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Es war im Frühling. Eine alte Fischmöwenmamsell, Frau Gall genannt, hatte sämtliche Möwenfrauen der Stadt Genf und ihrer Umgebung auf den Nitonklippen vor den Anlagen am See zusammengerufen, um sich mit ihnen über häusliche Angelegenheiten des herannahenden Sommers zu beraten. Im Möwenreiche war es nämlich im Lauf der letzten Jahre zu Meinungsverschiedenheiten gekommen, man wußte nicht recht warum. Die Möwenfrauen – man sagt in diesen Kreisen niemals Weibchen – hatten wegen wiederholter Vernachlässigungen von seiten der Möwenherren als Väter und Ehemänner Klage geführt, da besagte Herren es für passend gehalten hatten, höchst ungeniert auf und davon zu gehen, sobald die Frauen vom Wochenbett genesen waren.
»Das ist entsetzlich!« kreischte Frau Gall.
»Ganz gegen die gesunde Vernunft«, entgegnete eine alte Dame, die Mutter von sechsunddreißig Kindern.
»Einfach gegen die Natur!« versicherte eine dritte.
»Ja allerdings, gegen die Natur!« fiel die alte Mamsell wieder ein, die meinte, es sei gegen ihre Natur, Junge zu bekommen. »Gerade hierüber wollte ich mir euch sprechen. Warum sollt ihr jährlich viermal Drillinge zur Welt bringen, dann drei Wochen lang brüten, sie während vier atzen und sie den ganzen Winter mit euch herumschleppen, um sie fischen zu lehren? Haben wir nicht genug Möwen? Und seht doch nur diese sogenannten Herren der Schöpfung! Während der Flitterwochen girren sie Dummheiten, liegen vor uns auf den Knien und können ohne uns nicht leben.«
»O, wir lassen uns nicht mehr für Narren halten!«
»Was wollt ihr in dieser Sache tun?« erkühnte sich ein Mädchen zu fragen.
»Wir müssen die Gleichheit zwischen den beiden Geschlechtern wiederherstellen. Wir müssen streiken.«
Als Frau Gall diese Worte sprach, trat eine Totenstille ein. Die jungen Mädchen machten bestürzte Gesichter, die älteren Damen schüttelten den Kopf.
»Für immer?« murmelte die erste Jungfrau, die schon eine gefährliche Verbindung angeknüpft hatte.
»Diese Mühe wird umsonst sein«, wandte die Alte mit ihrer sechsjährigen Erfahrung ein.
In diesem Augenblicke hörte man einen kräftigen Spektakel von Nyon her, eine Schar von Möwenmännern ( sit venia verbo) näherte sich plötzlich den Nitonklippen.
»Was krächzt denn die alte Hexe eigentlich?« begann der älteste der Herren.
»Kommt nur her und hört zu!« gackerte eine junge Möwe.
Doch der Alte, der Arglist witterte und keine Lust zu einem Handgemenge mit Schnäbeln hatte, hielt sich in entsprechender Entfernung, indem er beständig um die Klippe herumflog.
»So ein Lump! Nein, wie feig er ist!« schrie Madam Gall so laut sie nur konnte. »Komm doch hierher!«
»Von euch will ich nichts, Mamsell Ohnerock; aber schickt doch das süße junge Ding dort her, ich hab etwas, was die Damen blendet.«
»Ha, der Unverschämte, er macht sich über uns lustig; aber wir wollen es ihm heimzahlen. Wir wollen streiken, meine Damen, auf zum Streik!«
Alle Möwenfrauen erhoben sich wider den ungebetenen Gast. Er aber lachte immer schallender und ließ sich auf einer Klippenspitze nieder.
»Lassen Sie uns die Sache einmal ruhig prüfen, meine Damen«, sagte er. »Sie wollen also streiken?«
»Wir wollen keine Männer mehr. Die Gleichheit soll wiederhergestellt werden!«
»Die Gleichheit, meine Damen, wieso? Ist das vielleicht eine Gleichheit, wenn die Frauenzimmer sich in dem warmen Nest gütlich tun, während wir für Nahrung sorgen müssen?«
»Das ist ein Naturgesetz, mein Herr!«
»Wahrlich, eine schöne Natur, die sich ändert, wie es sich gerade trifft! Eine schöne Natur, die von dem Strauß verlangt, er solle die Eier ausbrüten! Eine schöne Natur, die der Wildente befiehlt, ihrer Wege zu gehen, sobald die Legezeit der Frauen zu Ende ist!«
»Ich habe allen Grund anzunehmen, daß eure Natur sich sofort ändern wird, mein Herr«, warf Madam Gall ein. »Früher war es eure Natur, euern Frauen Gesellschaft zu leisten, sie während des Wochenbettes zu pflegen ...«
»Sehr richtig, Mamsell, sehr richtig! Aber wir müssen diese Frage wissenschaftlich betrachten. Meine Damen und Herren, in der Nationalökonomie wie in andern Dingen gibt es ein ehernes Gesetz, das auf » Angebot und Nachfrage« beruht. In meiner Jugend hatte man nur wenig Nahrung zur Verfügung, weil der Genfer See durch uneingeschränktes Fischen leer geworden war. Zu jener Zeit lebte man höchst bescheiden und jedes für sich, und so mußten sich auch die Frauen ernähren, so gut sie konnten. Aber andere Zeiten, andere Sitten! Eine kluge Gesetzgebung bevölkerte den See aufs neue, der bald von Forellen, Brachsen, Barben, Barschen und so weiter wimmelte. Von diesem Augenblick an nimmt die eheliche und die Vaterliebe beständig zu; die Sorge für den Lebensunterhalt ist nicht mehr so schwer, daß sie nicht auch noch ein wenig Zeit für die Familie übrig ließe. Unglückseligerweise gibt es aber auch ein goldenes, vom Bundesrat aufgestelltes Gesetz, ich meine das Gesetz vom Freihandel, kraft dessen das Recht des Erstkommenden durch das Recht des Stärkeren aufgehoben wird. Dank dieser menschenfreundlichen Einrichtung sind wir jetzt gezwungen, Krieg zu führen, den sogenannten Freihandelskrieg gegen die Graumöwen, die, durch die großen Fischzuchtmaßregeln des großen Kantonalrats massenhaft hierhergelockt, nicht zögerten, sich in der Schweiz naturalisieren zu lassen. Ich will nicht daran denken, was aus uns geworden wäre; denn die Zukunft hätte uns gewiß an den Bettelstab gebracht, wenn uns nicht ein Zufall zu Hilfe gekommen wäre. Die Stadt Genf, zweifelsohne eine sehr reiche Stadt, die aber einen tief eingewurzelten Widerwillen gegen Bettler hegt, war soeben in eine Friedensperiode eingetreten. Die Eröffnung der Mont-Cenis-Bahn bildete den großen Wendepunkt in ihrem wie in unserem Leben. Die Eisenbahn zieht eine Menge Ausländer hierher, die Stadt wird wach, die Geschäfte blühen auf, es wimmelt plötzlich von Dampfbooten, und ein verrückter Engländer kommt auf den Gedanken, uns zum Zeitvertreib von der Montblanc-Brücke aus Brot zuzuwerfen. Alle Menschen müssen nun den Fischmöwen Brot zuwerfen. Wir sind Mode geworden. Wir haben es nicht mehr nötig zu fischen, brauchen nicht mehr mit den andern Möwen zu kämpfen. Was für angenehme Stunden haben wir nicht unter der Brücke und im Kielwasser der Dampfboote zugebracht! Man brauchte nur den Schnabel aufzumachen, während man sich auf den blauen Wogen in der Sonne wärmte. Und siehe, ein großer Rückgang in den väterlichen Pflichten erfolgte! Und Sie, meine Damen, Sie machten uns keineswegs Vorwürfe ob unseres Fernbleibens! Im Gegenteil! Sie machten gute Miene dazu. Von daher schreibt sich unser Selbständigwerden, seit jener Zeit haben wir vielgeplagten Männer und Familienväter unsere persönliche Freiheit errungen. Meine Damen und Herrn, die Tage des Schmausens sind vorüber, das Schlaraffenland ist jetzt nur noch eine köstliche Erinnerung. Bis dahin war alles sehr gut gegangen; aber man muß dem Schicksal seinen Lauf lassen. Die Gotthard-Bahn wird zur Wirklichkeit, und mit Genf und Cenis ists vorbei. Die Geschäfte stehen still, die Ausländer verschwinden, es kommt kein Engländer mehr und wirft Brot in den See. Alles ist vorüber, und von neuem wird das eiserne Gesetz verkündet: jedes sorge für sich! Aber die Entwicklung ist schon erfolgt. Die Gewohnheit der unbeschränkten Freiheit ist in unsere Sitten und Gebräuche, ja in unser Fleisch und Blut übergegangen, und wir können nicht wieder umkehren. Mit einem Wort: unsere Natur hat sich verändert.«
Madam Gall, die dieser langen, feierlichen Ansprache geduldiger zugehört hatte, als man erwartet hätte, klammerte sich an das »eiserne Gesetz« und antwortete schnell mit kreischender Stimme: »Ganz richtig, mein Herr, jedes sorge für sich, und deshalb: auf zum Streik gegen die Männer! Geht nur, und seid in der Einsamkeit recht vergnügt, ihr Herren Freihändler mit eurer wissenschaftlichen Methode!«
»Die Damen wollen also Aufruhr gegen ihre Herren, die wirklichen Herren der Schöpfung? Nehmen Sie sich in acht!«
»Pfui, ihr Herren! Und wenn ich noch hundert Jahre lebte, könnte ich unmöglich solche Dummköpfe als Herren anerkennen.«
»Man muß diese Frage studieren ...«, stammelte er.
»Nach einer wissenschaftlichen Methode«, ergänzte die Mamsell.
»Das ist unbedingt notwendig. Aber lassen Sie uns doch vernünftig sein, meine Herrschaften, und hören Sie gütigst den Vorschlag an, den ich Ihrem erleuchteten Rate nun unterbreiten will! Meine Damen und Herren! Wir sind hier in ernstliche Streitigkeiten geraten, die zweifelsohne zu keinem Ergebnis führen werden, wenn wir uns nicht darüber einigen, daß wir die Frage in aller Freundschaft erörtern wollen. Wohlan! Sind Sie bereit, den Streik bis zu meiner Rückkehr aufzuschieben, so werde ich mich der wissenschaftlichen Aufgabe unterziehen, die Frauenfrage gründlich zu studieren. Haben Sie Lust dazu, ja?«
»Topp, die Sache ist abgemacht!« antworteten alle Möwen im Chor, voller Freude, daß diese langweiligen Auseinandersetzungen ein Ende nahmen. »Aber wehe dem, der diese Übereinkunft bricht, um sich verbotener Liebe hinzugeben!«
»Wohlan, so beginnt denn mit eurer Arbeit!« fiel Madam Gall mit einem höhnischen Lächeln ein. »Sie sollen uns nach Ihrer Rückkehr herzlich willkommen sein, mein Herr. Und nun machen Sie sich auf den Weg!«
»Machen Sie sich auf den Weg!« stimmten sämtliche Anwesenden im Chor ein.
Und der alte Naturforscher schwang sich empor, breitete die Flügel weit aus und flog auf die Stadt zu.
Es war ein schöner Morgen, an dem sich unser Reisender auf einer Insel vor Toskanas Maremmen niederließ. Müde und sehr schlechter Laune, weil er noch nichts wahrgenommen hatte, was mit dem Zweck seines Ausflugs zusammenhing, pickte er Muscheln am Meeresstrande auf, um seinen Hunger zu stillen. Sobald dies geschehen war, wollte er sich an seine sozialen Studien machen. Aber wie sollte er das nur anfangen? Er konnte kein lebendes Wesen entdecken und war nahe daran, zu verzweifeln, als er das Geschnatter einer Tauchente hörte, die mit voller Geschwindigkeit die Küste entlang strich.
»Hallo, Tauchente!« rief die Möwe, froh, eine Gesellschaft zu finden.
»Guten Tag, Möwe«, erwiderte der Enterich, indem er sich neben der Möwe niederließ. »Wie gehts? Und was machst du hier?«
»Ich studiere die Frauenfrage.«
»Hast du schon große Fortschritte darin gemacht?« entgegnete die Tauchente mit zurückhaltender Miene.
»Nun ja! Und du bist deinen Frauenzimmern schon ausgerückt?«
»Ach was, das nenne ich ein schönes Ausrücken, wenn man fortgejagt wird.«
»Fortgejagt? Ich bin ja starr. Man hat mir gesagt, die Enteriche seien so schlechte Ehemänner, daß sie ihre Frauen verließen, sobald diese mit dem Eierlegen aufhörten.«
»Man sagt, ja ... Man verbreitet viele schändliche Lügen hinter dem Rücken der armen Ehemänner.«
»Was – Lügen?«
»O diese Frauen, ich kenne sie recht wohl! Im Frühjahr, wenn es ihnen unter den Flügeln warm wird, ist es ein Getue und eine Zärtlichkeit, daß man ganz paff ist; sobald aber die Liebeszeit vorbei ist, heißt es: Macht, daß ihr fortkommt, ihr Lümmel! Fürwahr, ein beneidenswertes Los, ein Ehemann zu sein! Alles Ideale und Erhabene im Leben ist uns versagt.«
»Aber potztausend, wie kommen sie denn dazu, euch derartig abzufertigen, anstatt sich auch weiter von euch versorgen zu lassen?«
»Welch eine rührende Einfalt! So wisse denn, daß sie sich schon vorher für ihre Brutzeit mit Vorräten versehen haben, daß sie keinen Mitwisser wollen, und daß sie behaupten, unsere Anwesenheit setze sie durch unser ständiges Kommen und Gehen schließlich auch noch Gefahren aus.«
»Ei, sie sind wirklich praktisch, eure Frauen!«
»Das will ich meinen. Und dennoch, was für eine demütigende Stellung für uns! Weißt du, daß ein Frauenzimmer, ein ganz gescheites übrigens, einmal einen guten Witz gemacht hat, indem es den Ausdruck: Ehemann, ›einen echten Mann‹, also erklärte: ›Das Männchen‹, sagte sie, ›ist die Verkörperung der Unfähigkeit der Frau, selbst Junge hervorzubringen‹.«
»Welcher Zynismus! Welche Roheit! Das Männchen der Frau! Aber steht es mit deinen ehelichen Verhältnissen wirklich so?«
»Das ist überall gleich.«
»Ist das wahr?«
»Du darfst dich darauf verlassen.«
»Aber warum haltet ihr sie denn nicht strenger, die Vermessenen?«
»Man schlägt die Frauen nicht.«
»Nun, weil sie die Stärkeren sind.«
»Die Stärkeren?«
»Gewiß. Das Legen von vier Eiern erfordert mehr Stärke, als gar keine Eier zu legen. Das Weib behält dem Manne gegenüber immer die Oberhand, wie du bald sehen wirst. Aber du mußt deine Untersuchungen ab ovo beginnen.«
»Hör mich, Tauchente, gerade des Ureies wegen bin ich hierhergekommen.«
»Sonst willst du nichts? Ich verzehre täglich einige Millionen solcher Ureier zum Frühstück.«
»Ach, ich wäre dir sehr dankbar, wenn du mir eines zur Besichtigung heraufschaffen wolltest, ich selbst kann ja nicht tauchen.«
»Gern; aber man kann die Infusorien nicht mit dem bloßen Auge sehen, es ist übrigens auch gar nichts daran zu sehen. Es ist ein Ei, das sich ganz von selbst erzeugt und sich bewegt – das ist alles. Wenn du hingegen Lust hättest, die Bekanntschaft eines Urweibes zu machen, das sich gründlich auf die Männer versteht ...«
»Ja, das möchte ich allerdings ...«
»Wie du befiehlst!«
Gesagt, getan. Die Tauchente stürzt sich ins Meer und ist im nächsten Augenblick schon wieder an der Seite der Möwe, wo sie ein kleines Tier auf ein rundes Steinchen legt.
»Hier haben wir einen Tintenfisch, ein äußerst einfaches Tier. Es hätte keinen Sinn, dieses Frauenzimmer nach dem Befinden seines Herrn Gemahls zu fragen.«
»Weil ...?«
»Weil es keinen hat ... Sie macht ihre Jungen selbst.«
»Ganz allein?«
»Ganz allein! Zeig mir den Mann, der das kann!«
»Nein, solche Betrüger! Und die Geschichte von dem Weib, das aus der Rippe des Mannes hervorging ... Hat die ein Mann erdichtet?«
»Einer, der mehr ist als ein Mann: ein Mann in Weiberröcken, ein Priester. Wenn du die Leiter der Entwicklung hinaufsteigen und die erste Schöpfung des Menschen aus nächster Nähe betrachten willst, so brauchst du bloß mir zu folgen.«
Die Tauchente flog, mit der Möwe an den Fersen, weiter und machte bald in einem kleinen Hafen bei einem von Wasser überspülten Schiffsrumpf halt.
»Wart einen Augenblick, dann sollst du etwas sehen!«
Und abermals trat die Ente als Taucher auf, um eine Sekunde später schon wieder unter dem Kiel heraufzukommen; sie trug ein merkwürdiges Tier im Schnabel, das einer Tulpe glich.
»Sieh hier, Möwe! Dies ist ein Rankenfüßler aus der edlen Familie der Krustentiere. Guck nur: hier ist das schwache Geschlecht so groß wie eine Tulpe.«
»Und das starke?«
»Ach, was den Herrn der Schöpfung betrifft, so wirf nur einen Blick auf den Rücken dieser Mama. Da siehst du wohl die kleine Börse, die darauf festgenagelt ist?«
»Diese kleine Tasche, nicht größer als ein Knopf?«
»Ganz richtig. Dies ist der Ehemann. Gewiß, er kann sich nicht gerade rühmen, ein starker Mann zu sein, aber er ist trotzdem ein Stückchen von einem Ehemann, treu wie wenige. Also, alle Hochachtung vor den Damen!«
Das Fischmöwenmännchen geriet in große Verlegenheit, als es daran dachte, wie voll es den Mund bei der Auseinandersetzung an den Nitonklippen genommen hatte.
»Nun wollen wir aufhören, wenn es geht«, sagte es. »Soviel ich sehe, scheint die Welt im großen und ganzen auf den Kopf gestellt zu sein.«
»Unbedingt; weißt du nicht, daß sich die Dinge in der Tiefe des Auges alle verkehrt spiegeln?«
»Nein, wie klug du bist! Aber um wieder auf die armen Ehemänner zurückzukommen: so hat also die Frau ihren Gatten gemacht?«
»Zweifellos – wenigstens bei den Seetulpen! Aber komm, wir wollen unsere Studien fortsetzen!«
»Dauert es noch lange?«
»Vorwärts, du wirst es ja sehen!«
Die Ente erreichte den Meeresstrand und flog um den Abhang herum, immer noch in Begleitung der Möwe.
»Siehst du, hier haben wir, was wir brauchen.«
Sie landeten auf einem Haufen trockener Blätter, wo zwei Schnecken lagen.
»Willst du so freundlich sein und diese vollkommen glückliche Ehe betrachten?«
»Ja, es ist wirklich eine Freude, einen freien Mann zu sehen.«
»Mann? Nichts weniger als das! Nein, zwei Mannweiber, die sich untereinander bei der Liebesmühe helfen.«
»Also eine vollständige Gleichheit; keine Teilung dieser angenehmen Arbeit?«
»Nein – eine vollständige Gleichheit. Hier gibt es keine Männchen, die müßig gehen.«
»Aber das ist unsittlich, es steht ganz und gar im Widerspruch mit der Natur.«
»Die Natur ist nie unsittlich, und die Natur tut nichts, was gegen die Natur ist, obwohl sie sehr verwickelt sein kann.«
»Das ist wirklich unbegreiflich.«
»Selbst wenn man ein noch so großer Verehrer seines Geschlechts ist, unterläßt man es doch, sich nach solchen Erfahrungen damit zu brüsten. Wir müssen uns an den Gedanken gewöhnen, mein Lieber, daß das Weib über uns steht, und daß wir alle aus dem Schoß einer Mutter hervorgegangen sind, ehe ein Vater da war. Die Spinnen werden dir davon einen neuen Beweis geben. Die große Bestie in der Mitte des Netzes hier ist das Weibchen. Und das kleine bescheidene winzige Ding dort, das einen so ängstlichen Eindruck macht, ist der Freier oder besser gesagt der Bittsteller. Armer Herr der Schöpfung, wie dumm er aussieht! Still, er nähert sich! Das Weibchen wirft ihm einen verächtlichen Blick zu. Sie hat keine Freude an dem Besuch dieses blutarmen Kautschukmännchens. Sieh nur, wie sie sich auf ihn stürzt, ihn durchbohrt, ihn in das Netz hineinrollt und ihm das Blut aussaugt!«
»Nein, wie entsetzlich, eine solche Megäre! Ein solcher Ritter Blaubart in Frauengestalt! O, diese Geschichten, die man den Kindern immer einprägt!«
»Glaub niemals Geschichten, ausgenommen unanständige: die Wahrheit ist immer unanständig.«
»Das ist ja ein förmliches Amazonenreich hier!«
»Nein, das haben wir uns bis zuletzt aufgehoben. Also nun vorwärts!«
Sie flogen wieder weiter und tief in den angrenzenden Wald hinein; da machten sie bei einem riesengroßen Ameisenhaufen halt.
»Verhülle dein Antlitz, o Sterblicher, angesichts der vollkommenen Gemeinschaft!« deklamierte die Tauchente.
»Eine vollkommene Gemeinschaft?« wiederholte die Möwe.
»Ja, der Idealstaat, wo die Frau wieder die Stellung eingenommen hat, die ihr von Natur zukommt.«
»Pfui, die Natur!« rief mit matter Stimme ein elendes Geschöpfchen, das auf der Spitze des Ameisenhaufens herumkroch.
»Entschuldigen Sie, mein Herr,« ließ sich die Tauchente vernehmen, »würden Sie so freundlich sein und diesen meinen Freund in die Organisation Ihrer idealen Gemeinschaft einweihen? Er hat großes Verlangen danach, etwas von Ihnen darüber zu hören.«
»Vielleicht würden Sie etwas näherkommen, damit Sie mich besser verstehen können, denn es ist mir verboten, einen Schritt vor das Haus zu tun ...«
»Sollten Sie vielleicht nicht frei sein?« fragte die Möwe.
»Nicht sonderlich, wie Sie aus meinem Bericht bald sehen werden. Erstens ist der Idealstaat auf die Verteilung der Arbeit gegründet, und die Staatsverfassung ist geschlechtslos.«
»Sie meinen verschnitten?«
»Ja annähernd, da die herrschende Klasse aus weiblichen Ameisen oder weiblichen Eunuchen besteht, die die Haremswache bilden.«
»Ach so, Sie haben Sultane? Man braucht also nur Türke zu werden ...«
»Nein, mein Herr, hier sind die Sultaninnen selbst – Sultane; wir Männer dürfen nur die eheliche Arbeit des Gemahls verrichten.«
»Zum Kuckuck! Und der weise Salomo, der uns den berühmten Rat gegeben hat: ›Gehe hin zur Ameise, du Fauler; siehe ihre Weise an, und möge dich der Anblick ihres Fleißes zur Besserung führen!‹«
»Dieser Ehrenmann hat nicht gelogen; denn wer von uns könnte faulenzen, wo doch jede Frau Hunderte von Gatten hat?«
»Welch ein Abgrund von Unsittlichkeit! Und Sie, meine Herren, Sie haben keine Beschäftigung, keinen Dienst? Sind nur eine Truppe ausgehaltener Herren?«
»Ja, es ist leider wahr, was Sie sagen; wir arbeiten niemals, die Frauen aber auch nicht. Die Eunuchen haben jede Beschäftigung an sich gerissen.«
»Und ist es immer so gewesen?«
»Nein, keineswegs! In unserm Staat ist wie in anderen Staaten auch eine Entwicklung vor sich gegangen.«
»Das nenne ich eine schöne Entwicklung!«
»Eine solche ist nicht immer schön, vor allem nicht, wenn sie rückwärts geht.«
»Eine Entwicklung nach rückwärts? Das gibt es nicht.«
»Doch, doch, nach dem, was die Gelehrten sagen, wird das mit jedem Tag klarer. So ist zum Beispiel die Muschel nur eine Entwicklung der Schnecke nach rückwärts, indem diese den Kopf verloren hat usw. Hüten Sie sich davor, meine Herren, jede Entwicklung für einen Fortschritt zu halten!«
»Nun, ich muß schon sagen ...«
»Um Ihnen einen kurzen geschichtlichen Überblick über unsere Entwicklung zu geben, ist zu erwähnen, daß die Leitung früher genau so wie bei Ihnen in den Händen der Frauen lag.«
»Bei uns?«
»Gewiß, mein Herr, die Etymologie hat noch Spuren davon aufbewahrt. Ist es vielleicht ein Zufall, daß man die Ameise, die Seeschwalbe sagt? Nun gut, die Frauen regierten, und die Männer lenkten: die Männer übten die Macht aus, und die Frauen erteilten die Vorschriften. Die Frauen, ich meine die Weibchen, blieben zu Hause, um die Jungen zu hüten, die Männer aber wurden fortgeschickt, um Nahrung herbeizuschaffen, zu kämpfen, Sklaven zu suchen und dergleichen, und waren überdies immer die demütigen Diener ihrer Gattinnen. Man hatte einen König, aber er war eigentlich nur zum Schein da, denn die Königin war mit allen Mitteln ausgestattet, ihren Willen durchzusetzen, und dementsprechend war auch alles andere eingerichtet. Damals hatten wir unsern Höhepunkt erreicht. Infolge der beständigen Kriege, an denen die Frauen nicht teilnahmen, begannen die durch unmäßige Arbeit geschwächten Männer den Frauen an Zahl unterlegen zu sein. Der Überfluß der letzteren führte zu dem Entstehen einer Klasse unverheirateter Frauen, einem starken Geschlecht, das aller Gefühle bar war, die sich gegen ihren Eintritt in das öffentliche Leben hätten sträuben können. Seitdem zogen die entarteten Männer im Kampf den kürzeren, und die unverheirateten Frauen rissen jede Arbeit, ja sogar das Kriegshandwerk an sich. Nachdem sie die Macht in Händen hatten, begannen sie, die außerdem auf erblichem Wege geschlechtslos geworden waren, die Zahl der Weibchen durch Mittel, die unter dem Namen Malthusisches Gesetz bekannt sind, zu verringern, und von dieser Zeit stammt unsere jetzige Verfassung, der sogenannte Idealstaat.«
Die Möwe mußte unwillkürlich an Frau Gall und an den Streik denken, der in ihrem kleinen Kreis am Strande des Genfer Sees ausgebrochen war, als plötzlich in dem Ameisenhaufen ein Gepolter ertönte und ein Strom von Ameisen herausstürzte, ein Teil von ihnen mit, ein anderer ohne Flügel. Das Männchen, das den geschichtlichen Vortrag gehalten hatte, konnte nicht mehr aus dem Wege gehen und erhielt von einem fetten Eunuchen eine Ohrfeige.
Die Möwe und die Tauchente aber flüchteten hinter einen Faulbaum, von wo sie in aller Ruhe das traurige Schauspiel beobachten konnten, das sich nun vor ihren verblüfften Augen abspielte.
Zuerst kamen einige zwanzig geflügelte Weibchen aus dem Ameisenhaufen heraus, und nachdem sie die nötigen Vorbereitungen getroffen hatten, schwangen sie sich im Sonnenschein über den Wipfel einer hohen Fichte. Hierauf verließen einige Hundert ebenfalls geflügelte Männchen ihr Gefängnis, um ihre düstere Bestimmung zu erfüllen.
»Das ist der Hochzeitsausflug«, erklärte die Tauchente.
Was dann über der Fichte vor sich ging, das blieb in der Wolke, die von den kleinen Geschöpfen selbst gebildet wurde, verborgen. Kein sterbliches Auge durfte es sehen, nur den Leben erzeugenden Blicken der Sonne war es ausgesetzt.
Als eine Stunde verflossen und die Hochzeit vorüber war, kamen die Weibchen herab und traten wieder in ihr Mutterhaus ein, wo ihnen die Arbeiterinnen die Flügel abrissen, die von jetzt an nutzlos für sie waren.
»Die gefallenen Engel werfen die Flügel der Unschuld ab!« deklamierte die Tauchente.
»Und die mordenden Engel, was tun diese dort?« fragte die Möwe entsetzt, als sie sah, wie die Arbeiterinnen über die Männchen herfielen, die in ihrer Erschöpfung nicht den Mut hatten, sich dem Ameisenhaufen zu nähern, sondern hilflos im Gras ringsum stehengeblieben waren.
»Sie richten ein Blutbad unter den Männchen an, die jetzt überflüssig geworden sind.«
»So eine unerhörte Roheit! Da soll mir noch eines kommen und sagen, die Frauen seien Sklavinnen! Da wäre doch wahrlich in erster Linie ein Verein für die Rechte der Männer am Platz. Die armen Männer! Na, ich habe genug von dem Idealstaat.«
»Was soll man tun? Es liegt in ihrer Natur.«
»Das kann man wahrlich eine rückwärtsschreitende Entwicklung nennen. Ich hoffe, du gibst mir darin recht, daß Wesen ohne Geschlecht entartet sind?«
»Darüber besteht nicht der geringste Zweifel, daß sie entartet sind; aber das ist gerade eine Entwicklung.«
»Die Entartung? Na ja, glücklicherweise findet man bei den höheren Tieren die Herren der Schöpfung doch noch in besseren Verhältnissen.«
»Wo denn, wenn man fragen darf?«
»Nun, bei den Hühnern zum Beispiel.«
»Ach, meinst du, der Hahn sei ein König in seinem Reich? Da irrst du dich sehr. Sieh nur, wie er den Hennen nachläuft, wie höflich er ist, wenn er ihnen die guten Bissen überläßt, wenn er für die Damen die Erde aufkratzt! Er muß ihr Nachtwächter, ihre Schildwache, ihre Feldwache sein. Ja, er ist mit einem Wort das Faktotum und der Geschäftsführer der Frauengesellschaft.«
»Aber du hältst doch gewiß das Mormonentum auch für unmoralisch?«
»Ja, glaubst du denn wirklich, es sei besser, geschlechtslose Frauen als befruchtete zu haben? Ich für meine Person finde, daß der Hühnerhof besser ist als ein Ameisenhaufen.«
»Weißt du, Tauchente, von dieser Stunde an gefällt mir keines von beiden mehr. Die Natur ist überall gleich gebrechlich. Es ist ebensogut, die Wirklichkeit so zu nehmen, wie sie ist, als anderswo nach dem Ideal suchen. Guten Abend, schönen Dank und alles Gute!«
»Glückliche Reise! Vergiß die guten Lehren nicht, die ich dir gegeben habe!«
Die Reisegefährten trennten sich, und die Möwe flog gen Norden. Da soeben die Sonne unterging, hatte sie keine Lust, sich aufs Meer hinauszubegeben, sondern sie flog weit ins Land hinein. Gegen Mitternacht, als der Mond aufgegangen war, erblickte sie dann zu ihren Füßen einen langen Lichtstreifen, zwei silbernen Fäden gleich, die sich von Norden nach Süden schlängelten. Die Möwe folgte ihnen hoch droben – es war die Eisenbahn, deren taubedeckte Schienen hell glänzten –, und dabei atmete sie eine von Orangen- und Magnolienblütenduft erfüllte Luft ein, und dann erblickte sie ein großes Rundell mit unzähligen gelben Lichtpünktchen: das war eine Stadt. Voller Neugier zu erfahren, wie die zweihändigen Geschöpfe sich im Hinblick auf das zarte Geschlecht benehmen, flog die Möwe in diese Stadt hinein, wobei sie sich aber etwas abseits hielt, um sich keiner zudringlichen Aufmerksamkeit auszusetzen. Sie sah dann ein großes, durch elektrische Bogenlampen erhelltes Gebäude, aus dem eine festlich gekleidete Menge herausströmte; die Frauen voran, die Männer mit den Tüchern der Frauen auf dem Arm hinterher.
»Da haben wir wieder den Mann als Knecht!« knurrte die Möwe; sie flog aber weiter und versteckte sich in einer Dachrinne. Von dort konnte sie die Leute beobachten, als diese nun nach verschiedenen Richtungen auseinandergingen.
Die Frauen schritten stolz wie Königinnen einher, die Herren aber machten ihnen mit dem Hute in der Hand den Hof, boten ihnen äußerst zuvorkommend den Arm und erwiesen ihren Begleiterinnen immerzu kleine Aufmerksamkeiten, ohne daß die Möwe bei einer einzigen Dame auch nur eine Spur von ähnlichen Höflichkeitsbeweisen den Herren gegenüber hätte entdecken können.
»Die Gleichheit ist hier nicht eingeführt«, stieß die Möwe hervor.
Sie schaute zu einem gegenüberliegenden Fenster hin, wo die Rollvorhänge nicht heruntergelassen waren.
Dort saß eine junge Frau auf einem Ruhebett und betrachtete kalt und hochmütig lächelnd einen jungen Mann, der flehentlich auf einem Teppich vor ihr kniete.
»Was wird er denn anderes von ihr begehren, als daß sie ihm das gebe, was sie an ihn zu verkaufen gedenkt?«
Die Möwe flog auf und stieg hoch empor, um den Weg nach ihrer Heimat zu entdecken.
Im Mondschein fiel ihr ein großes Gebäude aus weißem Marmor in die Augen. Gekrönt von unzähligen Turmspitzen, geschmückt mit unzähligen Statuen, Blumen, Blättern, Wetterfahnen und Giebeln, bot es einen unvergleichlichen Anblick dar. Die Möwe schwebte tiefer herab, um die Statuen zu betrachten: es waren Männer und Frauen, Jungfrauen und alte Leute durcheinander. Aber mitten in diesem Wald von Minaretts erhob sich eine Kuppel, höher als alle andern, und über ihr, ganz oben auf der Spitze, stand eine Frauengestalt aus Kupfer, die ein neugeborenes Kind auf den Armen wiegte.
»Ein Tempel, dem Kultus des Weibes geweiht«, sagte die Möwe vor sich hin. »Diese hier ist doch wenigstens eine Mutter. Sehr gut!«
Im selben Augenblick, wo die Möwe sich zur Weiterreise anschickte, ertönte aus der Tiefe der Kathedrale ein wunderbarer Gesang. Die Akkorde drangen durch das Dach, und mitten durch das Sturmgebrause der Orgel sprachen Menschenstimmen Worte aus, die einen tiefen Eindruck auf den alten Möwengroßvater machten. Die Stimmen sangen:
Ave Maria, gratia plena,
Dominus tecum,
Benedicta tu in mulieribus
Et benedictus ventris ...
»Dieses Lied ist trotz seines idealistischen Realismus nach dem, was ich jetzt alles gelernt habe, sehr wahr. Ave Mater! Heil der Mutterschaft!«
Und von einem plötzlichen Heimweh befallen, flog die Möwe eilends davon.
Nachdem sie im Annecy-See ein leichtes Frühstück zu sich genommen und den Mont Cenis überflogen hatte, traf sie am frühen Morgen wieder am Genfer Hafenplatz ein.
Groß war ihre Überraschung, als sie da auch nicht die leiseste Spur ihrer Streikkameraden vorfand. Sie flog an den Ufern umher, durchstöberte die Klippen bei Coppé, die Klippen bei Thonon und den Sumpf von Nyon – alles umsonst. Ein bitterer Verdacht regte sich in ihrer Seele, als sie, nachdem sie wieder am Genfer Hafen angelangt war, Frau Gall beim Ladeplatz Collonge auf einem Balken kauern zu sehen glaubte. Sie sah enttäuscht und verlegen aus und gab gar nicht acht auf die Rückkehr des Reisenden.
»Guten Tag, Frau Gall!« rief dieser schon aus der Entfernung. »Wie geht es mit dem Streik?«
Die Alte veränderte kaum die Stellung und antwortete, indem sie ihn schief ansah:
»O, so ziemlich. Die andern sind alle miteinander heimlich davongeflogen.«
»Zusammen?«
»Ja, alle durcheinander.«
»Da hört doch aber alles auf! Davonzufliegen, ohne mich auch nur das leiseste davon ahnen zu lassen.«
»Das geschieht Ihnen ganz recht, Sie alter Bock!«
»Seht Ihr, wie sehr Ihr auch gegen die Natur gepredigt habt, die gesunde Natur bleibt doch, was sie war!«
»Und die ungesunde Natur?«
»Die bleibt auch, kommt aber erst in zweiter Reihe. Sie tun mir von ganzem Herzen leid, alte Frau Gall; aber ein Buckliger wird niemals das Recht haben, für die Verkrümmung des Rückgrats Propaganda zu machen.«