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Lätitia pflegte während der kurzen trüben Wintertage, an denen tiefer Schnee die Erde bedeckte, und während der langen Winternächte, nach denen die rosige Morgendämmerung gar lange anzubrechen säumte, die wiedergekehrte Schwester treulich und gewann sie dem Leben zurück.
Von Lätitias schmalen Lippen fiel kein Wort des Vorwurfs, des Tadels, der Bitterkeit oder der Klage, und trotz des unsäglichen Wehs, das ihr Herz erfüllte, brachte sie es fertig, mit Mund und Auge stets mutig zu lächeln.
In einer Art sanften Mitleids mit sich selbst befangen, machte sie sich klar, daß die Geschichte ihrer Liebe nun zu Ende sei. Sie hatte länger gewährt, als es den meisten Frauen beschieden ist, und ihr Geliebter hatte sich treuer erwiesen, als die meisten Männer es zu sein pflegen.
Treu, unwandelbar treu durch zwanzig lange Jahre!
Eine wahrhaft ideale Liebesgeschichte, die mit all ihrer Seligkeit und Zärtlichkeit und ihrem süßen Zauber einen Zeitraum von zwanzig Jahren umfaßte. Und das war und blieb ihr eigener Roman – niemand konnte sie der lieblichen, reizvollen Vergangenheit, der zärtlichen Glut jener fernen Jahre berauben! Sie gehörten ihr, sie waren ihr heiligster Schatz, der ihr nie besudelt oder entrissen werden konnte, – diese heiligen Freuden konnte ihr kein Fremder verderben!
Aber sie hatte ihr Leben auszuleben, und nicht für sich selbst, sondern für andre, die ihrer bedurften. Vielleicht söhnte sie, wie die meisten Menschen, deren Lebenshoffnungen sich nicht erfüllen, dieser Gedanke mit der trüben, einsamen Zukunft aus, die vor ihr lag.
Mehr als einmal war ihr Hoffen der Erfüllung nahe gewesen; der Himmel hatte sich vor ihr aufgethan, und mehr als ein Blick auf die Herrlichkeit, die drinnen ihrer harrte, war ihr vergönnt gewesen. Aber nun hatte er sich vor ihren verlangenden Augen wiederum geschlossen; das strahlend schöne Morgenrot der Liebe war erloschen – eine neue Liebe war für sie ja völlig ausgeschlossen – und schon fingen die Schatten des Abends an, sich auf ihr Leben herniederzusenken.
Diese angenehmen Wahrheiten machte sie sich klar, während sie am Bett des Mädchens wachte, das ihr den Geliebten geraubt hatte. Der dumpfe Schmerz über ihre unfruchtbare Weiblichkeit nagte an ihrem Herzen; aber aus ihren Augen strahlte das alte, mutige, tapfere Licht.
Als der Schnee von den Hügeln schmolz und die Schneeglöckchen und die feurig gelben Krokus mit ihren hochwillkommenen Köpfchen aus der nassen Erde hervorlugten, da rief Lätitia ihren fernen Geliebten zu sich.
Er kam im frostigen Schein der Januarsonne, die tief am Himmel stand und durch einen Schleier von Thränen des Glücks hindurchzublicken schien.
Lange, so lange wie noch nie in seinem Leben, war er mit ihr eingeschlossen, der Geliebte ihrer Jugend. Lätitias Mut wankte nicht, als sie ihm die Geschichte von Cynthias Liebe und Wiederkehr erzählte und ihm aus eigenem freiem Entschluß das Wort zurückgab, das er ihr zwanzig Jahre zuvor verpfändet hatte.
Basils edle, feurige Natur geriet in Aufruhr; ihre Selbstlosigkeit demütigte ihn bis in den Staub, und nie, bis zu dem Augenblick, wo er Lätitia für immer verlor, hatte er gewußt, wie hoch ihre Liebe über der seinen stand.
»Gott segne dich, Lätitia,« sagte er, als er ihr am Schluß dieser langen Unterredung innig die Hand drückte, »Gott segne dich, du bist ein edles Weib!«
Der Schnee war ganz geschmolzen, und in dem feuchten, grünen Garten blühten die flammenden Krokus, und die erste Narzisse hatte ihre goldene Trompete erhoben, um als Herold das Nahen des Frühlings zu verkünden, als Basil Haworth Cynthia hinabtrug in das Wohnzimmer hinter der Veranda, wo die Holzklötze im Kamin lustig aufflackerten, um sie willkommen zu heißen.
Auf seinen Armen trug er sie hinab, dies bleiche Schneeglöckchen, dies im Schnee verirrte Menschenkind, und ihre Wange lehnte an der seinen, und ihre Arme schlangen sich um seinen Nacken.
Möglich, daß es nur die rote Glut des Feuers und nicht der warme Hauch seines Mundes war, die die rosige Farbe der Gesundheit auf ihr blasses Gesichtchen zurückzauberte, als sie, die Hand des Geliebten in der ihren haltend, im matten Wintersonnenschein auf dem mit Kattun bezogenen Sofa lag, wo Lätitia an jenem verhängnisvollen Hochzeitsmorgen nach und nach zum Bewußtsein ihres Unglücks erwacht war.
Diese beiden närrisch glücklichen Menschenkinder hatten sich so unendlich viel zu sagen, daß Lätitia sie rücksichtsvoll allein ließ.
Das Gaisblatt, in frischem Saft und mit jungen Trieben, hing schleppend über die Veranda herab, das Rotkehlchen sang in der wilden Rosenhecke, und die Amsel schlug auf der Rüster, und die ganze zahlreiche Familie Fink zwitscherte von den blätterlosen Zweigen herab.
Die Luft tönte von Flügelschlag, von verliebtem Trillern und dem Gesang fröhlicher Vögel, deren kleine Herzen so von Liebe überströmten, daß sie unmöglich länger schweigen konnten; denn der Frühling wurde in ihnen lebendig.
Während dieser ersten, hoffnungsvollen Tage des Jahres trug Basil seine gebrochene Lilie die Treppe des Myrtenhäuschens hinab und beobachtete, wie nach und nach die Lebenskraft wiederkehrte, und wie die Schatten der Krankheit und des Todes langsam von dem schönen Antlitz wichen. In ihrer jetzigen Hilflosigkeit war Cynthia lieblicher, als sie ihm je in voller Kraft und Gesundheit erschienen war.
Der große Zauberer hatte sie mit seinem Stab berührt, ihre Schwäche wich, und jeder Pulsschlag des wiederkehrenden Lebens erfüllte sie mit der vollsten Freude am Dasein. Ihre Lippen bebten in dieser neuen Glückseligkeit, und aus ihren Augen brach ein Licht, das niemals früher, weder zu Wasser noch zu Land für ihn geleuchtet hatte, das er zum erstenmal erblickte in den Augen des Weibes, das er liebte.
Lätitias Zeit war durch die weitgehenden Ansprüche der lieben Armen in Little Silver so in Anspruch genommen, daß sie während dieser kurzen Wintertage nur selten zu Hause war.
Es war noch sehr früh im Jahr für Gartenarbeit irgend welcher Art; aber als die Anforderungen an ihre Zeit in Little Silver etwas nachließen, war sie, sobald die matten Sonnenstrahlen durch die kahlen Zweige brachen, in dem feuchten, kleinen Garten zu sehen, wo sie emsig zwischen ihren Blumen und Gemüsen hantierte – eine graue, geduldige, fleißige Gestalt mit einer rotwollenen Kapuze und hochaufgeschürzten groben Röcken.
Nicht ohne ein Gefühl von Reue und Scham beobachteten die Liebenden ihr Kommen und Gehen auf den grünen Gartenwegen. Auf ihrem heiteren, freundlichen Gesicht war kein Schatten von Leiden, Enttäuschung oder Bedauern zu sehen. Mochte ihr Herz auch fast vergehen in grausamer Pein und sich unter dem Fischbein ihrer steifen, grauen Taille schmerzhaft zusammenkrampfen, auf den schmalen, runzligen Wangen ließ sich keine Spur einer geheimen Wunde entdecken.
Vatheks Engel vermochten das geheime Feuer, das sie unter ihren Schwingen verzehrte, nicht erfolgreicher zu verbergen, als Lätitia die brennende Wunde, die tief in ihr zuckendes Fleisch hineinfraß, und die verzweifelte Eifersucht, die in ihrem dürftigen Busen tobte.
Wohl besaß sie, falls ihr nicht unter ihrem groben, grauen Wollkleid vor der Zeit welche sproßten, außer den Flügeln ihrer roten Kapuze und ihres lilafarbenen Schutzhutes, keine nennenswerten Schwingen; aber der enge Kreis ihres Lebens mit seinen täglichen kleinen Pflichten bot ihr so reichlich Gelegenheit zur Selbstverleugnung und Kreuzigung ihres Ichs, daß auch der anspruchsvollste Märtyrer, der ehedem nur in der Verfolgung und am Marterpfahl diese Gelegenheit fand, sich damit hätte zufriedengeben können. Schon hatte ihr ereignisloses, einförmiges Dasein wieder angefangen sich in der altgewohnten Weise weiter abzuspinnen. An Stelle des rührenden Ausdrucks von Hoffen und Harren, der ihren Augen sonst eigen war, war in diesen kurzen Wochen ein andrer getreten, der, nicht weniger lieblich und ergreifend, doch die Erhabenheit und den Edelmut ihrer Seele hervortreten ließ.
Die Hoffnung ihrer Jugend und ihrer reiferen Frauenjahre war in die Brüche gegangen und gehörte nun schon der Vergangenheit an, und sie sagte sich, daß deren Erfüllung weit mehr Sorge und Enttäuschung in ihrem Gefolge gehabt haben würde, als ihre Vernichtung. Gleichwohl war es die Hoffnung ihrer Jugend gewesen, und die Wunde war noch zu frisch, als daß das Wort Gottes von der Wiedervergeltung schon als Balsam hätte wirken können.
Mit den von Lavendel durchdufteten Hochzeitskleidern hatte Lätitia auch den Traum ihrer Jugend beiseite gelegt; aber im Unterschied zu jenen wurde er nimmermehr alt, rostfleckig oder stockig. Aus diesen Frühlingstagen, wo die thörichten Verliebten in ihrem jungen Glücke schwelgten, war ihr eine erweiterte Fähigkeit des Leidens und Duldens erwachsen.
»Liebste Lettice,« konnte Cynthia wohl durch die Fensterscheiben hinausrufen, »bitte, komm doch herein aus dem häßlichen, feuchten Garten. Sieh nur, wie köstlich behaglich es hier innen ist!«
Ach, das war es ja gerade!
Dann stapfte die schlichte, graue Gestalt in ihren Holzschuhen auf die Veranda hinauf, küßte sie durch die Scheibe und schüttelte den Kopf so heftig, als sie es unter der Kapuze vermochte.
»Noch nicht, liebes Herz, noch nicht; denn der Frühling wird da sein, ehe ich für ihn bereit bin.« Damit eilte sie wieder davon zu ihren Rosenstöcken, und nur die Schwalben hoch oben in der Luft hätten sagen können, ob auch noch andre als Tautropfen herniederfielen auf die Mutter Erde, deren liebevoller, brauner Schoß ja immer bereit ist, alles Weh und Leid der Menschheit in sich aufzunehmen, zu verdecken.
Mutig trug Lätitia ihr Büßerhemd und sorgte, daß auch kein Härchen davon sichtbar wurde über dem schneeweißen leinenen Kragen ihres werktäglichen Anzugs, und niemand konnte sehen, wie blutig und zerrissen der arme schmächtige Leib darunter war; aber dennoch vermochte sie es nicht über sich, die ständige Zeugin des Glückes ihrer Schwester zu sein, des Mädchens, dessen Hand unabsichtlich den Traum ihres Lebens zerstörte.
Im April, als die Frühlingssonne warme Strahlen zur Erde sandte, als der Flieder blühte, und die englische Hyazinthe alle Wälder schmückte, als die Luft von den Liebesliedern glücklicher Vögel wiederklang, da stand Cynthia Primrose in schneeiger Weiße am Altar von Sancta Maria und wurde Basil Haworths Weib.
Blumen schmückten den Altar und dessen Umfriedigung, Blumen bedeckten den Weg, der durch den Friedhof zwischen Gräbern entlang zur Kirche führte. Alle Mütter und Kinder von Little Silver waren erschienen mit Sträußen von duftenden Feldblumen, die sie der lieblichen Braut auf den Weg streuten. Eigentlich waren es keine Sträuße, selbst keine Bündel mehr zu nennen, sondern es waren ganze Schürzen voll duftender Frühlingskinder, die sie mit verschwenderischen Händen ausstreuten. Cynthia schritt buchstäblich über einen Blumenteppich dahin. Doch dies war noch nicht alles.
In der Frühe des Hochzeitstages war eine Schachtel für Cynthia angekommen, und als sie mit bebender Hand den Deckel abnahm, fand sie ein Brautbouquet aus den herrlichsten, weißen Blumen. Kein Blatt Papier, keine Zeile verriet, von wem es kam; aber es war mit einem Endchen blauen Bandes umwunden, bei dessen Anblick alle Farbe aus Cynthias Wangen wich. Sie kannte das Band nur allzu gut und erinnerte sich sofort des Augenblicks, wo sie es zum letztenmal in Dick Holders' Hand erblickt hatte. Es war in jener linden Sommernacht gewesen, wo er sie in seine Arme geschlossen und sie ihm versprochen hatte, sein Weib zu werden.
Nun aber war sie eines andern Mannes Braut, und dieser treue Liebende sandte ihr das Liebespfand zurück und entband sie damit auch ihres übereilten Versprechens. Treu seinem Wort, ehrenhaft wie er war, hatte er geschwiegen und ihr dies stumme, weiße Zeichen seiner Vergebung gesandt.
Cynthia nahm Dick Holders' Strauß mit an den Altar, und die Thränen, die ihren schönen Augen entströmten – es waren viele für eine Braut – fielen in die duftenden Kelche der Blumen.
Doch das waren noch nicht alle Blumen, die an diesem Tage eine Rolle spielten. Eine zarte rote Rose leuchtete aus den dunklen Falten des schwarzen Hutes unsrer Lätitia hervor.
Die Aprilsonne, die sich während der Trauung hinter einer Wolke versteckt hatte, brach mit plötzlichem Glanz hervor, als die Braut nach Beendigung der Feier noch in stiller Andacht am Altar kniete.
Ein Sonnenstrahl glitt durch das Altarfenster, spielte in dem goldenen Haar der Braut und huschte von dort über die Altarumfriedigung weg ins innerste Herz der zarten Rose auf Lätitias schwarzem Hut.
»Seht nur,« rief da eins der Kinder, »ein Sonnenstrahl ist heruntergefallen!«
Die Hochzeitsglocken, die heiteren und doch klagenden Hochzeitsglocken, griffen diesen Ausruf auf und trugen die frohe Botschaft weit hinaus über die sonnigen Hügel.
»Ein – Sonn'strahl ist – herab – gefallen! Ein – Sonn'strahl – ist – herabgefallen!«
Die Blumen und Vögel wußten es alle längst, ehe Lätitia in ihr einsames Landhäuschen zurückkehrte, das mittlerweile ein wohlthätiger Geist von dem letzten selbstischen Bedauern und Sehnen gereinigt und mit den lieblichen Früchten der Entsagung und Selbstverleugnung geschmückt hatte.
Der Sonnenstrahl, der über den Altar hinweg den Kelch der roten Rose küßte, hatte Lätitias schwarzen, verfärbten Hut völlig umgewandelt.
Dies behaupteten wenigstens die Mütter von Little Silver, die alle die Zipfel ihrer reinen Sonntagsschürzen an die Augen führten und schluchzten, als wollten ihnen ihre dankbaren Herzen brechen.
Durch den Thränenschleier ihrer Augen gesehen, war es nicht mehr der schäbige schwarze Hut, sondern eine leuchtende goldene Krone. »Und wenn's jetzt auch keine echte ist,« sagte die Mutter eines Zwillingspaares, – es gibt sehr viele Zwillinge in Little Silver – »so wird sie sich später schon in eine echte verwandeln! Gott segne sie!«
Die Drossel war ebenfalls ganz dieser Meinung, nur drückte sie sie auf andre Weise aus und rief über die wilde Rosenhecke: »Liebes Kind, hübsches Kind!«
Ende.