Hermann Sudermann
Im Zwielicht
Hermann Sudermann

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Der Mustersohn.

Ja, bei Muttern war ich. – Sie läßt Sie unbekannterweise vielmals grüßen. – Ich habe ihr viel von Ihnen erzählen müssen, sie konnte nicht müde werden, das Bild der schönen, fremden Frau zu beschauen – sagen Sie nicht, es sei geschmeichelt! – und schließlich nahm sie's mir weg und steckte es in das Familienalbum. Eines nur konnte ich ihr nie plausibel machen, nämlich, daß man mit dem Original dieses Bildes befreundet sein könne, ohne an Liebe und Heirat zu denken. Wenn ich ihre versteckten Anspielungen lächelnd ablenkte, nahm sie meinen Kopf in ihre beiden Hände, sah mir mit ihrem ernsten Mutterblick prüfend ins Auge – genau so, wie damals, als ich noch des öfteren im Verdachte stand, Schokolade aus dem Schranke genascht zu haben – und sagte leise: »Du verheimlichst mir etwas, mein Junge!«

Solcher Augenblicke erinnere ich mich allzugern, denn es thut unmenschlich wohl, wissen Sie, seinen armen, müden Kopf wohl aufgehoben zwischen zwei kühlen Mutterhänden zu wissen – und das um so mehr, als es nicht eben 144 häufig und fast verstohlen geschah. – Sie wie ich pflegten mit unseren Zärtlichkeiten kein Geräusch zu machen; wir wußten auch ohnehin, was wir aneinander besaßen, und hatten nicht nötig, unseren Morgen- und Nachtgruß mit Liebeserklärungen zu versüßen.

Gott sei Dank, daß dem so war! Die Liebe zwischen Mutter und Sohn muß nach meinem Geschmacke ebenso zurückhaltend sein, wie die Freundschaft zwischen Männern. – Beides ist nur dann etwas wert, wenn es den Charakter des Selbstverständlichen an sich trägt, um dessentwillen man nicht viele Worte zu machen braucht.

Und nichts ist mir widerwärtiger als die Sentimentalität, mit der man neuerdings in der Poesie – namentlich in der französischen Dramatik – die Mutter- und Sohnesliebe behandelt sieht. – Blaue Weihrauchwolken, durchzuckt von Flammen mystischer Verzückung, qualmen rings um ein Verhältnis, dessen Hoheit und Innigkeit man am besten gerecht wird, indem man die keusche Helle des Natürlichen, die es umgibt, unverdunkelt läßt.

Erinnern Sie sich an das unsterbliche 20. Kapitel in Heines Wintermärchen mit seiner zarten und warmen Naturfrische, und vergleichen Sie damit die süßlichen und gekünstelten Liebkosungen, welche die Herren Bernard und Jacques bei Augier und bei Dumas ihren Müttern angedeihen lassen!

Wie? Sie glauben, daß diese moderne Verhimmelung der Mütter dem weiblichen Geschlechte als solchem zugute komme? Ei, täuschen Sie sich nicht! Nicht umsonst hat die Göttin Lutetia als Patin an ihrer Wiege gestanden!

145 Ich glaube viel eher, daß sie Hand in Hand mit der zunehmenden Liederlichkeit geht, die sich beim Manne zu allererst in einer souveränen Verachtung der Weiblichkeit oder – wie es zünftig heißt – »der Weiber« äußert. Der depravierte und blasierte Mann, der sich aus jeglicher Frauengunst, die er genoß, eine neue Stufe zu dem Postamente baut, von dem er auf das weibliche Geschlecht herabschauen zu können vermeint, sieht ein, daß er an einer Stelle Halt machen müsse, daß er über den Leib der eigenen Mutter nicht hinwegschreiten dürfe, wenn er seine Pietät – »Pietät« ist unter Umständen die raffinierteste Art des Egoismus – nicht tödlich verletzen wolle. Er räumt der Mutter also eine Stelle neben sich ein und läßt den Opferdunst, den er der eigenen Eitelkeit spendet, auch ihr zu gute kommen.

Ein vollblütiger Vertreter der »Gomme«, der bis auf die Knochen modern ist – verehrteste Freundin, ich schildere hier einen Typus, der durchaus nicht allein den Franzosen gehört, auch bei uns in Berlin können wir ihm auf den Exerzierplätzen, an der Börse und in den Klubs der fashionabeln Nichtsthuer allzu häufig begegnen – ein Mann dieser Art kennt ein weibliches Geschlecht als Allgemeinbegriff überhaupt nicht. Er unterscheidet statt dessen drei grundverschiedene Kategorien:

1. Indifferente, d. h. geschlechtslose Wesen. Dazu gehören neben seinen etwaigen Schwestern sämtliche Töchter aus guter Familie, die durch ihre Geburt unnahbar gemacht sind, und aus deren Schar er sich später einmal, wenn er in der Liebe Invalide geworden ist, eine 146 Gattin wählen wird; ferner alle Häßlichen, Hageren und impertinent Tugendhaften.

2. Die Mutter.

3. Die Weiber. Die Weiber im eigentlichen Sinne des Wortes, sie, die er kennt, liebt und verachtet. Von der sechzehnjährigen Bürgerstochter, der er statt des Zaubertranks der ersten Liebe den Giftbecher reicht, bis zur »Femme de quarante ans«, die mit Inbrunst die letzte schale Neige einer matten Neigung von seinen Lippen trinkt.

Sie meinen, eine solche Trennung sei widersinnig und unnatürlich und müsse sich rächen? O daß sie sich rächt, dafür wüßt' ich Ihnen aus dem Leben einen guten Beleg zu geben. Hören Sie zu!

Vor etlichen Jahren begegnete man in Berliner Theatern und Konzertsälen vielfach einem Paare, das durch seine eigenartige Schönheit Aufsehen erregte. – Nicht Mann und Weib, nein, Mutter und Sohn. – Sie, eine Matrone mit schneeweißen, über Schläfe und Ohr schlicht herabfallenden Haaren, einer hohen, reinen Stirn und einem Paar großer, von dunklen Höhlungen umgebener Augen, in die man wie in ein Meer von Liebe hineinschaute. Er, ein Mann von mächtiger Statur und bestechend schönen Zügen, mit einer Jupiterfalte über den Brauen und einem satten Blick, der dennoch ewig suchte. In Haltung und Manieren durchaus Salonmann, doch vielleicht ein wenig zu adrett, zu viel Reserveoffizier. Das Siegesbewußtsein, das sich auf seinen Zügen ausprägte, schien ein wenig vordringlich, die Blasiertheit allzu geflissentlich zur Schau getragen. – Aber die Frauen lieben das ja.

147 Wenn er, die alte Dame vorsorglich geleitend, durch die Reihen schritt, so folgte ihm manches schöne Auge, und fast noch mehr als sein Auftreten erregte die Art und Weise, in welcher er der Mutter begegnete, der Frauen Interesse und Bewunderung. Eine Art stolzen Respekts schien jede seiner Bewegungen zu diktieren; wie er sich zu ihr hinüberneigte, wie er mit ihr flüsterte, wie er sie bediente, alles war durchdrungen von zartester Ritterlichkeit und andächtigster Liebe – ein Schauspiel, das jedes Frauenherz erquicken mußte. – Und ereignete es sich, daß ich einen Gruß mit ihm austauschte – wir hatten uns in Gesellschaft bisweilen getroffen – so trat auch alsbald die hastig geflüsterte Frage an mich heran: »Wer ist der Herr?«

In manchen Kreisen war er freilich sehr bekannt, fast zu bekannt. Er genoß den Ruf, von den Frauen beispiellos verwöhnt zu sein, und sprach selbst mit edler Unbefangenheit über seine Erfolge. Bei den Männern fand er erklärlicherweise nicht viel Liebe. Dennoch hüteten sie sich, die Achseln über ihn zu zucken, denn seine Karriere war eben so glänzend wie seine Erscheinung. Er stammte aus einer alten, aber verarmten Adelsfamilie und war Verwaltungsbeamter, einer aus der Schule der »Schneidigen«, die jetzt so sehr in die Mode gekommen sind. Im Ministerium setzte man große Hoffnungen auf seine Zukunft. Wenn man ihn einen »Streber« nannte, so that ihm das gar wenig; er brach dem Worte die Spitze ab, indem er ihm – mit wohlüberlegtem Cynismus – lachend zustimmte.

Die Frauen interessierte mehr der fascinierende Reiz, den er auf andere ihres Geschlechtes ausübte. Man sprach mit einer gewissen Scheu von ihm, als fürchte man sich. 148 Hie und da nannte man ihn einen herzlosen Roué, einen wüsten Egoisten; aber gerade diejenigen, die behaupteten, ihn von den schlechtesten Seiten zu kennen, wollte er geflissentlich nur von ihren – besten gekannt haben. – Sie sehen also, er war nicht rachsüchtig.

Das liebenswürdige Verhältnis zu seiner Mutter gab seiner Persönlichkeit ein neues Relief. »Er muß ein guter Mensch sein, denn er ist ein musterhafter Sohn,« so folgerte man. – Nur vereinzelt fanden sich Stimmen, die da sagten, die würdige Matrone sei ihm lediglich ein Mittel zur Koketterie, nicht mehr und nicht weniger als der Diamant, der an seiner wohlgepflegten Hand erglänzte, oder der Bernhardiner, von dem er sich sonst begleiten ließ. – Aber die bösen Zungen! – Schließlich waren es dieselben, welche –

Ein Zufall führte mich mit der alten Dame zusammen, die schon in den ersten Momenten unseres Gesprächs mein Herz gefangen nahm. Welche Vornehmheit der Gesinnung, welche Zartheit des Empfindens! Und wie ihr Auge leuchtete, als sie von ihrem Sohne sprach! – Mit welch ahnungsloser Begeisterung sie mir seine Vorzüge aufreihte! – Aber so sind ja die Mütter alle! – Gott segne sie dafür!

Und er war so recht ihr Schmerzenskind gewesen. In dem Hause eines vermögenslosen Offiziers geht es nicht allzu reichlich her – ein Häuflein Kinder dazu – o, sie hatten daheim vieles entbehren, und die Mädchen hatten heimlich für ein Ladengeschäft sticken müssen, alles, damit dem Sohne das teure Studium ermöglicht werde; und dann die Referendarienzeit erst! Aber jetzt, da seine Not 149 vorüber und die anderen alle gut versorgt seien – am besten ihr braver Gatte im Himmel droben – da habe sie sich entschlossen, zu ihm, ihrem Aeltesten, ihrem Abgott, her nach Berlin zu ziehen und sich seines Glückes zu freuen; und bei ihm gedenke sie auch ihr Leben zu beschließen.

So sagte sie damals. – Um so mehr wunderte ich mich, als ich etliche Monate später von eingeweihter Seite erfuhr, die Mutter habe ihren Sohn plötzlich verlassen und sei für immer in die Provinz zurückgekehrt.

»Die Weiber, die Weiber haben sie vertrieben,« rief ich aus. Ja, die Weiber waren schuld gewesen, aber in weit, weit anderem Sinne, als ich Vorwitziger es mir dachte. Gleichzeitig erfuhr ich die trübe Geschichte.

Wohl hatte Herr v. *** sorgsam darauf hingearbeitet, daß seine Art, das Leben zu genießen, der Mutter verborgen bleibe. Er hatte sich in einem entfernten Teile der Stadt eine zweite Wohnung gemietet und die Stunden seines Ausbleibens mit einem dichten Lügenschleier umwoben. Allein ein Mutterauge sieht scharf. – Gewisse parfümierte Billets – anonyme Blumenspenden – geheimnisvolle Botschaften – kurz, sie wußte bald alles. Aber wenn auch ihr reines Gemüt sich dagegen empörte, dieses Treiben mit anzuschauen, das war es nicht, was sie von hinnen trieb. Bei alledem stieg kein anderer Gedanke in ihr auf, als Angst um den geliebten Sohn. Die Schuld trugen ja jene, die schlechten verführerischen Weiber. Sie lebte fortan nur dem einen Wunsche, ihn allgemach deren unheilvollem Einfluß zu entziehen, ihn an die stillen Freuden der Häuslichkeit zu gewöhnen, ja, sie ging schon mit 150 dem Plane um, ihm eine Gattin auszusuchen, nur wollte sich durchaus kein Wesen finden, welches alle die Vorzüge besessen hätte, die zu diesem ersten Platze der Welt notwendig gehörten. Da eines Tages . . .

Eines Tages saß sie in dem traulichen Erkerzimmer der gemeinsamen Wohnung, den Sohn erwartend, und schaute auf das Schneetreiben hinunter, welches die Straße mit weißen Wolken erfüllte, als plötzlich die Thür aufgerissen wurde und ein Weib hereingestürzt kam, ein junges, schönes Weib aus der Gesellschaft, das sie kannte und dem sie von Herzen zugethan war, um so mehr, da sie in ihrem Hause gleich einer alterprobten, werten Freundin empfangen worden.

»Um Gotteswillen, meine Beste, was ist geschehen? Wie sehen Sie aus?«

Ihre kostbare Kleidung war derangiert, ihr Antlitz marmorblaß, der Ausdruck wilder Entschlossenheit lag darauf. Schnee hing an ihren Haaren – sie schien aufgelöst in Schmerz und Verzweiflung.

»Wo ist Ihr Sohn?«

Sie sprach die Worte unheimlich leise und spähte dabei mit irren, suchenden Augen um sich.

»Mein Sohn ist nicht daheim. Ich erwarte ihn soeben. – – – Aber, liebste Freundin, kommen Sie zu sich! – Ist ein Unglück – – –?«

»Verbergen Sie ihn nicht vor mir. Ich muß ihn sprechen . . . Ich hab' – so lange – im Schnee gestanden. – Er soll mich nicht länger – warten lassen. – Ich geh' nicht fort, bis ich ihn gesprochen.«

151 Es war klar – das Weib raste.

Und die Mutter redete ihr liebevoll zu, ließ sie auf dem Sofa niedersitzen, rieb ihr die erstarrten Glieder und benetzte die Schläfe mit Kölnischem Wasser. Da erst kam sie wieder zu Sinnen und erkannte, vor wem eigentlich sie sich befand. Sie brach in ein krampfhaftes Weinen aus, fiel der Mutter zu Füßen und gestand in wirren, abgerissenen Worten, was sie verbrochen. O, sie war ja so schwer für ihren Leichtsinn bestraft . . . Er hatte sie gequält, gequält bis aufs Blut . . . Nun wollte er sich nicht mehr sprechen lassen . . . Sie müsse vergehen vor Angst und Liebe . . . Sie könne nicht leben ohne ihn . . . Nur der Tod sei ihr Erlösung.

Die Mutter wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn. Ihr treues, ehrliches Herz krampfte sich zusammen vor dieser Pflichtvergessenen, die sich zu ihren Füßen wand, und doch konnte sie angesichts so großen Elends ihr Mitleid nicht zurückdrängen. Doch als die Knieende, die dargereichten Hände mit Küssen bedeckend, es wagte, sie um Begünstigung ihrer frevlerischen Leidenschaft anzuflehen, da wandte sie sich entrüstet ab.

Vor ihrem Geiste stand das Bild der zwei engelhaften jungen Wesen, die sie noch vor wenig Tagen um die Mutter spielend gefunden, und die Hand streng erhebend, sagte sie: »Gehen Sie zu Ihren Kindern!«

Wie versteinert in ihrem Schmerze starrte das gerichtete Weib zu ihr empor. Da erklangen im Nebenzimmer Schritte, harte, sieggewohnte Schritte. Er war heimgekommen.

152 Seine Geliebte horchte hoch auf, sprang empor und stürzte zu ihm hinein.

Die Mutter sank auf dem Sofa zusammen und preßte das Gesicht in die Polster. Wie von einem bösen Traume umfangen, hörte sie folgendes Zwiegespräch:

Er, zornig, mit mühsam gedämpfter Stimme: »Was, du hier? . . . Was willst du? . . . Hab' ich dir nicht streng verboten . . .?«

Sie, leise und trotzig: »Ich muß dich sprechen.«

»Hat meine Mutter dich gesehen?«

»Nein.« Sie log, die Unglückselige, sie wußte wohl, daß, wenn sie die Wahrheit spreche, alles zu Ende war.

»Geh rasch nach Hause, damit sie dich nicht trifft . . . Durch diese Thür! . . . Sie darf von allen diesen Sachen nichts wissen.«

»Ich muß dich sprechen.«

»Ja, mein Gott, so komm heute abend nach der S.-Straße. Läute zweimal an der Thür wie früher.«

»Ach nein! Du weisest mich wieder ab – oder läßt mich warten. – Heute stand ich schon zwei Stunden im Schnee. – Nein, ich muß dich sprechen; jetzt gleich.«

»Also schnell! Was willst du von mir?«

Lange Pause – dann ihre Stimme unter lautem Schluchzen aufschreiend: »Curt, was hab' ich dir gethan?«

Er (nervös): »Ich bitte dich, Kind, mäßige dich. Ich habe dir nichts vorzuwerfen – durchaus nichts. Du bist mir ein liebes, süßes Weib gewesen . . . Aber du wirst einsehen – jedes Ding hat seine Zeit . . . Du hast meinen 153 Brief doch erhalten? Es muß zu Ende sein zwischen uns. – Wir haben uns nichts mehr zu sagen.«

»Du wagst es also, mich fortzuwerfen wie eine Dirne?«

»Laß doch die Vergleiche! Man findet unter den Dirnen sehr anhängliche und unter den ehrbaren Frauen sehr treulose Geschöpfe. Schließlich ist die eine nicht mehr wert als die andere.«

»O, du beschimpfst mich also noch, mich, die ich dir meine Ehre, mein Glück, mein alles hingeopfert? Das ist der Dank –«

»Mein Gott, ich rede ja nicht von dir – nur von den Frauen ganz im allgemeinen . . . Ich kenne euer Geschlecht und weiß, was es verdient . . . Wir Männer haben zu schaffen und zu wirken in der großen Welt – wir brauchen unsere Kraft gegen Männer, wir sind zu gut dazu, uns von einem Weibe die Laune verderben zu lassen . . . O, ich kenn' euch! Wer euch en bagatelle behandelt, den betet ihr an, wer euch liebt, den macht ihr zum Spielzeug. Falsch und treulos seid ihr alle; daher ist's besser, man kommt euch zuvor und betrügt euch, damit man nicht betrogen werde.«

»Und so sind die Frauen alle, Curt?«

»Alle!«

»Auch ich? Hab' ich dich je betrogen?«

»Mich vielleicht nicht.«

»O, schmäh' mich nur, schmäh' mich nur! Aber hier auf den Knieen beschwör' ich dich!«

»Steh auf, mach' mir keine Scene!«

154 »Ich beschwöre dich beim Haupte deiner Mutter – –«

Er heftig dazwischen: »Nenne den Namen meiner Mutter nicht . . .«

Da fuhr die Greisin empor. – Im nächsten Augenblicke stand sie hoch aufgerichtet zwischen den Falten der Portiere. Alles Blut war aus ihrem Gesichte gewichen. – Sie glich einer Gestorbenen.

»Ja, sie soll ihn nennen – und nicht vergebens,« sagte sie mit einer Stimme, in der die Qual eines brechenden Mutterherzens erzitterte.

Sie ging zu der Knieenden, und sie sanft in ihre Arme schließend, fuhr sie fort: »Stehen Sie auf, meine Tochter, und verzeihen Sie mir, daß ich vorhin hart gegen Sie war. – Das Weib soll dem Weibe helfend zur Seite stehen, denn wir leiden ja alle unter dem Fluche unserer Liebe. – Jetzt wahren Sie die Würde unseres Geschlechts, die er mit Füßen trat, und kommen Sie mit mir. Auch mich hat er beschimpft, denn er vergaß das Eine: die Mutter, die ihm das Leben gab, ist auch ein Weib. Er ließ es sie schwer büßen in dieser Stunde.«

»Mutter, ich bitte dich, höre – – –« Der Blick, den sie ihm zuwarf, machte ihn verstummen.

Kaum selber im stande, sich aufrecht zu halten, führte sie seine wankende Geliebte hinaus.

Den Tag über blieb sie allein in ihrem Zimmer verschlossen. Ihr Sohn bat vergebens um Einlaß. Gegen Abend ging er aus, um sich im Weinhause zu betäuben. Als er wiederkehrte, war sie fort. Auf dem Tische lag ein Brief, die Adresse kaum leserlich von den Thränen, die 155 darauf niedergeflossen waren. Was er enthielt, hat nie ein Mensch erfahren.


Herr v. *** ließ sich bald darauf als Landrat in eine kleine Kreisstadt des äußersten Ostens versetzen. Vielleicht lernt er dort, daß Weib und Mutter ein und dasselbe sind. 156

 


 


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