatte. Er lief nur mit dem Krug, füllte die Gläser und vergaß sein eigenes nicht.

Im Frühling darauf ist er einer leichten Influenza erlegen. Der Pfarrer, der ihn begrub, war jung.

Noch nicht über die Jahre hinüber, da man es fertig bringt, den freien Willen der Erdensöhne und das Walten ewiger Mächte in einen zähen Teig zusammenzuknutschen.

Die Bauern und ich, die wir um das Grab 182 standen, bekamen denn ein Erkleckliches zu hören von der üblichen Sorte.

Die Bauern gingen einverstanden und kopfnickend zum Leichentrunk.

Ich schlich heim durch den Wald und hörte rings um mich im Frühlingssturm brechen, was morsch war.

Des langen Adolfs Mutter stand in dem trüben Strudel ihrer Ehejahre, wie ein Weidenbusch im Wasser steht.

Sie nickte auf und nieder, wurde niemals mitgerissen und stand auch niemals ruhig.

Nach dem Trockenen verlangte sie nicht, und die paar schmalen Blättlein, die ihre Wesensart zu treiben begehrte, die trieb sie mitten in den Wirbeln.

Fleißig war sie und gottergeben, was man so heißt.

Als nach ihres Mannes Tod die Gläubiger auf das Anwesen stürzten wie die Geier auf ein Aas, da stand sie daneben und schaute zu in sprachloser Verwunderung.

Ich habe ihr danach durch gewisse Verbindungen eine Stelle in einem adeligen Fräuleinstift verschaffen können.

Sie putzt dort Gemüse und hält den Garten im Stand. Und wenn die Damen Zeit und Lust haben, 183 dann stehen sie zwischen den Beeten neben dem Weib, das auflebt in ihrer Witwenschaft.

Sie lassen sich erzählen von dem toten Säufer. Wie der ein starker Kerl war, früher in guten Jahren.

Es liegt etwas – fast etwas Lüsternes darin, wie das Weib redet, und wie die anderen aufhorchen.

Alle diese Jungfräulein, um die nie der Schmutz gebrandet hat.

Wie Kinder in weißen Kleidchen sind sie, die mit langen Ruten in eine Pfütze schlagen. Spritzen soll's, je höher je lieber. Nur schmutzig machen soll es nicht, wenigstens das weiße Kleidchen nicht.

Ach, und vielleicht ist manche darunter, die das Kleidchen gerne abstreifen würde und – –

Dieser Mutter und jenes Vaters jüngster Sohn ist der lange Adolf.

Bei seines Vaters Begräbnis stand er dicht vor der Konfirmation, ein hochaufgeschossener, blasser, stiller Bub.

Er kam dann, als der Zusammenbruch da war, auf seinen eigenen Wunsch zu einem Messerschmied in die Lehre. Den Messerschmiedsberuf wählte er, nachdem der Schultheiß als sein gesetzlicher und ich als sein Liebhabervormund es nicht wollten, daß er 184 blankweg Scherenschleifer werde, was der Traum seiner Träume war.

Und dann, als er ein halbes Jahr bei Meister Renner gelernt hatte, kam jener erste Krampf, bei dem man mich zur Hilfe rief.

Ich kam und sah.

Epilepsie.

Es war nicht möglich, den hochaufgeschossenen, dürren Buben länger bei dem scharfen Metier zu lassen.

Schon bei dem ersten lumpigen Anfall hatte er sich die Hand ungeschickt zerschnitten; und alle die Feinheiten der Messerschmiedekunst, die er noch zu lernen hatte, türmten sich vor seinem Geiste auf zu einem Berg, den er nicht in Angriff zu nehmen wagte.

Das Schleifen aber, diesen elementaren Teil des Gewerbes, hatte er in dem halben Jahr so gründlich und mit heißer Liebe erlernt, daß er sich ruhig und mit gutem Gewissen als Spezialist niederlassen konnte.

Hätte ich den Buben nicht selbst in seinem Krampf beobachtet, so würde ich ihn für einen Simulanten gehalten haben, der mit List und durch eine Hintertüre an ein Ziel zu kommen strebte, das ihm auf andere Art nicht zugänglich war. 185

Es wurde nun ein Schleifstein angeschafft, solch ein Lokomobil, wie man es in den Dorfgassen wie in den Straßen der Stadt stehen sehen kann, wenn die Korona der Buben sich nicht allzudicht darum sammelt. Anfänglich wollte mir auch dieser Beruf für den langen Adolf zu gefährlich erscheinen. Aber als ich das Gesicht sah, mit dem er zum erstenmal die langen, schlenkernden Arme an die Schiebestangen seines Vehikels legte, da schwand mein Widerstand. Der ruhige Stolz, das dankbare Glück eines Menschen, der in die rechte Strömung gekommen ist, sprach daraus. Ich hörte dann lange nichts von dem jungen Menschen. Doch ließ gerade sein Fall mich zu einigen Bänden in meiner Bücherei greifen, die von Epilepsie handeln. War und ist auch das Übel dort hinten häufig und weit verbreitet, so hatte ich mich doch seitdem nicht eigens damit beschäftigt und hatte mir genügen lassen an dem, was ich wußte und erraffen konnte, ohne meinen Kegelabend preiszugeben.

Wie gesagt, auf des langen Adolfs Fall hin griff ich nach einigen Büchern und ließ mir sogar neue Literatur über die alte Sache kommen. Ein paarmal ging mir so der Kegelabend futsch. Doch kehrte ich bald wieder zur gewohnten Ordnung zurück. 186

Im Lauf der Jahre sprach der lange Adolf manchmal bei mir, beziehungsweise bei meiner Haushälterin vor und fragte nach stumpfgewordenen Scheren.

Einmal wies sie ihn ab. Da ging ich eben über den Flur und sah ihn stehen.

Ein kurzes Erinnern an sein und der Seinen Geschick strich mir durchs Hirn.

So kam's, daß ich ihn anredete: »Wie geht's, Adolf?«

Er drehte mir sein Gesicht zu. Es war bleich, bartlos, sanft.

»Schon recht,« sagte er, »besser als man's verdient.«

Das klang mir aus diesem Mund verwunderlich in die Ohren.

Ich fragte ihn des näheren nach seinen Lebensumständen.

Wie das Geschäft gehe, wo er wohne?

Bescheiden und sachlich gab er mir Antwort.

Als sein Domizil nannte er mir einen Weiler, der dicht bei unserem Städtchen liegt und in dem ich etliche Kunden habe. 187

Ich nahm mir vor, den langen Scherenschleifer einmal dort aufzusuchen.

Aber wie das so geht: Gute Vorsätze sind die weißen Kämme der Wellen, die unser wogendes Empfinden wirft. Sekundenlang tanzen sie oben und sehen nach etwas aus. Dann müssen sie hinunter, um anderen Platz zu machen, und ihre Stätte findet man nicht mehr.

Für mich kam eine unruhige Zeit. Meine Haushälterin starb schnell, und ich mußte mich nach Ersatz umsehen.

Zu diesem Zweck ritt ich einst am frühen Morgen auf dem Weg nach einem Dorf, wo mir eine Person empfohlen war.

Stundenlang geht die Straße fast topfeben durch Tannenhochwald. Ein paarmal wechselten Rehe über meinen Weg, sahen meinem Gaul, der Schritt ging, entgegen und verschwanden im Holz.

Und hart am Weg, so nahe wie ich ihn nie gehört, schrie der Kuckuck.

Mir wurde merkwürdig zu Sinn. So, als sei ich in ein Land geraten, das sonst Menschen verschlossen ist. Meinen Gaul hielt ich an und lauschte. Der Kuckuck verstummte; aber ich lauschte immer noch. Ich weiß nicht, was ich zu hören erwartete oder vermeinte. 188

Ich weiß nur, daß ich das Gefühl hatte, als sei mein Ohr an eine Tür gelegt, die in eine andere Welt führt.

Vor mir machte die weiße Straße eine scharfe Wendung und verlor sich im ragenden, kirchenstillen Wald.

Dorther von jener Wegstrecke, die ich nicht überblicken konnte, hörte ich ein leises, fernes, quiekendes Geräusch.

Da war ich sonderbar befriedigt, als hätte ich darauf gewartet.

Und wieder eine kleine Weile danach trabte mein Gaul mit einem prustenden Wiehern an, ohne daß ich mit Wissen ihn dazu aufgefordert hätte.

So kamen wir um die Kurve, und wieder dehnte sich die Straße weiß und einsam durch den Morgenwald. Ich ließ die Schenkel locker und hockte auf dem Gaul, wie wenn ich kein Rückgrat hätte. Wohlig war mir's wie einem Kind, das man aus dem umschnürenden Kissen genommen und mit gelösten Gliedern nackt in ein warmes Bad gelegt hat, wo es von der Mutter Hand unmerklich getragen und behütet, sich dehnen darf in unbewußtem Lebensbehagen. 189

Dann, hinter einem hochgeschichteten Haufen ungeschlagener Chausseesteine traf ich den langen Adolf.

Sein Lokomobil stand neben ihm, und Herr und Werkzeug ruhten aus am Wegrand.

Da wußte ich, daß das ferne quiekende Geräusch von vorhin dem Schleifstein angehört hatte, und ich wußte auch, daß ich erwartet hatte, dem Scherenschleifer zu begegnen.

Der Lange schaute mir mit seinem blassen, stillen Gesicht entgegen und zog die staubige Kappe.

Ich hielt den Gaul an und stieg ab. Warum ich's tat, weiß ich nicht.

Der kleine blecherne Wassereimer, der sonst unten an dem Schleifstein hing, stand umgestürzt als Tischlein vor dem Adolf. Ein Stück Brot lag darauf, ein Messer und ein kleines Buch.

Der Lange wollte aufstehen von seinem Stein, da wehrte ich's ihm, und er blieb sitzen.

Wir kamen in eines jener Gespräche, die obenhin fahren wie der Kamm über verfilztes Haar.

Zuletzt sagte ich dem jungen Menschen, daß ich auf dem Weg nach Unterstetten sei, wo des Schulzen Schwester mir angetragen sei als Haushälterin. 190

Er schaute mich an. Seine Augen, die zu nahe rechts und links von der schmalen Nase liegen, hingen bedachtsam und prüfend an meinem Gesicht.

Dann schüttelte er den Kopf. Und nach einer kleinen Weile hob er eine der hageren Hände und schüttelte die auch.

»Lieber nicht,« murmelte er, »'s ist nicht für lang!«

Ich lachte.

»Warum soll's nicht für lang sein? Ist das Frauenzimmer krank, alt, oder hat sie den Teufel im Leib? Kennst du sie denn?«

Der Scherenschleifer schaute mich immer noch an.

Dann nahm er langsam, fast phlegmatisch das Büchlein in die Hand, tat einen kurzen Blick hinein und steckte es in die Tasche. Gelesen konnte er nichts haben. Es war eine ganz mechanische Bewegung.

»Herr Doktor,« sagte er leise, »Sie können's ja probieren; aber für lang ist's nicht. Mir soll's recht sein, wenn ich lüge.«

Ein unbestimmtes Unbehagen überlief mich. Einige Stellen aus den neuesten Büchern, die ich über Epilepsie gelesen hatte, fielen mir ein, ohne daß mir der Zusammenhang recht klar ward. Ich fragte den 191 Langen, was ich zuvor nie getan hatte, nach dem Stand seiner Krankheit.

Er wurde langsam sehr rot wie ein Apfeldieb. Den Blick schlug er vor mir nieder, als er antwortete: »Es ist halt wie's ist.«

Ich bestieg meinen Gaul wieder und ritt davon.

Hinter mir fing das Quieksen an, und als ich zurücksah, verschwanden eben Herr und Schleifstein hinter der Kurve.

Die Schwester des Schulzen von Unterstetten war eine große, sauber aussehende Person, die mir gefallen hätte für den Posten, um den es sich handelte.

Aber vierzehn Tage Zeit bat sie sich noch aus, um ihre Habseligkeiten instand zu setzen, ehe sie zu mir übersiedelte.

Hoffentlich hat sie in jenen vierzehn Tagen ihr Haus ordentlich bestellt, denn am Sonntag vor jenem Montag, an dem sie bei mir eintreten sollte, ist sie gestorben.

* * *

Letzten Herbst war Generalmusterung.

Eine Kommission kam in unser Städtchen, darunter ein Studiengenosse von mir, ein 192 Oberstabsarzt Dr. Braun, den ich einlud, mein Logiergast zu sein.

Er nahm an, und wir frischten in jenen Tagen auf, was wir an gemeinsamen Erinnerungen hatten.

Als dann jeder aus seinem späteren Leben gesondert erzählte, da kam mir's zum erstenmal zum Bewußtsein, wie solch ein Bauerndoktor von meinem Schlag abseits steht von allen Quellen, aus denen man sprudelnde Becher füllt. Ich spürte etwas wie Neid auf den schönen Mann, der da in seiner blinkenden Uniform neben mir saß, und ich besann mich, ob ich nicht wenigstens von rieselnden Wässerlein oder versteckten Rinnsalen zu reden hätte, damit der Goldene neben mir nicht auf den Glauben käme, ich sitze dahinten ganz auf dem Trockenen.

Aber ehe ich mit meinem etwas lahmen Mundwerk herbeihinkte, erscholl vor den Fenstern meiner Wohnung, die in der Nähe des Marktplatzes liegt, jenes johlende Singen, das an Musterungstagen vom frühen Morgen an das Städtlein füllt.

Der Stabsarzt zog die Uhr. Sie hatte einen Sprungdeckel und repetierte. Ich höre die leisen, klingenden Schläge noch. 193

»Es wird Zeit für mich«, sagte er und schob seinen Stuhl zurück.

Dann trat er mit mir ans Fenster und sah auf die Singenden hinunter.

»Ah,« sagte er und drückte sein Glas ans Auge, »ist da ein stattlicher Kerl darunter. Aber schlapp, der –«

Der lange Adolf schritt da drunten mit ein paar anderen zur Musterung.

Ich mußte durch die Zähne pfeifen und legte dem Goldenen die Hand auf die Achsel. »Braun, der ist nichts für euch.« Und ich sagte ihm, welcher Teufel den hochgewachsenen Burschen in den Krallen hatte. Er nickte nur. »Wollen sehen.«

Ein paar Stunden später lag der lange Adolf in einem schweren Anfall auf der Rathausstaffel.

Er kam aus dem Musterungslokale und hatte heimgewollt.

Man holte mich, da ich zunächst wohnte. Zu dem Goldenen im Saal oben getrauten sich die Burschen nicht.

Ich war's zufrieden. Denn ich vermeinte, eines der Wässerlein zu hören, die durch den Sand meines einsamen Lebens rieseln. 194

Lange mußte ich den zuckenden, krampfverzerrten Menschen auf den Steinen liegen lassen, bis es so weit war, daß man ihn zu mir tragen konnte.

Als wir ihn aufhoben, fiel ihm ein kleines Büchlein aus der Tasche. Das nahm ich mit.

Auf meinem ledernen Liegstuhl betteten wir ihn. Fast war das lange Möbel nicht lang genug.

Als er zu sich kam, gab ich ihm, was ich für nötig hielt und sprach ihm zu, ruhig liegen zu bleiben.

Er tat es eine Zeitlang, dann griff er in seine Hosentasche. »O,« stieß er in einem seltsam schmerzlichen Ton hervor, »mein Büchle!«

»Ich hab's«, sagte ich, um ihn zu beruhigen.

Da fuhr er zitternd auf. »Her,« schrie er, »her! Es ist mein.« Sein langer Arm streckte sich wie in Gier mir entgegen, sein vorher todbleiches Gesicht war überflackert vom Rot der Erregung.

Ich drückte ihn zurück. »Himmeldonnerwetter, Adolf; mach keine Geschichten; ich will's ja nicht, das Ding.«

Und ich reichte es ihm hin, so schnell ich's finden konnte. Wortkarg, mit einem unendlich müden Gesicht lag er dann noch ein paar Stunden in meinem Zimmer. 195

Die Augen hatte er offen; aber ich glaube, daß sie nicht viel sahen.

Als er ging, bedankte er sich in der ruhigen, bescheidenen Weise, die ich schon öfter an ihm wahrgenommen hatte, und die sonst in den Wäldern seiner Heimat nicht gedeiht.

* * *

Der Herbst war von der wundervollen Klarheit, die jede Ferne schimmern und jedes sterbende Blatt im Feuerbrand auflodern läßt.

Mich hielt's nicht daheim, auch wenn ich draußen nichts verloren hatte.

Dem Weiler schritt ich zu, wo der lange Adolf wohnte. Ich mußte oft an den jungen Scherenschleifer denken, seit er in meinem Zimmer auf dem Langstuhl gelegen war.

Auf den Krautäckern zu meiner Rechten standen die abgeschnittenen Strünke zwischen den zertrampelten Schollen. Der große Birnbaum neben dem alten Wegweiser glühte brandrot gegen den blauen, glasigen Himmel.

Ein Weib, das eine Karre mit Rüben schob, fragte ich nach dem Schleifer. 196

Sie deutete mit dem braunen, dürren Arm nach einem Häuslein, das in der Ferne abseits von den andern lag. »Dort,« sagte sie, »aber ob er daheim ist –«

Dann spuckte sie in die Hände und schob weiter.

Ich ging querfeldein über abgemähte Kleeäcker. Zu verderben war da nichts, und seit meiner frühesten Jugend trage ich einen fast unbändigen Hang mit mir herum, auf ungebahnten Pfaden zu wandern.

Von hinten her kam ich an das Heim des Langen. Eher einer kleinen Feldscheune sah es gleich, als einem Wohnhaus. An der Rückwand war kein Fenster, auf der Seite etliche kleine Luken mit trüben, grünlichen Scheiben.

Durch fast mannshohe Brennesseln lief ein Zaun aus morschen Stangen, der stellenweis niedergebrochen war, und an dem dort, wo er noch standhaft schien, zwei Mannshemden hingen und ein blauer Kittel, wie ihn der lange Adolf im Dienst zu tragen pflegte.

Schnüffelnd wie ein Spürhund umkreiste ich das Anwesen, das in der stillen, gütigen, altgewordenen Sonne lag und schlief.

Ich sah, daß es vorne etliche Fenster hatte, vor denen Blumenstöcke standen. 197

Die Haustüre war braunrot, wie mit Ochsenblut gestrichen. Etliche Büsche gelber Ringelblumen und Kapuziner, über die schon ein erster, leichter Frost gegangen, wucherten unter den Fenstern. Ich trat hinzu und erwartete, die Türe verschlossen zu finden, weil kein Menschen- und kein Schleifsteinlaut zu hören war.

Aber sie gab nach unter meinem Griff und ließ mich eintreten in das Reich des Langen.

Es war kein Flur da wie sonst in den Häusern.

Der Raum, den ich betrat, war weit und nieder wie ein Stall. Steinplatten deckten den Boden, und das Balkenwerk der Wände und der Decke trat nackt aus schlechtgetünchten Mauern. Aber durch die kleinen Fenster kam die Abendsonne. Und die Schatten der nickenden Blumen auf den Gesimsen tanzten in heiterem Spiel auf den Fliesen des Bodens. Ein Tisch stand in der Mitte dieser Stube und ein Stuhl davor. Ich sah ein Bett in der Ecke und den Schleifstein nicht weit davon. Auf einer hölzernen Bank lagen Scheren und Messer in sauberer Ordnung aufgereiht.

Ein paar Kleidungsstücke hingen an der Wand. Daneben ein Spiegel, hinter dem ein Strauß papierener Blumen steckte. 198

Eine merkwürdige Friedlichkeit lag über dieser kahlen Stube, durch die die stille Herbstsonne schien.

Langsam, als liege jede Hast und Eile weit hinter ihnen, gingen meine Blicke rundum.

Und ich sah über dem Bett an die gekalkte Wand geheftet den Spruch: »Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken!« Da stand ich und stützte mich auf den Tisch und wußte, was wir alle für Narren sind, wir da draußen, gegenüber von dem, der den schwarzen Spruch dort an die weiße Wand gehängt hat, um in seinem Schutz zu schlafen Nacht für Nacht.

Schon wandte ich mich, zu gehen, da trat der ein, den ich hatte besuchen wollen.

Die staubige Kappe trug er in der Hand, und er sagte, die Küfer-Luis habe ihm mitgeteilt, daß ich nach ihm gefragt habe, und da sei er. –

Ich konnte ihm nicht wohl sagen, daß mir seine Stube, der Spruch über seinem Bett vollständig genügt hätten für heute. So fragte ich ihn denn nach seinem Befinden seit jenem Anfall auf der Rathausstaffel.

Mit dem prüfenden, eindringlichen Blick, den 199 ich schon einmal an ihm wahrgenommen, schaute er mich an.

Dann, statt mir zu antworten, fragte er: »Wie wird's wohl auch dem Doktor gehen, dem Soldatendoktor, der mich dazumal untersucht hat –?«

Ich spürte wieder das unerklärliche Unbehagen.

»Dem geht's jedenfalls gut,« sagte ich, »der ist jetzt wieder zu Haus und freut sich seines Lebens.«

Der lange Adolf nickte. »Wenn's Gottes Wille ist. Ich tät's ihm gönnen.«

Mit scheuer Ungeduld fragte ich, fast gegen meinen Willen: »Warum sollte es ihm denn nicht gut gehen?«

Da färbte sich des Scherenschleifers Gesicht wieder langsam rot, wie wenn er auf einem Streich ertappt wäre. »Ich mein' halt«, murmelte er.

Als ich heimwärts schritt, stand die Sonne wie ein strahlenloser Ball in einem goldenen Meer.

Am Wegweiser unter dem flammenden Birnbaum fiel mir ein, daß heute abend Kegelabend sei. Und zu gleicher Zeit ging mir's wie dem Adam nach dem Sündenfall: Ich sah, daß ich nackt war und schämte mich. 200

Den Kegelabend schwänzte ich und holte mir Bücher her, wie sich der Adam die Schürze aus Feigenblättern zurechtband. Ich weiß nicht, wie viel oder wie wenig ich lernte und studierte an jenem Abend.

Nur ein kleiner Abschnitt aus einem neuen dicken Werk über Epilepsie ist mir fest im Gedächtnis geblieben.

Es heißt dort: Man beobachtet bei Epileptikern oft ein merkwürdiges Vorschauen künftiger Dinge und Geschehnisse. Es scheint gleichsam eine mächtige Stauung und Anschwellung der seelischen und Sinnesfunktionen einzutreten. Eine Art zweites Gesicht, ein merkwürdiges Hellsehen, regelrechte Halluzinationen sind nichts Seltenes und treten meist unmittelbar vor den Anfällen auf usw. usw.

Der Oberstabsarzt ist in jenen Tagen gestorben. Ich erfuhr's durch die Zeitung, als er schon begraben war.

Schade um den schönen Mann, dem die goldenen Borten so vortrefflich standen. Wer wohl die Uhr jetzt hat, die mit den leisen, klingenden Schlägen repetierte? – 201

* * *

Und nun will ich noch von der Winternacht reden, die mich hinausrief auf den roten Hof, wo der Wirt sterben wollte.

Der rote Hof ist ein heruntergekommenes Anwesen, aus dem zu Zeiten der Thurn- und Taxisschen Post eine flotte Wirtschaft betrieben wurde.

Nachher ging's schnell bergab, und der letzte Besitzer war nicht der Mann, den rollenden Stein aufzuhalten.

Das weitläufige Haus, vor dem die Pappelbäume stehen, ist im Verfall, die Ställe sind leer, und zwischen dem Pflaster im Hof wächst Gras.

Der Wirt war Witwer, alt und kinderlos.

Ich stellte bisweilen bei ihm ein und gab ihm etwas gegen das Gliederreißen, mit dem er sich beständig herumschlug.

Er war mir nicht unlieb, der Mann, so wenig Leben er auch im Leib hatte.

Geschäft und Anwesen lag ihm merkwürdig wenig am Herzen. In seiner grüblerischen, weltscheuen Art kam er mir oft vor wie ein regloser Tümpel moorigen Wassers, der nach und nach eintrocknet, weil er keinen Zu- und keinen Abfluß mehr hat.

In jener Winternacht, als die schmutzige Magd 202 mich holte, lag frischer Schnee, und dazu stand der Mond fast voll am Himmel.

Ich befahl der Schmutzigen, so schnell wie möglich wieder heimzulaufen, damit ihr Herr nicht so lang allein sei. Vielleicht befahl ich ihr's auch nur, um nicht neben ihr den stillen, weißen Weg dahinschreiten zu müssen. »Er ist net allei', mei' Herr,« rief sie von der Haustüre herauf, »d'r lang Adolf ist bei ihm.«

Am Wald entlang geht der Weg zum roten Hof. Er ist nicht weit, aber so einsam, als führe er aus dem Land der Lebendigen hinaus.

Der Mond stand schon tief und mein langer Schatten lief vor mir über den fast unberührten Schnee.

Still und feierlich war mir zu Mute, wie wenn ich der einzige Mensch auf der ausgestorbenen Erde wäre, der letzte von allen, die je unter dem Mond gewandert und nun zur Ruhe gekommen sind.

Von weitem schon sah ich die Pappeln vor dem roten Hof.

Mit mäßiger Eile nur schritt ich aus. Daß ich den jungen Scherenschleifer bei dem alten kranken Wirt wußte, das war mir eine Beruhigung. 203

Vielleicht dachte ich, er werde dem schweigsamen Alten den Spruch vorsagen, den er sich über sein eigenes Bett geheftet hatte.

Im Hof brannte eine Laterne, mir zu Ehren.

Den Schleifstein des Langen sah ich vorne im weitoffenen, leeren Pferdestall stehen.

An der Treppe nahm mich die Magd in Empfang und führte mich.

Still war das Haus und unsere Tritte schallten.

Zwei kurze Stiegen ging es empor. Der Flur war voll vom Geruch einer rauchenden und rußenden Lampe. Dann tat die Magd eine Türe auf, ohne anzuklopfen, und ließ mich eintreten.

Eine weite, viereckige Stube sah ich. In der Mitte auf dem Tisch stand die Lampe, deren Schein gegen das Bett in der Ecke hin durch eine umgehängte Zeitung gedämpft war.

Schwüle Wärme schlug mir entgegen, und aus dem Ofen kam das leise Singen kochenden Wassers.

Im ersten Augenblick hatte ich das Gefühl, als müsse ich schnell alle Fenster aufreißen, um die reine Kühle von draußen hereinzulassen.

Aber der Seufzer, der von dem Bett herkam, rief mich an meinen Platz. 204

Ich tat dem kämpfenden Mann die Handreichung, die nötig war. Den Scherenschleifer, der schweigend unten am Fußende stand, beachtete ich zunächst nicht.

Dann, als ich den Kranken zurücklegen konnte, grüßte ich ihn und wollte ihm ein freundliches Wort sagen für seine Wartedienste an dieses Verlassenen Bett. Aber ich brachte keinen Laut über die Lippen.

Der Lange stand und schaute über das Lager hin auf irgend etwas, das nur er sah.

Nicht Starrheit war in diesem Blick, nicht Schrecken oder Angst oder Entsetzen.

Die Augen waren groß, dunkel, mit stark erweiterten Pupillen, und auf den hageren, ganz blassen Zügen lag ein unendlicher Frieden.

Und wie ich stand und den Scherenschleifer betrachtete, sagte der kranke Mann plötzlich laut: »Lina, Lina –«

Aus seinen Kissen richtete er sich empor, streckte die Arme vor, riß froh die Augen auf, wie ich es nie gesehen hatte an diesem Menschen ohne Lebensenergie, und unmittelbar danach kam das Letzte.

Als ich nach dem langen Adolf sah, war er fort, zusamt seinem Schleifstein im Pferdsstall. 205

Das erste graue Morgenlicht kam hinter dem Wald heraus, als ich heimwärts ging.

Vor mir im frischen Schnee sah ich beim wachsenden Licht die tiefen Räderspuren vom Lokomobil des Langen und die Tritte seiner Stiefel, die um ein gut Teil größer waren als sonst Mannestritte sind.

Drei oder vier Raben kamen hinter mir hergestrichen. Ganz nieder am Boden, so daß ich ihre Schwingen glänzen sah.

Etwa hundert Meter voraus auf einer einsamen Wegschranke ließen sie sich nieder, als wollten sie mich herbeikommen lassen.

Und als ich hinzutrat, sah ich am Waldesrand den Schleifstein stehen. Etwas tiefer unter den Tannen im zerwühlten Schnee lag der Schleifer.

Ich war kaum überrascht. Ich wußte, der Lange war aus dem roten Hof davongegangen, weil er das herannahen fühlte, was er am liebsten in der Einsamkeit abmachte. Wie ein Tier, das sein Siechtum in seinen Winkel schleppt. Und nun hatte es ihm nicht mehr ganz in seine Höhle gereicht.

Ich kniete hin zu dem Menschen, der da in einem der Wälder lag, die seine Väter verludert hatten.

Ein kleines Buch hielt er in der verkrampften Hand. 206

Ich versuchte nicht, es ihm zu nehmen. Aber als er es dann fallen ließ, griff ich danach.

Es war noch zu dunkel unter den Tannen, als daß ich darin hätte lesen können.

Da schlich ich vor an den Waldrand wie ein Dieb, der seine Beute mustert.

Es stand aber vorne drin in diesem Büchlein:

Das Neue Testament unseres Herrn und Heilandes Jesu Christi. –

Schmutzig, lappig, zerlesen war das Papier.

Ich schlug es zu, trug es zurück und legte es neben die reglose Hand.

Dann wartete ich und wartete.

Der trübe Tag lag über der Straße, als der Scherenschleifer und ich heimwärts zogen. Die Raben saßen immer noch auf der Schranke. Ich schob ihm sein Vehikel. Es war kein Mensch weit und breit, der es an meiner Statt hätte besorgen können. Und es machte mir weiter nichts aus.

Ich bin so gesund und stark und der neben mir war eines Säufers elender Sohn, der kaum sich selber vorwärts schleppte, und wenn mich nicht alles täuscht, so steht in seinem Leibbrevier, das ich in der Hand 207 gehalten hatte: »Einer soll dem andern den Karren schieben«, oder so ähnlich.

Dem Wirt vom roten Hof ging ich zur Leiche. Die Herren von meinem Kegelabend sagen, es sei ein löblicher Zug von mir, daß ich einem jeden, den ich unter den Boden gebracht habe, das letzte Geleit gebe.

Bei jener Leiche habe ich gehört, daß der Verstorbene in früheren Zeiten ein regsamer Mann gewesen, aber beim Tod seiner zweiten Frau Lina, geb. Leck, zusammengebrochen sei.

Merkwürdig! Ich hatte geglaubt, jenes laute »Lina« des sterbenden Mannes habe der schmutzigen Magd gegolten, die lange Jahre seine einzige Hausgenossin war.

Beim Weggehen am Kirchhoftor habe ich diese gefragt, wie sie heiße. Da gab sie mir zur Antwort: »Katharine Sauter; aber von d'r Doktorsrechnung will i' nix.«

Das ist jetzt doch gut, daß ich sie gefragt habe. Irrtümer sind nun ausgeschlossen. Ich weiß, um welche Lina es sich handelte. Nur, wem ich meine Rechnung schicken soll, weiß ich nicht.



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