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Am Gnadenort

Die Wallfahrtskirche von Schönau lag auf einem Basaltkegel, der unvermittelt aus der Ebene aufstieg. Um den Fuß des Berges war das freundliche Dorf im Halbkreis gelagert. Man sah den Häusern bäuerlichen Wohlstand und Behagen an, und der große Maierhof, der den rechten Flügel des Dorfes abschloß, gab das Muster eines gut geleiteten landwirtschaftlichen Besitzes. Er gehörte mit vielen Äckern und Waldparzellen dem reichen Stift oben auf der Höhe, das durch sein wundertätiges Gnadenbild Ströme von Betern und Gnadenwerbern anzog.

Seitdem Polydor Schleimkugel sich um den Ruf des Ortes bemühte, stieg die Zahl der Besucher von Monat zu Monat. Man hatte einige neue Termine festsetzen müssen, an denen die Gnade besonders wirksam war. Schleimkugel hatte die Christenheit mit Bildern, Broschüren und Andenken aus Schönau überschwemmt, so daß alle gläubigen Gemüter in Aufregung gerieten und vor Ungeduld außer sich waren, der hohen Wunder teilhaftig zu werden, die da verheißen wurden.

Seit zwei Wochen war der Zudrang ganz außergewöhnlich groß.

Zum Teil mochte das damit zusammenhängen, daß man sich den Osterfeiertagen näherte, auf die Schleimkugels Broschüren und fliegende Blätter mit sonderlicher Bedeutung hinwiesen. Aber dann war auch noch etwas anderes, was die Menschen in den geheiligten Bezirk trieb. Es war eine große Unruhe unter die Leute gekommen.

Ein Gerücht war aufgetaucht.

Zuerst nur fernhin, schattenhaften Fluges, langsam über den Horizont ziehend. Dann wieder jäher hervorbrechend, näher schon und schärfer und lange verharrend. Es schwoll heran, drohte eine Weile über den Häuptern und zog grollend ab.

Man sprach davon, daß der Untergang der Welt bevorstehe.

Die Zeitungen hatten sich der Sache bemächtigt und versuchten die öffentliche Meinung zu bestimmen. Dem allgemeinen Chore war zunächst nicht wenig Spott beigemischt. Zugmeyers Name wurde mit einem Schlage populär. Es gehörte zu den Erfordernissen der Bildung, über seine Weltuntergangsphantasien zu lächeln. Man nannte ihn in einem Atem zusammen mit einigen anderen Entdeckern, die ihren Ruf demselben spöttischen Lächeln verdankten. Die Redaktionsastronomen bewiesen dem Forum der Abonnenten auf das bestimmteste, daß man es hier nur mit einem Irrtum, einer Art von gelehrtem Aberglauben zu tun habe. Nur selten nahm man die Entdeckung Zugmeyers ernster und erwog die Folgen, um am Schlusse doch immer wieder zu dem Ergebnis zu kommen, daß man keine Ursache habe, sich irgendwie beängstigt zu fühlen.

Dadurch war in den Oberflächenschichten wirklich wieder Beruhigung eingetreten, und man behandelte den Weltuntergang als eines der Themen unter den vielen, wie sie der Tag bringt und nimmt. Selbst die Helden, denen Bezug damals die Eröffnung gemacht hatte, schöpften aus dem allgemeinen Zweifel wieder Mut und Kräfte und dachten daran, aus der Stimmung der Zeitgenossen Gewinn für ihre Kunst zu ziehen. Die Witzblattzeichner brachten Reihen von Karikaturen, in denen die Schrecken der Vernichtung ins Groteske gewendet waren. Ein junger talentvoller Maler, der sich auf Aktualitäten verstand, brachte in vierzehn Tagen ein Kolossalgemälde zustande, das »der letzte Tag« benannt war. Es nahm die breiteste Auslage eines Warenhauses ein und zeigte eine weite Moorlandschaft, die im Vordergrund zu Hügeln anstieg. Über die Ebene flüchteten Menschen in endlosen Zügen, oder in sinnloser Hast, wirr durcheinander, einer den andern überrennend, ohne Rücksicht, nur auf seine eigene Rettung bedacht. Sie sahen mit verzerrten Gesichtern nach rückwärts, wo ein ungeheures, glühendes Gestirn schrecklich drohend über den Horizont stieg. Flammen spielten wütend über den ganzen Ball, ein Getümmel von rasenden Gewittern, und vor der Glut des zerstörenden Sternes standen deutlich und schwarz die Türme einer fernen Stadt, so armselig und winzig wie Menschenwerk vor dem Zorn des Himmels. Die Staubwirbel, die über die Ebene jagten und die Fliehenden einhüllten und hemmten, die Windsbraut, die Äste und Steine mitriß, schienen schon die unmittelbaren Boten des Untergangs zu sein. Im Vordergrund aber, auf den mählich ansteigenden Hügeln, war eine Anzahl von Gruppen dargestellt, in denen die sieben Todsünden zu einer gräßlichen Symphonie der Verzweiflung vereinigt waren. Geizige saßen mit verzerrten Gesichtern inmitten ihrer Schätze, mit Waffen in Bereitschaft, mit denen sie die Habgierigen abzuwehren versuchten, die selbst in diesen letzten Stunden den Neid nicht zu unterdrücken vermochten. Fraß und Völlerei beherrschte in wahnsinnigem Taumel die andern, während Männer und Weiber übereinander herfielen, sich die Kleider vom Leib rissen und in schamloser Nacktheit die letzten Orgien der Wollust feierten.

Vor diesem Bilde war immer ein großer Andrang, und während die einen rein artistisch die Farbenwerte abwogen und das Talent des Malers selbst in dieser raschen und auf den Effekt berechneten Arbeit anerkannten, versuchten die andern durch Scherze über den Eindruck, dem sie sich nicht zu entziehen vermochten, hinwegzukommen.

Am dritten Tage nach der Ausstellung des Bildes wurde dessen Maler eingeladen, sich bei Bezug einzufinden. Er wußte, wie jedermann, daß der verderbliche Planet auf der Sternwarte des Barons entdeckt worden war und daß dieser selbst die Entdeckung in die Öffentlichkeit gebracht hatte, und war gänzlich darüber im Ungewissen, wie Bezug sich zu dem Bilde stellen würde. Dem Maler selbst schien sein Bild eher geeignet, die Gemüter zu ängstigen und zu verwirren. Es gehörte zu seinem Plan, es derzeit als unverkäuflich auszugeben und erst nach dem Weltuntergang, an den er nicht zu glauben vermochte, zu gesteigertem Preis an jemanden zu verkaufen, der eine Erinnerung an diese Zeit des Lebens zu bewahren wünschte. Von Bezug aber wußte er, daß er die Künstler, denen er zuerst seine Mitteilung gemacht hatte, zur Ruhe und Besonnenheit ermahnt und alle guten Kräfte in ihnen aufgerufen hatte. Zu seinem Erstaunen wurde der Maler von Bezug ungemein freundlich empfangen. Kein Wort der Mißbilligung über ein Bild, das, den Absichten Bezugs entgegen, doch eher Schrecken zu verbreiten geeignet war. Nachdem sich der Baron eingehend über die Vorzüge des Bildes ausgelassen hatte, lud er den Maler ein, noch ein zweites Bild zu beginnen, das denselben Gegenstand, aber in einer schrecklichen Steigerung, behandelte. Und als der Künstler noch zögerte, bestellte er das Bild bei ihm, fest und bindend, und setzte selbst einen so ungeheuerlichen Preis aus, daß dem Maler zu schwindeln anfing.

Von alledem, was in den oberen Schichten ein halb verzagtes, halb ironisches Kräuseln hervorrief, drang nur ein dumpfes Gerücht in die Tiefen des Volkes. Ab und zu ein Wort, das sie aufwühlte und für das sich irgendein Deuter eine sonderbare Erklärung ausklügelte.

Die Welt sollte also untergehen! Es war am Himmel eine blutige Faust aufgetaucht, die drohte nach der Erde hinüber! Und die Reichen hatten sich vorgesetzt, den Armen noch das Letzte wegzunehmen, um ihre letzten Tage noch in toller Hast durchjubeln zu können.

Hier unten fehlte die Ehrfurcht vor den Zeitungen. Man war nicht gewohnt, seine Meinung ausschließlich von ihnen bestimmen zu lassen. Und man wußte die ironischen Mienen, die spöttischen Winke, die Scherze nicht so zu nehmen, wie sie gemeint waren. Aus allen Artikeln, die dem Weltuntergangsaberglauben zu Leibe gingen, nahm man nur die Überzeugung, daß man jene Entdeckung wirklich gemacht hatte, daß man davon sprach und sich damit beschäftigte. Die Karikaturen der Witzblätter, die Bilder, die rein artistisch genommen sein wollten, wurden hier auf dem Grunde mit düsterem Ernst betrachtet.

»Sö reden nur so ...« sagte der Dreifaltigkeitsschuster, »damit wir ihnen net dahinter kommen, was sö eigentlich woll'n. Sö woll'n uns bis zum letzten Augenblick nix merken lassen. Sö wollen uns um unsern letzten Tag betrügen.«

Die Gerüchte, die in den dunkeln Höfen, auf den Stiegen und in den Waschküchen verbreitet wurden, gewannen täglich an Macht und schwollen bedrohlich an. Noch wagten sie sich nicht hervor, noch beherrschten sie nur die namenlosen Massen, aber es speicherte sich in ihnen schon die Kraft schlagender Wetter auf. Die alten Weiber trugen eine immerwährende Angst in sich und steigerten ihre Besorgnisse in stundenlangen Gesprächen, indem sie die Schrecken des Untergangs in wilden Phantasien voraus durchlebten. Noch widerstand die leichtsinnige Jugend und ergab sich nicht dem Strom. Aber es kam vor, daß die schon geweckte Angst der Weiber sie bestimmte, zu gewähren, was sie sonst noch versagt hätten. Worauf noch warten? Wozu sich noch weigern, wenn doch ohnehin vielleicht alles schon bald vorbei war? Und nun war es den Leuten sicher, daß der Antichrist in die Welt gekommen war. Er zeigte sich als Vorbote des Untergangs. Unzucht und Hurerei kamen in seinem Gefolge.

Man drängte in die Kirchen und an die besonders geweihten Orte, um Trost zu erlangen.

In Schönau war ein neuer Prediger aufgetreten, der den Leuten mit allen Künsten der Beredsamkeit das jüngste Gericht schilderte. Erst nach längerem Zögern hatte der Prior dem jungen Priester die Erlaubnis erteilt, auf die Kanzel zu treten. Er war eigens zum Bischof gefahren, um die Angelegenheit mit ihm zu besprechen, und unterwarf sich, wenn auch ungern, dessen Entscheidung, daß Pater Methuds Predigten zugelassen seien.

»Die Kirche hat die Verpflichtung,« hatte der Bischof gesagt, »sich um alles zu kümmern, was in der Gemeinde vorgeht. Wir müssen mit unserem Rat, unserer Hilfe, unserem Trost immer bei der Hand sein. Wir dürfen nicht tun, als wüßten wir nicht, was die Leute quält und ängstigt. Sie verlangen ein erlösendes Wort von uns. Wir müssen herausheben und klar vor sie hinstellen, was sie nur dumpf in sich fühlen. Wir müssen sie davon befreien, indem wir es in Worte kleiden. Und wir werden sie zugleich auf Gottes Gnade und Erbarmung verweisen, als auf das einzige, was unser aller Hoffnung ist. Lassen Sie Ihren Prediger nur in diesem Sinn sprechen. Er soll es vermeiden, auffällig auf die Gerüchte von dem Untergang der Erde hinzudeuten. Es bleibe den Leuten überlassen, sich selbst alle Verbindungen und Beziehungen zu suchen.«

Nachdem der Prior gegangen war, teilte der Bischof Bezug mit, daß der Prior von Schönau ihn wegen der Predigten Pater Methuds befragt habe, und daß er nach den Wünschen des Barons beschieden worden sei.

Der Erfolg dieser Predigten war ungeheuer. Aus den Dörfern der Umgebung kam die Bevölkerung fast vollzählig, und aus den entferntesten Orten trafen täglich ganze Pilgerzüge ein. Nicht einmal die Kranken blieben zu Hause. Die Kirche, ein weiter, für Tausende von Gläubigen berechneter Bau fürsorglicher Väter Jesu, war zu klein, um alle Beter zu fassen.

Vor dem wundertätigen Muttergottesbild mußten Priester die Ordnung erhalten. Sie regelten den Zugang und Abgang und duldeten nicht, daß jemand länger als zehn Minuten vor dem Gnadenbild verweile.

Als der Frühzug, mit dem Frau Agathe Sonntags nach Schönau fuhr, hinter den langgestreckten Ausläufer des Waldgebirges kam, der den Ausblick in die Ebene verdeckte, trat sie ans Fenster ihres Wagenabteils. Von hier sah man schon den Basaltkegel von Schönau ganz scharf und blau in der Ferne. Sonst hatte Agathe mit freudiger Ungeduld hinübergesehen, heute war ein schweres Bangen in ihr. Welchen Trost würde der Bischof für sie haben? Grünende Felder links und rechts von der Bahn, endlose, kraftstrotzende Äcker bis an den Horizont gebreitet. Nie hatte Agathe dem Keimen der Erde mit solcher Rührung zugesehen, das große Drama des Jahres war ihrem Leben kein Ereignis gewesen. Und nun trat es in seiner ganzen Schönheit und Macht vor sie, da es vielleicht zum letztenmal war, da sie nicht mehr Gelegenheit haben würde, sich aller seiner Wunder ungetrübten Gemütes zu bemächtigen. Mit einem jähen Erschrecken trat sie vom Fenster zurück: das war unmöglich, das konnte nicht sein ... das war alles nur ein Märchen, eine Erfindung allzu ängstlicher Gelehrter, so würde er es auslegen, gewiß ... und die Zeitungsschreiber, die darüber spotteten, hatten neunmal recht.

Auf dem Bahnhof von Schönau wurde Agathe vom Wagen des Bischofs erwartet. Es war ein großes Gedränge von Pilgern auf dem Bahnsteig, ein Schieben und Stoßen, Rufen und Winken, Weinen kleiner Kinder und Gemurmel von Betern, die es nicht erwarten konnten, mit ihren Werbungen um die Gunst des Himmels zu beginnen. Die bunten Farben der Bauerntrachten brannten in der Sonne, die dunklere Kleidung der Städter trennte die lebhaften Gruppen und umschloß sie wie Inseln, bunt überblühte Inseln, zwischen denen ein trübes Wasser fließt.

Die beiden Diener des Bischofs bahnten Agathe den Weg durch das Gedränge, an dem artig salutierenden Stationschef vorbei, zu dem eleganten Landauer, der vor dem Ausgang hielt. Dann ging es die staubige Straße entlang, die von singenden, in weißliche Wolken gehüllten Prozessionen belebt war, dem Ort zu. Vor dem Gemeindewirtshaus war der Veteranenverein von Schönau aufgestellt. Es war ein gemeinsamer Besuch der Wallfahrtskirche beschlossen worden, denn im Schoß des Ausschusses dieser tapferen gedienten Krieger war eine gewisse Bedenklichkeit wegen des bevorstehenden Weltuntergangs nicht unbemerkt geblieben. Nun versammelte man sich auf dem kleinen Dorfplatz, stärkte sich noch rasch im Gemeindewirtshaus zu dem Aufstieg und trat dann in Doppelreihen zusammen. Eben als man so weit war, daß der Kommandant mit seinem Adjutanten beriet, ob man schon ausrücken solle, bemerkte der Fahnenträger den Wagen des Bischofs.

»Franzel,« rief er dem Hauptmann zu, »paß auf, der Bischof kommt«. Und nachdem sich der Kommandant überzeugt hatte, daß der Wagen, der da die Dorfstraße herankam, wirklich das Gefährt des Bischofs war, riß er sich mit der Geistesgegenwart, die seine Truppen stets an ihm bewundert hatten, herum und schrie weithallend über die Reihen hin: »Also ... achtgeben! Ich wer' glei' habt Acht kommandieren!« Und dann zur Musik gewendet: »Banda! Radetzkymarsch!«

Durch die Glieder ging ein Rucken und Zucken, sie strafften und spannten sich, nahmen Fühlung und richteten sich aus, so gut es möglich war.

Und jetzt war der Wagen herangekommen.

Der Hauptmann sah die Reihen entlang. Er war ganz rot im Gesicht. Und jetzt hob er die weißbehandschuhte Rechte: »Bataillon! Haaabt – Acht!«

Die Musik setzte mit einem gellenden Getöse ein. Sie hatte neben dem Trauermarsch, der bei Begräbnissen der Mitglieder zur Anwendung kam, nur noch den Radetzkymarsch für festliche Anlässe in Vorbereitung. Mit um so größerer Eingebung spielten sie ihn und mit einem Lärm, der ihre Zahl verdreifachte.

Die Sonne schien auf die grünen Federbüsche und die verschossenen Blusen.

Und die Frau Baronin fuhr mit einem kühlen Dank an dem Bataillon vorbei.

Frau Agathe fuhr das langgedehnte Dorf entlang, dem mächtigen Meierhof zu, der wie ein Bollwerk seine rechte Flanke verteidigte. Der Bischof pflegte bei seinem Aufenthalt in Schönau hier unten zu verweilen. Er liebte es nicht, wenn er seine Residenz verließ, sich in Abhängigkeit von dem Zeremoniell des Klosters zu begeben. Das ganze erste Stockwerk des Gebäudes war für ihn eingerichtet worden, eine Flucht von Zimmern, die im Sommer angenehme Kühlung bot. Helle Möbel und leichte Stoffe waren eine freundliche Abwechslung gegen die schwere Pracht der Gemächer in seinem städtischen Palais. Ein paar auserlesene Bilder schmückten die Wände, eine kleine, sorgsam gewählte Bibliothek gab den ruhigen Stunden des behaglichen Genießers Gehalt und Farbe.

Als Frau Agathe das Zimmer betrat, in dem er eben ein Werk des Astronomen Flammarion vorgenommen hatte, erhob er sich und ging ihr entgegen, mit dem freundlichen und freundschaftlichen Lächeln, das er wichtigen Besuchern gegenüber stets bereit hatte.

Aber Agathe war heute nicht imstande, die Steigerung einzuhalten, die ihrem Beisammensein einen stets erneuten Reiz gab, jenes Fortschreiten von Zuständen von liebenswürdiger Vertraulichkeit bis zu den Verzückungen der Liebe, das so weise eingerichtet war, daß es schien, als müsse man die Hindernisse jedesmal immer erst wieder überwinden. Sie nahm heute alle Barrikaden auf einmal, stürzte auf den Bischof los und schlang die Arme um seinen Hals: »Liebster!« keuchte sie: »ich bin außer mir. Ich weiß nicht, was ich tun soll ... Ich fliehe zu dir ...«

Am Ohr des Bischofs war das feine Rauschen ihres seidenen Kleides. Und jenes gleichsam kochende Parfüm umhüllte ihn, das ihn so seltsam erregte. Frau Agathe war noch immer schön, und wenn sie die Schlaffheit und Müdigkeit ihres Zustandes überwand, dann belebten sich ihre Augen mit schwärmerischer Glut. Der Bischof hielt sie fest umschlungen und fühlte ihr wildes Atmen. »Sei doch ruhig,« sagte er, »laß dich doch nicht so verschüchtern. Sei tapfer ... Und er löste sich von ihr und ging zur Tür des Vorzimmers, die er öffnete, um nachzusehen, ob niemand draußen war.

Dann kehrte er zu ihr zurück, die regungslos mit hängenden Armen mitten im Zimmer stehengeblieben war, nahm sie sacht um die Schultern und führte sie zum Fenster, das auf den weiten Garten hinaussah. Er stieß das Fenster auf, und mit der frischen, sonnengewärmten Luft kam der Hall der Glocken herein, die oben die Beter zusammenriefen. Unten in den lustig übergrünten Büschen tobten die Spatzen, und der Sonnenschein lag golden und gut auf allen den Beeten. Jenseits der Gartenmauer waren Felder, dann eine Doppelreihe von Pappeln, die eine ferne Landstraße begleiteten, und dann ganz fern das blaue Grenzgebirge.

Agathe hatte sich in den weichen Lederfauteuil drücken lassen, in dem sie tief einsank. Der Bischof war vor ihr stehengeblieben, so nahe, daß seine Knie die ihren berührten. Beunruhigt, aber schon nicht mehr verzweifelt, sah sie zu ihm auf und hielt seine Hände gefaßt. »Also, was hältst du davon,« fragte sie, »ich bitte dich? So sprich doch. Du schaust mich immer nur an und sagst mir nichts. Glaubst du an dieses Gerücht ...?«

Er wies auf das Buch, das auf dem kleinen Fenstertisch lag. »Du siehst, ich suche mich über diese Frage zu unterrichten. Ich bin leider kein Fachastronom, und ich kann also Zugmeyers Berechnungen und Hypothesen nicht nachprüfen. Ich kann mir nur nach meinem gesunden Menschenverstand mein Urteil bilden. Aber der gesunde Menschenverstand ist in solchen schlimmen Zeiten Anfechtungen ausgesetzt. Kurz, ich weiß nicht, was ich denken soll ...«

»Du willst es mir nur nicht sagen. Du bist sonst so ruhig und sicher ... und solltest gerade diesmal kein Urteil haben ...? Aber du fürchtest selbst, es könnte zu Ende sein.«

»Nein! Nein! Es ist davon keine Rede ... Ich glaube nicht daran. Die Vorsehung ...«

Da fuhr Agathe von ihrem Sitz auf und warf sich wieder dem Bischof ungestüm an die Brust: »Nein ... nein, es darf nicht zu Ende sein ... Es darf nicht. Jetzt, wo ich dich endlich kennengelernt habe! Wo du mich liebst! Ich will leben ... mit dir. Nach langen Jahren der Einsamkeit und der Qual endlich – du! Und nun soll mein Glück zerschlagen werden. Ja – ist denn das auch nur möglich? Ich weiß nicht ... ich glaube, ich bin wahnsinnig, ich bilde mir das ganze wohl nur ein ... das ist wohl gar nicht ... so sprich doch, Franz! sprich doch!«

Der Bischof erschrak vor diesem Sturm. Seine Neigung liebte die glatten Fahrten vor gutem Wind, unter einem heiteren Himmel. Er selbst, der seine Weltanschauung an den Lehren der Stoa gebildet hatte, sah der Möglichkeit eines Unterganges gefaßt entgegen. Aber diese Frau, die ihn hier in ihrer Angst umklammerte, war unfähig, in den kühlen Bereich seiner Philosophie zu treten. Vorsichtig begann er ihr zuzureden, daß man noch gar nichts Bestimmtes wisse, daß sich das ganze Gerücht vorläufig nur auf die sagenhafte Entdeckung Zugmeyers aufbaue. Zugmeyer selbst habe ja noch gar nichts über seinen »Terror« veröffentlicht. Und auch andere Astronomen hätten sich noch nicht geäußert. Die Wissenschaft habe sich also noch keineswegs in irgendeiner Weise endgültig entschieden. Er selbst glaube nicht daran, denn er könne sich durchaus nicht denken, daß Gottes Hand die Uhr dieser Erde schon jetzt zum Stillstand bringen wolle. Es seien Dinge da, die allzu kräftig in die Zukunft hinauswiesen. Und bei der großen allgemeinen Vernünftigkeit in Gottes Plänen sei nicht einzusehen, warum er solche Keime hätte zulassen sollen, wenn ihre Entwicklung nicht in seiner Absicht gelegen wäre.

Der Bischof besaß große Macht über Agathe. Er hatte sie wieder zum Sitzen gebracht und sich selbst neben sie gesetzt, indem er ihre Hände in den seinen behielt.

»Du glaubst also nicht daran?« fragte sie, indem sie ihn dankbar feuchten Auges ansah.

»Nein, ich kann nicht daran glauben!«

Erschöpft und glücklich lehnte sie sich zurück. Nun war die Welt wieder strahlend und heiter. Dann schwand der Glanz aus ihren Augen, und während sie mit zitternden Fingern seine Hände betastete, fragte sie, von einer neuen Besorgnis ergriffen: »Und du ... wirst du mich nicht verlassen? ... Wirst du dich nicht von mir wenden? – Wenn das geschieht, dann wäre es mir lieber, wenn die Erde in Trümmer ginge, hörst du? Das könnte ich nicht ertragen ... das wäre mir bitterer als der Tod.«

 

Der Basaltkegel von Schönau war bis zur Hälfte seiner Höhe mit dichtem Wald bestanden. Die Fahrstraße, die man vor kurzer Zeit angelegt hatte, durchschnitt ihn in gleichmäßigen Spiralen, die um den ganzen Berg herumgingen. Wenn man aus seinem Schatten auf die steinige, überbuschte Halde kam, dann öffnete sich im Weiterfahren das wunderweite Panorama, das dem Berg seinen Ruhm in den Reisebüchern verschafft hatte, auch in den Büchern der Protestanten, denen das Gnadenwunder des Muttergottesbildes nichts galt. Man sah auf die endlose Ebene hinaus, auf den blauen Mäander des breiten Flusses, und das Grenzgebirge war an hellen Tagen so nahe gerückt, daß man die Waldblößen zwischen den Urwäldern unterscheiden konnte und die Warte, die auf dem höchsten Gipfel der Kette errichtet war.

Außer der Fahrstraße führte noch ein Fußweg hinan, ein steiniger, beschwerlicher Pfad, an dem eine Menge von kleinen Kapellen Bilder aus der Leidensgeschichte Christi bewahrte. Ein Kreuzweg, den die Frommen unter eifrigem Gebet zurücklegten, vor jeder der Kapellen verweilend und unter Seufzern der Reue bemüht, würdig oben anzukommen und vor das Gnadenbild zu treten. Es war für die Augustiner des Stiftes Schönau ein Anzeichen der allgemeinen Stimmung, ob der Kreuzweg oder die Fahrstraße mehr benützt wurde. Wem eine dringliche und wichtige Sache am Herzen lag, der nahm den beschwerlichen Weg, wer sich nicht ganz in die Hände der himmlischen Gnade gab und noch ein wenig Vertrauen zu sich selbst behalten hatte, der wählte die Fahrstraße. In der letzten Zeit aber wurde fast ausschließlich der Kreuzweg benützt, und das deutete darauf hin, daß die Angst der Menge groß und ihr Anliegen dringlich sei.

Langsam fuhr der Wagen des Bischofs die Spiralen empor. Wo der Kreuzweg die Straße schnitt, mußte der Kutscher oft für einige Minuten haltmachen, so dicht war die Masse der Andächtigen; und so sehr waren sie ganz von ihrer Andacht erfüllt, daß sie den Rufen des Kutschers keine Beachtung schenkten.

Oben auf dem abgeflachten Gipfel des Berges war die Menge dicht zusammengedrängt. Es bedurfte der ganzen Vorsicht eines geschickten Wagenlenkers, um ein Unglück zu verhüten, und erst als die Laienbrüder, die den Bischof schon erwarteten, dem Kutscher zu Hilfe kamen, konnte der Wagen in den Hof des Stiftes einfahren. Hier empfing der Prior den hohen Gast, erhielt den Bruderkuß und geleitete ihn, von den Brüdern gefolgt, durch das Kloster in die Kirche.

In der Sakristei fand der Bischof einen alten Bekannten: Polydor Schleimkugel stand vor einem Haufen von Meßgewändern und unterhielt sich mit einigen Fratres über den Wert dieser Stücke und die Gediegenheit der Arbeit. Er gab sachverständige Urteile ab, die er durch Beispiele aus allen Kirchenschätzen der Christenheit unterstützte.

Als der Bischof eintrat, wandte ihm Schleimkugel den ungeheuren Körper zu und schnaufte auf ihn los: »Ich habe die Ehre, Euer bischöfliche Gnaden ergebenst meine Ehrfurcht auszusprechen.«

»Ich freue mich, mein lieber Freund, Sie wieder einmal zu sehen. Wie geht es Ihnen?«

»Wenn Euer bischöfliche Gnaden mit meinen geringen Diensten zufrieden sind, dann ist mein Befinden über alles gut.«

»Ich bin mit Ihnen zufrieden, Schleimkugel! Sie haben sich in allen Stücken als einen braven Christen und treuen Sohn der Kirche erwiesen. Wenn ich nicht irre, so kommen Sie eben erst von einer Reise aus dem Orient zurück. Sie waren dort für uns tätig?«

»Ich habe etwas mitgebracht, bischöfliche Gnaden ...« und Schleimkugel trat auf den Bischof zu, daß sein warmer Atem, der ein wenig nach Wein roch, dessen Gesicht traf. Geheimnisvoll flüsternd wiederholte er: »Ich habe etwas mitgebracht ... Ein Heiligtum, so etwas war noch nicht da! Es ist das Großartigste, was man sich denken kann. In Rom haben sie nichts solches.«

»Wirklich?«

»Wirklich und wahrhaftig. Bei weitem nichts solches. Sie würden es mit Gold bedecken, wenn sie es haben könnten. Aber ich gebe es Ihnen, bischöfliche Gnaden ...«

Schleimkugel wurde durch den Prior unterbrochen, der, nachdem er einige Zeit mit einem jungen Priester abseits gestanden hatte, nun diesen an den Bischof heranführte.

»Euer Gnaden gestatten, daß ich Sie um Ihren Segen für diesen jungen Bruder bitte.«

»Ist es Pater Methud?«

Der Prior bejahte, und der Bruder neigte sein Haupt, daß ihm der Bischof auf die kahle, fettig glänzende Tonsur sah.

»Wie kommt es, daß ich Sie noch nie hier im Stift gesehen habe?«

»Ich bin erst vor kurzem aus der böhmischen Provinz hierher versetzt worden.« Die Stimme des Priesters war trocken und knatterte wie brechendes Holz. Der Bischof sah den Mann genau an. Eine lederfarbene Haut spannte sich über vorstehende Backenknochen. Die Kinnladen waren hart und eckig und schienen durch den dünnlippigen, schmalgeschlitzten Mund wie durch ein Schnappschloß zusammengehalten zu werden. Die Stirn war hügelig und voller Beulen, als habe er mit den Fäusten gegen seinen Kopf gehämmert. In den weit auseinander stehenden Augen, deren Achsen etwas schief gestellt waren, lag jetzt, als er den Blick des Bischofs erwiderte, eine kalte, graue Ruhe, ein Erwarten ohne Ungeduld, der Ausdruck eines Mannes, der seiner Kraft bewußt ist und der sich immer vorsagt, er habe Zeit, sie anzuwenden.

Als nun der Bischof die Hand gegen ihn hob, senkte er wieder den Kopf wie vorhin.

»Ich segne Sie, mein Sohn«, sagte der Gast, »Gott gebe Ihnen Weihe und wahrhafte Demut, daß Sie nicht hoffärtig werden, wenn Sie sehen, wie das Volk Ihnen lauscht. Und der Allmächtige lasse Sie alles das beachten, was ich durch Ihren hochwürdigen Herrn Prior als die Grenzen Ihrer Rede vorgezeichnet habe.«

Die dienenden Laienbrüder hielten schon den Ornat bereit, in dem der Bischof dem Amt beizuwohnen hatte. Während sich auch die anderen ankleideten, wobei sie bestrebt waren, langsam und würdevoll in Haltung und Bewegung zu erscheinen, so daß man ihnen ansah, daß sie sich der Feierlichkeit der Vorbereitungen wohl bewußt seien, fuhr der Bischof mit raschen, kräftigen Rucken in das Chorhemd, nahm die Stola um und legte den goldstarrenden Mantel an. Er zog sich noch immer an wie ein Offizier, der frühmorgens in die Kaserne muß, und nachdem er als erster fertig war, wartete er mit einiger Ungeduld, bis die anderen nachkamen.

Dann ging die breite Tür der Sakristei auf, und unter Vorantritt von vier Ordensbrüdern schritt der Bischof in die Kirche hinaus, in einen breiten Sonnenstreifen, der wie ein Teppich vor ihm auf den Steinen lag. Das staubige, dunkelrote Tuch, mit dem die Altarstufen belegt waren, gewann im Licht eine starke Farbe, wie Blut kurz vor dem Erstarren, wenn es noch nicht alle Kraft des Lebens verloren hat. Die Orgel, ein Wunderbau musikalischer Architektur, erzitterte unter der Melodie eines alten Psalmes, mit dem der Regens chori den Bischof begrüßte. Mit einem flüchtigen Blick überschaute Franz Salesius die Kirche. Kopf an Kopf starrte die Menge. Auf seinem Hochsitz angelangt, der seitwärts vom Altar an einer sonst kahlen Wand angebracht war, wandte er sein Gesicht dem Allerheiligsten zu und gestattete seinen Augen keine Abweichung mehr.

Links und rechts von ihm saßen auf niedrigen Stühlen die Würdenträger des Stiftes. Der Prior selbst zelebrierte das Amt.

Obzwar der Bischof nicht ins Schiff der Kirche hinblickte, fühlte er die ungeheure Spannung, mit der jede der feierlichen Bewegungen und jedes Wort des Priors verfolgt wurde. Sie wurden ihm von den Gliedern und vom Mund gelöst und glitten in die Seele der Menge hinüber, die dort betend und in uneingestandener Angst vor dem Altar stand. Der Sonnenschein rückte langsam näher über den Boden vor, indem er die Spuren der unzähligen Fußtritte auf den alten, abgenützten Steinplatten enthüllte. Da glomm der Glanz des Goldes auf dem Mantel des Bischofs auf, und endlich traf das Licht sein Gesicht. Er drückte nur die Augen zusammen und rührte sich nicht. Es tat ihm wohl, die durch die farbigen Gläser der Kirchenfenster bunte und gemilderte Wärme der Sonne zu fühlen. Ein lange nicht gespürtes Behagen wurde ihm zuteil, das von keinem Denken gestört war.

Das Hochamt war zu Ende. Aber der Prior und sein Gefolge verließen den Chorraum nicht, sondern gesellten sich zu ihrem Oberhirten. Der Prior nahm den Stuhl rechts vom Bischof ein, den ihm der Subprior mit einer tiefen Verbeugung einräumte.

Oben auf der Kanzel war Pater Methud erschienen. Er war rasch aus den Falten des dunklen Vorhangs getreten, der das Ende der gewundenen Treppe abschloß. Dann war er an die Brüstung gekommen und niedergesunken, indem er den Kopf hart gegen den Band schlagen ließ. Über ihm schwebte an dem Baldachin die Taube des heiligen Geistes, inmitten eines sternförmig geordneten Strahlenbündels. Um die Brüstung der Kanzel liefen Reliefs mit Szenen aus dem Leben Johannes des Täufers, unterbrochen durch die Körper vergnügter Putten, die aus dem Gefüge ihrer Rahmen hervorzuspringen schienen.

Ein großes Schweigen lag über der ganzen Kirche.

Jetzt hob der Prediger sein bleiches, drohendes Gesicht und begann ein murmelndes Gebet, dem er die Vorlesung einer Bibelstelle anschloß. Und im selben Ton fuhr er fort zu sprechen, ohne die Stimme zu erheben, ohne sich zu bemühen, seinen Zuhörern zu bedeuten, daß nun er mit eigenen Worten und Gedanken vor sie getreten sei.

Es war kaum verständlich, und der Bischof staunte, daß von diesem schlechten Redner so gewaltige Wirkungen ausgehen sollten.

Aber da zwang ihn etwas, den Blick, der von der Kanzel schon auf die lauschende Menge geglitten war, wieder zum Gesicht des Predigers zu erheben. Dessen Stimme klang jetzt wie vorhin in der Sakristei, wie das Knattern trockenen Holzes.

»Denn seit Anbeginn ist die Vernichtung in die Welt gesetzt. Sie steht neben allem Leben als sein Schatten. Und der Schatten wächst und wächst und breitet sich aus als ein wütender Nebel, der allen Glanz und alles Licht verhüllt. Da wird nichts sein, was stärker wäre als er. Er steigt als Wolke zum Himmel hinauf und überzieht ihn ganz von Osten nach Westen, von Mittag nach Mitternacht. Und im Schoß der Wolke ist das Grauen daheim. Es schläft noch wie ein Funken, der erst entfacht werden muß. Aber der Atem des Vernichters bläst ihn zum Brand an, zu einem Sturm von Feuer, der aus der berstenden Wolke bricht und auf die Erde regnet, wie Pech und Schwefel über die verfluchten Stätten von Sodom und Gomorrha. Denn wahrlich: ein Sodom und Gomorrha ist diese Erde. Eine scheußliche Unfläterei und ein Abgrund aller Sünden. Und wie Sodom und Gomorrha muß sie vertilgt werden von dem brausenden Atem des Vernichters, der aus der Wolke bricht.«

Der Prediger machte eine Pause und sah seine Zuhörer an, mit starren, bannenden Blicken, die nichts von ihrer kalten Ruhe verloren hatten. Nur seine Stimme war gesteigert und machtvoll geworden wie dröhnendes Erz. So stand er auf der Kanzel und schien die Angst der Menge, die zu ihm emporschlug, wie ein heißes Getränk zu schlürfen. Er berauschte sich an dieser Angst, er wühlte sie immer mehr auf, indem er in immer gräßlicheren Bildern die Schrecken eines Unterganges vor die Menge stellte. Wie ein weiser Genießer wußte er sich selbst dabei ruhig zu halten, in einer Zwiespältigkeit seines Ichs, in einer zweifachen Wesenheit, deren eine dazu diente, in immer wilderem Andrängen die Seelen der Menschen zu bedrohen, während die andere gelassen die Wirkungen beobachtete.

»Und da kommen auch schon die Reiter von den vier Enden der Welt heran, die fürchterlichen Boten des Rächers. Sie kommen aus dem Lager der Dämonen, aus den Schlünden der Nacht, aus den Höhlen der Schrecken. Unter dem Getrappel der Hufe entzündet sich der ganze Himmel, und die Gestirne beginnen aus ihren glühenden Lagern zu fallen. Der große Wagen zersplittert an dem Felsen des Nichtseins. Und dann tönt mit einemmal die Posaune, deren Schall die Toten erweckt. Die Gräber öffnen sich krachend, und heulend fliehen die Leichname der Verbrecher vor den Peitschen der Engel, denen das Werk der Vernichtung übertragen ist. Das ist ein Zug, in dem Mütter ihre Söhne und Kinder ihre Eltern und die Braut den Bräutigam sehen wird, gehetzt und mit den Brandmalen der Geißelhiebe überdeckt.«

Die Menge, die in der Kirche gepreßt war, hatte eine Stimme bekommen, ein winselndes Keuchen, ein unterdrücktes Wehklagen und ein weinendes Wimmern. Aber der Prediger fuhr unerbittlich fort, mit wilden und triumphierenden kalten Augen, haßerfüllt und von einer unersättlichen Gier getrieben, die armen Seelen vor sich zu quälen und verzweifeln zu sehen. Er stand lang und hager vor dem roten Vorhang, der die Kanzel abschloß, und seine lederfarbene Haut hatte auf den Stellen, wo sie die Backenknochen überspannte, zwei rote, kreisrunde und scharf begrenzte Flecken bekommen.

Besorgt sah der Prior den Bischof an. Aber der erwiderte den Blick nicht, sondern schaute in die Kirche hinaus, wo das Volk in eine wirbelnde Bewegung geraten war. Ein Geschrei unterbrach den Prediger. Irgend jemand schrie inmitten der Menge, laut und gellend, und die vordersten, die eng an das Gitter des Chorraumes gepreßt waren, versuchten sich umzuwenden.

Pater Methud hatte sich vorgebeugt und sah hinunter. Die Arme hatte er auf die Brüstung gestützt und verwandte keinen Blick von dem Getümmel. Der Taumel des einen Menschen schien die anderen anzustecken und mit sich fortzureißen. Man sah emporgeworfene Arme, hörte ein Schluchzen, Schreien und lautes Beten. Die Männer vor dem kunstreichen, schmiedeeisernen Gitter des Chorraumes faßten in seine Stäbe und Ranken und rüttelten an ihm, als wollten sie nicht dulden, daß man ihnen verwehre, zum Allerheiligsten hinzustürzen und es zu umklammern. Der Bischof sah, daß jeden Augenblick eine Panik losbrechen konnte.

Er wandte sich zum Prior, der ihn ganz blaß und fassungslos anstarrte. »Lassen Sie die Glocken läuten ... rasch ... und schicken Sie jemand auf die Kanzel ... er soll das Schlußgebet sprechen ... augenblicklich.«

Die Aufregung der Menge hatte sich gesteigert. Die Masse war in ein Kochen und Schäumen geraten. Mütter hoben ihre Kinder über die Köpfe der Leute auf. Männer schlugen mit den Fäusten drein, um sich den Weg zu der Kapelle zu bahnen, wo das Gnadenbild hing. Dort entstand ein grimmiger Kampf. Die wachehabenden Priester wurden beiseite geschleudert und fortgerissen. Die Menschen versuchten einander wegzuzerren, schlugen mit den Fäusten drein, brüllten und kreischten. Mitten im Gedränge waren einzelne auf die Knie gesunken und hatten zu beten begonnen. Sie wurden mit Füßen getreten und vermochten sich nicht mehr zu erheben. Die wenigen Besonnenen konnten gegen die Rasenden nicht ankämpfen.

Plötzlich setzte die große Glocke mit breiten, hochgewölbten Tönen ein. Sie sanken wie von der Decke der Kirche nieder und umhüllten den Lärm der Menge. Sie faßten ihn wie in einen Rahmen ein und verhinderten ihn dadurch sich auszubreiten. Und je mächtiger der Schall wurde, desto zaghafter wurde das Geschrei der Menschen. Sie kamen zur Besinnung, sahen einander an und ihre Seelen, die von der Angst fortgerissen worden waren, fanden sich zurück. Nach einer brutalen Empörung aller Triebe des Ich begann man wieder Rücksicht auf die anderen zu nehmen, erstaunt und beschämt, daß man sich so vergessen konnte.

Der Bruder, den der Prior abgesandt hatte, trat auf der Kanzel aus den Falten des Vorhanges hervor und berührte Pater Methud an der Schulter. Aber dieser rührte sich erst, als ihn der Bote abermals und stärker rüttelte. Er hatte bis jetzt, mit dem halben Oberkörper vorgeneigt, den Szenen des Aufruhrs zugesehen, den er hervorgerufen hatte. Jetzt fuhr er auf, sah den Bruder verstört an und ließ sich seine Botschaft noch ein drittes Mal wiederholen. Dann nickte er demütig, sank sofort in die Knie und begann mit lauter Stimme das Schlußgebet zu sprechen.

Die Menge sah zur Kanzel hinauf und folgte willig ihrem Führer. Ein Murmeln begann, überwölbt von dem Schall der großen Glocke, ein Summen, wie das Verwehen eines Sturmes. Und als Pater Methud mit dem Gebet zu Ende war, da setzte der Organist, der sich inzwischen gefaßt hatte, mit einer Fuge ein, die alle Lagen und Register des mächtigen Instrumentes in Anspruch nahm.

Langsam schlugen die breiten Flügel des großen Tores zurück, und ein Strom von Sonnenlicht kam in die Kirche. Und in voller Ordnung, nur ein wenig ermattet und bemüht, die Spuren des Kampfes zu verbergen, verließ die Menge das Haus.

Der Bischof wartete, bis er gewiß war, daß keine Verwirrung mehr zu befürchten sei. Dann schritt er den Brüdern voran, durch die Sakristei und die gewölbten Gänge des Stiftes in das Refektorium, wo eine festliche Tafel bereit war. Der Prior, der an seiner linken Seite ging, wagte nicht, das Schweigen zu unterbrechen. Der Bischof dachte nach. Welche Gründe mochte wohl Bezug gehabt haben, darauf zu dringen, daß Pater Methud die Menschen in solche Aufregung und Angst versetzen dürfe? Dieser Bezug, dessen Pläne immer unergründlich waren, aber niemals ohne geheimen Sinn. Endlich hielt es der Prior nicht länger aus: »Es war sehr peinlich, bischöfliche Gnaden ... sehr schrecklich. Es war aber das erstemal so ... freilich, ohne Eindruck sind diese Predigten niemals geblieben ...«

»Ich gebe Ihnen keine Schuld, mein Lieber«, sagte der Bischof, indem er die Brüder, deren Blicke voll ungeduldiger Erwartung an seinem Gesicht hingen, ansah. Da stand ganz hinten, bescheiden neben der Tür, der Pater Methud. Er war der einzige, der zu Boden blickte.

»Lassen Sie die Brüder ihre Plätze einnehmen«, sagte der Bischof. Und während sich alle hinter ihren Stühlen aufstellten, ging der Bischof auf Methud zu, der mit hängenden Achseln und gesenktem Kopf vor ihm stand. »Sie dürfen Ihre Predigten vorläufig nicht fortsetzen,« sagte er, »in einigen Tagen wird Ihnen meine Entscheidung zugehen.«

Der Prediger senkte den Kopf noch tiefer, daß die mit Hügeln und Beulen überdeckte Stirne hervortrat.

Man sprach das Tischgebet und setzte sich zur Mahlzeit. Neben dem Ehrenplatz des Bischofs hatte Schleimkugel seinen Sitz erhalten. Zur Linken des hohen Gastes saß der Prior. Er war überglücklich, daß die Sache so glimpflich abgelaufen war, und bemühte sich, sie durch andere Themen des Gespräches vollkommen vergessen zu machen. Dabei wirkte ihm aber Schleimkugel entgegen, der nicht genug Takt besaß, um die Wünsche des Priors zu erraten, und immer wieder Einzelheiten berichtete, deren Zeuge er gewesen war. Am anderen Ende der langen Tafel saßen die Brüder, denen heute die Wache vor dem Gnadenbild übertragen gewesen war. Sie saßen ganz still und stumm, als könnten sie sich von dem überstandenen Schrecken noch immer nicht erholen. Sie wurden von Schleimkugel aufgefordert, ihre Erlebnisse zu erzählen, und sie taten es, mit stockenden Worten und einem Widerschein der Angst auf dem Gesicht.

Der Bischof aber, der mit sich noch nicht ins Reine gekommen war, wie die Angelegenheit zu behandeln und abzuschließen sei, neigte eher zur Taktik des Priors. Er unterbrach Schleimkugels Erörterungen mit der Frage, was er mit jenem so ganz besonderem Heiligtum gemeint habe, das ihm aufzufinden gelungen sei.

Da ließ Schleimkugel sogleich das Gespräch in die neue Richtung bringen, als ob er auf die Frage schon längst gewartet habe. Er sah den Bischof und dann den Prior mit seinen kleinen, zwischen Fettwülsten vergrabenen Augen an und sagte: »Es ist vorläufig noch ein Geheimnis, und ich möchte bitten, die ehrwürdigen Brüder noch vorher ganz besonders an das Gelübde der Schweigsamkeit zu erinnern, wenn ich davon sprechen soll.«

»Das ist nicht nötig,« antwortete der Prior, der dem Gast seine Taktlosigkeit noch nachtrug, »was in diesen Mauern gesprochen wird, das bleibt auch hier – außer, wenn es das Interesse der heiligen Kirche und unseres Stiftes gebietet, es in die Welt zu bringen.«

»Gut also ... ich bin nämlich noch damit beschäftigt, durch einen der größten Kirchengelehrten die historischen Nachweise für die Echtheit meines Fundes sammeln zu lassen. Und ich werde mein Heiligtum erst zeigen, wenn ich zugleich auch alle Urkunden beisammen habe. Man soll nicht wieder über uns herfallen und ein Geschrei über den neuen Schwindel erheben ...«

»Sie machen uns sehr neugierig, lieber Schleimkugel ...«

»Ich sage Ihnen, bischöfliche Gnaden, so etwas war noch nicht da ... es ist ein Wunder, die Auffindung selbst ist ein Wunder ...« und als Schleimkugel die Spannung auf den Gesichtern aller Zuhörer zur Genüge genossen hatte, fuhr er fort: »Es ist nichts Geringeres, als das Leichentuch Christi.«

»Das Leichentuch Christi?«

»Ja – jenes Tuch, in das man den hochheiligen Leichnam hüllte, als er vom Kreuz herabgenommen worden war.«

»Warten Sie,« sagte der Bischof nachdenklich, »ich glaube, daß man dieses Tuch schon einmal besaß. Aber es ist später wieder verschwunden.«

»Ganz richtig, bischöfliche Gnaden, und ich habe es wieder gefunden.«

»Und wo haben Sie es entdeckt?«

»In der großen Moschee in Damaskus. Ich weiß noch nicht, wie es dorthin gekommen ist. Aber sicher ist seine Echtheit. Es war in einer kostbaren Truhe verschlossen, von byzantinischer Arbeit ... ein Wunderwerk schon diese Truhe allein. Und ich habe drei Tage gebraucht, um die äußerst sinnreichen Schlösser zu öffnen, ohne die Truhe zu beschädigen.«

»Sie verstehen also auch etwas vom Handwerk – der Schlosser?« lächelte der Bischof.

»Selbstverständlich, bischöfliche Gnaden, das muß ich wohl verstehen. – Im Hof der Moschee steht ein zierliches, kleines Bauwerk auf schlanken Füßen. Es sieht aus wie ein großer Ofen von der Art, wie sie unser sechzehntes Jahrhundert gehabt hat. Nur arabisch in seinen Formen natürlich. In diesem kleinen Kuppelbau ist das Archiv der Moschee untergebracht. Die seltensten und merkwürdigsten Handschriften. Von ungeheurem Wert, wie ich mir habe sagen lassen. Aber davon verstehe ich nichts. Ich habe mir jedoch die Erlaubnis verschafft, diese Schätze zu Studienzwecken durchzusehen. Man kommt unter solchen Handschriften und Büchern auf vergessene Dinge. Von einer Ordnung in diesem sonderbaren Archiv ist keine Rede. Alles liegt bunt und wirr durcheinander. Und nach mehrtägiger Arbeit kam ich in diesem Wirrwarr auf meine Truhe. Sie ist mir augenblicklich aufgefallen. Als ich sie endlich aufgebracht hatte, fand ich eine Art von Bettuch darin und ein paar Urkunden in lateinischer Sprache, die ich ja verstehe. Ich habe sofort geahnt, was ich da vor mir habe, denn ich habe ja auch von jenem Heiligtum gewußt, das der Christenheit verlorengegangen war. Und die Urkunden haben mir meine Vermutung bestätigt.«

Eine lautlose Bewegung lief durch die Reihen der Brüder am Tisch. Alle hatten zu essen aufgehört und sahen Schleimkugel an.

»Es ist nicht unmöglich«, sagte der Bischof gedämpft.

Schleimkugel schnaufte tief und gurgelnd. Dann trank er sein Glas weißen Bordeaux aus. »Sie können sich vorstellen, welche Mühe es gekostet hat, dieses kostbare Heiligtum zu erwerben.«

»Ich wundere mich nur, daß die Ulemas ihre Erlaubnis gegeben haben ...«

»Die Ulemas wissen nichts davon, daß ich die Kiste weggebracht habe. Sie haben ja auch kaum gewußt, welchen Schatz sie da hatten. Wozu sie also erst darauf aufmerksam machen. Wenn ich es ihnen gesagt hätte – wer weiß, ob sie es uns gestattet hätten, dieses Heiligtum der Christenheit wieder zurückzugeben. Ich habe es also vorgezogen, es auf anderem Wege zu erlangen. Wir haben es uns bei Nacht geholt. Ein gefährliches Stück ... und es hat ein kleines Vermögen gekostet, denn um ein paar Franken setzt niemand seinen Hals auf das Spiel.« Und nach einer Pause setzte er hinzu: »Ich hoffe für diese Sünde Absolution zu bekommen, denn ich habe sie ja ...«

»Sagen Sie mir, lieber Freund,« unterbrach ihn der Bischof, indem er ihn fest ansah, »warum eigentlich haben Sie dieses Heiligtum nicht nach Rom gebracht? Dort hat man Geld genug, um Ihnen alle Gefahr und Mühe zu vergüten. Warum bieten Sie es mir an? Ich bin ein armer Mann ...«

»Ich will mich lieber mit wenigem begnügen, als es nach Rom bringen. Sie wissen doch, daß mir die Kurie seit einiger Zeit nicht besonders gewogen ist. Gewisse Umtriebe ... wie es eben in Rom vorzukommen pflegt. Seine Heiligkeit weiß sicher nichts davon. Seine Heiligkeit ist zu gerecht, um mich ungehört zu verdammen. Aber da ist dieser Kardinal Braganza. Er liegt auf dem Weg zum heiligen Vater. Wie eine große Dogge und fletscht die Zähne, wenn einer über ihn hinwegsteigen will ...«

Das fand den Beifall der Brüder. Weiß Gott, dafür war Seine Eminenz Braganza bekannt, daß er immer auf dem Weg lag. »Das ist die Wahrheit,« seufzte der Prior, »man kann an ihm nicht vorbei.«

»Und seit der päpstliche Stuhl die Gnade hatte, mich in Anerkennung meiner geringen Dienste auszuzeichnen ... seither knurrt er noch einmal so grimmig, wenn er mich sieht. Er hat allerlei angezettelt ... kurz, man scheint mir nicht mehr so entgegenzukommen wie früher. Aber ich bin nicht der Mann, dem man so etwas bieten darf. – Und ich werde zeigen, was ich zu leisten imstande bin. Jetzt erst recht. Sie können das Leichentuch Christi von mir haben, bischöfliche Gnaden. Über den Preis werden wir schon einig werden.«

Der Bischof lächelte. Er wußte jetzt recht gut, was der eigentliche Grund des Zwistes zwischen Braganza und Schleimkugel war. Sie war blond und hatte üppige Hüften und hieß die schöne Fiumanerin. Und Braganza, der schlanke, elegante, finstere Weltmann hatte sie dem dicken und behäbigen Schleimkugel abgenommen. Jetzt eben war es ihm eingefallen. Und lächelnd sah er, daß auch ihm in dem Schauspiel von Schleimkugels Rache eine Rolle zugedacht war. Er war gerne bereit, sie zu übernehmen, denn er gewann dadurch einen kostbaren Schatz; und es stand dafür, ihn zu erwerben, wenn es auch nur für jene kurze Spanne gewesen wäre, die Zugmeyers Prophezeiung noch der Erde gab. Schon deshalb, weil Braganza darüber außer sich geraten würde. Der Bischof erinnerte sich einer Szene, in der er selbst dem Italiener gegenübergestanden hatte. Der hatte aus seiner Geringschätzung der Deutschen kein Geheimnis gemacht. Und es hatte der ganzen Gewandtheit und Fechterkunst des Bischofs bedurft, um in diesem Kampf nicht zu unterliegen.

Er reichte Schleimkugel die beringte Rechte: »Sie sind einer der besten und verläßlichsten Freunde meines bischöflichen Stuhles, lieber Schleimkugel! Ich nehme Ihr Anerbieten an. Und ich danke Ihnen dafür, von Herzen danke ich Ihnen. Und ich hoffe, daß wir recht bald auch über den Preis einig werden. Denn Ihre Mühe soll nicht umsonst gewesen sein.«

Schleimkugel legte die rechte Hand auf die Brust und blies die Backen auf, laut schnaufend, als tauche er nach langem Anhalten des Atems aus Wassertiefen auf. »Gewiß, gewiß!« sagte er.

»Trachten Sie nur auch mir bald alles Material an Dokumenten und Nachweisen verarbeitet zu übergeben. Sie haben recht, wir dürfen uns nicht der Gefahr aussetzen, daß man gegen dieses Leintuch Christi eine journalistische Hetze beginnt wie gegen den heiligen Rock von Trier.«

Mit hochgehobenem Ellbogen grub Schleimkugel seinen Arm in eine seiner inneren Brusttaschen ein. Eifrig wühlend schnaufte er immer heftiger, und sein Gesicht bekam jenes tiefe, echtfarbige Violett. Endlich brachte er ein Papier zum Vorschein, daß er dem Bischof übergab: »Ich kann Ihnen schon jetzt eine kurze Skizze mitgeben, eine sehr gedrängte Darstellung der Vorgeschichte nur ... das wird später alles bis ins Detail ausgearbeitet werden.«

Der Bischof nickte Schleimkugel zu und erhob sich, indem er die Hände zum Gebet faltete. Langsam und mit Ausdruck sprach er den Dank an den Herrn, und die Brüder sprachen ihn mit gesenkten Stimmen nach. Dann folgte eine halbe Stunde vertraulichen Plauderns mit dem Prior und den anderen Würdenträgern des Stiftes, und als gemeldet wurde, daß der Wagen angespannt sei, geleitete man den Bischof in den Hof hinab. Von Pater Methud und der Panik in der Kirche war auch jetzt nicht die Sprache gewesen.

Das Plateau vor der Kirche war nicht weniger belebt als in den Vormittagsstunden. Neue Pilgerzüge waren gekommen und schoben sich ungeduldig durch die Menge. Als der Kutscher den Wagen aus dem Getümmel herausgebracht hatte und auf die Straße lenkte, lehnte sich der Bischof in den blauen Polstern zurück, nahm das Papier Schleimkugels hervor und begann zu lesen.

»Das heilige Grabtuch Christi ist bereits im 11. Jahrhundert in Konstantinopel verehrt worden. Aus jener Zeit stammt auch allem Anschein nach die kostbare Truhe, in der es noch gegenwärtig aufbewahrt wird. Wo es vor dem 11. Jahrhundert gewesen ist, konnte bisher nicht ermittelt werden. Doch weisen gewisse Spuren nach Afrika, wo es sich in einer der arianischen Hauptkirchen befunden haben mag. Im Jahre 1205 verschwand das Grabtuch aus Konstantinopel, und für einen Zeitraum von fast 150 Jahren fehlen alle Anhaltspunkte für den Aufbewahrungsort der Reliquie. Erst im Jahre 1353 kommt es wieder zum Vorschein. In diesem Jahre übergibt es der Graf von Charny der Abtei von Lirey. Es wandert nun in den Klöstern Frankreichs. Beim Brand des Klosters von Tour im Jahre 1523 gerät es in Gefahr, vernichtet zu werden. Ein unbekannter Mann rettet es aus den Flammen und verschwindet. Die Brüder wollen in diesem Mann den Erzengel Michael von einem ihrer Altargemälde erkannt haben. Später kommt das Grabtuch nach Turin. Von dort verschwindet es abermals im Jahre 1661. Wie es in die große Moschee nach Damaskus gekommen, ist bis jetzt noch unaufgeklärt. Das Heiligtum ist eine Art Bettuch, 4,10 Meter lang und 1,40 Meter breit. Das schon etwas brüchige Gewebe ist von gelblicher Farbe und weist eine Menge von Flecken auf. Punkte und Striche, in denen das Bild eines menschlichen Körpers zu erkennen ist. Verwischt, verzerrt, unvollständig und verunstaltet, wie bei einem solchen Abdruck nicht anders möglich. Das Bild besteht aus zwei Teilen: einer Vorder- und einer Rückansicht. Zwei Pariser Gelehrte sind dabei, die wissenschaftliche Erklärung für dieses Phänomen zu finden, ein hervorragender Kirchenhistoriker sammelt das historische Material über die Reliquie.«

Der Bischof überlas Schleimkugels Manuskript nochmals, ehe er es einsteckte. Es war streng sachlich abgefaßt, man konnte dem Entdecker keine Schwärmerei und Blindheit vorwerfen. Dann beugte sich der Bischof vor, um zu sehen, warum der Wagen schon wieder hielt. Es war an einer der Schnittstellen des Kreuzweges mit der Spiralstraße, und das Gedränge war hier fast noch ärger als in den Vormittagstunden. Der Kutscher schrie auf die Leute ein, aber da kroch etwa ein Dutzend Menschen auf den Knien gerade vor dem Wagen über die Straße. Sie erhoben sich nicht und setzten ihren Weg fort, unbekümmert um das Geschrei des Kutschers, indem sie ihre Köpfe tief zur Erde beugten, als wollten sie den Staub des Bodens einatmen. »Herr erbarme dich unser«, wiederholten sie immer wieder und bewegten sich mit langsamen Rucken vorwärts.

Plötzlich sprang eine Welle aus dem Strome gegen den Wagen des Bischofs an. Ein alter Mann mit wirrem weißen Haar, barhaupt und mit offenem Hemd. Die langen mageren Arme waren emporgeworfen und fochten in der Luft.

»Nikolaus Zenzinger!« schrie er. »Nikolaus Zenzinger! Ich habe die Offenbarung des Johannes geschrieben! Ich! Ich!« Und er schleuderte ein kleines Paket in den Wagen.

Der Kutscher, der sich entsetzt umgewandt hatte und seinen Herrn bedroht glaubte, schlug jetzt in die Pferde ein, daß sie den Wagen mit einem Satz vorwärts rissen, mitten in die Menge der Andächtigen. Es war zu verwundern, daß nichts geschah. Die Knienden warfen sich noch im letzten Augenblick zur Seite, die anderen prallten zurück. Ein Geschrei erhob sich.

Aus der Menge, in deren Zug sich die Lücke sogleich wieder schloß, brach eine Frau hervor und humpelte auf den Mann zu, der noch immer auf seinem Platz stand, mit langsam herabsinkenden Armen, während er dem Wagen nachsah. Seine Lippen bewegten sich, als habe er nicht alles sagen können, was er sich vorgenommen hatte, und als ströme es noch aus ihnen hervor, wie der gurgelnde Rest des Wassers aus einer Röhre, die man abgesperrt hat.

»Nikolaus! Nikolaus!« rief sie und faßte seinen rechten Arm.

Er sah sie wild an, stieß sie zurück und setzte sich in einen seltsamen, schaukelnden Trab. So lief er neben dem Kreuzweg durch den Wald hinauf, ohne sich nach der Frau umzusehen, die ihm humpelnd und mit ängstlichen Rufen folgte. Dann bog er ab in dichtes Gebüsch und entschwand ihren Augen. Sie blieb keuchend stehen und griff sich an den schmerzenden Kopf. Der Stumpf ihres Beines war wund von der hastigen Bewegung, und sie legte das ganze Gewicht ihres Körpers auf das gesunde Bein.

Da faßte jemand ihre Hand.

Sie schrak zusammen: »Eleagabal Kuperus,« flüsterte sie, »Sie sind es?« Und da begann es auch schon vor ihren Augen zu wirbeln, das Gesicht des Alten zog sich breit auseinander, und Eleagabal fing die Taumelnde auf und legte sie sanft in das feuchte Moos.

Als sie erwachte, standen die Föhren ringsum in brennendem Rot mit blauschwarzen Wipfeln, und ihre Hand lag noch in der des Alten.

»Ich habe Sie lange nicht gesehen, Frau Emma Rößler!« sagte er.

Sie nickte, und ein lang entbehrtes Behagen machte sie matt und glücklich: »Ich bin nicht gekommen! Ich konnte nicht kommen – ich habe es nicht über mich gebracht ... denn ...«

»Wenn Sie auch nicht zu mir gekommen sind, ich habe Sie nicht aus den Augen verloren. Ich weiß, wie es Ihnen ergangen ist. Und sehen Sie – ich darf nur kommen, wenn ich gerufen werde.«

»So wissen Sie alles?« fragte Emma zögernd.

»Alles? – Ich weiß, warum Sie mich gemieden haben.«

Sie schauerte zusammen und verbarg den Kopf auf den emporgezogenen Knien. So saß sie eine Weile zusammengekauert mit krummem Rücken; die mageren Schulterblätter waren unter der abgetragenen Bluse angedeutet und die Sehnenstränge des Halses ließen eine tiefe Furche zwischen sich. So saß sie, bis Eleagabal ihre Schulter berührte.

»Kommen Sie,« sagte er, »gehen wir. Es ist kühl hier oben. Ich führe Sie hinunter.«

Sie erhob sich mit seiner Unterstützung und hielt sich fest an seinen Arm, denn der wunde Stumpf schmerzte sie noch immer. Sie sprach ein Wort zu ihrer Entschuldigung: »Seine Macht ist groß ...«

»Ja, seine Macht ist groß!« sagte Eleagabal.

Plötzlich blieb sie stehen. »Ich kann nicht ohne Nikolaus heimkehren. Ich muß immer fürchten, daß er etwas anrichtet.«

Eleagabal Kuperus wußte, daß sie nun von dem Manne sprach, der vor ihr geflohen war. »Es ist Nikolaus Zenzinger?« fragte er.

»Er ist es. Er ist jetzt immer so aufgeregt ... ich weiß nicht, was in ihn gefahren ist. Seitdem die Leute alle vom Untergang der Welt reden, ist es ganz besonders arg geworden.«

Der Alte zog Emma sachte am Arm: »Kommen Sie nur,« sagte er, »Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Es wird bald finster werden, und da wird er von selbst zum Bahnhof kommen. Erwarten Sie ihn dort, und bringen Sie ihn nach Haus. Sagen Sie mir, was war das, was er in den Wagen des Bischofs geworfen hat?«

»Ich weiß nicht, warum er das getan hat. Er ist seit einiger Zeit so verwirrt. Was es war? Ja – es waren diese Korrespondenzkarten, etwa fünf ... mehr nicht, auf die er die ganze Offenbarung Johannes geschrieben hat ... die ganze Apokalypse. Das sind jetzt seine Arbeiten. Es ist ungemein mühsam und quält seine alten schwachen Augen ... Sie können sich denken, wie er da mit der Lupe sitzt und schreibt ... es tut mir das Herz weh. Und zu andern Dingen ist er nicht zu bewegen. Zuerst war mir das eine willkommene Ablenkung von seinen Grübeleien ... ich habe es gerne zugelassen. Aber jetzt will er nichts anderes tun. Und in dieser Beschäftigung liegt eine Gefahr für ihn. Nicht nur für seine Augen, sondern auch für seinen Geist.«

Der Alte streichelte im Weitergehen ihren Arm, der auf dem seinen lag. Er hatte sie aus dem dichten Wald, wo es schon anfing dunkel zu werden, glücklich herausgebracht und führte sie jetzt auf einem Wiesenweg gerade auf den Bahnhof zu, der mit seinen farbigen Lichtern in einiger Entfernung lag. Auf diesem Weg brauchten sie das Dorf nicht zu berühren; der starke Atem der frühlingsfeuchten Erde umhüllte sie. So sorglich er die Frau führte, die Schmerzen in ihrem Beinstumpf nahmen doch immer zu, und immer langsamer humpelte sie an seiner Seite.

Da lag der Bahnhof schon nahe vor ihnen. Sie hatten nur noch über einen kurzen Damm zu gehen, der einen jetzt entwässerten Teich abgeschlossen hatte. Hinter dem Bahnhof war das Spätrot der längst untergegangenen Sonne in einem Halbkreis über den Himmel ausgeflossen. Um das Stationsgebäude wimmelte es schwarz von Menschen.

»Sie haben also auch bei ihm kein Asyl gefunden,« sagte Kuperus, »Sie sollen nicht zur Ruhe kommen.«

Sie lächelte: »Eben darum fürchte ich die Vernichtung nicht. Übrigens – manchmal hat er Zeiten, in denen er ganz sanft und lenksam ist. Da schließt er sich wieder an mich an und ist voll Zärtlichkeit und Sorgfalt. Aber dann packt es ihn wieder, und er rafft alles Geld, das im Haus ist, zusammen und geht fort. Oft auf mehrere Tage und Nächte. Ich weiß nicht, wo er sich herumtreibt. Er trinkt während dieser ganzen Zeit. Er muß ganz furchtbar trinken. Und dabei gerät er immer tiefer in seinen Wahn, ein Prophet zu sein, einer der großen Propheten.«

»Sie leiden durch ihn.«

»Aber ich werde ihn nicht verlassen,« sagte Emma entschlossen, »ich denke nicht daran. Ich bleibe bei ihm. Denn ich sehe, daß er ohne mich ganz verloren wäre. Und er hat mir eine Stütze geboten zu einer Zeit, in der ich ganz verlassen und elend war. Wenn er nach seiner Flucht wiederkommt, ist er immer ganz zerschlagen und krank. Dann braucht er mich. Ich werde ihn nicht verlassen.«

Sie tauchten zwischen die ersten Gruppen der Wartenden, die hier außerhalb des Stationsgebäudes herumstanden. Bruchstücke von Gesprächen flatterten ihnen von links und rechts zu. Sie zeigten, daß die Menschen wenig Trost gefunden hatten und aufgeregter gingen, als sie gekommen waren.

Und als sich Frau Emma nach Eleagabal umwandte, der hinter ihr zurückgeblieben war, sah sie sich inmitten des Gedränges allein.

Aber drinnen im Wartesaal fand sie Nikolaus Zenzinger, der mit an die Wand zurückgelehntem Kopf dasaß, in einer Menge von Passagieren eingekeilt, und die Augen geschlossen hielt, als ob er schliefe. Er fühlte Emma kommen und öffnete die welken Lider. Mit einem demütigen und scheuen Blick erhob er sich langsam und räumte ihr seinen Platz ein.


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