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Eine Stunde darauf sitzen Graf Parsenow mit dem Major und den Seinen ganz gemütlich in einem der vornehmen Lindenrestaurants. Sie haben soeben zu Mittag gespeist – allerhand Firlefanz und Kinkerlitzchen, wie es der Alte knurrig nennt. Keine Spur von einem vernünftigen Stück Fleisch oder einem ordentlichen Teller Gemüse ... nur allerhand lächerlicher Imbiß ... ein Rebhuhnflügel ... ein paar Spargelstangen ... ein fingerlanges Stückchen filet de sole ... ein winziges Häufchen Sauerkraut, melancholisch von ein paar gebackenen Austern gekrönt ... ein thörichter Artischocken-Boden, und der Himmel weiß was noch. Gott sei Dank ... in Pommern speist man solider. Der Major wird beinahe wehmütig bei dem Gedanken, wie schön und ungestört man dort jetzt leben, essen, trinken und schlafen könnte.
Sonst gefällt es ihm in dem Lokal ganz gut. Ein traulicher Raum mit weichen Bodenteppichen, über die geräuschlos die Tritte der Kellner gleiten, mit langen Spiegeln in denen sich flimmernd der bläuliche Schein der birnenförmigen Glühlichtlampen bricht. Es herrscht eine angenehme Ruhe ... die Kellner verkehren nur im Flüstertone ... die Gäste murmeln mit einander an den weitabstehenden Tischen ... an den Fenstern dämpfen schwere Vorhänge das Geräusch der Straße ... kurz ... wenn man schon verurteilt ist, sich in Berlin aufzuhalten, mag es hier noch am ersten gehen. Herr von Döbeln hat sich eine Cigarre angesteckt und sieht behaglich zu, wie der bläuliche Rauch das Sektglas umspielt, von dessen Boden, im Kerzenlicht flimmernd, ununterbrochen eine Säule von perlenden Bläschen emporsteigt. Halb neugierig, halb mißfällig sieht er dem glattrasierten Kellner zu, der discret das Tischtuch abfegt und in braunem Porzellangeschirr den Kaffee und die Liqueure serviert. Es ist, als ob er etwas erwarte ...
Und richtig ... da tritt ein Ausläufer des Restaurants ein, wird an den Tisch des Majors gewiesen und nähert sich ihm mit abgezogener Mütze. Er legt vier Theaterbillete vor den Alten hin, der sie schmunzelnd in Empfang nimmt und ihn mit einem Trinkgeld entläßt.
»Was hast Du denn da, Papa?« fragt Frau Hilda über den Tisch hinüber.
»... oh ... das ... die Billete ...«, der Major scheint etwas verlegen, »Du wolltest doch heute Abend durchaus ins Eden-Theater gehen! Erinnerst Du Dich nicht mehr, mein Kind?«
»... und das Fräulein Ernst oder wie sie heißt, bewundern.« Die schöne Frau lacht heiter auf, »... ja, Papa ... wenn Du soviel Selbstüberwindung besitzest, mich dahin zu führen, dann gern ... aber ich weiß ja ... dergleichen Dinge sind Dir ein Greuel ...«
»Na wenn schon,« brummt der Major unwirsch, »gehen wir schon hin! Sie begleiten uns doch, Graf ...«
Ins Edentheater! Parsenow kommt der Gedanke so komisch vor, daß er Mühe hat, nicht laut aufzulachen. Ins Edentheater ... da kann es nett werden, heute Abend, wenn sich der Direktor nicht doch noch irgendwoher Geld verschafft hat. Und dann die Ernesti... Verstohlen blickt er auf Hilda, die ganz unbefangen dasitzt. Sie hat ihn heute gesehen, wie er mit der Schauspielerin sprach. Aber schließlich ... die Ernesti ist hübsch, sehr hübsch, in Civil wie auf der Bühne und ein bißchen Eifersucht schadet nie. Das weiß der Graf am besten.
»Ob ich mitkomme?«, wendet er sich zu dem Major, »aber mit dem größten Vergnügen, wenn es die gnädige Frau gestattet?«
»Warum nicht?«, sagt Hilda harmlos. »Es wird mich freuen. Sie sind dort gewiß wie zu Hause und können uns allerhand erzählen.«
»Ich könnte wohl, Gnädigste ... aber ich werde es nicht thun!«
»Sie mögen wohl Ihre Gründe haben,« meint die schöne Frau gelassen und sieht ihn erwartungsvoll an. Aber der Major unterbricht sie: »Na ... nu los, Kinder ... es ist schon fünf Minuten nach sieben ... Gut, daß wir schon Plätze haben ... es wird gewiß ganz voll werden ... nicht wahr, lieber Graf ... die Ernesti ist ja, wie ich höre, eine sehr tüchtige Schauspielerin?«
»Gewiß«, bestätigt Parsenow mit ernstem Gesichte, »außerordentlich tüchtig!«
Mit verheißungsvollem Glanze strahlen die großen Lampen, an der Rampe des Edentheaters in die klare Herbstnacht hinaus. Von allen Seiten naht das Publikum, in langer Reihe fahren die Wagen vor. Die Kutschenschläge klappen .. ein Lichtstrahl flimmert auf dem Helm eines berittenen Schutzmanns und beleuchtet ein nickendes Pferdehaupt, die heiseren Stimmen der Theaterzettel-Verkäuferinnen tönen von der Straße und in den Ecken treibt der lichtscheue Schwarm der Billethändler sein Wesen.
Betritt man den Vorflur, in dessen Mitte ein tadellos majestätischer Portier in Dreimaster und langem Mantel, eine Silberkeule in der Hand, unbeweglich prangt, dann freilich könnte dem Eingeweihten auffallen, daß der Theaterkassirer durchaus nicht soviel zu thun hat, als man nach dem Andrang vermuten sollte. Ab und zu tritt jemand an die Kasse. Aber auch dann sieht man meistens kein Geld. Ein Kopfnicken, das Murmeln eines Namens, die Vorzeigung eines Bons genügt zumeist, um eine Einlaßkarte herbeizuzaubern. Ab und zu freilich zahlen auch harmlose Menschen, die sich heute, am Sonnabend, die Freude des Theaterbesuchs gönnen. Und um ihretwillen ist eigentlich das ganze Heer der »Beisitzer«, der Freibillet-Inhaber, zunächst aufgeboten.
Nichts schrecklicher als ein leeres Haus, in dem die Parkettreihen trostlos gähnen und im Hintergrund der leeren Logen das Gespenst des Kraches kauert, in dem die paar Besucher beinahe verlegen werden, sich allein von den vielen Leuten auf der Bühne etwas vorspielen zu lassen und endlich gedrückt weggehen, um überall zu erzählen, in dem X.-Theater sei es hundeleer. Nichts schrecklicher als das ... jeder Direktor weiß es und füllt sein Haus mit allen Mitteln. In alle Richtungen der Windrose flattern die Billete, an die Zeitungsredaktionen und die Hotels, an den Lieferanten des Theaters, an alle Menschen, die irgendwie mit den Bühnen geschäftlich in Berührung kommen, an die Präsidenten der zahllosen Rauch- und Kegelklubs, an die Gesangs- und Theater-Vereine, in die Friseurstuben und wo man sonst noch Abnehmer vermutet. Des Abends zeigt sich dann der Mühe Lohn. Eine fröhliche Menge füllt erwartungsvoll das Haus, klatscht und jubelt nach allen Aktschlüssen, und auch der zahlende Teil des Publikums, der heute etwa ein Viertel beträgt, wird milder gestimmt, wenn er diese naive, ihm unerklärliche Anspruchslosigkeit sieht, und amüsiert sich schließlich mit den andern. Der Kassierer freilich lacht sardonisch vor sich hin, wenn er am nächsten Morgen im »Kunst-Teil« irgend eines Winkelblättchens die Reklame-Notiz der Direktion liest, es hätten gestern wiederum wie allabendlich Hunderte vor dem ausverkauften Hause umkehren müssen.
»Siehst Du wohl!« sagt Major von Döbeln befriedigt, als er sich mit seiner Gesellschaft in der unteren Proszeniums-Loge, dicht an der Bühne, niedergelassen hat, »siehst Du wohl, daß es ein gutes Stück ist! Das ganze Theater ist voll.«
»Und dabei spielen sie es schon zum siebenundachtzigsten Mal«, erwiderte Hilde, in das Programm blickend, »fabelhaft ... dies Berlin ...«
»Ich weiß nicht«, bemerkt ihr Bruder, der Leutnant, »neulich wollten sie 'mal hier ein neues Stück geben. Es war schon angekündigt; aber nun scheinen sie es doch wieder verschoben zu haben.«
»Nu natürlich«, brummt der Alte, »solang alle Leute das hier noch sehen wollen ... Danach muß sich doch so'n Direktor richten.«
Parsenow sitzt schweigend hinter Hilda. Beim Eintritt hat er eine ihm wohlbekannte Gestalt erblickt, einen unscheinbaren Mann mit mißvergnügtem Gesicht. Er hat den Gerichtsvollzieher schon zwei oder dreimal hier gesehen ... er weiß auch durch Erna, daß er heute früh schon die ganze Tageskasse abgeholt hat. Nun ist er schon wieder da. Der Direktor hat also offenbar kein Geld aufgetrieben. Er wird den Chor nicht zahlen können ... der Chor wird nicht auftreten ... eine nette Geschichte giebt das ...
Und unwillkürlich lächelnd schaut er in den Zuschauerraum. Ringsum frohe Gesichter, ein erwartungsvolles Summen, knitternde Zettel, ein leichter Parfümgeruch. Das ganze Haus strahlt im Lichterglanz. In bläulichen Fluten gießt sich der elektrische Schein über den roten Sammt der Logenbrüstungen, das weißgoldene Getäfel der Wände und die dunkle Menschenschar unten im Parkett. Die Luft ist angenehm warm, das ganze Haus atmet wohlige Heiterkeit und mit gemächlicher Spannung blickt man auf den schweren Gobelin-Vorhang, hinter dem Poltern und zuweilen ein lebhafter, mühsam gedämpfter Stimmenwechsel erklingt.
Natürlich ... man stellt die Kulissen auf ... was sonst?
Und schon hat der Kapellmeister mit schnell entschlossener Geistesgegenwart den Taktstock ergriffen. Die Musik setzt ein. Ein Wiener Walzer zieht schmeichelnd durch das Theater. In träumerischem Leichtsinn wiegen sich die Töne, es hüpft und trillert dazwischen wie die rasch plätschernden Wellen der blauen Donau und löst sich wie ein bunter Traum allmählich auf in leise verhallende Accorde ...
Die Musik ist verstummt. Der Vorhang bleibt unbeweglich. Das Gepolter hinter ihm hat aufgehört, aber der Stimmenwechsel nimmt mehr und mehr an Stärke zu. Man hört einen tiefen Baß, dann ein paar Frauenstimmen durcheinander, ein verzweifeltes Pst ... Da ist irgend etwas nicht in Ordnung ... Das leuchtet selbst dem loyalsten Theaterbesucher ein.
Der matt herniederhängende Gobelin trennt in diesem Augenblick zwei Welten. Vor den Rampen die Schaugier des Publikums, dessen harmlos-freundliche Laune angesichts der Verzögerung immer mehr in Verstimmung umschlägt, auf den Brettern der Kampf ums Dasein, der Streit zwischen dem Chor, der nicht verhungern will, und dem Direktor, der die Gage nicht zahlen kann. Verzweifelnd steht der große, vierschrötige Mann auf der Bühne, der Schweiß rinnt ihm in dicken Tropfen über das rote Gesicht... er bittet und flucht... alles umsonst ... das Verhängnis, das schon seit dem Ersten des Monats jeden Abend drohte, ist eingetreten... Chor und Comparserie streiken, bis sie ihr rückständiges Geld erhalten, und die Theaterarbeiter schließen sich ihnen an.
In dichten Gruppen stehen sie zusammen auf der hellerleuchteten Bühne, die eine romantische Felsenlandschaft darstellt. Eine seltsame bunte Gesellschaft... lange dünne Choristen in Ritter-Rüstung, kleine Balletteusen in duftigen Gaze-Röckchen, Kulissenschieber im Handwerksanzug, ältliche, als Edeldamen verkleidete Choristinnen mit dem Strickstrumpf in der Hand, Theaterkinder, in fleischfarbigen Tricots, mit Engelflügelchen an den Schultern und frechem Lächeln auf dem frühreifen Gesicht... und vor ihnen händeringend, beschwörend, flehend der Bühnenleiter, der Regisseur, der Inspizient, der in Filzschuhen umherschleicht, die Linke mechanisch um die Handglocke preßt, die er in der Rechten hält, und angstvoll flüsternd zur Ruhe mahnt.
»Es giebt ja Geld... gedulden Sie sich nur...«
»Erst sehen! I glaub's nöt!« tönt der Bierbaß des Komikers aus den Kulissen.
»Wenn ich Ihnen mein Ehrenwort gebe, Herrschaften...«
»Weiter nichts?«
Der spitze Ausdruck kommt aus dem Munde der Blondine, die schon des Morgens bei der Probe als Ruferin im Streite aufgetreten. Ein höhnisches Gelächter folgt... Es dringt durch den Vorhang bis ins Publikum. Dort wird man unruhig. Ein dumpfes Murmeln tönt. »Anfangen!« schreit eine Stimme oben von der Galerie.
»Fräulein Schulz... Sie wagen es...« keucht der Direktor atemlos. »Verlassen Sie die Bühne.«
»Ich jehe sofort...« Die Schulz hat noch einen zweiten Trumpf in Bereitschaft... »aber erst mein Geld... meine rückständige Gage...«
»Unser Geld... wir wollen ooch leben« ... tönt es im Chor.
»Ich habe jetzt keins« stammelt der Vorstadt-Direktor... »Wollen Sie mich unglücklich machen?«
»Na wenn schon!« meint die unbesiegbare Blondine schnippisch, »wären Sie doch man Cigarrenhändler geblieben!«
»Fräulein Schulz ... ich sagte Ihnen schon, daß Sie entlassen sind!«
»Erst mein Geld« ...
»Geld ... Geld ...« von allen Seiten klingt es aus den Kulissen. Der Direktor sieht ratlos um sich. Ein paar Schritt entfernt lehnt Erna Ernesti, als Cupido gekleidet, verdrießlich an einer Pappsäule, ohne sich um den Streit der andern zu kümmern. Nun hat er eine Ableitung für seinen Zorn gefunden.
»Und wer ist Schuld daran,« sagte er, auf sie zutretend. »Sie allein, Ernesti... Sie haben mich im Stich gelassen ...«
Erna sieht ihn hochmütig an. »Wollen Sie mich gefälligst mit Fräulein anreden, wenn ich bitten darf ...«
»Ja ... natürlich ... immer vornehm ...« meint der Direktor bissig ... »Sie haben mir das Geld versprochen ...«
»Die Prinzessin aus die Mulacksgasse ...« sekundiert flüsternd die Blondine.
»Daß Parsenows Pferd heute Nachmittag in Charlottenburg tot geblieben ist,« erwiderte Erna etwas gereizt, »das ist seit 'ner Stunde in jedem Abendblatt zu lesen ...«
»Was liegt mir an dem Gaul,« – ihr Gegenüber schreit sie geradezu an ...
»Oder können Sie vielleicht gar nicht lesen?« fährt die Schauspielerin gelassen fort, »manchmal hab' ichs schon vermutet ...«
Ihr Chef antwortete nicht. Er wendet sich majestätisch zu dem Regisseur. »Lassen Sie morgen früh bei Fräulein Ernesti die Rolle in dem neuen Ausstattungsstück abholen ... ich übertrage Sie an ... an ...« sein Blick schweift zögernd umher ... »an... Fräulein Käthe Krauß.«
Die kleine Krauß ist über dies Glück so erschreckt, daß sie überhaupt nichts sagt, sondern fassungslos dasteht.
»Wo werden Sie denn das Stück spielen, Direktor,« fragt die Ernesti, jetzt ihrerseits tötlich erbittert, ... »in Dalldorf oder in Plötzensee?«
Der Direktor fährt auf ... ein allgemeiner Tumult entsteht, aber in diesem Augenblick dringen mit unzweideutiger Entschiedenheit aus dem Zuschauerraum die Zeichen der wachsenden Erregung. Man hört das Scharren und Trampeln zahlreicher Füße, Rufe, ein vereinzeltes Pfeifen ... und dann plötzlich wiederum die Klänge der Musik. Der Kapellmeister wiederholt den Walzer. Es wird ruhig. Einige Minuten sind gewonnen. Sie dürfen nicht unnütz verzettelt werden.
»Herr Direktor ...« meldet in diesem Augenblick eilig ein Logenschließer, ... »der Jraf ist ja hier ... gleich in der Proszeniumsloge links ...«
»Wer ... der Graf Parsenow?«
»Nu natürlich ... ick kenne ihm doch ...«
Der Direktor wirft einen angstvollen Blick zu der Ernesti hinüber, die immer noch an der Pappsäule lehnt und sich vorsichtig – um die Schminke nicht zu verwischen – mit dem Taschentuch die Zornthränen aus den Augen tupft. Seine Heftigkeit thut ihm leid. Aber jetzt ... nach diesem Skandal kann er sie doch unmöglich bitten ...
Einerlei ... er schreibt an den Grafen direkt! Was kann da sein? Rasch nimmt er eine Visitenkarte heraus und kritzelt auf die Rückseite die ergebene Bitte, den Herrn Grafen in dringender Angelegenheit im Flur sprechen zu dürfen.
Die kleinen Balletteusen stehen um ihn herum und sehen erwartungsvoll zu, wie er den Inspizienten mit dem Brief wegschickt.
Inzwischen ist donnernd, von zwei langschweifigen Orloff-Trabern gezogen, ein verspäteter Wagen an der Rampe vorgefahren. Eilfertig springt der Diener dazu und hilft dem vornehmen Besucher heraus, der müde und blasiert in seine Loge schreitet. Kaum hat er dort Platz genommen und das Opernglas angesetzt, so erhebt er sich wieder und begiebt sich in die Proszeniumsloge links, wo er den Major von Döbeln erkannt hat.
Zu dem Besuch treibt Herrn van Look weniger die Höflichkeit gegen den Klienten, der ihm das große Vermögen in Depot gegeben, als die Neugier, Hilda kennen zu lernen. Umsomehr, als er hinter der schönen Frau den ihm wohlbekannten Parsenow sitzen sieht.
Der alte Herr begrüßt ihn mit lärmender Freundlichkeit. »Hier, mein Kind,« stellt er ihn vor, »ist Herr van Look, Dein Bankier, der Dir Deine Gelder verwaltet. Erst heute meint er, man sollte Dir Disconto-Commandit ...«
»Ich bin Ihnen sehr verbunden,« sagt Frau Hilda etwas befangen. »Sie haben gewiß viel Mühe damit. Ich verstehe gar nichts von Geschäften.«
»Nichts von Geschäften, meine Gnädigste,« sagt Herr van Look mit weicher, müder Stimme, indem er sich auf einem der Polsterstühle niederläßt, »ich benutze nur die günstige Gelegenheit, mich Ihnen persönlich vorzustellen ... So bringt mir dieser verlorene Abend doch noch einen Gewinn ...«
»Sind Sie denn kein Theaterfreund?« fragt der Major.
»Ich muß es sein,« meint der Bankier kühl, ... »wenn sich unsereins heutzutage nicht allabendlich an mindestens drei Orten zeigt, wird am nächsten Morgen die Hälfte der Depositen abgehoben.«
»Das kann Ihnen aber doch gleich sein,« sagt der Leutnant, ... »wenn die Depositen doch da sind ...«
»Mein verehrter Herr Leutnant ...« die Stimme des Bankiers nimmt einen leicht schneidenden Klang an, ... »angenehm ist solch ein allgemeines Mißtrauensvotum niemandem, am wenigsten aber einem Geschäftsmann. Wir müssen mit dem Vertrauen unserer Kundschaft rechnen und in dem Augenblick, wo wir dieses nicht mehr besitzen ...«
»Aber mein bester Herr van Look,« unterbricht ihn der Major jovial, ... »das wäre ja noch schöner. Wir wissen ja, daß man bei Ihnen gut aufgehoben ist ... aber sagen Sie mal... warum fängt denn die Geschichte nicht an?«
»Ich weiß nicht,« erwidert der andere, und dreht sich dabei halb unwillkürlich nach Parsenow um, ... »der Graf müßt' es doch wissen ...«
»Verstehen Sie!« ... hört man dessen Stimme im gleichen Augenblick aus dem Hintergrund, wo er vor dem geräuschlos eingetretenen Inspizienten steht, ... »ich bin für den Herrn Direktor nicht zu sprechen ... weder jetzt noch später ...«
»Was giebt es denn?« die andern wenden sich neugierig zu ihm.
»Die Vorstellung wird wahrscheinlich nicht stattfinden, meine Gnädigste ...« erwidert der Graf verdrießlich ... »es herrscht ein Streik auf der Bühne.«
»Mein Gott ... weßwegen?«
»Die Leute verlangen ihre rückständige Gage ... und, wie es scheint, ist kein Geld da. Am besten wäre es, wir fahren nach Hause. Es könnte noch arge Tumulte geben!«
»Ach ... die armen Menschen...« sagt Frau von Braneck bedauernd.
Der Major ist wütend. »Da haben wirs wieder einmal ... dies Berlin! ... In Hinterpommern hat noch nie ein Ballet gestreikt und die Besucher um den Theater-Abend gebracht!« Und dieser Gedanke erfüllt ihn mit einer grimmigen Genugthuung.
»Ach Jott doch, Herr Jraf!« wendet sich inzwischen der Inspizient verzweifelnd an den Bankier, den er von Ansehen kennt. »Haben Sie den nich' det bisken Kleingeld bei sich ... bedenken Sie nur... 's ist ja 'n Jammer und 'ne Schande ... und die Leute hauen uns alles kurz und kleen, wenn Sie ihr Eintrittsgeld nicht zurückkriegen ...«
Der Bankier läßt seinen eiskalten, blasierten Blick über die schaulustige Menge im Parkett gleiten. Wozu sich dieser Bande wegen bemühen? Aber schließlich – es liegt doch ein Reiz darin, die Vorsehung in dieser kleinen Scheinwelt zu spielen ... zudem werden dann Parsenow und die Döbelns Zeuge seiner Allmacht. Er wendet sich kurz entschlossen zu dem Inspizienten. »Führen Sie mich zu dem Direktor!«
»Hier, Herr Jraf ... hier!« Eilfertig öffnet jener mit dem Drücker die schmale eiserne Bühnenthüre... »jeben Sie acht ... zwei Stufen ... so ... nu rechts ...«
Die wohlbekannte Bühnenluft schlägt dem Bankier entgegen, jenes Gemisch von Staub- und Moder-Geruch von Gashitze und Menschendunst. Die steifen, buntgeklexten Seitenkulissen, die bei jeder Bewegung zittern, der breite, von Querfurchen durchzogene Leinwandprospekt des Hintergrunds, die pappenen, im hölzernen Rahmen aufgespannten und am Boden festgeschraubten Versatzstücke ... das alles ist ihm nichts Neues mehr. Und noch weniger die Menschenwelt, die sich dazwischen bewegt, die Menge der Mädchen und Kinder, die ihn aus den schwarzunterstrichenen Augen in den roten starr geschminkten Gesichtern seelenlos wie Wachsfiguren anschauen.
Im nächsten Augenblick steht der Direktor vor ihm und faßt ihn krampfhaft an der Hand. Er erkennt sofort den in der Lebewelt vielgenannten Bankier und ist entschlossen, die Gunst des Zufalls auszunutzen. Stammelnd beginnt er die Sachlage auseinanderzusetzen. Aber van Look unterbricht ihn mit einer kühlen Frage:
»Wie viel?«
Zum parlamentieren ist nicht viel Zeit. »Und wenn es auch nur dreitausend Mark sind ...« flüstert der Direktor hastig und sieht den andern erwartungsvoll an.
Dreitausend Mark ... das ist ein starkes Stück. Der Bankier blinzelt unmutig hinauf zu den Soffitten, wo in langen Reihen die bunten Lampen zwischen dem Tauwerk des Schnürbodens schimmern. Was soll er machen? Fortgehen ist unmöglich. Feilschen kann er nicht. Es bleibt ihm nichts übrig, als sich der Situation zu beugen. »Schreiben Sie mir nachher eine Quittung«, sagt er und zieht nachlässig drei Tausendmarkscheine aus dem Portefeuille.
Geld! ... Geld! ... In frohem Gemurmel läuft das Zauberwort von Mund zu Mund. Die geschminkten Gesichter beleben sich, die Choristinnen legen Strickstrümpfe bei Seite, die Kulissenschieber spucken sich in die Fäuste, und der Direktor ist plötzlich ein ganz anderer Mann geworden. Seine massige Gestalt richtet sich auf, seine Stimme klingt herrisch: »Na ... nu man rasch ... verstanden! ... Angetreten ... sag' ich, im Zwischenakt wird ausgezahlt ... Krump! ... geben Sie das Zeichen ...«
Die Glocke tönt und während der Gobelin sich teilt und der Vorhang dahinter in die Höhe rollt, setzt die Musik ein. Der Lärm im Publikum verstummt. Ein freudiges Ah geht durch das Parkett beim Anblick der glänzenden Dekoration.
Und die Violinen hüpfen im Dreivierteltakt, die tricotumspannten Beinpaare fliegen durcheinander, aus hellen Mädchenkehlen klingt ein einschmeichelnd süßes Lied. Alles ist in Ordnung.
Mit kaltem Lächeln sieht Herr van Look sich aus dem Drahtgitter der ersten Kulisse den Scherz an, die Bühne, auf der dicht vor ihm die bunten Gestalten sich keuchend tummeln und unten, jenseits des Orchesters die reglos, wie versteinert dasitzenden Menschenreihen in dem verfinsterten Parkett. Der Direktor ist zu dem Pächter des Biertunnels hinabgelaufen, um die Scheine in Kleingeld zu wechseln.
Einige Minuten amüsiert sich der Bankier über das Schauspiel, dann beginnt es ihn zu langweilen. Eben dreht er sich um, um die Bühne zu verlassen, als er die Ernesti neben sich stehen sieht, die erst gegen Ende des ersten Bildes aufzutreten hat.
Es dauert allerdings einige Augenblicke, ehe er in der schmächtigen, fast nur mit Tricot, Tüll und etwas Goldflitter bekleideten Gestalt die elegante Erscheinung des Rennplatzes wiedererkannt. An den bloßen Schultern trägt Erna ein paar kleine steifgespannte Gaze-Flügel; ein Köcher mit Pfeilen hängt auf der linken Seite an goldenem Band, den dazugehörigen Bogen hält sie in der Rechten und schlägt, zerstreut damit spielend und zu Boden blickend, gelangweilt die Fußspitzen zusammen. Ihr seidenes Leibchen kracht und knistert bei jeder Bewegung. In dem Strahl der drahtvergitterten Kulissenlampe neben ihr glänzt das reiche, in einen griechischen Knoten geschlungene Haar, aus dem schräg ein Pfeil hervorragt, und schimmert die Puder- und Schminke-Schicht auf den schönen Zügen.
»Wie kann man sich nur so entstellen?« denkt van Look, während er sie ansieht. Dieses mit Kakaobutter eingesalbte, erhitzte Gesicht, die geschwärzten Augenbrauen, die schwarzen Striche unter den Lidern, die roten Tupfen auf Kinn und Schläfen, die weißen Punkte auf der Mitte der hellrot gefärbten Wangen, der Puderstaub auf Schultern, Hals und Armen – das alles nimmt sich aus der Nähe nichts weniger wie schön aus. Andererseits freilich bringt das knappe Kostüm den schlanken Wuchs der Schauspielerin zur vollsten Geltung. Und der Bankier ist ein Kenner in solchen Dingen. Wäre nicht Parsenow, so hätte er schon lange einmal mit der Ernesti Beziehungen angeknüpft, aber die unangenehme und sattsam bekannte Eigenschaft des Grafen, auf zwanzig Schritt ein Kartenblatt mit der Kugel zu treffen, hielt ihn in einer achtungsvollen Entfernung. Immerhin kann er jetzt die Gelegenheit benutzen ... so hat er doch die dreitausend Mark nicht ganz umsonst ausgegeben.
»Guten Abend, mein gnädiges Fräulein!« Mit einem ernsthaften und höflichen Gruß tritt van Look an den gelangweilten Cupido heran.
»Oh ... Sie sinds.« Erna begrüßt ihn überraschend freundlich und hält ihm die Hand entgegen ... »wo stecken Sie denn eigentlich immer? ... man sieht Sie ja nirgends ...«
»Geschäfte ... mein Fräulein!«
»Schlecht scheinen Ihre Geschäfte nicht zu sein,« meint die Ernesti und weist mit dem Kopf nach hinten, ... »wenn Sie dem da tausend Thaler pumpen können ...«
»Das that ich Ihretwegen.«
»Meinetwegen! ... ich dank' schön. Ohne Sie hätten wir gar nicht angefangen, zu spielen. Dann säße ich jetzt gemütlich zu Hause, statt hier herumzulaufen und mir den Schnupfen zu holen ...«
»... Im Dienste der Kunst!«
»Schöne Kunst!« sagt die Schauspielerin verdrießlich. Sie hat zuweilen unter dem Eindrucke von Unannehmlichkeiten wie heute, eine Anwandlung von Trübsinn, ... »ein schönes Leben ... den ganzen Abend zwischen den staubigen Kulissen herumzulungern und vor all dem dummen Volk da unten im Parkett seine Mätzchen zu machen ... und dann zum Schluß ...« ihre Gedanken nehmen plötzlich eine andere Wendung, ihr Gesicht wird zornig,... »wissen Sie überhaupt, was hier passiert ist ... was dieser Direktor für ein Mensch ist ... meine neue Rolle will er wir abnehmen ... meine neue, schöne Rolle ... und dieser Krauß geben ... diesem armseligen Geschöpf ... heute früh hab' ich der Kröte noch zwanzig Mark geliehen, weil sie am Verhungern war ... das ist nun der Dank ...«
»Sie werden die Rolle behalten, mein Fräulein,« erwidert der Bankier in ernstem Tone. »Verlassen Sie sich auf mich!«
»Oh wirklich ...?« Erna sieht ihn lächelnd an, »das wär' aber lieb von Ihnen!« ... Und seufzend setzt sie hinzu: »Man hat ja so wenig Freunde auf der Welt.«
»Warum kümmert sich denn Parsenow nicht darum?«
»Ach Parsenow!« ... die Ernesti zuckt unmutig die blanken Schultern. Sie will noch etwas hinzusetzen, da tritt links auf Filzschuhen der Inspizient an sie heran: »Fräulein... es ist Zeit ... Sie müssen nach die Soffiten.«
»Ach ja,« seufzt die Schauspielerin und wendet sich an van Look, »jetzt komme ich in der Flugmaschine von oben herunter. Sie wissen ... die Schlußapotheose ... Ich habe immer solche Angst, daß die Geschichte mal reißt ... der Maschinenmeister schwört freilich, es könne nichts passieren ... na ... auf Wiedersehen!«
Damit legt sie sich einen mit blauer Seide gefütterten Schwanenpelzmantel um und steigt nach oben. Bald darauf ertönt das Klingelzeichen. Die Apotheose beginnt, die Bühne glänzt im hellen Schein der bengalischen Flammen, das Orchester bläst einen Tusch um den andern und von oben senkt sich, von einer Flammengloriole umflossen, Cupido unter verführerischem Lächeln, mit dem gespannten Bogen neckisch in die Runde zielend, zwischen die bunte Menge auf der Bühne hernieder.
Ein Jubel des Beifalls geht durch den Zuschauerraum, man hört das eintönige Prasseln der zusammengeschlagenen Handflächen, der Vorhang fällt und hebt sich immer wieder, um von neuem das Bild zu zeigen, bis endlich Ruhe eintritt und das Publikum während der Pause in den Bier-Ausschank im Tunnel strömt. In dem Hause selbst bleiben nur wenige Menschen, zumeist Logen-Insassen zurück. Auch auf der Bühne ist es ziemlich leer. Ein paar Balletteusen stehen vorgebeugt an dem einen Loch im Vorhang. Die eine teilt ihrer Freundin eben flüsternd mit, daß »Er« im Zuschauer-Raum sei, als sie sich ziemlich unsanft zur Seite geschoben fühlt. Aufblickend erblickt sie die Ernesti, die sich, ohne weiter Notiz von ihr zu nehmen, mit dem Ausdruck zorniger Spannung zu dem Guckloch niederbeugt. Die Tänzerin hat ein schnippisches Wort auf der Zunge, aber sie will doch lieber nicht mit der Ernesti anbinden und so tritt sie achselzuckend zur Seite.
»Was haben Sie denn?« fragt hinzutretend van Look die Schauspielerin. Aber er erhält keine Antwort. Wie gebannt starrt Erna nach rechts in den Zuschauerraum ... in die untere Proszeniumsloge, während unter der Schminke allmählich das Rot des Zorns auf ihrem Gesichte aufsteigt. So stehen also die Dinge! ... Ein netter Anblick ... diese Loge! Vorn der Major und Kurt, über irgend etwas auf dem Theaterzettel plaudernd – und dahinter ... ungesehen von den beiden und den paar Leuten im Parkett, Parsenow und die fremde Dame. Sie halten sich an der Hand gefaßt, er spricht leise und langsam, dicht an ihr Ohr geneigt. Sie sieht schweigend vor sich hin, während ein glückliches Lächeln ihren Mund umspielt. Kein Zweifel ... die beiden sind verlobt oder stehen dicht davor!
»Wer ist denn die Dame in ihrer Loge, Herr van Look?« fragt Erna, sich aufrichtend, mit rauher Stimme.
»In der Proszeniumsloge ... oh ... das ist Frau von Braneck.«
»Verheiratet?«
»Witwe!«
»Und reich?«
»Sehr!«
»Aha!« Ernas Lippen verziehen sich spöttisch. Sie und der Bankier sehen sich an und beginnen plötzlich zu lächeln. Van Look fühlt, daß dieser Augenblick benutzt werden muß.
»Ich würde Sie gerne mal besuchen und Ihnen näheres darüber mitteilen,« sagt er zögernd, »aber ich weiß nicht ...«
»Kommen Sie nur ... recht bald!« Erna hält ihm ihre schmale Hand hin.
»Ich danke Ihnen. Also denn auf Wiedersehen!«
»Auf Wiedersehen.«
Als vorsichtiger Mann nimmt der Bankier, nachdem er wieder in die Loge eingetreten, Parsenow bei Seite. »Ich war eben auf der Bühne,« meint er, »teure Sache ...«
»Kenne das!« erwidert Parsenow gelassen.
»Dann unterhielt ich mich mit Fräulein Ernesti. Sie schien etwas ungehalten auf Sie zu sein.«
»Meinetwegen.«
»Sagen Sie mal!« van Look dämpft seine Stimme bis zum Flüsterton ... »Entschuldigen Sie die Frage ... wie stehen Sie eigentlich mit der Dame?«
»Von morgen ab gar nicht mehr. Ich habe wichtigere Sache vor.«
» Tant mieux pour moi!«
»Gratuliere Ihnen!« Mit ironischem Händedruck beendet der Graf die Unterhaltung ...
Inzwischen hat hinter den Kulissen der Direktor die Gagen ausgezahlt. Aller Augen strahlen. Eine festliche Stimmung herrscht in dieser Welt von Pappe, Leinwand und Strickwerk. Überall klimpert und klingt das Geld. Von wo es gekommen, kümmert niemand. Manche wissen noch nicht einmal etwas von Parsenows Unfall und in den Gruppen der halbwüchsigen Ballettratten, der ältlichen Choristinnen und der Arbeiter geht immer noch der Name Satanellas von Mund zu Mund.
Man wird ihn nicht mehr häufig aussprechen. Fern bei den Höhen von Westend rumpelt ein schwerfälliger Karren über das nächtliche Feld, der Abdeckerei zu. Drei Pferdebeine starren von dem plumpen Gefährt schräg in die Luft, das vierte hängt gebrochen nieder und daneben schaukelt mit heraushängender Zunge und verglasten Augen der Kopf der edlen Stute, die gestern noch der Augapfel ihres Besitzers, der Stolz des Stalles, die Hoffnung von Tausenden war. Und wie rasch wird man jetzt das schöne Tier, sobald es der Wasenmeister mit seinen Gehülfen eingescharrt hat, vergessen! ... beinahe so rasch, als ob es ein Mensch gewesen wäre ...