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Am nächsten Tag war das Rathaus von Silverton von einer dichtgedrängten Menge belagert; denn der des Mordes angeklagte Basil Haworth sollte zu einem vorläufigen öffentlichen Verhör vor der Obrigkeit erscheinen.
Während der ganzen Verhandlung saß er gelassen da, ohne die Unmasse Gesichter zu beachten, die ihn mit kaltem Uebelwollen beobachteten. In der ganzen Menschenmenge sah er nur ein einziges Gesicht, ein bleiches, abgehärmtes Gesicht, das sich dicht unter ihm befand, so nahe, als es nach den Vorschriften des Gerichtshofes überhaupt möglich war; und so oft er nach dieser Richtung blickte, begegneten seine Augen einem mutigen, beruhigenden Lächeln, das ihm rührender erschien, als irgend etwas je zuvor. Auch Lätitia sah nichts als ihn, denn sie wandte kein Auge von ihm.
Es war ein düsterer Wintertag, Winter innerhalb und außerhalb des dunklen, überfüllten Gerichtssaales. Mit ihrem kurzen Gesicht vermochte sie durch die Schatten hindurch, die über dem trüben Saale lagerten, die Reihe ernster Gesichter hinter dem Richtertisch nur undeutlich zu unterscheiden, ebenso wie die Zeugen, die einer um den andern auf der Zeugenbank erschienen und vereidigt wurden.
Wie unbestimmte, ungreifbare Schatten kamen und gingen all diese Gestalten zwischen ihr und dem trüben Tageslicht des Wintertages, das durch die hohen schmalen Fenster in den Saal fiel.
Von ihrem Geliebten nur durch eine hölzerne Schranke getrennt, saß sie ruhig inmitten der drängenden Menge, des drohenden Gemurmels zorniger Stimmen, den aufwärts gewandten, mitleidlosen Gesichtern und dem Geräusch hastig vorwärts strebender Schritte, als wäre sie mit ihm allein Auge in Auge, Herz an Herz; und keinen Augenblick verlor ihr geduldiges Gesicht den Ausdruck unerschütterlichen Vertrauens.
Wohl waren allerlei Formalitäten zu erledigen, aber es gab nicht viel Zeugen zu verhören.
Der Polizist, der nach der Entdeckung von Cynthias Schuhen und Hut das Flußufer untersucht hatte, wurde als erster Zeuge aufgerufen. Er hatte in dem nassen Gras die Fußstapfen eines Mannes verfolgt, die von dem Fußpfad ausgingen; aus der Schrittlänge ließ sich schließen, daß der Mann gelaufen war, und auch die Eindrücke waren derart, daß sie diese Vermutung bestätigten; der besonders tiefe Eindruck der Ferse wies darauf hin, daß der betreffende Mann stark und wuchtig gewesen war, denn schwere Männer treten, wie der Beamte bemerkte, im Laufen stets mit der Ferse fester auf, als mit den Zehen. Er hatte sich ein Paar Schuhe des Gefangenen zu verschaffen gewußt und hatte sie mit den Eindrücken auf der Wiese verglichen, sie paßten genau hinein.
An dieser Stelle der Zeugenaussage lief ein unterdrücktes Gemurmel durch die Reihen, und alle Augen richteten sich auf den Angeklagten, der ruhig und unbewegt dasaß und nur einen einzigen Blick auf das emporgewandte geduldige Gesicht unter ihm warf. In dem mutigen Blick, der dem seinen begegnete, war weder Zweifel noch Verwunderung, nur der alte unerschütterliche Glaube zu lesen.
Das Verhör wurde fortgesetzt. Der Zeuge hatte die Fußspuren bis an die Oberfläche des Wassers hinab verfolgt, dort liefen sie einige Meter weit mit dem Abdruck eines Damenfußes zusammen. Am Ufer waren die unzweifelhaften Spuren eines Handgemenges ersichtlich; das Gras war niedergestampft, die Fußstapfen mischten sich durcheinander, und auf mehrere Meter war das Gras so niedergedrückt, daß es aussah, als sei ein schwerer Körper darüber geschleift worden; danach zeigten sich die männlichen und die weiblichen Fußspuren wieder nebeneinander, bald im Gras, bald daneben, bis zu dem steilen Staffelweg, wo die beiden nebeneinander gesehen worden waren. Auf dem Kleefeld hatte aber kein Tau mehr gelegen, als er bis dahin gelangte, weshalb er die Spuren nicht weiter verfolgen konnte. Den gefundenen Damenschuh hatte er mit den kleineren Fußstapfen gemessen; er paßte genau hinein. In den besonders tief ausgeprägten Fußabdruck am äußersten Rand des Mühlbaches paßte der Schuh des Angeklagten ebenfalls. Nun erschien der Hausknecht des Gasthofs zum Engel auf der Zeugenbank. Er sagte aus, daß er dem Polizisten auf eigene Faust am Morgen der Entdeckung des Mordes die Schuhe ausgefolgt habe, weil er in Betreff des hochwürdigen Herrn, den er an besagtem Tag zwischen zwei und drei Uhr morgens selbst ins Haus gelassen hatte, Verdacht hegte. Er hatte auf den Herrn gewartet, und die Stalluhr, die sehr gut war und ganz genau ging, hatte eben drei geschlagen, als der Zeuge zu Bett ging.
Der Zeuge Sid Forward, der schon vernommen worden war, als bei Cynthias Verschwinden der Thatbestand festgestellt wurde, wurde nochmals verhört. Er bestätigte, daß der Gefangene der nämliche Mann sei, den er in jener Nacht mit der unbekannten Frau am Wasser gesehen hatte. Da er dem Angeklagten guten Morgen gewünscht und dieser ihm gedankt hatte, erkannte er die Stimme sofort, als er ihn beim ersten Verhör sprechen hörte. Die Frau hatte er nicht erkannt, weil sie den Kopf gesenkt hielt.
Wiederum blickte Basil unwillkürlich nach dem geduldigen Gesicht, das ihn, wie er wußte, unaufhörlich beobachtete. Ob sie nun wohl vor ihm zurückschreckte?
Unverwandt blickten Lätitias Augen zu ihm auf. Kein Schimmer von Farbe lag mehr auf ihrem abgehärmten Gesicht; aber auf die stumme Frage in seinem Blick antwortete ihm ein hilfloses, blasses, und doch beruhigendes Lächeln, das ihn so rührte, daß ihm plötzlich die Gesichter der Menge vor den feuchten Augen verschwammen wie in einem Traum.
Ein neuer Zeuge trat auf, ein Ackerknecht, der aussagte, er habe kurz nach zwei Uhr am Morgen von Cynthias Verschwinden in dem Stalle seines Herrn die Pferde besorgt. Der Stall ging auf die Landstraße; er führte die Pferde zur Tränke, und als er sich zur Rückkehr wandte, erblickte er einen wie ein Geistlicher gekleideten Mann, der eiligst die Straße herabkam; er knallte mit der Peitsche, und der Mann blickte zurück, er sah ihn gut; es war gerade zwei Uhr durch; er kannte ihn vom Sehen, da er ihn kürzlich oft auf der Landstraße getroffen hatte; er konnte sich unmöglich täuschen; der Mann war groß und stark, hatte kurzgeschnittenes, lockiges Haar und ein sonnverbranntes Gesicht; die Straße war dort gerade sehr breit; er konnte ihn eine ganze Weile sehen; auch war es nicht völlig dunkel, weil der Mond schien, er hatte ihn im ersten Augenblick in dem Angeklagten wiedererkannt.
Die Aussagen des Zeugen verursachten große Erregung im Saal, und aller Augen richteten sich nach Basils Platz.
Stumme Seelenpein sprach aus seinen blassen Zügen, als er regungslos, vom matten Schein der Dezembersonne beleuchtet, dasaß und all diese erbarmungslosen Augen auf sich gerichtet sah.
Nein, er hatte keine Frage an den Zeugen zu richten.
Nun mußten weitere Formalitäten in Betreff des Auffindens und der Identifizierung der Leiche erledigt werden, und der Vorsitzende, der sich nie eine Gelegenheit entgehen ließ, um seinen Kollegen den richtigen Begriff von seiner überlegenen Weisheit und seinem juristischen Scharfsinn beizubringen, citierte einige wohlbekannte Autoritäten über anscheinend unwiderlegbare Beweise und machte sie alle darauf aufmerksam, daß solche Beweise stets mit der äußersten Vorsicht aufzunehmen seien, ganz besonders aber in einem Falle wie diesem, wo man nur allzu geneigt sei, das tiefste Mitgefühl mit der Dahingeschiedenen und den größten Abscheu gegen den des Verbrechens bezichtigten Angeklagten zu fühlen. Außerdem belehrte er sie auch noch dahin, daß in solchen Fällen des Zweifels, der Ungewißheit und des Geheimnisses der menschliche Grundsatz gelten müsse: »Es ist besser, daß zehn Verbrecher der Strafe entgehen, als daß ein Unschuldiger ungerecht verurteilt wird.«
Nach dieser beruhigenden Rede fragte er den Angeklagten, ob er noch etwas zu bemerken habe.
Nun blickte Basil Haworth zum erstenmal auf und erwiderte, er habe nichts zu bemerken, als daß er an dem Verbrechen, das man ihm zur Last lege, völlig unschuldig sei.
Wiederum lief ein unterdrücktes Gemurmel durch den Saal, das von der Menge draußen aufgenommen wurde und in einem Geheul der Entrüstung endigte. Inmitten dieses Tumultes wurde Basil Haworth verurteilt, sich wegen Ermordung der Cynthia Primrose vor dem nächsten Schwurgericht zu verantworten.
Die Menge jenseits der Schranken, diese erregte, mitleidlose Menge, die sich aus unwissenden Bauern, Metzgern, Bäckern und Arbeitern zusammensetzte, steckte in heiserem Geflüster die Köpfe zusammen. Als der Gefangene zwischen zwei Polizisten in seine Zelle zurückgeführt wurde, erhob sich ein unheilverkündendes Brüllen, und die Menge drängte mit drohenden Worten und Bewegungen auf ihn ein.
In ihrer ehrlichen Entrüstung über das Verbrechen dieses Mannes würden sie ihn unfehlbar gelyncht haben, wenn sich nicht die Polizisten um ihn geschlossen und ihn ihren Augen entzogen hätten.
Unbewegt ließ er das Drohen der Menge über sich ergehen – war es ja doch nicht das erste Mal in seinem Leben; während seiner Thätigkeit als Missionar unter feindlichen Stämmen hatte er gar oft der Entrüstung einer wütenden Volksmenge stand halten müssen. Nicht die anklagenden Stimmen der tosenden Menschenmenge, nicht die Verachtung und der Abscheu, den er auf allen Gesichtern las, waren es, die ihm plötzlich Thränen in die Augen trieben – nein, es war das bleiche, geduldige Antlitz des Weibes, an dem er sich versündigt hatte, und das ihm nun mit dem zärtlichen Vertrauen der Jugendzeit in dem trüben Blick nachsah, bis er ihren Augen entschwunden war.
Der Angeklagte wurde in das Gefängnis von Exeter übergeführt, und Lätitia konnte in diesen trüben Tagen drückender Sorge, die schwerer auf ihr lasteten, als die kurzen, trüben Dezembertage, nichts thun, als warten – warten, während ihre Penaten zerbröckelt zu ihren Füßen rollten.
Mittlerweile war es ganz Winter geworden. Schnee bedeckte die Berge und Hügel um Silverton, Schnee türmte sich in den Thälern zu hohen Wehen an, und schwarz und geisterhaft hoben sich die blätterlosen Bäume von dem trüben, graugelben Himmel ab. Scharf, wie ein zweischneidiges Schwert hatte der bitterkalte Nordwind herren- und heimatlose Menschen und Tiere gezwungen, in Scheunen und Heuschobern Zuflucht zu suchen, und die trübseligen Landstraßen lagen öde und verlassen.
Es war Weihnachtsabend. Schon wochenlang, ehe der Schneefall kam, hatten die Tagelöhner keine Arbeit mehr gefunden; denn die Erde lag in den Banden des Frostes, eines scharfen, schwarzen Frostes, der jedes grüne Blättchen vernichtete und Brunnen und Quellen unter seinem Hauch erstarren machte. Kein Blatt, kein Sonnenschein, kein Vogelsang, kein fröhliches Blöken der Schafe; schwarzgelbe Wolken lagerten sich über den Hügeln und eisige Windstöße wehten von den nördlichen Seen herüber.
Wie ein verdrießlicher, selbstsüchtiger alter Mann hatte der Winter das große Vorratshaus der Natur abgeschlossen und den Schlüssel in die Tasche gesteckt.
Little Silver hatte unter dem allgemein herrschenden Notstand ganz besonders zu leiden, da seine Bevölkerung sich gänzlich aus landwirtschaftlichen Tagelöhnern zusammensetzte. Nicht nur Armut herrschte hier, sondern deren Zwillingsbruder, der Mangel. Schon die Fieberepidemie hatte die kargen Hilfsmittel der Leute erschöpft, und nun war für den harten Winter nicht vorgesorgt, und zu verdienen gab es auch nichts.
Lätitias Leid hatte ihr Herz gegen die Leiden ihrer Nebenmenschen nicht verhärtet. Der schwarze, in der letzten Zeit sehr stark getragene Hut mit dem mutigen, zuverlässigen Gesicht darunter, war häufiger als je auf den schlüpfrigen Gäßchen von Little Silver zu sehen. Selbst die Vögel hatten sich an den beweglichen schwarzen Fleck in der weiten, weißen Landschaft gewöhnt und verwechselten die roten Beeren zwischen den fuchsigen Spitzen nicht mehr mit den Hagebutten und Stechpalmenbeeren in den Hecken. Auch die armen Leute von Silverton waren daran gewöhnt und begrüßten die schlichte Gestalt mit dem lächerlichen schäbigen, alten Hut, als wäre sie ein Engel vom Himmel.
Stets brachte Lätitia aber auch ihren engelhaften Gruß mit sich; es war ein sehr greifbarer in einem umfangreichen Korb, den selbst durch die Straßen von Silverton zu tragen sie sich nicht zu gut dünkte. Es war dies ein ganz merkwürdiger Korb, der sich nur mit dem Oelkrüglein der Witwe vergleichen ließ, denn wie jenes wunderbare Gefäß verfehlte auch er niemals, den an ihn gestellten Anforderungen zu entsprechen.
Es ist ganz merkwürdig, wie weit so ein kleines Oelkrüglein reichen kann, und welche Menge halbverhungerter Nebenmenschen eine Handvoll Mehl, einige wenige Brotlaibe und etliche Fische ernähren kann, wenn die Hand, die sie spendet, durch Glauben gestärkt wird.
Jawohl, die Geschichte vom Oelkrüglein der Witwe und von der Speisung der Fünftausend hat sich in jenen Tagen in unsrer Mitte wiederholt. Es geschehen alle Tage Wunder und Zeichen, ohne daß die einförmigen Gesetze der Natur dadurch gestört werden.
Lätitias bescheidenes Oelkrüglein versagte, trotz der ganz ungewöhnlichen Ansprüche, die an es gemacht wurden, auch in der Weihnachtswoche nicht, und wenn sie am Weihnachtsabend einsam an ihrem verlassenen Kamin saß, in dem ein Bündel Eschenholz brannte, das ihr ein dankbarer Tagelöhner gebracht hatte, so waren doch in Little Silver gar manche Familien vergnügt um ihren Herd vereint.
Trotz Kälte und Schnee, trotz Armut und Tod wurden selbst dort Vorbereitungen für den heiligen Abend getroffen. Kinder, eine Unmasse Kinder, – arme Leute haben ja immer viele Kinder – schmückten mit strahlenden Gesichtern die kahlen Wände der Hütten mit glänzenden Stechpalmzweigen. Dampfende Pfannen brodelten über den Holzfeuern, und der ohnehin schon rege Appetit schwelgte in den ihnen entströmenden Düften. Waren die Holzschüsseln auch wochenlang leer gewesen, an Weihnachten sollten sie gefüllt sein!
Die Erwartung des ungewohnten Festmahls, die an den flammenden Herdfeuern erzählten Geschichten von guten Feen, mit Gaben in ihren Händen, von dem mitternächtlichen Gesang der Engel und der Friedensbotschaft, die sie verkündigten, von den Schäfern und den drei Weisen aus dem Morgenland und dem sie leitenden Stern, der seinen leuchtenden Schein noch auf späte Jahrhunderte wirft, von dem Begründer des Festes, der um diese Zeit noch selbst ein winziges Kindlein war – dies alles ließ die hungrigen Gesichter der Kinder der Arbeit und Armut erstrahlen, während sie sich um die knisternden, flackernden Holzfeuer drängten.
Wie jede gute That dem Spender den meisten Segen bringt, so gewährte es der einsamen Frau unendlichen Trost, an das Glück zu denken, das ihr dürftiges Oelkrüglein in diesen Hütten der Armut verbreitet hatte; es linderte das Gefühl der Verlassenheit und den nagenden Schmerz, der ihr am Herzen fraß, wenn aus den Fluten des Weihnachtsfeuers die teuren Gesichter ihrer Jugend mit unveränderten Zügen emporstiegen, wenn die Weihnachtsabende alter Zeit, aus den Tiefen der Erinnerung auftauchend, an ihrem Geist vorüberzogen.
Das waren freundliche, harmlose Geister, die ihr heute nach so vielen Jahren mit unverändertem Lächeln auf ihren lieben Gesichtern erschienen. Längst verschlungen von Zeit und Tod, hatte die Erinnerung mit ihrem Zauberstab sie unverändert erstehen lassen. Hier war kein Verlust zu merken; die Liebe kennt ja keinen Tod, die Liebe, dieser zarte Faden, der länger währt als das Leben und stärker ist als der Tod!
So füllten die Schatten längst vergangener Weihnachtsabende das stille Gemach, wo das einsame Mädchen an ihrem verödeten Herde saß und weinte. Während sie so weinte, scharten sich die Freunde ihrer Jugend wieder um sie, und längst verstummte, liebe Stimmen flüsterten ihr über all die Jahre weg zärtliche Worte ins Ohr; längst im ewigen Schlaf gefaltete Hände drückten die ihren so fest und so treu wie ehedem, als auf den Schwingen der Mitternacht liebliche Klänge zu ihr herüberschwebten durch die Stille der kalten Winternacht. Waren es wirkliche Glockenklänge, oder war es nur ein Spiel ihrer Phantasie, die ihr schon so manchen Streich gespielt hatte, seit das große Unglück über sie gekommen war? Nein, es war kein Gaukelspiel der Phantasie: ringsum erklangen die Glocken und ließen über die mit Schnee begrabene Welt ihr klagendes Laus Deo erklingen, und der Wind erhob sich und fuhr klagend ums Haus, wie ein Einlaß heischendes menschliches Wesen.
Es hatte den ganzen Tag geschneit und schneite noch immer; es fiel ein Schnee, so fein wie Staub, der in alle Spalten und Ritzen drang, und dazwischen dicke, wollige Flocken, die selbst den wohlbekanntesten Gegenstand in dem kleinen Garten draußen so bedeckten und verhüllten, daß er völlig unkenntlich wurde.
Was war das? Ein Ton wie unterdrücktes Weinen schien sich in das dumpfe Heulen des Windes draußen zu mischen!
Nein, es war doch nur der Wind, der ächzende, heulende Wind, der stöhnend das Haus umfuhr!
Obgleich Lätitia selbst überzeugt war, daß nur ihre Einbildungskraft ihrem Hoffen und Fürchten Stimme geliehen hatte, trat sie doch ans Fenster, zog den Vorhang zur Seite und blickte hinaus in die Winternacht.
»Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen,« klangen die Glocken von Sancta Maria.
War das wirklich nur das Seufzen des Windes? Oder war es das Klagen einer menschlichen Stimme, der Schrei eines Nachtvogels oder das ängstliche Blöken eines verirrten Lammes? Mochte es sein, was es wollte, Lätitias Herz stand still bei diesem Ton; ihr mutiges, liebevolles Herz, so weich und mitleidvoll mit andrer Not, so stark und groß im Ertragen und im Sichselbstverleugnen. Mit fliegenden Pulsen lauschte sie nun hinaus, während der Schrei noch immer in ihren Ohren klang; sie wußte selbst nicht, was sie hoffte oder fürchtete, als sie die auf die Veranda führende Glasthür aufriß und in die Nacht hinausspähte. Weiß und geisterhaft lag der Garten da; ganze Schneewehen hatten sich vor der Rosenhecke gestaut, und die große Rüster schüttelte ihre Aeste im kalten Winterwind. Aber auf dem Gartenweg waren Fußstapfen, unsichere, hin und her irrende Fußstapfen, aber noch deutlich sichtbar in dem frischgefallenen Schnee.
Lätitia rieb, ärgerlich über ihre Kurzsichtigkeit, ihre trüben Augen und spähte begierig in die Nacht hinaus, während der Wind den Schnee in Wirbeln durch die offene Thür ins Zimmer jagte.
Hätte der Schnee nicht haufenweise vor der Veranda gelegen, so wäre sie hinausgeeilt und den Fußstapfen nachgegangen; aber während sie noch mit laut pochendem Herzen dastand, ertönte ein Schrei oder vielmehr ein anhaltendes Geschrei, das schaurig durch das stille Haus hallte, und das kleine Dienstmädchen stürzte mit entsetztem Gesicht ins Zimmer.
»O, Fräulein,« schrie sie, »ich habe einen Geist gesehen. Fräulein Cynthias Geist!«
Lätitia packte das erschrockene Mädchen und schüttelte sie heftig; sie hielt dies wohl für das einfachste Verfahren, sie wieder zur Vernunft zu bringen.
»Was soll das heißen, Leah?« fragte sie streng, obgleich ihr Gesicht sich plötzlich mit ebenso tödlicher Blässe überzogen hatte, als das des zitternden Mädchens, das sie mit bebenden Händen noch immer an den Schultern gepackt hielt.
»Fräulein Cynthias Geist, Fräulein,« antwortete das Mädchen mit einem ängstlichen Blick nach der Thür. »Ich habe ihr Gesicht ganz deutlich am Fenster gesehen; aber als ich zu schreien anfing, fuhr es weg und verschwand.«
Lätitia folgte der Richtung, die des Mädchens Augen nahmen, schritt hinaus in den Schnee, bahnte sich ihren Weg durch die Schneewehen und verfolgte die Fußstapfen bis an die Rückseite des Hauses.
Ein Geist pflegt keine Spuren hinter sich zu lassen, und diese wurden bei jedem Schritt, den Lätitia vorwärts drang, immer tiefer und deutlicher.
Stöhnend und heftig kam der Wind um die Ecke des Hauses gefegt, oder war es eine menschliche Stimme, ein Schrei menschlichen Schmerzes, der durch das Geheul des Sturmes drang? Er wiederholte sich noch einmal, als Lätitia sich ihren Weg zu bahnen suchte und in wilder Hast über die sonst so wohlbekannten, nun vom Schnee mit dichtem Teppich verhüllten Beete und Einfassungen hinüberstolperte.
Halt! Was war das dort auf dem Weg zur kleinen Gartenthür? – Ein Haufen frischgefallenen Schnees? – Ein formloses Bündel von Kleidern? – Eine menschliche Gestalt? – Nein doch, es mußte ja eine Schneewehe sein!
Rasch eilte Lätitia auf die Erhöhung zu, die der heftig fallende Schnee eilends bedeckte und aller menschlichen Form beraubte.
Ihr Herz stand einen Augenblick still, als sie sich herunterbeugte; dann aber warf sie sich mit lautem Aufschrei neben der formlosen Masse nieder in den Schnee.
»O, mein Kind, mein verlorenes Kind!«
Leah war ihrer Herrin ängstlich in den Garten gefolgt, weil sie sich viel zu sehr fürchtete, um allein im Haus zu bleiben. Mit vereinten Kräften trugen nun Herrin und Dienerin ihren kostbaren Schatz durch den Schnee ins Haus, während die Weihnachtsglocken ihr fröhliches Laus Deo weiter ertönen ließen.