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Aus dem Tagebuch des Professors Zugmeyer:
30. Mai. Gestern sollen sich furchtbare Szenen in der Stadt abgespielt haben. Die Menge hat das Haus des Eleagabal Kuperus, eines harmlosen alten Mannes, gestürmt und zerstört. Er ist eine Art Wundermann, dieser Kuperus, und man weiß nicht, daß er jemals irgend jemandem etwas Böses getan hätte. Warum hat sich die Wut der Leute gerade gegen ihn gerichtet? Das ist das erste Symptom einer Raserei, die bald noch mehr anwachsen wird. Sie werden bald über alle herfallen, die in irgendeiner Weise ihnen entgegenzuwirken versuchen.
1. Juni. Ich bekomme Briefe über Briefe. Wie lange es wohl noch dauern wird, daß die Post arbeitet? Ich sehe diese Briefe gar nicht mehr an. Ich soll antworten, ob es wahr ist, daß die Erde zugrunde gehen wird. Was soll ich da sagen? Warum habe ich nicht geschwiegen? Ich hätte allein alle Angst auf mich nehmen sollen. Das wäre eine Heldentat gewesen, eine wahrhafte Heldentat, gegen die alle andern gepriesenen Taten nichts sind. Aber wenn ein anderer es entdeckt hätte ...? wenigstens ich wäre es dann doch nicht gewesen, der die Menschheit in diesen Abgrund gestürzt hat.
3. Juni. Eleagabal Kuperus, der Wundermann, soll es auch gewußt haben. Wenigstens erzählt man sich, daß dies der Grund für die Wut der Menge gewesen ist. Ein gewisser Nikolaus Zenzinger soll sie angeführt haben. Die Polizei sucht nach ihm. Aber wie wollen sie ihn finden? Nicht die Leute der Besonnenheit und Ordnung haben die Macht, sondern die Wahnsinnigen. Ich sitze die ganzen Nächte hindurch vor meinen Apparaten. Der Terror kommt immer näher, auf der Bahn die ich berechnet habe. Bei Tage finde ich keine Ruhe zum Schlafen. Es ist unmöglich. Ich zermartere mich. Meine Gehilfen haben mich verlassen. Sie haben erklärt, daß sie es für unnötig finden, weiterzuarbeiten. Aber ich kann mich noch nicht ergeben. Ich starre den Himmel an, Nacht für Nacht und hoffe auf die kleine Änderung in der Bahn des Terror, die mir anzeigen würde, daß die Erde gerettet ist. Wenn das noch lange dauert, so sinke ich um, kraftlos, unfähig, mich zu erheben. Aber die Hoffnung hält mich aufrecht. Vielleicht reißt irgendein unberechenbarer Einfluß den Terror von uns weg. Oder: ich habe mich doch geirrt! Ich wünsche, daß ich mich geirrt habe. Es liegt mir nichts daran, wenn mein Gelehrtenruf hin ist. Ich will mich geirrt haben. Man soll sagen, daß ich Dilettant bin, ein unfähiger Mensch. Es liegt mir nichts daran. Aber diese Qual soll von mir genommen sein, daß ich es war ... ich mache mir nichts daraus, wenn es der allergewöhnlichste Rechenfehler war, der dümmste Schnitzer in der allereinfachsten Formel. Aber Alfonso Chiari und Wall und zwanzig andere sind ja zu demselben Resultat gekommen.
10. Juni. Heute habe ich hohen Besuch erhalten. Bezugs Tochter war bei mir. Sie sieht seltsam aus, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Das Parfüm der Sinnlichkeit, das ihr anhaftet, ist ungemein sublimiert, und sie sieht aus, als ob ... nein, es scheint nicht die Angst zu sein, die sie so verändert hat, sondern eher die Sehnsucht ... Was kann sie noch in dieser kurzen Spanne Zeit ersehnen? Sie ist ganz verstört, aber nur wie jemand, der etwas erreichen möchte, und fürchtet, daß es ihm unmöglich sein wird. Ich habe mich niemals mit Psychologie beschäftigt, ich habe den Menschen um mich zu wenig Beachtung geschenkt ... das rächt sich nun, und ich bin gezwungen, in den Seelen aller Menschen, die mir begegnen, angstvoll zu forschen. Es ist ein Glück, daß ich keine Frau und keine Kinder habe. Niemanden, an dem ich unmittelbaren Anteil nehme. – Sie hat mich natürlich gefragt, ob es wirklich wahr sei. Ich habe versucht, mit Möglichkeiten auszuweichen. Aber sie hat mir nicht glauben wollen. Da habe ich ihr alles gesagt. Und ich muß es gestehn, mit einer Aufwallung von Haß und Genugtuung. Das hat mich später entsetzt. Aber es ist begreiflich. Ist sie nicht die Tochter des Mannes, der recht eigentlich den Schrecken in die Welt gesetzt hat. Warum hat Bezug nicht geschwiegen?
11. Juni. Und warum führe ich eigentlich dieses Tagebuch weiter? Warum drängt es mich immer in den Morgenstunden, die Feder zu ergreifen und mein Buch aufzuschlagen? Was soll das? – Vielleicht darum, weil auf dem Grund meiner Seele doch noch immer die Hoffnung liegt. Gegen alle Einwände der Vernunft ...
12. Juni. Heute oder vielleicht gestern ... Doktor Störner hat mich aufgesucht! Ich bin in einer Aufregung, die sich nicht ... Ein Verdacht hat sich bestätigt. Er ist beinahe fürchterliche Gewißheit geworden. Was ist das? Ich glaube, einen teuflischen Plan zu durchschauen. Doktor Störner ist ganz feindlich zu mir gekommen. Er hat mich zuerst wie einen Feind behandelt. Er hat mich für einen Mitschuldigen gehalten. Und seine Anklage ist furchtbar. Bezug! Thomas Bezug! Er glaubt, daß Bezug mit voller Berechnung die allgemeine Bestürzung zu vergrößern sucht. Überall sieht er die Hand Bezugs. Bezug hat durch diesen Zenzinger die Menge gegen Kuperus gehetzt. Und er meint, daß Bezug an dem qualvollen Ende der Menschheit sein gräßliches Vergnügen finde. »Er hat die Instinkte eines Inquisitors,« sagte er, »der unaufhörlich neuen Foltern nachsinnt«. An meinem Zustand hat er gesehen, daß er mir unrecht getan hat. Nun verlangt er einen frommen Betrug von mir. Von mir sei die Nachricht vom Untergang der Erde ausgegangen, ich müsse trachten, die Menschen daran glauben zu machen, daß die Erde gerettet sein wird. Ich wollte es ja tun. Aber ich habe nicht die Kraft dazu, wenn ich mich nicht auf die Wahrheit stützen kann. Woher soll ich in meinem Zustand den Ton der Überzeugung nehmen ... Man wird die Lüge auf tausend Schritte erkennen. Ja – wenn ich einen Funken von Wahrscheinlichkeit dafür hätte ... nur einen fernen Schimmer einer Möglichkeit der Rettung ...
15. Juni. Die Angst treibt wunderliche Blüten. Ich verlasse die Sternwarte nicht. Aber Gerüchte dringen noch zu mir. Man erfährt das meiste nur durch Gerüchte. Die Zeitungen erscheinen schon sehr unregelmäßig, die Arbeiter haben die Arbeit niedergelegt. Da sollen sie das Grabtuch Christi aufgefunden haben. Sie haben es im Dom ausgestellt und schlagen sich vor ihm die Köpfe blutig, zertreten sich ... Und dann etwas, an dem ein Gelächter haftet. Es ist von einer schrecklichen Komik. Ein Triumph der technischen Wissenschaft im Dienste des Glaubens. Am »Ende der Welt.« Die Phonographenindustrie hat noch rasch einen schönen Aufschwung genommen, bevor alles vorbei ist. Sie verkaufen Phonographenzylinder mit dem Segen des Papstes: urbi et orbi ... und mit einem Ave Maria, das er in den Apparat gesprochen hat. Ein phonographierter Segen! Und die Stimme des Papstes soll sehr gut getroffen sein. Es ist ein gutes Stück und eigentlich schade, daß eine Menschheit, der solche Scherze gefallen, schon untergehen muß. Aber was liegt daran, wenn es arme Teufel gibt, die ihre Angst damit beschwichtigen. Fünfzig Prozent des Ergebnisses bekommt der heilige Vater und fünfzig verbleiben der Fabrik. Was die Agenten bekommen, weiß ich nicht. Aber wenn die Erde ihre Zerstörung überleben sollte, werden sie alle ein gutes Geschäft gemacht haben.
18. Juni. Der Schrecken wächst. Man hört unheimliche Dinge von neuen Sekten, die sich bilden. Die alte Erde wirft giftige Blasen auf. Der Todesschweiß bricht ihr aus allen Poren. Sie stöhnt und röchelt. Die Marianiten sollen sich wieder zeigen. Aber das sind harmlose Menschen im Vergleich zu jener anderen Sekte, die alles in Bestürzung versetzt. Die »Brüder des roten Todes« nennen sie sich. Man spricht nur flüsternd von ihnen. Sie scheinen überall ihre Späher zu haben und erwählen ihre Opfer wie ein Raubvogel seine Beute. Denn sie sollen Menschen opfern – es ist, als kehrten die Menschen noch einmal zu allen Grausamkeiten und Tollheiten des Beginnes ihrer Geschichte zurück ... in einem gleichen Zustand der Rat- und Wehrlosigkeit gegenüber den Mächten, die sie nicht zu erkennen vermögen. Diese »Brüder des roten Todes« sollen ihre Angst in Blut ersticken. Sie hausen irgendwo in verfallenen Fabriksgebäuden und sind für die letzten Hüter des Gesetzes unauffindbar. Es sind wirklich tapfere Leute, diese letzten Hüter der Ordnung. Die Mehrzahl ist auf- und davongelaufen und hat es aufgegeben, sich Gefahren auszusetzen – um nichts. Denn man hört jeden Tag davon, daß Polizisten ermordet worden sind ... da und dort.
20. Juni. Es ist kein Wunder, daß alles drunter und drüber geht. Wer soll noch arbeiten wollen, wenn alles so bald zu Ende ist. Die Leute haben ihre Geräte von sich geworfen, sie haben ihre Werkstätten und Maschinen verlassen. Die Bauern kommen in die Stadt hinein und vermehren das Getümmel der Verzweifelten. Sie wollen sich trösten und aufrichten lassen und geraten nur in den Wirbel, der sie aller Besinnung beraubt. Und zu allem Gräßlichen erhebt sich noch ein Gespenst mitten unter ihnen: die Not. Die Teuerung der Lebensmittel ist ungeheuer. Jeder will noch schnell verdienen und genießen. Und dabei ziehen Hunderttausende durch die Straßen, die nichts zu essen haben. Ich habe einen neuen Diener, einen rothaarigen Menschen. Er ist ein tapferer Kerl, der nicht von der allgemeinen Verwirrung angesteckt ist. Er besorgt mir, was ich brauche, und berichtet mir getreu, was vorgeht. Raub und Plünderung sind gewöhnliche Vorkommnisse des Tages.
21. Juni. Der Khedive ist ermordet worden. Er soll von seinen eigenen Weibern erdrosselt worden sein.
22. Juni. Der Präsident der Vereinigten Staaten ist auf der Straße durch Revolverschüsse schwer verletzt worden. Der Taumel hat die ganze Erde erfaßt.
23. Juni. Gestern sollen zwei Regimenter beurlaubt worden sein. Zwei ganze Regimenter. Aufgelöst könnte man vielleicht eher sagen. Die Soldaten waren nicht mehr zu halten. Sie wollten in ihre Heimat zurück, und sie sollen gedroht haben, wenn sie nicht entlassen würden, zuerst ihre Offiziere und dann sich selbst umzubringen. Wenn das Militär nicht mehr gehorcht, wer soll dann den Horden der Rasenden entgegentreten?
24. Juni. Der König von Schweden ist tot. Man hat ihn mit dem halben Palais in die Luft gesprengt. In Rumänien wüten die Bauern wie die Tiere. Überall Kämpfe zwischen alten Feinden: Polen und Deutsche, Tschechen und Deutsche, Ungarn und Deutsche – der alte Haß der ganzen Welt gegen die Deutschen ist losgebrochen ... Man tut seinen Gefühlen keinen Zwang mehr an.
25. Juni. ... Mir zittern die Hände ... ich glaube fast ... ich wage es nicht niederzuschreiben ... Heute Nacht! Wäre es Wahrheit ... wäre es Wahrheit ...
26. Juni. Ich habe mich nicht getäuscht. Es ist Wahrheit. Sie sind gerettet. Die Abweichung des Terrors ist deutlich. Meine Berechnung ist nicht falsch. Aber das Wunder ist geschehen. Eine geheime Kraft wirkt auf den Verderber, daß er langsam zur Seite weicht. Sie sollen nicht einen Tag länger in ihrer Angst leben. Es ist vier Uhr morgens. Ich werde versuchen zu schlafen. Wenn ich es vor Freude kann, nachdem ich es solange aus Sorgen nicht vermochte. Und längstens um neun Uhr morgens bin ich bei Thomas Bezug, um ihm die Nachricht zu überbringen ... ich bin müde ...
26. Juni. Abends 10 Uhr.
Ich muß mich sammeln. Welch ein Tag? Wie sehr hatte Doktor Störner recht. Ich muß überlegen, was zu tun ist. Vor allem, ich darf nicht eine Stunde länger im Dienst dieses Menschen bleiben. Dann kann ich tun, was ich will. Morgen schon bin ich frei und kann ihnen sagen, daß die Erde gerettet ist. Doktor Störner wird mir dabei behilflich sein – gewiß! Er kennt die Wege, auf denen meine frohe Botschaft, mein Evangelium, am raschesten zu ihren Ohren kommt. Und jetzt will ich ruhig aufzeichnen, was mir dieser Tag gebracht hat, denn jetzt weiß ich ja, daß als Schlußvignette meines Tagebuches nicht die Vernichtung stehen wird. – Ich hatte doch geschlafen, und gut geschlafen, viel länger, als ich mir vorgenommen hatte. Weithofer, mein Diener, weckte mich gegen zehn Uhr. Ich stand auf und kleidete mich an. Die wenigen Stunden Schlaf hatten mich ganz ruhig und zuversichtlich gemacht. Alle Aufregung lag weit hinter mir. Als ich fertig war, frühstückte ich reichlich – schon seit langer Zeit hatte ich nicht mit solchem Appetit gegessen – und machte mich auf den Weg in die Stadt. Zum erstenmal seit langen Wochen. Meinem Diener habe ich als dem ersten von allen gesagt, daß wir den Terror nicht mehr zu fürchten haben. Er blieb ganz ruhig, veränderte sein Gesicht nicht im mindesten, als ob ich ihm bloß mitgeteilt hätte, daß ich morgen anstatt Kaffee Schokolade zu frühstücken wünsche. Aber als ich ging, hielt er mir zaghaft die Hand hin – so, als ob er mich zu einem Erfolg in seiner rauhen, naiven Art beglückwünschen wolle. Als ob ich die Gefahr abgewendet hätte. Ich habe mich nicht gescheut, diese Hand zu ergreifen und zu schütteln. Alles Distanzgefühl war von mir genommen, ich fühlte mich durch die Ereignisse der letzten Monate geläutert und wie in einen warmen Strom von Brüderlichkeit getaucht. Ich glaube, daß ich wirklich ein anderer und besserer Mensch geworden bin. Dann sagte ich ihm, daß ich jetzt zu Bezug gehe, um ihm meine Entdeckung mitzuteilen. Da wurde sein Gesicht ganz hart und steinern, wieder ganz anders als vorher, wo bei aller Beherrschung doch ein anderer Ausdruck in seinen Zügen gewesen war. Ich habe erst später begriffen, was das zu bedeuten hatte, als ich aus der Stadt zurückkam und er mir sagte, daß er längere Zeit in Bezugs Diensten gestanden habe. Er kannte ihn besser als ich. – Während ich der Stadt zuging, im frischen Genuß meiner Kraft, und eine große Freude daran fand, im Sonnenschein auf der Straße zu wandern, legte ich mir zurecht, was ich Bezug zu sagen hatte. Ob nun Störner mit seinem Verdacht recht hatte oder nicht, jedenfalls zwang mich mein Verhältnis zu Bezug, ihm vor allem Bericht zu erstatten. Auf der Straße sah ich ganze Züge von Bauern, die mit Weib und Kind neben den mit ihren Habseligkeiten bepackten Wagen der Stadt zustrebten. Vor den ersten Häusern kam mir ein ganzer Trupp betrunkener Soldaten entgegen. Sie hatten ihre Uniformen aufgerissen und hieben mit den Bajonetten die Äste von den Bäumen am Straßenrand. Als ich an dem großen Irrenhaus vorbeikam, sah ich das Tor weit offen. Die Fensterladen waren ausgerissen, die Fenster eingeschlagen und der Garten, in den ich hineinsehen konnte, vollkommen verwüstet. Auf den Steinen der Einfahrt lag ein Mann in einer Uniform, mit dem Gesicht mitten in einer Blutlache. Ich erkundigte mich bei einem alten Mann, der teilnahmslos auf dem Brückengeländer saß, was da geschehen war. Es dauerte lange, bis ich eine Antwort aus ihm herausbekam. Die Irren hatten die wenigen Wärter, die sich ihrer Pflicht nicht entzogen hatten, überfallen und niedergemacht und waren ausgebrochen. Jetzt schweiften sie in der Stadt herum. Vor einer Branntweinschenke der Vorstadt sah ich einen Auflauf. Der Pöbel hatte den Laden erbrochen und unter Geschrei, nachdem sich alle bis zur Besinnungslosigkeit betrunken hatten, die Fässer zerschlagen.
Ich sah, daß ich mich beeilen mußte, meine Nachricht unter die Leute zu bringen. Auf Schritt und Tritt begegnete ich den Anzeichen einer vollkommenen Verwilderung. Vor einem großen Schaufenster der Möbelhandlung Bäck war die Straße so voll Menschen, daß ich nicht durchzudringen vermochte. Als ich mich nach einigen vergeblichen Versuchen zurückziehen wollte, um einen anderen Weg einzuschlagen, war ich so eingekeilt, daß ich mich in Geduld fassen mußte und nicht anders konnte, als dem Zug der Masse zu folgen. Sie drängte gegen das Schaufenster hin und ich sah, daß ihre Aufmerksamkeit dem großen Bild galt, das dort ausgestellt war. Ein ungeheures Bild, von dem das ganze Fenster ausgefüllt war. Ein Stöhnen und Röcheln war um mich herum, ein Keuchen und schreckensvolles Zittern, als ginge von dem Bild dort vorne eine mächtige erschütternde Wirkung aus. Nach einer halben Stunde war ich so weit vorgeschoben, daß ich das Bild betrachten konnte. Es mußte ein Werk desselben Malers sein, der schon ein anderes Gemälde des Weltuntergangs geschaffen hatte. Jenes Gemälde, das mir durch die in Massen verbreiteten Reproduktionen auch bekannt geworden war. Auch dieses neue Werk galt dem Weltuntergang. Eine Tafel unten nannte seinen Titel: »Die letzte Stunde.«
Es war wieder eine weite öde Haide. Aber anstatt des Himmels hing ein Meer von Feuer über ihr. Feuer umloderte den ganzen Horizont, und lange Flammenzungen liefen vor dem Rachen der Glut über die Erde hin. Sie erfaßten das dürre Gras des Bodens und eilten weiter. Gegen den Mittelgrund des Bildes zu standen einige alte Weidenbäume, die mit den verzweifelt emporgeworfenen Ästen aussahen wie brennende Menschen. Nahe bei diesen Bäumen war ein Wagen fahrender Komödianten, dessen Hinterräder bereits von dem Feuer ergriffen waren. Ganz vorne aber war eine Gruppe von Menschen oder vielmehr bloß ein Knäuel von Leibern, deren Haut braun und spröde anzusehen war, wie die knusprige Rinde eines Bratens. Sie hatten einander im Todeskampf umkrallt, die Glieder verschlungen und waren so alle zusammen versengt und von dem fürchterlichen Anhauch der Flammen gebraten worden. Aber unter dem Haufen verzerrter, ineinander geschraubter Leichen war noch ein wenig Leben. Zwei Menschen, ein junger Mann und ein Weib, die wie durch ein Wunder bisher vom Tod verschont geblieben waren. Oder vielmehr nur ein einziger Mensch, denn der junge Mann hatte sich über den noch weichen, blutvollen Körper der Frau geworfen und trank aus einer breiten Wunde gerade zwischen den Brüsten ihr Blut. Die Gestalten waren so groß und diese Gruppe so weit in den Vordergrund gerückt, daß sich der Beschauer dem Gesicht des Mannes gerade gegenüber befand. Die Augen, die aus dem Bild starrten, waren weit aufgerissen und vorgequollen, stier vor Entsetzen, und in ihnen wiederholte sich noch einmal alles Grauen des ganzen Bildes und steigerte sich zu seinem Gipfel. Und wenn man sich von diesen fürchterlichen Augen wegwandte und Horizont und Himmel des Bildes überblickte, dann sah man von allen Seiten Augen auf sich gerichtet. Es war ein Heer von Flammendämonen, das da heranstürmte, mit menschenähnlichen und tierischen Bildungen, grinsende, gräßliche Häupter mit breiten Mäulern, Polypen aus feurigem Schleim, die mit geschwollenen Fühlern vorwärtsschnellten, geflügelte Schlangen ... und alle mit abscheulichen, gierigen Augen ...
An der Erstarrung der Menschen sah ich, daß dieses Bild mit fürchterlicher Gewalt auf sie wirkte. Und es war bei Gott Zeit, daß sie hörten, daß ihre Angst zu Ende sein dürfte. Einen Augenblick war es mir, als müsse ich mich umwenden und unter sie schreien: Es ist nicht wahr! Es ist nicht wahr! Ihr seid gerettet! Es war eine große Versuchung, das kann ich sagen. Aber dann siegte die Überzeugung, daß sie es mir nicht glauben würden, und daß sie unter dem Einfluß dieses Bildes imstande wären, über mich herzufallen und mich zu zerreißen. Und ich durfte mich nicht in diese Gefahr begeben, denn ich war ja der Überbringer der rettenden Botschaft.
Mehr als eine halbe Stunde wurde ich vor dem Bild hin und her geschoben, bis mich endlich eine Welle weitertrug. Ich konnte mich endlich befreien und lief so schnell als möglich dem Palais Bezugs zu. Es war fast schon Mittag, als ich ankam. Ich fand keinen der Diener in den Vorräumen und rannte die Treppe hinauf zu Bezugs Arbeitszimmer. Die Tür war verschlossen. Ich also wieder Treppen hinunter und in Bezugs Wohnung. Endlich kommt mir ein Diener entgegen. Der Herr ist nicht hier, sondern draußen vor der Stadt in seiner Villa. Wieder eine Verzögerung. Ich bin außer mir. Jede Stunde steigert die Raserei der Menge. Ich gebe dem Diener den Auftrag, sofort einen Wagen anspannen zu lassen. Er lacht mich frech an und sagt, daß er von mir keinen Befehl entgegenzunehmen habe. Das sei überhaupt aus, das Befehlen und Gehorchen. Ich packe ihn bei der Kehle und halte ihm meinen Revolver vor die Stirn. In diesem Augenblick sehe ich ein, wie gut ich daran getan habe, Weithofers Rat zu folgen und eine Waffe mitzunehmen.
Da geht er endlich, scheu und mit tückischem Blick. Ich lasse ihn nicht aus den Augen und gehe immer mit ihm, den Revolver in der Hand; ich begleite ihn in den Stall und warte, bis die Pferde angespannt sind. Dann setze ich mich in den Wagen und lasse drauflosfahren, so schnell es gehen will.
Es war halb zwei Uhr, als ich endlich vor Bezugs Villa ankam. Die Zugbrücke war aufgezogen und jemand fragte hinter den Schießscharten hervor, was ich wolle. Ich antwortete, daß ich dringend mit dem Herrn zu sprechen hätte. Dann mußte ich meinen Namen nennen, und man sagte mir, ich müsse warten. Es dauerte eine Stunde, bevor die Zugbrücke herabgelassen wurde. Ich wurde durch einen dunklen Gang geführt, in dem ich Flüstern und das Klirren von Waffen hörte. Der Hof, über den ich kam, war von ein paar Männern bewacht, die mit Gewehren und Revolvern bewaffnet waren. Bezug hatte sich offenbar wohl verwahrt. Man brachte mich in ein Zimmer mit einer Glasdecke und eisernen Wänden und ließ mich dort allein.
Ich mußte wieder eine Stunde warten.
Als ich ungeduldig wurde und den Raum verlassen wollte, fand ich, daß man mich eingeschlossen hatte. Es blieb nichts übrig, als mich der Willkür Bezugs zu überlassen. Aber ich kann sagen, daß ich nie eine ähnliche Nervenqual mitgemacht habe, als während dieser Stunde. Endlich, als ich schon halb wahnsinnig war, holte man mich aus meinem Käfig und führte mich durch einige Gänge in den dicken Mauern dieses festungsartigen Gebäudes. Ich trat in das große Gewächshaus ein und fand Bezug unter einer Gruppe von Palmen. Zwei Männer waren bei ihm. Der eine war unzweifelhaft ein Seemann. Der andere aber steckte in einer höchst sonderbaren Kleidung: eine mittelalterliche Sammetschaube, weite türkische Hosen aus blauem Stoff und spitze Schnabelpantoffeln aus rotem Leder.
Ohne jede Begrüßung fragte Bezug nach meinem Begehren. Was ich denn so dringendes mit ihm zu sprechen habe? Und als ich noch ein wenig zögerte, weil ich von einer begreiflichen Aufregung fast um alle Worte gebracht war, mochte er glauben, daß ich wegen seiner Begleiter nicht sprechen wolle, und sagte: »Lassen Sie nur alle Geheimnistuerei, Professor, die da dürfen alles hören. Es ist der Kapitän Dallago von meiner Regina maris und der brave Kastellan meines Schlosses auf Antothrake.«
»Es liegt mir nichts daran, Herr Baron,« sagte ich, »wenn diese Herren dabei sind. Das, was ich Ihnen zu sagen habe, soll die ganze Welt hören.«
»Also heraus damit!«
»Ich komme, um Ihnen zu sagen, daß die Menschheit von ihrem Entsetzen erlöst ist. Die Erde wird nicht untergehen ... wir sind gerettet.«
Da fuhr Bezug auf mich zu: »Sie sind verrückt, Herr, wie können Sie das behaupten? Sie haben doch selbst zuerst ...«
»Ja – aber ich habe mich jetzt überzeugt ... ich habe unzweideutige Beweise ... der Terror hat seine Bahn verlassen, er entfernt sich von der Erde ...«
Und jetzt mußte ich sehen, daß Störner Bezugs Absichten klar durchdrungen hatte. In seinem Gesicht zischte eine rasende Wut auf. Seine Stimme war kreischend und schrill: »Das ist nicht wahr! Das ist nicht wahr! Was wollen Sie damit? Was haben Sie vor?« Es sah aus, als wolle er mit den Händen nach meinem Halse fahren, und der Kapitän und der Kastellan, die sich immer an seiner Seite hielten, schienen bereit, sich sogleich auf mich zu werfen.
Es war nötig, meine ganze Besonnenheit zusammenzuraffen. Und ich begann, um ihn etwas abzulenken, möglichst ruhig und deutlich und weit sachlicher, als es nötig war, eine Darstellung meiner neuen Beobachtung zu geben. Mein Mittel war gut gewählt. Bezugs Zorn ebbte zurück, und als ich fertig war, sagte er: »Es ist gut! Es mag meinetwegen so sein! Aber sehen Sie einmal das Volk an! Denken Sie, daß man Ihnen glauben wird? Diese Krankheit muß ihren natürlichen Verlauf nehmen.«
»Nein,« sagte ich, »diese Krankheit ist tödlich, und ehe sie ihr natürliches Ende findet, ehe der Tag des Unterganges vorbei ist, könnte sich die Menschheit so schwer verletzt haben, daß sie sich nicht mehr erholen kann.«
»Also, sagen Sie mir, was wollen Sie tun?«
»Ich komme deshalb zu Ihnen, um Sie aufzufordern, die Menschheit zu beruhigen.« Und in einem Anfall von schmerzlicher Wut, daß dieser Peiniger nicht gesonnen schien, der Qual ein Ende zu machen, setzte ich hinzu: »Sie haben diese schreckliche Verwirrung hervorgerufen, es ist ihre Pflicht, Mittel zu finden, um sie zu lösen.«
»Das werde ich nicht tun. Ich sage Ihnen, diese Krankheit muß ihren natürlichen Verlauf nehmen. Es ist mir selbstverständlich lieb, daß Sie mir die Nachricht überbracht haben. Ich kann jetzt mit noch größerem Behagen zusehen, wie sie sich zerfleischen.«
Da konnte ich mich nicht enthalten, zu sagen: »Sie sind ein Schurke, Bezug, der größte Verbrecher, der je gelebt hat.«
Er nahm es ruhig hin und sah mich kalt an, mit seinen scheußlichen Augen, die jetzt einen unbestimmbaren Ausdruck hatten: »Das wissen Sie erst jetzt? Aber Sie werden jetzt auch einsehen, daß ich nicht gelaunt bin, mich um mein Vergnügen bringen zu lassen. Sehen Sie, ich habe mich wohl verwahrt, um bis zum Ende alles auszukosten. Ich werde hier sorgsam bewacht ... von meinen verläßlichsten Leuten. Ich will nicht vorzeitig abgehen, denn die Sensationen dieser letzten Tage sind zu köstlich. Es soll mir nicht geschehen, wie dem Khedive oder dem König von Schweden, die nicht vorsichtig genug waren. Oder wie meinen Freunden, dem Bankier Rosengarten aus Berlin und Mister Smith aus Philadelphia, deren Häuser man gestürmt, und die man erschlagen hat. Wie gesagt, ich danke Ihnen sehr, daß Sie meinem Genuß mit Ihrer Nachricht eine solide Basis gegeben haben.«
Mein maßloser Zorn und meine Verachtung machten mich unvorsichtig. »Gut,« sagte ich bebend, »dann werde ich selbst versuchen, die Wahnsinnigen zur Vernunft zu bringen.«
Bezug sah mir immer in die Augen: »Das werden Sie nicht tun. Sie werden sich nicht selbst zum Tode verurteilen wollen. Es wird Ihnen so ergehen, wie es diesem Eleagabal Kuperus beinahe ergangen wäre, wenn er nicht durch seine Taschenspielerstückchen die Menge getäuscht hätte. Bedenken Sie, damals besaß die Wut der Masse noch nicht diese Wucht und Stoßkraft wie jetzt ...«
Es lag eine deutliche Drohung in diesen Worten, und ich mußte an Störner denken und an das, was er mir von Bezugs Anteil an diesem Sturm auf das Haus des Kuperus gesagt hatte. Aber ich konnte mich doch nicht enthalten, zu wiederholen: »Ich werde es selbst versuchen. Ich werde Mittel und Wege finden ... Ich werde mich nach Bundesgenossen umsehen ...«
Bezug schloß die Augen. »Ich verbiete es Ihnen, diese Nachricht unter die Leute zu bringen.«
»Ich lasse es mir nicht verbieten. Ich halte es für meine Pflicht ...«
Da öffnete Bezug die Lider wieder zu einem schmalen Spalt. Seine Finger streckten sich und schlossen sich wie in einem Krampf, und er hielt mir die geballte Faust vor das Gesicht. »Ich zerdrücke Sie,« zischte er, »es bleibt kein Atom von Ihnen übrig.« Und die beiden Begleiter, die mit ihren Blicken an seinem Gesicht hingen, rückten wieder näher an mich heran.
Bezug bot einen schrecklichen Anblick, und ich weiß nicht, woher ich den Mut nahm, mich seinem Willen zu widersetzen. »Sie werden mich nicht verhindern, zu tun, was ich der Menschheit schuldig bin.«
»Gut,« antwortete er, »gehen Sie mir aus den Augen«, und er wandte sich ab.
Ich verließ die Villa durch den Garten. Hinter einem Gebüsch stand Elisabeth. Ich grüßte sie. Aber sie schaute vor sich hin und sah mich nicht. Der Wagen war nicht mehr da. Aber das war mir gleichgültig, denn nun hätte ich Bezugs Wagen doch nicht mehr benützt. Zu Fuß kehrte ich in die Stadt zurück.
Ich habe mir auf dem Weg einen Plan zurechtzulegen versucht, aber ich konnte nichts finden, das mir zu rascher Hilfe geeignet erschienen wäre. Dann ging ich zu Doktor Störner und teilte ihm mit, was ich entdeckt hatte und was zwischen mir und Bezug geschehen war. Er wußte sich zuerst nicht zu fassen. Dann bat er mich, ihn allein zu lassen, damit er die Sache recht überlegen könne. Er will mir in allem zur Seite stehen und morgen schon in seiner Zeitung die Nachricht veröffentlichen.
Dann wollen wir sehen, was weiter zu tun ist ...«