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VI.

Der Regen rauscht und rieselt hernieder! ... in triefenden grauen Schwaden ziehen die Wolken über das steinerne Häusermeer Berlins, in feuchtem Glanze flimmert der spiegelglatte Asphalt der Straßen, und eine zähe Kotschicht legt sich schlüpfrig über den gepflasterten Teil der Plätze und Gassen. Es ist ein kalter, nebliger Herbst-Tag. Ab und zu kommt ein schwerer Windstoß aus dem Tiergarten, von dessen buntbelaubten Zweigen das Wasser trieft und die welken Blätter in zitternden Kreisen langsam auf den aufgeweichten, pfützenbedeckten Kies der Promenadenwege niederschweben. Der Windstoß fährt heulend weiter durch das Brandenburger Thor, die Linden hinauf bis zum Schloß, auf dessen Zinne die nasse Standarte sich schwerfällig bläht. Er treibt die Cylinderhüte in Sprüngen durch die Gossen, er stülpt die Schirme um und jagt die Regengüsse schräge den Passanten in Gesicht und Nacken; wer es kann, verläßt die schützende Behausung nicht, und trotzdem zeigt das bienenfleißige Berlin auch heute kaum eine Abnahme des Straßenverkehrs.

Die Charlottenburger Chaussee freilich liegt verödet da. Die angesagten Rennen in Westend finden wohl statt, aber die Schar der Sportfreunde, die dem scheußlichen Wetter zum Trotz sich in die Kälte und das Nebelgeriesel hinauswagen, ist verschwindend gering. Ab und zu nur jagt ein leichter Wagen dahin, gelenkt von einem Herrn mit hochgeschlagenem Paletotkragen und verdrießlich zwinkerndem Gesicht oder ein Kremser mit regendurchtränktem Plan holpert seines Weges. Dann gehört das Feld wieder den jammervollen Mörtel- und Steinfuhrwerken, die ächzend und kottriefend durch den Schlamm der Straße dahinkriechen, zwei keuchende Pferdegerippe davor, die stumpfsinnig-rohe Gestalt des Kutschers halb schlafend oben darauf.

»Zum Abschiednehmen just das rechte Wetter,« sagt Graf Parsenow zu seiner Braut und deutet durch die regenblinden Scheiben des Coupés hinaus auf den Goldfischteich, an dem sie eben vorbeirollen. In zahllosen, durcheinanderfließenden Kreisen vermengen sich da die Regentropfen mit dem schwärzlichen Spiegel, in dem undeutlich an einzelnen Stellen organerote Flecke einen Goldfisch-Trupp anzeigen. Am Rande steht ein nasser Schutzmann und gähnt, was er kann. Eine alte Frau mit großem Regenschirm daneben. Es ist ein trostloses Bild. Frau Hilda sagt denn auch weiter nichts. Sie lehnt sich seufzend in die Kissen zurück und blickt mit verstohlener Zärtlichkeit auf Parsenow.

Und weiter rollt der Wagen. In weitem Bogen schnellen die zitternden und springenden Gummiräder den Schmutz von sich, daß da und dort ein Vorübergehender fluchend zur Seite springt und eine leichte Neigung zur Sozialdemokratie in sich erwachen fühlt; schon ist das Gefährt über den großen Stern hinaus, es saust unter der Eisenbahnbrücke durch, wo eben einer Schar ältlicher Damen ein Sturmangriff auf einen vollgepfropften Pferdebahnwagen abgeschlagen wird, und die lange, öde Berliner Straße Charlottenburgs entlang, hinauf zum Rennplatz.

Beim aussteigen braucht Frau Hilda alle Mühe, sich klar zu machen, daß das wirklich die gleiche Gegend ist, die sie Sonnabend, an Parsenows Seite sah. Freilich ... die Umrisse sind ja noch dieselben, soweit man sie durch die graue, dicke Nebelluft erkennen kann, – die weite, gewellte Hochebene mit ihren Schluchten und Hügeln, rechts das Gehölz, ganz in der Ferne, kaum mehr sichtbar, grau in grau der Wald und ein Gewässer, weiterhin am Horizont einzelne einsam ragende Mietskasernen, und ganz im Vordergrund die großen, mit regenschweren Fahnen geschmückten Holztribünen. die Totalisatorschalter und die sonstigen Gebäude. In sie hat sich alles, was überhaupt da ist, unter Dach und Fach zurückgezogen – die kleine Gemeinde der unverbrüchlichen Turf-Freunde, eine Anzahl Kavallerie-Offiziere und andere Herren der Gesellschaft, einige Sportberichterstatter, die Trainer und Jockeys und natürlich die vollzählig versammelte Gilde der Buchmacher.

Diese letzteren Gruppen alle haben sich auf dem Sattelplatz, im Restaurant der zweiten Tribüne, versammelt, in dem auch die Musiker der heute concertierenden Garde-Infanterie-Capelle umherstehen. Der Punsch dampft da in großen Gläsern, der Kaffee wird brennendheiß in die Tassen geschenkt und die Cognacflasche kommt kaum aus der Hand der eifrig die Gläschen füllenden Schenkmaid. So ist hier die Stimmung ganz leidlich, man fühlt sich unter sich, derbe Witze im Berliner Dialekt fliegen hin und her und wieherndes Auflachen folgt ihnen.

Im Restaurant und den Logen der ersten Tribüne herrscht feierliche, beinahe geschäftsmäßige Langeweile. Die Herren, die hier nachlässig herumpromenieren und sich ebenso nachlässig unterhalten, sind in ihre eigenen Gedanken versunken. Neugierige giebt es heute keine unter ihnen. Sie alle sind hier in ihrem Berufe ... als Herren-Reiter, als Rennstallbesitzer oder Wettende, und trotzen gleichgültig den Unbilden des Herbsttags. Die Damen fehlen natürlich fast ganz. Was sollten sie heute hier draußen, wo jede geschmackvolle Toilette in einer Viertelstunde ruiniert ist und dabei noch von fast niemand gesehen wird. So sind die Modeschauspielerinnen und die Sterne der Singspielhallen ebenso zu Hause geblieben, wie der Schwarm der buntgeputzten Halbwelt, die sonst den grünen Plan bevölkert. Nur aus der Gesellschaft sind einige unverdroßene Sportfreundinnen anwesend, junge Frauen, die im Sattel zu Hause und gewohnt sind, hinter dem roten Rock des Masters und seiner Hunde im Galopp durch das krachende Stangenholz und über die wurzelbedeckten Schneisen zu jagen. Mehr als sonst gestatten sie sich heute einen burschikosen Ton. Sie fühlen sich eins mit den Männern und werden von ihnen als gute Kameraden betrachtet.

Um so mehr Aufsehen erregt es natürlich, als Hilda an Parsenows Arm über den öde daliegenden völlig aufgeweichten Rasen zur Tribüne schreitet. Natürlich hat schon jedermann davon gehört, daß sich Parsenow bei dem vorigen Renntag eine heftige Verlobung zugezogen und von allen Seiten richten sich forschende Blicke auf sie. Zum Glück bewahrt Parsenow wie immer seine unerschütterliche Kaltblütigkeit. Auf seinen Arm sich stützend, fühlt Hilda, wie die Befangenheit schwindet und das verräterische Rot aus ihren Wangen weicht.

»Jetzt kommt mein letztes Rennen, sagt Parsenow melancholisch, nachdem beide in einer der Vorderlogen Platz genommen und deutet auf das Programm, wo unter I, Dahlemer Hürden-Rennen sein »Cocktail, dbr. H. vom Talbot a. d. Messalinla, a., 61 Kg.« verzeichnet steht ... »ich habe den Schinder schon vor Gott weiß wie lange genannt ... weiß eigentlich selbst nicht mehr warum ... gewinnen kann er ja nicht...«

»Warum?« fragt Hilde gespannt.

»... 's ist ein alter Gaul, der seinen Hafer nicht mehr wert ist,« meint ihr Bräutigam, »... na ... immerhin ... es ist ja doch das letzte Mal, daß ich ein Pferd laufen lasse.«

»Fünfzehnhundert Mark kannst Du darauf gewinnen,« erklärt Hilda, aufgeregt das Programm studierend, »... hier stehts ... 1500 Mark dem ersten, 500 dem zweiten Pferd und so weiter ... ach ... wenn wir gewinnen ... das wäre zu nett... es ist ja doch immerhin eine Masse Geld ...

»Wenns Dir Spaß macht, so setze doch am Totalisator! ... ich kann nicht mehr ... hab' jetzt schon mein Wort gegeben, nicht mehr zu spielen ... aber Du könntest da einen ganz netten Coup machen, für den unwahrscheinlichen Fall, daß Cocktail wirklich ...«

»Das ist eine Idee!« Frau Hilda steht auf und späht suchend in der weiten Tribünenhalle umher, in der hier und da, fröstelnd und die Hände in den kurzen gelben Paletots, die Sportsmen bei einander stehen. Nur wenige sitzen. Es ist zu kalt dazu. Denn immer schwerer senkt sich der Nebel auf das regenüberrauschte Feld und in der grauen dunstigen Luft unter dem Tribünendache rieselt es förmlich von Feuchtigkeit.

Während Frau von Braneck sich noch umschaut, hört sie eine Stimme dicht neben sich. Sie dreht sich um und sieht Parsenow im Gespräch mit einem dicken, vulgär aussehenden Herrn, in dessen rotem, stumpfem Gesicht ein regenbeperltes Monocle schimmert.

»Erlaube, Hilda,« wendet sich ihr Bräutigam zu ihr, »daß ich Dir den Prinzen von Stayningen vorstelle.«

»Meine Gnädigste ...« Der Standesherr verbeugt sich ... »Gnädigste scheinen etwas zu suchen?«

»Ach ja Durchlaucht!« sagt Hilda etwas befangen, ... »ich möchte so gern auf das Pferd meines Bräutigams wetten ... und er kann es nicht besorgen, weil er sich vorgenommen hat, nicht mehr zu setzen ...«

»Aber bitte, meine Gnädigste ... sofort!« Der Prinz steigt die Treppe herunter und wandert vornüber gebeugt, in sorgvollem Schritt zum Totalisator, um nach kurzem mit dem Ticket zurückzukehren ... »Hier ... bitte gehorsamst ... werden zwar wenig Freude daran erleben ...«

»Warum?« fragt Hilda, indem sie aus ihrem Miniatur-Portemonnaie die zwanzig Mark nimmt und mit schüchternem Lächeln jenem einhändigt.

»Nun,« meint der Dynast, »Rennen ist ja ein todsicheres Ding für Minotauros ... Pfeiffer reitet ihn ... der sächsische Husar ... dann ist noch Mary im Feld ... auch 'ne tüchtige Stute ... tragen freilich beide schweres Gewicht ...«

»... und der Boden ist zwei Zoll tief aufgeweicht,« ergänzt Parsenow ... »aber trotzdem ...«

»Na ... werden ja sehen«, scherzt das Gigerl, »Rennplatz, meine Gnädigste, hat so gewissermaßen etwas weibliches an sich ... unberechenbar bis zum letzten Augenblick ... ha ... ha!«

»Ach, Durchlaucht ... ob die Männer anders sind?« sagt Frau Hilda melancholisch ... »wieviel Pferde laufen denn übrigens?«

»Nur die drei ... kleines Feld ... matte Affaire,« erwidert Stayningen ... »muß übrigens gleich losgehen ... aha ... da kommen sie.«

Dicht hintereinander schreiten die drei Pferde in die Bahn. Voran Minotauros, ein schöner Wallach, auf dem Leutnant Pfeiffer, ein Herr mit scharfgeschnittenem Gesicht, sitzt, dann der alte Cocktail. Ihn steuert Wendlau, der kleine Husar, dem von dem Sturze mit Satanella keine üblen Folgen verblieben sind. Parsenow selbst hat ihn dringend gebeten, heute zu reiten, damit es nicht so aussieht, als trage er ihm den Accident des kostbaren Renners nach.

Auf Mary, dem dritten Gaule endlich sitzt eine etwas bläßliche Gestalt in buntem Dreß.

»Das ist Herr Röthlingk« erläutert der Prinz ... »komischer Kunde ... hätt's gar nicht nötig zu reiten ... und thut's doch immer wieder ...«

»Nun ... wenn es ihm Spaß macht ...«

»Spaß ... aber ich bitte Sie, Gnädigste ... sehen Sie ihn doch an, wie aschgrau er aussieht ... Er stirbt jedesmal beinahe vor Angst, der Knabe ... Ehe er sich in den Sattel setzt, stürzt er 'ne ganze Pulle Sekt herunter ... Er ist auch schon jetzt wieder zu dreiviertel bezecht ...«

»Und dabei gewinnt er noch womöglich.« sagte Parsenow grimmig, »er klemmt sich auf's Pferd, macht die Augen zu und reitet hinter Pfeiffer drein bis zum Ziel ...«

»Der Pfeiffer hat nu wieder 'n Kater« meint der Prinz vergnügt. »Sie haben ihn gestern bei Uhl unter Sekt gesetzt. Er hat bis heute um elf geschlafen. Nicht 'mal die Bahn hat er sich ordentlich angesehen ... und dabei kennt er sie so gut wie gar nicht ...«

»Dann steigen ja meine Chancen ...«, der Graf sieht blinzelnd nach dem Start dicht an der Tribüne, wo in diesem Augenblick die Fahne fällt. Die drei Pferde kommen, Kotspritzer mit den Hufen hinter sich aufwerfend, in kurzem Galopp vorbei und segeln dem Wäldchen zu.

Schon ehe sie es erreichen, ist es klar, daß Cocktail auf die Dauer nicht wird mitkommen können. Auch scheint ihm die Sache gar keinen Scherz zu machen. Schon ist er fünfundzwanzig, dreißig Längen hinter den beiden anderen zurück, als die Gesellschaft im Wäldchen verschwindet.

Ein heiteres Murmeln geht durch die spärlichen, teilnahmlos herumsitzenden Gruppen, während sie wieder auftaucht. Minotauros führt, Mary hält sich krampfhaft dicht hinter ihm, und eine weite Strecke zurück galoppiert der greise Cocktail so mißvergnügt dahin, als wollte er sagen: »Kinder ... was sollen die Scherze ... ich bin zu alt dazu!«

Plötzlich ein rascher Ausruf ... ein paar Stimmen dazwischen ... und ein ganzes Gewirr von Flüchen und Gelächter. Man springt auf und gestikuliert die Operngläser werden erhoben ... man streitet und schreit ...

»Was ist denn los?« fragt Hilda ängstlich.

Parsenow läßt sein Glas sinken. Ein grimmiges Lächeln geht über sein Gesicht. »Sie haben sich verritten!« sagt er vergnügt, »Pfeifer und der andere ... dort an der Schleife, sind sie aus den richtigen Flaggen gekommen ... und dabei reiten sie immer noch weiter! ... wenn jetzt Wendlau aufpaßt! ... setzte er nach einiger Zeit murmelnd dazu.

Und Wendlau paßt auf! Er hat die Situation überschaut und jagt an der verhängnisvollen Stelle geradeaus, den richtigen Weg weiter, während eben erst die beiden andern den Irrtum gewahr werden und im Bogen schwenken, um den langen Weg bis zu der Schleife zurückzureiten.

»Wenn der Wendlau Vernunft hat, muß er jetzt losreiten wie toll!« klingt hinter Hilda Stayningens heisere, knarrende Stimme, und fast zugleich beugt sich neben ihr Parsenow vor: »Gott sei Dank ... er reitet!«

Draußen, im Felde merkt der alte Cocktail zu seinem lebhaften Mißvergnügen, daß sein Reiter plötzlich energisch zu werden anfängt. Peitsche und Sporen thun ihre Schuldigkeit. Der steife Hengst wird lebhaft. Er beginnt sich zu strecken und geht in rascher Fahrt dahin, während der Husar sich alle Augenblicke im Sattel umwendet, um nach den beiden Rivalen zu schauen, die viele hundert Längen hinter ihm aus allen Kräften losjagen.

Aber die Distanz ist zu groß und zudem der gelockerte Boden den schwergewichtigen Pferden nicht günstig.

Bis auf zwanzig Längen kommen sie heran, dann aber schießt der ununterbrochen energisch aufgemunterte Cocktail mit fliegenden Nüstern und schaumbedeckt durch das Ziel. Musiktusch ... Heiterkeit und Lärmen überall ... trotz etwaiger Geldverluste ist man dem alten Veteran beinahe dankbar für die Ueberraschung die er in den langweiligen Regentag gebracht.

»Nun haben wir fünfzehnhundert Mark gewonnen!« sagt Hilda strahlend und schlägt vergnügt wie ein Kind die schmalen Handflächen zusammen.

»Mehr.« Parsenow steht auf. »Du vergißt Dein Totalisator-Billet!«

»Ach ja!« daran hatte sie nicht gedacht. »Darauf giebts ja auch noch was!«

»Wahrscheinlich 'ne ganze Menge!« meint Stayningen. »Werde sofort nachschauen meine Gnädigste!«

Es dauert kaum eine Viertelstunde, bis das überraschende Resultat bekannt ist. Der Totalisator zahlt den fünf Glücklichen, die auf Cocktail gesetzt, das 45fache Geld aus. So hohe Odds waren schon lange nicht da. Mit freudigem Staunen sieht Hilda auf das Päckchen Banknoten, die ihr der Prinz bringt, und zählt sie immer wieder durch, um sich zu überzeugen, daß sie wirklich – durch eigene Arbeit, wie sie stolz hinzusetzt, – die Summe von beinahe 900 Mark verdient hat.

Das Rennwesen erscheint ihr jetzt auf einmal in einem ganz anderen Licht. Sie überlegt. »Weißt Du,« wendet sie sich dann zögernd zu dem Grafen, »eigentlich könntest Du doch ein paar von den Pferden behalten. Es ist so nett?«

»Das denkst Du Dir jetzt so!« meint Parsenow ... »wenn ich dann verliere, kommt Dir die Sache anders vor ...!«

»Wenigstens zwei Pferde ... oder eins nur ... damit man doch sagen kann, man hätte auch seinen Rennstall ...!«

»Ob man einen Steepler hat oder zehn ...« der Graf steht auf und knöpft den braunen Sport-Paletot zu, ... »das bleibt sich ganz gleich, liebes Kind! ... sein Geld wird man doch los ... so oder so ... Und nun entschuldige mich einen Augenblick. Ich will mal sehen, wie es mit der Versteigerung steht.«


Der Regen schlägt Parsenow ins Gesicht, als er, die steilen Holztreppen an der Seite der Tribüne heruntersteigend, auf den nassen Rasen tritt. Kein Mensch ringsum. In der Ferne blasen die Musikanten melancholisch in dem winddurchpfiffenen, offenen Tempelchen; ganz weit hinten sieht man eine Reihe Equipagen und Droschken in dem Nebel, deren Kutscher es sich in dem Innern der Vehikel bequem gemacht haben, während die Gäule unwirsch, die triefenden Schädel schütteln und mit den Vorderhufen in dem Schlamm graben. Es ist ein öder Anblick.

Parsenow fröstelt. Das ist also der Abschied von der geliebten Rennbahn. Ein merkwürdiges Gefühl von Unbehagen, von Grauen vor der Zukunft steigt in ihm auf.

Daß gegen seelische Verstimmungen Cognac mehr wirkt als alle Vernunftgründe der Welt, das weiß er aus Erfahrung. Er tritt an den Schenktisch der Tribüne, wo im Dämmerlicht einzelne Uniformen und Herrenmäntel schimmern, und läßt sich ein Glas fine champagne geben. In dem Augenblick, als er es geleert niedersetzt, weht ihn von hinten ein wohlbekannter Duft, der Parfüm von Ylang-Ylang an. Unwillkürlich wendet er sich um.

Richtig ... da steht die Ernesti. Sie verzehrt eine Schinkenstulle, trägt dicke Galoschen mit Pelzbesatz und eine Boa um den Hals und sieht sehr mißvergnügt aus. Ueber die Begegnung mit Parsenow scheint sie keineswegs erstaunt, sondern hält ruhig seinen verblüfften Blick aus ...

»Bei dem Wetter schleppt er mich hier heraus!« sagt sie endlich, ohne daß vorher ein Wort der Begrüßung gefallen, ... »es ist wirklich empörend. Und bloß, um ein paar Gäule zu kaufen, weil er behauptet, ich verdürbe ihm die Orloff-Traber durch zu schnelles Fahren ...«

»Wer?« fragt Parsenow halb mechanisch, ... »der van Look ...«

»Weißt Du?« ...die Ernesti sieht sich vorsichtig um, ob niemand sie belauscht ... »Du warst doch viel netter! ... ungelogen ... ich langweile mich zum Umkommen mit dem Menschen ...«

»Ist er denn so geizig?«

»Nein ... gar nicht« ... Erna nippt vorsichtig an ihrem Glas mit heißem Grog, ... »er leiht uns sogar das Geld, um das neue Ausstattungsstück herauszubringen ... weißt Du das noch nicht ...? Ich sage Dir ... ich verzapfe da die Rolle der Satanella ... die ist nicht von Pappe ...«

»Na also ... was willst Du denn mehr?« sagt der Graf. Es ärgert ihn, daß er überhaupt mit Erna zu sprechen begonnen hat, aber er kommt nicht los.

Erna verzieht gelangweilt den Mund. »Er ist so stumpfsinnig! ... und dann« ... sie neigt sich geheimnisvoll zu dem Ohr ihres Freundes ... »man erzählt so allerlei ... es soll faul mit ihm stehen ...«

»Mit dem Geld?«

»Oberfaul!« bestätigt die Ernesti »... ich hab's von verschiedenen Seiten gehört ... freilich ... ob's wahr ist?«

»Unsinn!« sagt Parsenow kurz und wendet sich ärgerlich ab. »Adieu!«

»Adieu!« Die Ernesti legt ihm, während er sich umwendet, die Hand auf die Schulter, ... »sag' mal ... kommst Du zu der Premiere der Satanella? ... es wird fein!«

»Womöglich gar mit meiner Braut?«

»Warum denn nicht?« meint Erna unschuldig, »... die weiß doch nicht ... und ich hab' so ein entzückendes Kostüm ... rote Tricots und kleine Hörnchen auf dem Kopf ... und ...«

»... sag' mal!« unterbricht sie der Graf,» ... woher weißt Du das mit van Look?«

»Gott ... man sagt so ...« erwidert Erna leichthin ... »wenn einer 'mal bei der Ultimo-Regulierung ein paar tausend Märker los wird, heißt's ja gleich: er ist pleite! Ich glaub' eigentlich nicht ...«

»Gestatten Herr Graf!« Ein auffallend gekleideter Herr in den Vierzigern mit schnarrender Stimme und äußerst sicherem Auftreten taucht neben der Ernesti auf und schneidet ihr das Wort ab ... »ich weiß nicht, ob ich noch den Vorzug habe, von Ihnen gekannt zu sein ...«

Der Graf erinnert sich allerdings des früheren Rittergutsbesitzers und Rennstallinhabers Schumacher, der es in der Gründerzeit zu großem Vermögen gebracht hatte, nach dem Krach auf einige Jahre verschwunden war und jetzt als Kommissionär und Agent für allerhand Dinge sein Dasein fristet.

»Was steht zu Diensten?« Parsenows Stimme klingt äußerst kühl.

»Es handelt sich um Ihren Rennstall! Ich habe einen Käufer dafür.

Das ist allerdings etwas anderes! Erna Ernesti sieht sich im nächsten Augenblick verlassen am Büffet stehen, bis nach einiger Zeit van Look, den nassen Schirm schüttelnd und mit seinem gewohnten unbeweglichen Gesicht, zu ihr hereintritt. Die beiden andern aber haben sich am Fenster niedergelassen und besprechen, die Portwein-Gläser vor sich, eifrig den Handel.

Es ergiebt sich, daß ein Herr Sanin, ein junger Russe, der seit einiger Zeit auf der Berliner Produktenbörse eine Rolle spielt, gesonnen ist, seinen schon bestehenden Traberstall durch den Ankauf einiger Hindernis-Pferde zu vervollständigen, und nicht abgeneigt ist, die Parsenow'schen Steepler in Bausch und Bogen zu erwerben. Er zahlt bar! ... das ist auch viel wert. Und nach einer kleinen Viertelstunde trennen sich der Graf und der Agent mit freundschaftlichem Händedruck. Sie haben beide ein gutes Geschäft gemacht, dessen Kosten der Matador des russischen Kornmarkts trägt, und die beabsichtigte Versteigerung der Pferde wird heute nicht stattfinden.

Dies letztere hatte der Graf eben angeordnet, als er auf dem Rückweg zur Tribüne seinen Geschäftsfreund Krakauer bemerkte, der ausnahmsweise nicht lächelte, sondern eilfertig auf ihn zukam.

»Ich suche Sie, Herr Graf,« sagte er ... »bin extra Ihretwegen herausgefahren.«

»Schmeichelhaft! ... was giebts?«

Krakauer sah sich um. Dann sagte er leise:

»Hat Frau von Braneck nicht ihr Geld bei van Look und Compagnie?« »Ja!«

»Herr Graf!« Krakauer beugte sich bis dicht an sein Ohr ... »'s bleibt unter uns: ziehen Sie's zurück! ... so schnell wie möglich!«

Merkwürdig, wie es Parsenow fröstelte!

»Ist's wirklich notwendig?«

»Nu – halten Sie mich für 'nen harmlosen Menschen?« Krakauer fühlte sich beinahe beleidigt.

»Im Gegenteil.« Parsenow zündete sich eine Cigarette an. »Sie sind so schlau, daß Sie schon beinahe wieder dumm sind! ... also sagen Sie ... van Look wackelt wirklich?«

»Heut früh hätten Sie's an der Börse überall hören können. Faul ... oberfaul! ... seine Vettern in Paris, Lejeune Frères und Compagnie haben gestern fallirt... ich glaube nicht, daß der Mann das aushält ... in seiner Lage ... hat allerdings noch einen Onkel in England ... Augustus T. von Look ... ein großer Mann in der City ...«

»Morgen!« Parsenow schritt eilig der Tribüne zu. Er war bleich geworden. In seinen Ohren klang es immer wieder, bald in Ernas heller Stimme, bald in Krakauers gaumigen Diskant: »Faul ... oberfaul!«...

Auf der Treppe stand Hilda, die Kapuze des Mantels über dem Kopf. Schon von ferne sah er, daß sie unmutig und gekränkt dreinblickte. Prinz Stayningen lehnte daneben und lachte thöricht vor sich hin. Dahinter glänzte der Attila des kleinen Wendlau, der ziemlich betreten aussah ...«

»Hören Sie mal, Graf!« sagte er, Parsenow entgegentretend... »thut mir verdammt leid ... hatte ja keine Ahnung, daß die Dame Ihre Braut ist ...«

»Herr von Wendlau!« Parsenow furchte zornig die Stirne.

»Sonst hätt' ichs ja nicht gesagt!« fuhr der betrübte kleine Husar fort, »... die Sache war nämlich so ... ich ging eben hier vorbei ... da fragt mich der stumpfsinnige Prinz, ob ich nicht wüßte, wo Sie seien. Natürlich! ... sage ich ... Parsenow sitzt unten am Büffet mit der Ernesti ... na ... und dann ...«

»Ich danke Ihnen,« Parsenow drückt ihm verbindlich die Hand, ... »das haben Sie reizend gemacht, lieber Wendlau... ganz reizend!«

Der Leutnant zuckt bedauernd die Achseln. Frau Hilda aber sagt in auffallend bestimmtem Ton: »Ich habe Lust, nach Hause zu fahren, Konrad!«

»Sofort, liebes Kind ... meine Angelegenheiten hier sind erledigt!«

»Das scheint so!« erwidert die schöne Frau scharf und schreitet vor ihm die Treppe hinab. Während er ihr folgt, glaubt er hinter sich das spöttische Kichern des fürstlichen Gigerls und des kleinen Husaren zu vernehmen, und kommt sich selbst äußerst lächerlich vor. Er weiß ja, wie man in seinen Kreisen über Pantoffelhelden denkt.

Schweigend schreiten sie beide über den Kiesweg, während hinter ihnen sich eben das zweite Rennen des Tages entscheidet. Ein Haufe Jockeys schießt aus dem Nebel heran. Die grellseidenen blauen, gelben und roten Jacken heben sich seltsam ab von dem düstergrauen Hintergrund. Allen voraus jagt ein winziger Stallbursche, der sich in den Bügeln aufstellen muß, um über den Kopf des Pferdes hinwegzusehen, und in einem für sein Alter verblüffenden finish siegt. Aber keine Hand regt sich, kein Zuruf wird laut. Das Häufchen verfrorene Sportfreunde ist durch das schlechte Wetter ganz apathisch geworden.


Am Eingang hielt auf der Chaussee der Wagen. Sie stiegen ein und rollten den Berg hinunter, hinter dem in schlüpfrigem Grau die Häuser von Charlottenburg glänzten.

Eine lange verlegene Pause entstand.

»Liebes Kind!« sagte Parsenow endlich ... »es war gewiß nicht recht, daß ich vorhin ... ich dachte nicht daran ... freilich ... aber Du mußt das nicht mißdeuten ... die Dame hatte mir etwas wichtiges mitzuteilen ...«

»Was denn?« frug Frau Hilda gepreßt und sah zum Fenster hinaus auf die leere, kotige Landstraße.

Ihr Bräutigam schwieg. Er konnte doch unmöglich in diesem Augenblick von ihrem Vermögen anfangen.

»Es war wohl so wichtig, daß ichs nicht hören darf!« sagte Hilda endlich. Ihre Stimme klang schon thränenerstickt.

»Du irrst Dich, Herz! ... und überhaupt ... es waren nur ein paar Worte, die gewechselt wurden ... Dummheit von mir ... ich geb's ja zu ... hauptsächlich habe ich mit einem Herrn Schumacher verhandelt, der meinen ganzen Rennstall ...«

Frau von Braneck fing an zu weinen ... langsam, sanft und unaufhörlich. Parsenows beschwichtigende Worte verstärkten weder den Strom der Thränen noch hielten sie auf ihm. Sie hörte einfach nicht auf ihn. Er konnte sagen, was er wollte. Der Graf kannte diese Verfassung der Frauen. Da galt es eben, ein, zwei Stunden, vielleicht einen halben Tag geduldig zu warten, bis unter einem letzten großen Thränen-Erguß das erste, noch halb verzweifelte Lächeln wieder zum Vorschein kam.

Langweilig! ... aber es ging nicht anders. Grimmig schweigend saß der Graf da, während Frau Hilda müde die rotgeränderten Augen schloß und wie schlafend den Kopf in die Polster lehnte. Das war also das erste Vorspiel zur Ehe! Parsenow gähnte verstohlen. Eine Cigarette wagte er sich nicht anzustecken; so sah er verbissen zum Fenster hinaus, an dem die bunten, regenfeuchten Baumgruppen des Tiergartens vorüberzogen. Ein paar Schutzleute standen am großen Stern und betrachteten gelangeweilt den grauen Himmel, jämmerliche Lastfuhrwerke knarrten vorüber; am kleinen Stern spielte der blinde Invalide wie immer die »Wacht am Rhein« und die Arie der Agathe aus dem »Freischütz« auf seiner alten Drehorgel, im Goldfischteich zogen noch immer die fallenden Regentropfen ihre ineinanderfließenden Kreise.

Und dann schoß ein Gefährt vorüber, das der gelangweilte Bräutigam wohl kannte. Es gab wenige solche Orloff-Traber in Berlin. Einen Augenblick sah er durch die Scheiben Ernas Gesicht, die neben dem müde scheinenden von Look saß. Sie gähnte eben, lässig die Finger der Rechten vorhaltend, daß das Gold der Plomben zwischen den weißen Zähnen aufblitzte.

Dann war der Wagen vorbei und in Parsenow regte sich der verbrecherische Gedanke, daß es doch eigentlich viel bequemer sei, eine Frau neben sich zu haben, deren Kummer man, wie den Ernas, bei dem nächsten Juwelier für ein paar hundert Mark stillen konnte ... eine Frau, die Spaß verstand ... die ihn eben mit einem Worte nicht zum Philister in Schlafrock und Pantoffeln machen wollte.

Gleich darauf schämte er sich dieser Regung. Ehrerbietig ergriff er Hildas Hand und führte sie leise an seine Lippen. Sie ließ es ruhig geschehen, aber ihr sofort eintretendes erneutes Schluchzen bewies ihm, daß die Frage der Aussöhnung noch nicht ganz reif sei.

So schwieg er denn wieder und sah vor sich hin. »Faul! ... oberfaul!« klang es immer wieder in seinem Innern nach. Wenn Krakauer das sagte, hatte er seine guten Gründe. Und er konnte nichts machen – gerade jetzt nichts – ohne im höchsten Maße taktlos zu erscheinen. Allenfalls konnte er in den nächsten Tagen mit dem Schwiegervater darüber sprechen. Er mußte es sogar ... so bald als möglich. Vielleicht war das Gerücht doch wahr ... er glaubte jetzt noch nicht daran, weil er wußte, wie leicht auf der Börse und dem Rennplatz solche Stimmungen entstehen und vergehen – aber wenn es sich bestätigte, dann war jede Stunde kostbar.

Er versank in tiefe Gedanken, bis die Gummiräder auf dem Pflaster zu hüpfen anfingen. Man fuhr auf das Brandenburger Thor zu; die vier Pferdeköpfe der Quadriga starrten von oben herab. Darüber zogen graue triefende Wolkenfetzen pfeilschnell hinweg nach dem Hohenzollernschloß zu und in schweren Stößen schleuderte der Wind die Regengüsse vor sich her über den spiegelnden Asphalt der Linden.

Parsenow seufzte. Das war also der letzte Tag auf dem Turf gewesen. Unwillkürlich blickte er zu dem Himmel empor und wieder kam ihm der Vers in den Sinn, den er vorhin scherzend gesprochen:

»Zum Abschiednehmen just das rechte Wetter,
Grau wie der Himmel steht vor mir die Welt!«


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