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Alsdann, Papitschka ... Nimmst Obers zum Kaffee? Da sind Kipferln, Marillentatscherln. Sachertorte ... Jaus' nur in aller Ruhe. Um die Zeit kannst du bei uns in Prag eh net auf dem Graben spazierengehen!«
Reinhold Nimis, der alte Achtundvierziger, saß seiner Tochter, Frau Hansi Fronhofer, im Hause ihrer Schwiegereltern in der Jungmannstraße in Prag gegenüber. Sein feiner, freundlicher, weiß überschneiter Krauskopf lächelte erstaunt.
»Warum nicht, Hanserl?«
»Jetzt haben da die Tschechen ihren Bummel. Jeder hat seine Stunden. Sonst gibt's ja Mord und Totschlag zwischen den Sokols und den deutschen Studenten.«
Die Hansi füllte ihrem Vater, der in diesem Herbst von 1890 zum Besuch der Seinen aus Darmstadt nach Prag gekommen war, die Kaffeetasse mit der kapuzinerbraunen Flut. Sie tat es mit der Andacht der Wienerin vor der nachmittäglichen Jause. Aber ihr rundes Kindergesicht war unwirsch und düster. Die Kanne klirrte beim Niedersetzen in der weichen, reich beringten Patschhand.
»Überhaupt ... der Graben ... das fade Prag ... Wann i an Wien denk ... ach ... da wird mir ganz weh!«
»Immer Wien!« sagte ihre Schwiegermutter, Frau Malwine Fronhofer; und ihr Mann, der Professor der Medizin Eugen Fronhofer an der deutschen Universität in Prag, ergänzte: »Wir haben alles getan, um der Hansi unser Haus hier gemütlich zu machen.«
Das Haus in der Jungmannstraße nahe den vielen medizinischen Hörsälen und Krankenhäusern am Karlsplatz, in denen der schon siebzigjährige Professor Fronhofer tagsüber amtete, stand immer noch, wie so manches andere, inmitten der böhmischen Hauptstadt als geistige Hochburg deutschen Wesens. Aber es waren nur noch Inseln in der unaufhaltsam schwellenden slawischen Flut.
Reinhold Nimis sah still, mit der Zärtlichkeit des Vaterherzens, auf sein Kind, das, wie ihn dünkte, noch vorgestern zu seinen Füßen gespielt hatte und nun schon drei Jahre verheiratet war. Das war noch das liebe Wiener Gesichtel aus der Mädchenzeit. Rosig und rund. Nun schon frauenhaft rund und weich und ohne Schatten von Sorgen und Ernst des Lebens. Da grüßten noch die blauen Wellen der Donau aus den lustigen Augen unter den dunkelblonden Brauen. Da wiegte sich noch ihr trillerndes und trällerndes Lachen hinaus und hinunter in Tonleitern, wie bei einer Koloratursängerin, ein Lachen bei allem ... beim Gewirtschafte mit Hut und Handschuhen, beim Anbieten von Zuckerstückerln, beim Abbusseln des Papitschkas, das Lachen war eben da ... wie ein Walzer von Strauß ... wie die Wiener Stadt ... wie sie selbst, die fesche Hansi Fronhofer.
»Mollet is sie geworden ...«, sprach der Onkel Fredi, der alte Junggeselle vom böhmischen Oberlandesgericht in Prag, den Fernerstehende den Hofrat Leubner Edler von Sonnenbruck nannten, und ihr Vater mußte zugeben, die zierliche, mittelgroße Gestalt seiner Hansi neigte jetzt, trotz der natürlichen schlanken Wiener Taille, bereits zur Fülle. Auch Kinn und Mund waren üppig geworden, slawisch weich.
»Und wo's gar net nötig war, hierherzugehen!« klagte die Hansi. »Wir hätten so schön in Wien im Ministerium bleiben können! Der Herr von Weixselbaum hat mir's extra in die Hand versprochen, daß wir net versetzt werden, und was der Herr von Weixselbaum in Wien will, das geschieht!«
»Den Eindruck hatte ich vor drei Jahren schon«, sprach ihr Vater.
»Aber natürlich ... Wenn der Camillo jedem, der es in der Rotenturmstraße und am Stephansplatz hören wollt, in die Ohren schreit: ›Wir gehen noch an der österreichischen Schlamperei zugrund ... Wir gehören ins Reich hinein ... Wir müssen zu die Preißen‹ ... Ach, plauscht doch net! I kenn doch meinen lieben Mann! – Ja – da muß ja jeder Gönner fuchtig werden. Da hat der Herr von Weixselbaum seine Hand abgezogen. Für so an Protegé danken's! Mich hat die Erzherzogin Genoveva gar net mehr ang'schaut, wenn ich auf der Straße meinen schönsten Knicks vor ihr gemacht hab! 's is ja a Sünd und Schand, wie der Camillo uns alles verbumfeit hat. Jetzt sitzt man da bei die Böhmen ...«
»Du bist doch hier unter uns Deutschen, Hansi!«
»Im Zimmer! Aber draußen hat's lauter Tschechen! Gestern haben's in der Altstadt, bei den Barmherzigen Brüdern, mit Steinen nach mir geschmissen. Der Wachmann hat den Rotzbuben ruhig zug'schaut.«
»Zustände sind das bei euch!« sagte ihr Vater. »In dem ganzen großen Prag, in dem ihr Deutschen doch eine geistige Oberschicht seid, nirgend eine deutsche Inschrift. Kein deutsches Ladenschild. Kein deutscher Straßenname!«
»Streng verboten! Da kennst du unsere modernen Hussiten schlecht!«
»Wie ich hier noch ein Bub war,« sprach der grimme Onkel Fredi, »und man hat da irgendeinen Nawratil oder Jerschabek gefragt: ›Sin's a Bem?‹, so hat er einen Kratzfuß gemacht: ›I bitte, nein! I bin a Deutscher!‹ Aber jetzt: Jeder Vokal is nächstens bei uns strafbar, mit Ausnahme des ›r‹, mein Lieber ... Kruzitürken ja ... o du mein armes Österreich! Schauen's nur den Kerl da an, meinen Neffen!«
Der Student an der Prager deutschen Hochschule, Karl Heinsius trug ein schwarzes Pflaster über dem gebrochenen Nasenbein, und sein Bruder Leopold erklärte: »Das war, wie die Wenzel neulich abends das deutsche Studentenheim stürmten! Ich hab gedacht, wir kommen nicht mehr lebendig heraus!«
»Im deutschen Landestheater haben's tagelang nicht spielen können!«
»So ist's bei uns überall«, sagte der Regierungsrat Pelzel von der Direktion der k. und k. Nordbahn in Wien. »In ganz Budapest gibt's kein deutsches Wort!«
»Und hier soll ich mir auf meine alten Tage einprägen, daß der Bahnhof Nadratzi heißt und das Gepäck Zavazadlo!« schrie Onkel Fredi erbost. »Es is eine Ausverschamtheit!«
Die Sisi, die eine der Pelzelschen Töchter, fügte hinzu: »Wie die Mizzi und ich heuer bei Klagenfurt am Land waren, da waren auf der Eisenbahnstation, wo wir nachtmahlen sollten, alle Scheiben von den Slowenen eingeschlagen!«
»Es kracht in Österreich an allen Ecken und Enden wie in einem morschen alten Haus,« sagte Professor Fronhofer, der Prager Mediziner, »oder wie in einem morschen alten Körper, den keine Kunst der vielen Ärzte mehr, die an ihm herumdoktern, in einen Jungbrunnen tauchen kann! Ihr draußen im Reich – ihr ahnt gar nicht, wie groß die deutsche Not in Österreich schon ist! ... Ah ... da schau her ... die Peperl! ... Ja, Servus, Peperl! ... Ja, was machst denn? Kennst den Opapa? Ja, wer strubbelt einem denn gleich mit den Fäustchen im Bart ... O weh – ist das ein schlimmes Peperl...«
Die Maruschka, die böhmische Kinderfrau, hatte die kleine Josefa, das Töchterchen des Ehepaars Camillo Fronhofer, gebracht. Die Hansi hielt ihr Peperl auf dem Arm und tanzte mit ihr herum, und niemand konnte sagen, wer das größere Kind war, das von fünfundzwanzig oder das von zwei Jahren. Es war eine selbstvergessene, wiegende Walzeranmut des Puppenkopfes, der runden Schultern, der zierlichen Füße in dem tändelnden Reigen um den Tisch. Sie blieb atemlos stehen, preßte die Kleine stürmisch an sich und schmatzte sie ab. Dann wurde ihr Gesicht sprunghaft verdrossen, schläfrig. Die Peperl langweilte sie auf einmal. Sie reichte sie achtlos der Kinderfrau, warf sich in den Schaukelstuhl und wippte, den Kopf faul nach hinten, die Augen leer nach der Decke gerichtet.
»Wo der Camillo steckt, Onkel Franzl? Ja – da fragst mich zuviel! Ich seh net viel von dem Herrn Gemahl! Immer im Bureau... Oder er sitzt mit seinen deutschvölkischen Freunderln beieinander! ›Heil!‹ sagen's, statt ›Servus‹, oder ›Tschau!‹ ... Zu fad!«
Die beiden Großväter wechselten einen stummen Blick, in dem die Sorge um diese brüchige Ehe ruhte. Die Hansi gähnte wie ein kleiner Stallknecht, kaum die Fingerspitzen vor dem Mund. Je ungezwungener, desto näher, glaubte sie, kam man dem Vorbild der Halbgötter des Hochadels.
»Mir bringt er die Pülger net ins Haus!« sagte sie mit einer harten Falte zwischen den Brauen. Die mit Besuchskarten gefüllte Schale auf dem Vorplatz zeigte, daß ihr Herz mehr an dem k. k. Schematismus hing. Buntes Tuch von Prinz-Georg-von-Sachsen- und Wilhelm-von-Württemberg-Infanterie, Fähnriche und Kadetten vom Korpsartillerieregiment und der selbständigen Batteriedivision in Prag und aus nahen anderen Standorten, Savoyendragoner aus Klattau und Pardubitzer Alexanderulanen, gerade wie in ihrer Madelzeit in Wien, wenn sie im Haus der Tante Lini Götsch mit Hoch- und Deutschmeister und ungarischen Honveds und Husaren und Dragonern unter dem Tisch gefußelt und auf dem Ring geliebelt hatte. Besonders aber hatte die Hanserl noch den Tick von blauem Blut. Da kam die höhere Lebenslinie bei ihr heraus. Sehnsüchtige, leidenschaftliche Andacht vor Stammbaum und Wappen. Nicht der Schnakerladel natürlich, sondern der historische, wirkliche. Ganz oben in der Schale lag eine Karte: Graf Erwin Pürckenstein von Altenpürck de Monte Pauli, und sie sprach, mit einer weichen, sinnenden Willenlosigkeit hinter den träumerischen Wimpern: »Er ist ein zu lieber Bub! Und so g'spaßig! Neulich sind er und der Poldi Peindlberg und der Franzl Pirkhammer die Treppe bis ins Mezzanin hinaufgeritten und durch ein Zimmer, wo eine alte Frau im Bett lag, die Frau vom Hausmeister, und die Treppe wieder hinunter. Die Frau hat solch eine närrische Freud gehabt.«
»Wirklich?« erkundigte sich ungläubig der Onkel Fredi.
»Ja, aber geh! Es war doch eine Wette, verstehst, und die Frau hat die tausend Kronen gekriegt für den Schreck! Ein goldenes Herz hat der Pürckenstein. Dös muß ihm der Neid lassen. Schon in Wien, wenn ihm der Matuschek, sein Fiaker, das Lied vom Grinzinger Heurigen vorsingt, schießt ihm gleich's Wasser in die Augen. Am schönsten sieht er aus, wenn ihm der Primas ganz leise dicht ins Ohr geigt. Dann hat der Bub direkt was Verklärtes. Wie an Heiliger!«
»Was tut er denn sonst?«
Dieser Frage ihres Vaters wich die Hansi Fronhofer lieber aus. Daß ihr Freund die Aufhebung seiner Entmündigung bei dem Familienvorstand betrieb, hatte für dritte doch wenig Interesse.
»Jesses – die Powidl!« rief sie und rannte in die Küche wegen der Zwetschgenknödel für den Abend. Sie hatte plötzliche Anwandlungen, in denen sie den Kochlöffel schwang. Lange dauerte es nicht. Ihr Vater schüttelte den Kopf. Der Onkel Fredi nickte ihm zu.
»Ja – so schaut's bei uns in Österreich aus! Gottlob! I bin a alter Krauter! I laß die Dinge laufen, wie's mögen! I gift mi net! Was meinst, Malwintscherl? I säß den ganzen Nachmittag oben im ersten Stock vom Centralcafé am Graben und graunzte? Du – dös is mein heiliges Recht als Österreicher!«
»Ja. So schaut Österreich aus wie du.«
Der Sektionsrat Dr. Camillo Fronhofer sagte es im Eintreten zum Onkel Fredi. Sein stilles, unter dem kurzgeschnittenen blonden Vollbart in sich versonnenes Gesicht zeigte müde, scharfe Linien. Er nahm den Zwicker von den tiefen, braunen Augen und setzte sich.
»Du bist der Österreicher, wie er im Buch steht, Onkel Fredi«, sprach er. »Du siehst genau, wo's bei uns in der Donaumonarchie fehlt, und rührst keinen Finger. Du möchtest aus der Haut fahren bei der Schlamperei und sagst: ›Mei Ruh will i haben!‹ Du schimpfst, seit ich mich als Bub erinnern kann, im Kaffeehaus auf unsere Zustände. Aber wenn's ans Handeln geht, dann heißt es: ›Schani! Zahlen!‹«
»Fad bist, Camillo!«
»Der Böhm und der Madjar... die kennen dich! Drum sind sie so keck!«
»Lieber Herrgott... Warum hast du die Tschechen erfunden?« stöhnte Onkel Fredi. »Und all die Völker, die's gar nöt gibt?«
»Aber was sollen wir Österreicher mit einer Hauptstadt, in der ein Walzer von Strauß wichtiger ist als das Wohl und Weh des Staats?«
»Du bist zu hart, Camillo!«
»Mag sein! Man wird's, wenn man das mitanschaut! Eine Stadt, die darauf brennt, wie der Girardi heuer seine Krawatte knüpft, und ihr eigen Fleisch und Blut vor den Toren vergißt ...«
»Und dabei schwärmt dein Hanserl nur für Wien!«
»Wann's so weitergeht, gehen wir freilich an den verflixten Bemen und Ungarn zugrunde!«
»Nein!« sagte Dr. Fronhofer. »Wir gehen an uns selbst zugrund! Wir gehen am Alkoven zugrund ...«
»Pscht! Die Madeln!«
»Wir gehen am Kaffeehaus zugrund! An der Gemütlichkeit! An einem gutmütigen Lächeln, das mich immer schaudern macht: ›Ach gehen's ... 's is ja net so arg‹... Ach ... es ist arg genug!«
Camillo Fronhofer verstummte. Sein Schwiegervater fragte ihn: »Kommst du aus der Statthalterei?«
»Da schmeißen's ihn eh bald raus, den Preißen!« prophezeite Onkel Fredi.
»Nein. Wir hatten eine Sitzung unseres völkischen Bundes! Es ist empörend, wie die Madjaren die Siebenbürger Sachsen mißhandeln. In Nösen – ich nenne es Nösen und nicht Bistritz – geht die Deutschenhetze wieder los. In Eisenmarkt, das jetzt Torotschkó heißt. In Marienburg ... bitte neuerdings Földvar auszusprechen! Briefe nach Kronstadt und Hermannstadt gehen zurück. Die k. k. Post kennt nur die Städte Brassó und Nagyszeben!«
»Es ist ein Ölend!«
»Sieben Jahrhunderte sind die Zipser im Land! Jetzt schließen sie in den sechzehn Kronstädten die deutschen Schulen und nennens das uralte Neudorf Igló. Temesvar ist zur Hälfte deutsch. Aber wehe, wer es Josefstadt nennen wollte! Das Deutschtum wird geächtet, und Wien geht tanzen! Oder liebeln! Die Stadt ist verbuhlt! Vom Kahlenberg bis zum Semmering!«
»Sei net so streng! Du bist doch kein Fastenmönch!«
»Wenn das die Hansi hört ...«
»... die Wien so arg liebhat ...«
Doktor Camillo Fronhofer hatte nicht nach seiner Frau gefragt, die längst nicht mehr in der Küche war, sondern mit einer Freundin im Nebenzimmer plauschte.
»Überall stehn bei uns draußen die verlorenen deutschen Schildwachen! Man hat sie vergessen! Ihr im Reich! Unser Österreich – das liegt für euch weit dahinten! Und ist doch die Tür zu eurem Haus! An die pocht der Osten! Noch halten wir die Tür zu! Auch für euch! Ihr braucht uns draußen im Reich mehr, als ihr glaubt!«
»Ein alter Achtundvierziger wie ich weiß das wohl!«
»Und wir brauchen euch, damit wir Kraft behalten, uns gegen die Tür zu stemmen! Sie springt sonst auf, und das Ende ist da!«
»Er is halt zu ernsthaft für das Hanserl«, flüsterte Frau Malwine Fronhofer. Da tanzte die Hansi herein, noch das Abschiedslächeln, mit dem sie die Freundin und Botin des Erwin Pürckenstein auf der Treppe abgeschmatzt, um die roten Lippen. Gleich darauf zogen sich die auseinander und entblößten zwei Reihen kleine, weiße, spitze Zähne. Ein grüner Schimmer drohte hinten in den lustigen Augen. Sie konnte gereizt werden wie eine Katze.
»Ah – Grüß Gott!« sagte sie. »Habens dir Urlaub nach Haus zu deiner Frau gegeben, deine Spezis? Meine Hochachtung: die Herren! ... Warum schaust denn drein wie das Leiden Christi? 's tut dir ja keiner was!«
Dabei steckte sie ihm die Busennadel in der Krawatte fester. Streng und mechanisch. Der Camillo mußte immer als Kavalier gehen. Darauf hielt sie. Der Mann war der Rahmen für das Bild der Frau. Plötzlich schlug das Aprilwetter bei ihr um. Spitzbübischer Sonnenschein lief hurtig wie ein Wiesel über Mund und Wangen. Sie schnippte ihrem Mann mit zwei Fingern gegen die Nasenspitze, und dabei blieben die Augen ernst. Sie sahen in einem rätselhaften, verführerischen Aufschlag ganz von unten, langsam und glänzend, zu ihm empor.
»Ach, du ...«, sprach sie und rieb sich gleich einem Kätzchen an seiner Schulter. »I bin doch froh, daß du wieder einheimisch bist! I hab dich arg lieb. Viel mehr, als du verdienst!«
»Er verdient's schon, Hansi!«
»Ja – ich weiß, Mammerl! Du hältst ihm immer die Stange! Du hast selber a heimliche Liebe für den Camillo! Da schaugt's her: das Mammerl wird rot ...«
»Hanserl ... sei net so keck!«
»Ich bin net eifersüchtig«, sagte die Hansi großartig, »Recht hast! Der Camillo ist ein schöner Mann! Fesch net – aber schön! Gerad nach meinem Gusto!«
»Ob dir mal der Mund stillsteht!«
»Petschier ihn ihr doch zu, Camillo!«
Die Hansi wartete den Versöhnungskuß ihres Mannes nicht erst ab. Sie sprang an ihm in die Höhe, sie umhalste ihn nicht, sondern hing an seinem Hals. Sie suchte mit dem spitzen Kindermäulchen seine Augen. Auf die drückte sie die Lippen. Erst auf das rechte, dann auf das linke. Er schloß die Lider. Er ließ es willenlos geschehen. Er stand blind da und hörte ihr tiefes, zärtliches Gurren einer Lachtaube: »Man muß ihm die Ernsthaftigkeit wegküssen! Er hat viel zu viel davon! ... So ... so ...«
Es klang einschläfernd – dies streichelnde, sanfte: »Brav sein Bubi ... brav ...«, so als wiegte sie die Peperl in den Schlaf. Ein süßes Glück ... das Leben schmiegt sich an dich ... das leichte Wiener Leben ... Das Leben ein Spiel ... Das Wiener Herzl schlug an seinem mit schnellen, jungen Schlägen ... Ein silbernes, leichtsinniges, glückverheißendes Lachen flüsterte in seinem Ohr ... Du ... nur du ... Ihre Arme, die sich um seinen Nacken schlangen, waren zart gleich einem zerbrechlichen Spielzeug, und doch vermochte er nicht mehr aufrecht zu stehn. Er beugte die Schultern nieder, so bleiern schwer hing der Schmetterling an ihm. Sie tändelte immer noch, blies ihm ein Stäubchen vom Rock und murmelte schleppend, kaum hörbar, wie im Schlaf: »Fressen möcht ich dich vor Liebe, Camillo ...«, und er haschte ihre Hand, die ihm plötzlich in ihrer Kleinheit so rührend und hilflos erschien, und küßte sie ... Auf einmal war die Hanserl wie im Husch ihrem Mann entschlüpft. Sie räumte das Kaffeegeschirr zusammen, stieß die Tür, sich kokett in der Hüfte drehend, mit dem Ellbogen auf und war weg. Er schaute ihr träumerisch verklärt nach. Seine Eltern wechselten einen Blick. Beruhigung und Besorgnis zugleich.
»Gottlob! Er hat sie doch recht von Herzen lieb!« »Er hat sie lieb, wie er Österreich liebhat, Mama! Mit allen Fehlern! Allen Schwächen! Die sieht keiner besser als er. Unter denen leidet keiner schmerzlicher als er. Aber gerade deswegen hat er sie beide so lieb, seine Hansi und sein Österreich!« –
Der Vollmond stand hell am Himmel, als Reinhold Nimis in sein Gasthaus zurückkehrte, den Diener des Hauses Fronhofer zum Schutz gegen etwaige tschechische Belästigungen hinter sich. Die Straßen lagen leer und ruhig. Vereinzelt nur hallten Tritte. Schlugen Worte an sein Ohr: Böhmische – dann ein: »Hab die Ehre! ... Mein Kompliment!« ... Wieder unverständliches Tschechisch. Die beiden Sprachen liefen so einträchtig ineinander wie drüben die zwei Moldauarme um die Hetzinsel. Tiefer, trügerischer Friede lag über dem goldenen Prag mit seinem Gewimmel von Türmen im Grund, dem malerischen Mittelalter seiner winkeligen Gassen. Mächtig wölbte sich jenseit des Flusses der Hradschin über den Barockpalästen des Hochadels, Wyschegrad und Ziskaberg grüßten sich über das weite Häusermeer. und der alte Achtundvierziger blieb an der Kirche Maria im Schnee stehen und dachte sich: Du schönes Stück Österreich ... Du schönes Österreich selber, das mir meine Mutter gab – das mir meine Frau schenkte ... Du hast nur einen Feind aus der Welt. Du bist dein eigener, schlimmster Feind ...
In seinem Gasthofzimmer setzte sich der alte Herr in der Nachtstille hin und schrieb. An seinen Jugendfreund, den Grafen von Pritzig auf Zackenzin in Hinterpommern.
»Mein lieber alter Louis Ferdinand!
Hörst Du auch manchmal die Stimmen, die, wenn man nahe oder über die Siebzig ist, wie Du und ich, uns manchmal aus weiter Ferne anklingen, daß wir nicht wissen: Ruft uns die Jugend? Ruft uns der Tod? Bin ich das, der ganz da hinten irgendwo am Beginn meines Lebens steht? Ist es ein anderer in meiner Gestalt, und ich habe ihn gelebt, als ich jung war, und ich sehe ihn jetzt außerhalb von mir, losgelöst von dem bißchen müden Ich?
Das sind so die Gedanken eines alten Mannes, der im Abendrot die Stätten seiner Jugend wiedersieht. Ja, Louis Ferdinand, die Weisheit des alten Herrn in Weimar, der noch lebte, als wir Kinder waren, hat recht: Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis!«
Der Lampenschein vergoldete den weißen Schnee auf Reinhold Nimis' immer noch jugendlich dichtgelocktem Kraustopf. Der greise Achtundvierziger lächelte und schrieb:
»Ja. das sind so die Gedanken, wenn man sein Enkelchen wiegt. Das Peperl. Mein Prager Kindlein. Und mein einziges. Denn mein Sohn, der Leo, heiratet ja nicht. Ich weiß nicht, warum! Er ist nahe an Dreißig. Seit einem halben Jahr schon sitzt er in Geschäften drüben in Petersburg und kommt nicht wie sonst dazwischen einmal auf einen Sprung nach Deutschland herüber, obwohl er genau weiß, wie sehr ich mich nach ihm sehne. Irgend etwas hält ihn von Deutschland fern.
Aber ich will nicht undankbar sein. Es gibt schon noch kleine Freuden im Leben. Es sind nicht die Dinge selbst, sondern das Warten darauf, so wie bei den Kindern vor Weihnachten.
So schenkt mir das Christkind auch Äpfel und Pfeffernüsse zum Fest. Oder wenigstens kurz vor dem Fest, zum Knecht-Ruprechts-Tag. Da kommst Du, lieber Louis Ferdinand als Pelzmärtel. Die Rute brauchst Du nicht. Die hat das Leben schon selber lang genug geschwungen. Aber die liebe, bunte, ferne Jugend schüttest Du aus Deinem Sack vor mir aus.
Es ist ein lieber Gedanke von Euch alten Freunden aus dem märchenfernen Jahr achtundvierzig, vor dem Fest mich einsamen alten Witwer in Darmstadt zu besuchen und einen Tag mit mir zusammen zu sein. Grüße die Freunde inzwischen herzlich von mir. Vor allem aber sei Du selber bedankt, du lieber Knecht Ruprecht! Du bist anders als die anderen Deinesgleichen. Bei Dir fängt nicht der Mensch beim Edelmann an, sondern der Edelmann beim Menschen. Wenn wir alle uns so emporadeln könnten, das wäre freilich das beste! Umgekehrt wie in dem lieben kindlichen Österreich hier, wo jeder und jede zum andern Herr von Purzbichler oder Frau von Schinzerl sagt.
Das arme Österreich. Das Herz ist mir schwer, Louis Ferdinand, seit ich es wiederschaue. Da steckt eine Sünde. Eine Sünde von uns allen. Eine Sünde wider den Geist. Wider den deutschen Geist. Vielleicht sind die Österreicher selber daran schuld. Sie haben uns Deutsche alle immer nur als Vorspann ihrer Hausmacht gegen Preußen benutzt. Aber nun steht Österreich seit einem Vierteljahrhundert ausgestoßen von Deutschlands Tor.«
Draußen dröhnten Schritte auf dem Pflaster des Grabens. Eine Streife k. und k. Infanterie zog von der Hyberner Gasse her über die menschenleere Zeile. Ringsum rührte sich nichts. Aber die Tschakos unten mahnten, daß am Ufer der Moldau dem Landfrieden zwischen Tschechen und Deutschen niemals ganz zu trauen war. Reinhold Nimus schrieb:
»Österreich steht allein. Ohne uns. Nur der Slawe ist da. Der Madjare. Der Welsche. Ich war jetzt in Wien bei meiner alten, schwerkranken Freundin Lini Götsch, der Gott auch viel vergeben wird. Denn sie hat viel geliebt. Wien ist wie sie. Voll Liebe und Leichtsinn und gutem Herzen und einstiger, jetzt noch verklärter Schönheit und krank ... Immer lebendig und leicht bewegt noch auf der Oberfläche. Lotet man auf den Grund, dann ist die Tiefe so seicht, ach so seicht, daß man erschrickt ...
Wie anders bei uns in Deutschland! Danken wir Gott! Wir haben das Reich und die Macht und die Herrlichkeit. Ich schreibe Dir nach Hamburg, lieber Louis Ferdinand, an die Adresse Deines Schwagers Lüdingworth, die Du mit gabst. Du bist jetzt wohl bei dem königlichen Kaufmann zu Besuch. Dort ist eine andere Luft als hier! Dort weht Euch salziger Seewind um die Nasen. Ihr deutschen Brüder! Die Segel spannen sich. Der Sachsenwald rauscht. Gute Fahrt, du glückhaft deutsches Schiff – wenn auch der Steuermann vor einem halben Jahr von Bord ging.
Grüß Bismarck von mir! Grüß ihn, wie der Jüngling seine Geliebte! Bismarck ist meine Liebe! Die Liebe eines einsamen Alters. Er, der einzige Mann! Er, der Verbannte! Grüße Bismarck von mir, dem alten Achtundvierziger! Mein Leben lang habe ich für Deutschland gelebt, gebetet, geweint, geblutet, gewandert, gelitten und gestritten. Mit ist er Deutschland! Alles, was in Deutschland gut und groß und stark ist, das ist für mich er! Du Glücklicher hast es, wenn Du diese Zeilen empfängst, nicht weit zu ihm bis nach Friedrichsruh. Grüße Bismarck von mir in Deiner Seele, wenn Du den heiligen Hain betrittst! – Und lacht nicht über mich alten Schwärmer und kommt im Dezember nach Darmstadt. Ihr Alten und hoffentlich immer Jungen! Ein stilles Glas für die Toten ... Ein Glas für uns, die noch leben! Ein Glas, daß die Becher klingen für die, die nach uns leben und schaffen werden! Dein Reinhold!«
Im Hafen von Hamburg pflügte der Herbststurm die Elbe. Der Regen sprühte. Das Wasserbecken zwischen St. Pauli und Steinwärder wogte. Das endlose Masten- und Rahengewirr der großen Seeschiffe stand unbewegt in der grauen Luft. An ihm flatterten die Flaggen aller seefahrenden Völker der Erde. Die Rauchsäulen aus den Schloten wirbelten schief. Die Wolken jagten am Himmel. Kutter, Jollen, Dampfpinassen tanzten auf den Wellen. Die Hafendampfer schossen, schwarz von Menschen, durch den Gischt. Es war ein wildbewegtes, undeutliches, brausendes Schattenbild. Luft, Licht, Wasser, Häuser, Schiffe, Schuppen, Rauch, Nebel, Möwen, Werften, Docks, Brücken, Krane, Waggons – die Hafenwelt, aus der Adolfus Lüdingworth, der große Hamburger Reeder, mit seinem Schwager und Gast, dem Grafen Pritzig-Zackenzin, vom Baumwall in das Fleetegewirr der Altstadt zurückschritt.
Schon sein Vater, der alte John Lüdingworth, war ein stadtbekanntes Mitglied der Bürgerschaft gewesen. Ihn, Adolfus, kannte seit Jahrzehnten jedes Kind zwischen Außenalster und Norderelbe. Glattrasiert, mit fernsichtigen, seeblauen Augen in dem nüchternen Gesicht, trockene Ruhe um die zähen, dünnen Lippen, erschien er in seiner hageren, gebeugten Länge kleiner als Exzellenz von Pritzig neben ihm, der sich preußisch straff hielt. Die beiden alten Herren waren sich äußerlich unähnlich und innerlich doch nicht nur durch ihre Frauen, die beiden welfischen Fräulein von der Venne aus Haus Hövede in Hannover, miteinander verwandt, sondern auch im Geiste – zwei Könige zur See und auf der Scholle.
Für seine Jahre war der greise Reeder noch sehr rüstig. Es machte ihm nichts aus, den Weg über den Rödingsmarkt und die Große Burstah bis zur Börse zu Fuß zurückzulegen. Er ging durch die Altstadt wie ein Kaufmann durch sein Kontor. Er schaute rechts und links in die Fleete und musterte, welche Waren aus aller Welt die Schauerleute da aus ihren Leichtern an den Kranketten zu den Luken der Giebelspeicher emporwanden. Nickte auf die Grüße. Winkte mit der Hand. Lüftete ein paarmal sogar zollhoch den Hut – nicht weiter, als es auch in der City von London üblich war, rief einen Liverpooler Makler an, der mit Kannossementen unter dem Arm nach dem Hafen rannte, und sagte dann bedächtig zu seinem Begleiter: »Die Engländer fangen an, nervös zu werden! Bald müssen wir den Hafen wieder erweitern! Der Verkehr verdoppelt sich alle paar Jahre!«
Dem alten Preußen neben ihm war dieser Zug ins Weite, Uferlose unheimlich. Sein Herz hing an der Potsdamer Wachtparade. Für die hatte das Wasser keine Balken. Der Reeder blieb einen Augenblick an der Steintwiete stehen und betrachtete mit sachverständiger Anteilnahme die Verstauung einer Ladung von Kopranüssen aus der Südsee.
»In Geschäften hört die Gemütlichkeit auf«, sprach er dann weitergehend. »Das solltet ihr drinnen im Reich besser bedenken. Wenn du jetzt nach dem alten England hinüberfährst, so fragen sie dich da beim Aussteigen, ob du Juwelen oder Bücher oder Tabak bei dir hast. Im übrigen magst du deine Koffer nehmen und an Land gehen, wohin es einem Mann beliebt. Hingegen hier: Die deutschen Zollwächter sind gründliche Leute! Die lassen nichts aus dem Freihafen zu uns herein, das nicht seinen hohen Zoll bezahlt hat! Wir haben hier die chinesische Mauer, und drüben, von der City über die Welt, ist der große, freie britische Markt.«
»... auf den doch jeder darf! Nicht nur wir Deutschen!«
»Freilich! Die Belgier treiben Welthandel! Die Mynheers gehen auf große Fahrt. Die norwegischen Tramps liegen in jedem Hafen. Aber das sind lütte Hechte im großen britischen Karpfenteich. Die werden geduldet. Aber nun kommen wir und kommen ja wohl auch gleich mit einem Lärm wie die Chinesen bei der Mondfinsternis mit Feuerwerk und Raketen und Reden und Trompeten. Der große Bruder an der Themse wird unruhig. Schließlich kann er uns jeden Augenblick einen Riegel vor seine Bude legen!«
»Und doch sagt jeder, wir müßten Welthandel treiben!«
»Welthandel auf Widerruf. Auf vorläufigen englischen Widerruf!« sprach Adolfus Lüdingworth seltsam behutsam und langsam und vorsichtig. »Wir sind draußen mit unserem Geld und Gut bei England zu Gast! ... Nur jetzt – das nächste Jahrzehnt – den Engländer nicht reizen!«
Der hinterpommersche Grande schüttelte den scharfen, schlohweißen Junkerkopf. In seinem innersten schwarzweißen Herzen war ihm das alles gräßlich. Er war im Sattel zu Hause, aber nicht an Bord. Er hatte die Kugeln pfeifen hören, aber nicht den Sturm in den Rahen.
»Schließlich stehen wir alten Preußen da wie die Henne, der das Entenküken wegschwimmt!« sprach er zornig.
»Tja – warum habt ihr's ausgebrütet?« Jetzt war ein stilles, schalkhaftes, beinahe schadenfrohes Lächeln um die sonst so ernsten Mundwinkel des greisen Hanseaten. »Ei was! Mut, old boy! Euch fällt auf dem Schlachtfeld das Herz nicht in die Buxen und uns nicht auf der See! Es können nicht alle Leute in Potsdam wohnen! Bismarck wohnt ja auch jetzt hier bei uns im Sachsenwald!«
Vor der Börse, neben dem riesigen Baugerüst des Rathauses, hatte es Adolfus Lüdingworth aus einmal sehr eilig und verabschiedete sich von seinem Schwager.
»I gitt! I gitt! Ich komme fast zu spät!«
Er hätte mit unerschütterlicher Ruhe den Untergang eines seiner Steamer in das Verlustkonto gebucht, aber die paar Sperrgroschen zu sparen, die nach halb zwei Uhr mittags nun den Nachzüglern am Eingang erhoben wurden, war ihm ein Ehrenpunkt. Er kam gerade noch zurecht und verschwand im Innern. Sein letztes Wort hallte im Ohr des Grafen Pritzig nach ... Bismarck ...
Bismarck war dieser Stadt nahe ... Dort im Osten, nur zwei Meilen von hier, rauschte der Sachsenwald ...
Seine Eichen umstanden in lichten Gruppen den einstigen Landgasthof neben der kleinen Eisenbahnstation. Der Wind flüsterte in der weiten, herbstlich bunten Waldwildnis, an deren Saum, gegenüber dem Schloß Friedrichsruh Louis Ferdinand von Pritzig an diesem Nachmittag stand. Da, wo neben der Schloßterrasse weite Wiesen den Rand des Sachsenhains lichteten, an der Fohlenkoppel, stand er und hörte ein Räderrollen von der dem Bahnkörper zugewandten Rampe von Friedrichsruh und sah, aus hundert Schritte und mehr Entfernung – denn er trat absichtlich nicht näher – den greisen Riesen im Wagen, seinen getreuen Arzt und Lebensverlängerer neben sich. Fürst Bismarck hielt ein Tuch an die schmerzende Wange. Ein schwarzer Schlapphut deckte an Stelle des Helms der Sendlitzkürassiere den feierlichen Rundkopf. Das Schwefelgelb des Kragens hatte sich zu der altmodisch zweimal um den Hals geschlungenen weißen Binde gewandelt, aus dem mächtigen Pallasch war der derbe Krückstock eines Landedelmanns geworden. Weithin Herr auf eigener Scholle, fuhr er mit seinem Arzt spazieren und zeigte, mit der Hand nach oben weisend, die Altersdürre im Wipfel einer seiner geliebten Eichen, und alle Geister deutscher Luft, deutscher Erde, deutschen Walds und deutscher Art, alle guten deutschen Geister waren – so dünkte es den stammverwandten alten Junker drüben – um ihn und in ihm. Er schaute dem Fürsten Bismarck lange und ernst nach, während das Gefährt in der Richtung nach Aue rollte und im Geheimnis des Waldes verschwand, und als er eine Viertelstunde später vor dem nahen Gasthaus im kühlen Herbstwetter im Freien an einem Holztisch saß, schrieb er auf einer Karte an seinen Freund Reinhold Nimis in Darmstadt: »Ich habe Deinen Gruß im Sachsenwald bestellt. Das Nähere erzähle ich Dir, wenn wir uns wiedersehen.« –
»Du hast's besser getroffen auf deiner Reise als ich, Louis Ferdinand, wie immer im Leben!« sagte Reinhold Nimis, als er mit den zu Besuch gekommenen alten Freunden der 48er Heidelberger Studentenzeit um den Advent dieses Jahres 1890 in seinem Hause in der Rheinstraße in Darmstadt vor dem brennenden Weihnachtsbaum zusammensaß. In jenem Biedermeierzimmer, zwischen dessen Daguerreotypen und Schattenrissen an der Blümchentapete die Zeil stillstand. In jenem Lehnstuhl hatte schon Reinhold Nimis' Vater, der weitgeschätzte Darmstädter Medicus und Geheimrat Eugen Nimis, nach Tisch sein Nickerchen gemacht, an dem Sekretär in der Ecke dessen Vater, der Diener am Wort von Wittenberg, am Samstagnachmittag über seiner Predigt vor dem Herrn Landgrafen Ludwig dem Zehnten und seiner Frau Gemahlin Louise Karoline in der Schloßkirche gebrütet. Schrei aus der Wiege und Hammerschlag am Sarg, auf stolpernden Beinchen zum erstenmal über die Schwelle und, die Füße voraus, still zum letztenmal – der Brautkuß in der Ecke hinter dem Spinett und der Abschiedskuß der Kinder vor dem Flug in die weite Welt – vor dem Frieden dieses vormärzlichen Stübchens waren hundert Jahre nur ein Tag, und ebenso friedlich und freundlich saß Reinhold Nimis im Kreise seiner Gäste.
Der Krauskopf des zarten, kleinen Herrn war weiß. Die feinen, von weißem Bart umrahmten Züge gefurcht, und doch schien es, als sei das alles bei ihm nur überschneite Jugend.
»Du hast's gut gehabt bei deiner Fahrt«, wiederholte er, zu dem Grafen Pritzig-Zackenzin gewandt. »Ich war bei dem langsamen Sterben in Österreich! Du bei dem neuen Leben an der Wasserkante!«
»Wenn ich meine alte Putenfrau in Zackenzin wäre, Reinhold, dann würde ich warnen: ›Dat Water hat keine Balken!‹ Aber es scheint, die Deutschen von heute müssen hinaus ins Weite!«
»Die Jungen suchen jetzt das freie Meer«, sagte Reinhold Nimis. »Wir Alten haben zu unserer Zeit den freien Menschen gesucht. Das Bild der Freiheit steht im deutschen Allerheiligsten auf dem Altar! Glaub mir, du alter pommerscher Erzjunker, wer das Bild umwirft, zerstört auch den Tempel!«
Graf Louis Ferdinand von Pritzig schwieg. Er war zu alt geworden, um nicht zu wissen, daß jeder Mensch auf Erden recht hatte, der reinen Herzens war.
»Freiheit, die ich meine – Um der Freiheit willen haben wir beide, du, Louis Ferdinand, und ich, neunundvierzig in der Pfalz auseinander geschossen und ich hüben meine Kugel in den Leib gekriegt und du drüben deinen Streifschuß am Bein ...«
»Prost, Reinhold!«
»Prost, Louis Ferdinand!«
»Ja, es war eine sonderbare Blutsbrüderschaft. Mann gegen Mann. Echt deutsch!« sprach Exzellenz von Pritzig und lachte und hob die würzige Forster Goldflut im grünen Römer.
»Ja. Auf Bismarck! Auf Bismarck, Louis Ferdinand!«
Das Schwingen der Glasränder verklang volltönig, silberhell. Reinhold Nimis schaute im Rund der Freunde von einem zum andern. Es war, als ströme das Leuchten, das ihn im Weihnachtsschein umfloß, nicht von den Kerzen des Christbaums, sondern aus seiner Seele.
»Aber trotz allem Glück und Glanz von heute wollen wir achtundvierzig nicht vergessen. Achtundvierzig, unsere Jugendliebe: wir wollen ihr treu bleiben bis zum Grab. Sie war das tiefe, schmerzensreiche Glück. Wir haben ihm alles geopfert. Und schließlich doch viel dafür zurückempfangen!«
»Ja freilich, du alter, närrischer Nimis«, sagte der Kommerzienrat Gottfried Wägele aus Wolfingen in Württemberg. Er war auch schon ein guter Sechziger. Ein schweigsamer, kluger Schwabe.
»Erinnerst du dich noch an das feierliche Bild, Wägele, wie unser wilder, tapferer Hunold dalag, die Hände über der Todeswunde auf der offenen Brust gefaltet, in die schwarzrotgoldene Fahne, die er uns vorangetragen hatte, gehüllt... ach Gott, nein... da warst du ja, glaub ich, gar nicht mehr dabei ...«
»Ich war währenddem drüben in England!« sagte der weltkundige Württemberger Kommerzienrat. »Mein Vater hat mich beizeiten, ehe es hier losging, hinübergeschickt. Ich dank es ihm jetzt noch ...«
»Was denn?«
»Daß ich den englischen Maschinenbau an Ort und Stelle studiert hab! Du liebe Zeit! Damals hat man geglaubt, nur ein Engländer kann eine Lokomotive bauen! ... Und jetzt? Diesen Sommer ist meine tausendste Lokomotive bekränzt und mit Musik aus meiner Fabrik hinausgefahren.«
»Und immer neue Verbesserungen daran, Herr Kommerzienrat?«
»Ja... Ich bin jetzt sehr für das Receiver-Compound-System eingenommen, Exzellenz von Pritzig! Zu viel experimentieren dürfen wir aber nicht, sonst kommen uns die Amerikaner mit ihren Normaltypen zu sehr voraus!«
»Und unser herrlicher Harro von der Venne«, sprach Reinhold Nimis wieder begeistert, »Er focht neunundvierzig wie ein Verzweifelter! Ohne seinen nordischen Berserkergrimm hätten uns die Preußen den Rückzug aus der Dorfgasse abgeschnitten! Ein Glas auf sein Gedenken, Breitmoser!«
Johann Baptist Breitmoser, der bayrische Landtagsabgeordnete und Vorsitzender des Aufsichtsrats der Angererbräu A.-G. in Münchzell, tat freundlich Bescheid und meinte dann, sich den grauen Schnurrbart wischend: »I war ja freilich damals net mehr dabei, Nimis!«
»Ja, wo warst du denn, Breitmoser? Ich entsinne mich gar nicht mehr!«
»Schon daheim beim Vater. Er war krank geworden. Bald darauf hat ihn der Schlag gerührt. Da hab ich über Nacht die Brauerei selber in die Hand nehmen müssen!«
»Und mit welchem Erfolg! Jetzt gibt's schon Angererbräu in Paris und Rom!«
»Mir ist's gleich, ob mein Bier bei Hof über die Grenze geht oder in Kufstein. Wir haben das Reservatrecht gegen die Preußen ...«
»Aber die neue Biersteuer...«
»Die kann uns immer nur als Matrikularbeitrag aufgehalst werden!«
»Und wieviel Dividende habt ihr voriges Jahr verteilt?«
Der blauweiße Braukönig lachte. »Na – daß i net lüg: Zwanzig Prozent! Und vier auf die jungen Aktien!« »Denkst du noch an die Heidelberger Sturmtage?« sagte Reinhold Nimis etwas müde und unsicher zu Kilian Fall, dem stillen, bebrillten Archivdirektor und Privatgelehrten. »Wenn du mich nicht nach meiner Verwundung gepflegt hättest – ich säße jetzt nicht zwischen euch alten Kampfgenossen ... Das heißt: gekämpft hat ja eigentlich von euch keiner. Nur der Pritzig. Und der gegen uns!«
»Ich hab mich immer zurückgehalten!« Der gebückte, kleine Mann strich sich den dünnen, grauen Vollbart. Er hatte ein strenges, leidendes Stubensitzergesicht. »Ich war ja auch zu schwach auf der Brust.«
»Aber mit dem Herzen warst du dabei, mein Kilian!«
»Ja freilich! Ach ... 's ist ja so 'ne liebe lange Zeit her. Man gedenkt's kaum mehr, daß es einmal wahr war... Wie? Die Besoldungsverhältnisse ... Ja... Die sind eben bei uns immer noch elend, Wägele! Jeder Hilfsarbeiter an der Universitätsbibliothek weiß besser, woran er ist, als wir Festbesoldeten ...«
»Ei – da tät ich doch Tarif verlangen!«
»Ja, es ist jetzt auch eine große Gehaltsbewegung unter den Privatbeamten im Kommen.«
Reinhold Nimis hatte sich enttäuscht von dem kränklichen badischen Männlein abgewandt. Auf seinen milden Zügen lag immer noch das Leuchten. Er hob, um Ruhe bittend, die Hände.
»Entweiht mir diese Stunde nicht, ihr Freunde! Sie gehört dem, was war und niemals wiederkommt! Was gestorben ist und doch ewig lebt: dem heiligen deutschen Geist! Der deutsche Geist hat uns damals erfüllt. Wir haben ihn in unserem Innern getragen. Laut werden lassen durften wir ihn nicht. Wißt ihr noch, wie wir in unserem Berggarten in Heidelberg die Stimmen gedämpft und uns scheu angeguckt haben, ehe wir's wagten und heimlich unser Bundeslied sangen? Jetzt darf jeder Deutsche singen, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Jetzt sind wir stolz und frei. Aber darüber wollen wir die Not von damals nicht vergessen! Wir wollen noch einmal singen, was wir als Burschen vor vierzig Jahren sangen – – der Pritzig, der Rückwärtser, braucht ja nicht mitzutun – – wir wollen noch einmal jung sein, ihr Brüder!«
Er hob mit seiner immer noch hellen, wohlgeschulten Stimme das heilige Lied der Burschenschaft an:
»Wir hatten gebauet
Ein stattliches Haus
Und drin auf Gott vertrauet,
Trotz Wetter, Sturm und Graus!«
»Warum singt ihr denn nicht mit?«
»Ich hab's total vergessen!« gestand der Kommerzienrat Wägele.
»Ich auch!« meinte Johann Baptist Breitmoser gemütlich.
»Ach, gebt euch nur Mühe! Es wird euch schon einfallen! Los!«
Aber der alte Herr sang allein. Es war Stille um ihn, bis er schloß:
»Das Band ist zerschnitten.
War schwarz und rot und gold,
Und Gott hat es gelitten,
Wer weiß, was er gewollt...«
Die Kerzen am Christbaum tropften, flackerten unruhig, verlöschend, erstarben eine nach der anderen. Das Zimmer wurde zusehends dunkler. Reinhold Nimis war verstummt. Er saß still, den Kopf im Schatten. Niemand sah seine feuchten Augen. Aber als die anderen Jugendfreunde gegangen waren und er mit dem Grafen Pritzig allein in dem weihnachtdurchdufteten Biedermeierzimmer zusammensaß, da faßte der alte Achtundvierziger den Arm des alten Junkers und schaute ihn an, keinen Gram, sondern ungläubige Angst, wehes Staunen um den halboffenen Mund.
»Ist das noch Deutschland, Louis Ferdinand? Mein altes Deutschland? ... Sind das die Jünglinge von damals, die mit mir jung waren? Diese grauen Männer, die von Bierpreisen, Dampfkesseln und Gehaltszulagen reden, wenn ich die Fackel der alten Begeisterung in ihren Herzen entzünden will?«
»Sie sind alt und klug geworden, Reinhold! Sie haben es ja auch meist tüchtig vorwärts gebracht, wenn auch nicht so weit wie du! Du selber hast es am weitesten gebracht. Denn du bist stehengeblieben!«
»Ja. spotte nur!«
»Ich spotte wahrlich nicht!« sagte Exzellenz von Pritzig. »Du bist dir selber treu geblieben, und du bist dem Deutschland treu geblieben, das dein Traum war. Mein Traum war immer ein anderer und hat sich erfüllt. Aber trotzdem wünschte ich, wir hatten mehr Träumer in Deutschland wie dich!«
»Wo sind sie, Louis Ferdinand? Ich fühle mich so einsam hier! Mein deutscher Wald ist mir entblättert. Bin ich denn so ganz von der Zeit vergessen worden, daß ich sie nicht mehr verstehe?«
»Du bist der letzte deutsche Idealist«, sagte Exzellenz von Pritzig. Es war ein Lächeln in seinen Worten und eine Trauer. Der alte Herr schaute ihn hilflos an. Es zuckte bitter unter seinem weißen Bart.
»Ja ... seid nur verständig! Lacht nur über mich! Habt Mitleid mit mir! Nein, ich hab Mitleid mit euch! Ihr tut mir leid, so wie einem jemand leid tut, der über Nacht arm geworden ist. Und es noch nicht einmal weiß, sondern noch stolz auf seine Armut ist! Ihr haltet eure Spreu für Gold! Ihr denkt, Gold tut Deutschland not! Nein – das Gold war immer Deutschlands Fluch! Es liegt ein tiefer Sinn in der Sage vom Nibelungenhort!«
Reinhold Nimis wandte den Kopf zur Tür. Er fragte unwillig seine Schwester, die verwitwete Pfarrfrau, die ihm die Wirtschaft führte und ihren grauen Scheitel durch den Spalt hereinsteckte: »Welche Alltäglichteit schleppst du mir wieder ins Zimmer, Babettche! Dein Kram hat Zeit!«
»Ah bah, Reinhold! Es geht dem Anton so arg viel schlechter! Du möchtest doch ganz gewiß noch heut abend nach ihm gucke! Sie haben schon nach dem Sohn telegraphiert!«
»Der Anton«, sagte Reinhold Nimis, als die Pfarrerin lautlos auf ihren Filzpantoffeln verschwunden war, zu seinem Freund, »ist mein Vetter hier. Kein hoher Herr, sondern ein Feldwebel a. D. Sein Vater, ein verkommenes Darmstädter Original, d'r Louis, hat den Zweig der Familie heruntergebracht, und der Kummer um den Sohn gibt jetzt dem guten Anton den Rest! Du kennst diesen Sohn auch!... Du hast seinen Namen in dem letzten Jahr in den Reichstagsverhandlungen jedenfalls oft gelesen!«
»Der Abgeordnete Nimis? Der rabiate Rote?«
»Ja, ja!« sagte der alte Achtundvierziger. »Ich war auch einmal nicht viel anders!«
Er stützte den weißen Krauskopf in die Hand. Seine dunklen Augen waren traurig.
»Haltet mich nur für ein großes Kind«, sprach er leise. »Ich hab's euch angemerkt. Ihr werdet noch sehen, wohin Deutschland ohne Kindesseele kommt!«
Mit beiden Händen umklammerte er bittend die blaugeäderte Rechte seines Freundes. »Entseelt mir Deutschland nicht, ihr Preußen! An dem Tag, an dem in Deutschland keiner mehr schwärmen und nach fernen Sternen schauen kann, ist Deutschland verloren. Wir sind nicht alle wie ihr im Norden. Eure Spree ist ein Stahlbad für Starke, aber nicht ein Jungbrunnen für jedermann überm Main. Wir haben nicht eure Art und verlieren unsere eigene, ohne eure zu gewinnen!«
»Da sei Gott vor!«
»Ihr ersetzt die Liebe durch die Pflicht, ihr Preußen! Ihr seid groß in der Pflicht, größer als alle anderen Menschen auf der Welt. Aber ihr erkauft es teuer mit eurer Härte. Härtet Deutschland nicht zu sehr! Zu harter Stahl zerspringt!«
»Und doch kann keiner aus seiner Haut, Reinhold!« Graf Pritzig erhob sich zum Gehen. »Und je stärker er ist, desto weniger kann er's! Gute Nacht! ... Wenn ich recht verstand, wurdest du zu einem Sterbenden gerufen. Ich schau morgen früh wieder nach dir!« –
Der Feldwebel im Ruhestand und Stationsvorsteher und Bahnhofsverwalter außer Diensten Anton Nimis saß in seiner Wohnung am Balkonplatz im Lehnstuhl, eine Decke auf den Knien, ein Kissen unter dem abgezehrten Kopf. Vom Fenster aus konnte der alte Darmstädter die Eingangswölbung seiner ehemaligen Kaserne sehen, in der er den größten Teil seines Lebens zugebracht, und mehr noch: Er konnte aus den unsichtbaren Höfen dahinter die vertrauten Laute seines Lebens hören: das bellende Durcheinander der Kommandorufe beim Rekrutendrillen, das Rasseln der neumodischen Magazinschlösser beim Gewehrchargieren mit Holzpatronen, den Takt der Lederklopfer auf der von der Kammer geholten zweiten Garnitur, den Trommelwirbel der Vergatterung bei der Wachtparade und morgens und abends die langgezogenen Trompetenfanfaren der Reveille und des Zapfenstreichs.
An der Wand der guten Stube hingen Stahlstiche von 66 und 70. Das Darmstädter Regiment im wütenden Handgemenge um die Kegelbahn von Frohnhofen gegen die Preußen und, vier Jahre später, neben den Preußen im Bois de la Cusse wider die Franzosen bei St. Privat, Prinz Heinrich von Hessen hoch zu Roß voran. Auf anderen Bildern war die Kompagnie im Frieden zu schauen, die Herren Offiziere vorn sitzend, dahinter stattlich, die dicke Brieftasche im Waffenrock, der Feldwebel Nimis, rundum ansteigend, hundertköpfig, die Mannschaft. Eingerahmte Photographien von Unteroffizieren und Sergeanten prangten da. Das Diplom des Silbernen Kreuzes zweiter Klasse, des Verdienstordens Philipps des Großmutigen am Kriegsband und des Ehrenzeichens für fünfundgwanzigjährige Dienstzeit und des gemeinsam Fürstlich Schaumburg-Lippeschen Verdienstkreuzes, das der Stationsvorsteher Nimis für seine Tätigkeit an einem Sonderzug erhalten und das nun nicht mehr verliehen wurde, nachdem eben in diesem Jahre 1890 jeder der beiden Fürsten Lippe seinen eigenen Hausorden gestiftet hatte. Die Ehrenmitgliedsurkunde des Kaninchenzüchtervereins war da aufgehängt und, mitten in dem allen, der Stolz und die Zierde des Zimmers, in goldenen Rahmen die grellen Öldruckbilder des alten Kaisers Wilhelm, des Kaisers Friedrich III. und Wilhelms II, und gegenüber die Großherzöge Ludwig III. und Ludwig IV., die sich der alte Feldwebel aus seinen Ersparnissen gekauft hatte.
Er zählte ebensoviel Jahre als Reinhold Nimis, der neben seinem Sessel stand. Aber vier Jahrzehnte Dienstzeit in Wind und Wetter des Exerzierplatzes und des Bahnhofs hatten ihn verbraucht. Ein paar alte Freunde umgaben ihn: der Gymnasiumsdiener Karl Hälflin, der Kanzleiassistent Franz Bau, der Gerichtsbote Emil Kienle, alte langgediente Soldaten wie er, mit grauen Köpfen und pflichtstrengen Mienen. Er schaute nicht auf sie, sondern auf einen jungen, stämmig und untersetzt gebauten Mann, der, ohne den abgetragenen Überzieher abzulegen, den Schlapphut in der Hand, an der Tür stand und finster unter dem kurzen, ungepflegten Schnurrbart mit schweigend zusammengepreßten Lippen das sonstige verwegene und spöttische Spiel der Mundwinkel unterdrückte.
»Flenn net als, Kätche!« sagte der sterbende Feldwebel Nimis zu seiner Frau, der Bäckerstochter aus der nahen Dieburger Straße. »'s is e Kreuz mit der Frau! Laß mich mit dem Robert rede ...«
Er hob die zitternde Hand gegen den Sohn am Eingang: »Du bringst mich vor der Zeit ins Grab! Das hörst du hier vor alle Leut! Ohne dich hält ich noch lange lebe könne ... Aber du brichst mir das Herz ...«
Ein Schweigen drüben.
»Das einzige Kind. Mein einziger Sohn. Das Robertche. Was haben wir für e Freud an dir gehabt – die Mamma und ich. Alleweil warst im Gymnasium der Erste. Alles haben mir zusammengekratzt. Mein zweites Schöppche hab ich mir am Mund abgespart, um dich studiere zu lasse. Wie ein Prinz bist du nach Göttinge auf die Universität gefahre. Und jetzt ... und jetzt ...«
»Ja. Pappa – was is denn für ein Unglück jetzt?«
»Hab ich dich nicht von klein auf gelehrt: Fürchte Gott und ehre den König!?«
»Ich hab's halt nicht behalten!«
»Hab ich dir nicht eingeprägt, wie du noch ein Hainer warst: Seid untertan der Obrigkeit, die Gewalt über euch hat!?«
»Es hat sich mir halt nicht eingeprägt!«
»Hab ich dir nicht erzählt, wie ich Anno siebzig mein Blut fürs Vaterland vergossen hab?«
»Die Menschen sollten sich verbrüdern, statt sich totzuschießen.«
»Weißt du nicht mehr, wie der Großherzog mich mal selber auf dem Griesheimer Land vor der ganzen Mannschaft gefragt hat: ›Feldwebel – was macht denn der Stammhalter? Wächst er tapfer?‹, und ich geantwortet hab: »›Euer Königliche Hoheit! Mit dem will ich hoch hinaus. Der soll einmal Akzessist werden!‹«
»Ich hab's doch weit genug gebracht. Ich bin Reichstagsabgeordneter!«
»... Und was für Leut habe dich gewählt? ... Robert ... Robert ... Warum hast du mir das angetan?«
»Ich hab eine Lebensstellung! An unserm neuen Parteiblatt. Seit dem ersten Oktober ist das Schandgesetz erloschen.«
»Ich weiß, wo die Sünd und Schand ist! Gell, Mamma?«
»Es gibt keinen Ausnahmezustand mehr! Ich kann frei schreiben und drucken, was ich mag!«
»All die Wohltaten, die ich in meinem langen Leben vom Großherzog erfahren hab! ... Der Herr Oberst hat sich, wie ich mich hab pensionieren lassen, selber beim Herrn Minister für mich verwendet. Die Exzellenz hat mich neben sich hinhocke lasse und mit mir geredt wie mit seinesgleichen ...«
»Wir brauchen keine Wohltaten, sondern Recht!«
»... Jedesmal zu Kaisers Geburtstag hat der Herr Hauptmann mit meiner Frau getanzt. Frag nur die Mamma! Wenn mich die Herren Offiziere sehe, gebe sie mir jetzt noch die Hand und frage mich, wie's geht, und wenn's Grafen und Barone sind! Und des der Dank! Und des der Dank! Ein gottloser, mißratener Bub ...«
Robert Nimis ging zögernd ein paar Schritte auf den Vater zu.
»Ich hab von der Lebensstellung bei der Zeitung gesprochen, weil ich jetzt daraufhin heiraten kann!«
»Ja. Heirat du nur ...«
»Und da – schau, Pappa ... laß doch jetzt die nixnutzige Bolidik ... denk doch nur, ich wär dein Sohn ... da möcht ich halt ... da tät ich halt doch um deinen Segen bitten...«
»Was willst denn du mit mei'm Segen? E Mensch, der nix tut, als Unfriede in Deutschland stifte?«
»Ich muß!«
»Die Leut verhetze ...«
»Ich muß!«
»Den Gehorsam untergrabe? Gegen den Thron und den Altar rebellieren, der wo doch jedem armseligsten Handwerksborsch heilig sein muß ...«
»Ich muß! Ich muß! Ich muß! Akkurat, so wie du dein Leben lang dene obe gehorcht hast, muß ich halt okonträr das Gegenteil tun... sell ist meine Überzeugung ...«
»Hat's die früher gegebe? Willst du klüger sein wie die Leut früher?«
»Pappa, – laß mich deine Hand küssen!«
»Weg!«
»Pappa ...«
»Nix wie weg!« sagte der sterbende Feldwebel störrisch. »Sell is net mein Sohn, wo da steht! Sell is net unser Fleisch und Blut! Gell, Mamma?«
Ein Schluchzen antwortete aus der Ecke.
»So einer, der nix vom Großherzog wisse will und vom Kaiser! ... So Männer kenn ich net! Die können sich lang meinen Sohn nennen! Sind's aber net! In aller Ewigkeit net?«
»Pappa ... wir sehen uns doch net wieder ...«
»Als nur weg! Weg aus sellem Stübche!«
»Hör mich doch an: Jeder Mensch hat doch seinen Dienst zu tun! Du hast vierzig Jahre lang gedient ...«
»Gott sei gelobt: ich hab meine Pflicht getan! Mir kann kein Vorgesetzter was vorwerfen!«
»Ebenso tu ich meine Pflicht, wie ich sie für recht halt!«
Ein todeszitternder Zeigefinger wies aus dem Lehnstuhl heraus auf die Wand.
»Da is unser Großherzog! Und da is unser Kaiser! Willst du vor die hintrete, Robertche, und spreche: ›Ich war ein schlechter Mensch. Ich war auf Abwegen‹?«
»Fällt mir net ein!«
»Ich will wieder besser werde ... Die böse Bube haben mich gelockt ...«
»Da wär ich letz, Papa!«
»Gebet dem Kaiser, was des Kaisers is ... Einen leiblichen Eid.« Die Sinne des Alten fingen an zu wandern, »Bei Tag und bei Nacht ...zu Wasser und zu Lande ... in Kriegs- und Friedenszeiten ...«
»Anton ...«
»... sich so verhalten, wie es einem ehrliebenden, unverzagten Soldaten eignet und gebührt ...«
»Anton ... horch doch: des is ja der Fahneneid ...«
»So wahr mir Gott helfe ... ja, so ... Ich war schon wirr im Kopf ...« Der alte Unteroffizier kam noch einmal zu sich ... suchte den Sohn ... starr ...feierlich ... sein verglasendes Auge war das Gesetz ... seine erstarrende Hand der Befehl... Sie wies noch einmal auf die grell gewürfelte Tapete: Wilhelm I., Friedrich III., Wilhelm II., Ludwig III., Ludwig IV. schauten mit Generalsepauletten und Orden auf Vater und Sohn herab.
»Willst du künftig ein gehorsamer, braver Darmstädter Untertan sein?«
»Pappa ... das kann ich doch net! Die Leut täte mich ja auslache!«
»Dort hat der Zimmermann 's Loch gelasse...«
»Des is dein Ernst nicht...«
»Dort hat er's gelasse ... Laß du mich ungeniert sterbe, Robert ... Und du halt's Maul, Kätterche, wann die Männer redde!«
»Mei Sohn ... mei Sohn ...«
»Ich hab kein Sohn!« sagte der alte Feldwebel ruhig, ließ den Kopf sinken, röchelte rasselnd, zupfte und fing Spinnen oder Fliegen auf der Decke über seinen Knien und sank, ohne sich eigentlich zu bewegen, in sich zusammen, während die Nase viel größer wurde und der Mund in einem dienstlich strengen, geheimnisvollen Ausdruck zusammenschrumpfte, und starb.
Der Trauerflor, den Robert Nimis, sein Sohn, am Arm trug, war vier Wochen darauf, um Dreikönig, der einzige dunkle Fleck im weiten Weiß des Winters über dem Odenwald. Fern duckten sich die Firste des weitentlegenen Marktfleckens unter der Last vom Himmel, den aus ihrer Schar heraus der Kirchturm in dem grauen, schweren Gewölk oben suchte. Neben ihm hob bebäbig das Pfarrhaus seinen hohen Giebel. Hinter den Fenstergardinen, rechts von den drei Sandsteinstufen des Eingangs, sah man noch das Grün des Christbaumes. Ein Hauch von Weihnacht wehte, wenn das Tor aufging, in Tannenduft und Kinderlachen hinaus in die Welt und längs der Kirche hin um die freie Ecke.
Da war es still. Da schliefen die Toten. Da war der Gottesacker. Die Flocken tanzten lustig um die Grabkreuze, und durch ihren Reigen lugte von drüben, ganz nahe, mit weißhängenden Ästen und überpuderten Gipfeln geheimnisvoll dunkelnd, der Bergwald.
In dem weichen, strömenden, lautlosen Flockenfall vom Himmel hallte es beinahe unheimlich wider, als Robert Nimis einmal hustete. Er ging langsam auf dem Friedhof auf und ab, die Krempe des weißgewordenen Schlapphutes vom Schnee nach unten gebogen, den Kragen des fadenscheinigen Überziehers fröstelnd hochgeschlagen, die Hände in den Taschen. Nun zog er die Rechte heraus, um nach der Uhr zu sehen. Er musste sie dicht vor die Augen halten, denn der Abend brach an diesem Januarnachmittag des Jahres 1891 früh herein. Es dunkelte schon im weißen Reich der Toten.
Der junge Mann schob seine untersetzte stramme Gestalt vorsichtig längs der Kirchenfenster bis zur Ecke, von wo man das Pfarrhaus überblicken konnte. Das erste freundliche Licht glomm dort eben hinter zwei Scheiben auf. Der Pfarrherr Melchior Thilo, der Bienenvater und Obstzüchter und Rosenfreund, saß da, die lange Pfeife im Mund, das Käppchen auf dem Kopf, die Hornbrille vor den Augen. Er sah ganz märchenhaft aus in dem goldigen Lampenschein, der einen Lichtkreis um das silberfarbene Haupt und den mächtigen Patriarchenbart wob. Er las und paffte gewaltig seinen Pastorentabak. Sonst rührte sich nichts im Haus. Robert Nimis stieg enttäuscht durch den Schnee auf den Kirchhof zurück, stand, stapfte mit einem Fuß und dem andern, um sich zu erwärmen, wartete, schaute ungeduldig, die Augen mit der Hand gegen das Flockenstieben schirmend, nach dem Pfarrhaus, fuhr hastig bei einem Geräusch zusammen. Tritte ... Nein. Es war nur ein alter Mann ... der Totengräber ... Die Schaufel überm Buckel... Er blieb verblüfft stehen ...
»Ha – was mache denn Sie do ... um die Zeit... bei meine Leut?«
»Ich will mich begrabe lasse!« sagte Robert Nimis gleichmütig. »Mir is zu kalt auf der Welt!«
»Dees hat bei Ihne noch Zeit!« Der Totengräber lachte. »Wo käm ich denn hin bei mei'm G'schäft, wann so junge Leut bei mir aach schon Koscht und Loschi hamme wollte!«
»Bei Ihne hat m'r sei Ruh!«
»Sell is wahr!« Der alte Hasenfratz, der Totengräber, musterte befriedigt die langen Reihen der Kreuze. »Meine liewe Leut da, die pariere! Bei mir wird der ärgschte Krischer still! Gelt – Ihr muckt net, Kinner? Warum auch? Ihr habt's gut!«
»Also vorwärts, Vatter! Ich will auch bei!«
» Sie werrn erst von mei'm Sohn begrabe! Ich bin zu alt derzu!«
Man konnte nicht erkennen, wie alt der Totengräber Hasenfratz war. Denn vom Schnee war sein Bart über und über weiß bestäubt, und viel blieb sonst von dem verrunzelten Gesicht mit der bis über die Ohren gezogenen verschneiten Fuchspelzkappe nicht frei.
»In zwei Johr begräbt mei Sohn, der Adam, mich selber!« sagte er und ging weiter, die Schaufel über der Schulter, Robert Nimis neben ihm.
»Sell wisse Sie so genau?«
»Ich weiß von jedem, wann ihm sei Herrgott pfeift: Do gehscht bei, Alterle! Du hascht genug! Ich sag's bloß net. Die Leut sin ja so dumm! Die fürchte sich ja vor dem Tod, die Simpel!«
Er betrachtete liebevoll seine Gräber und wischte, stehenbleibend, von einem Stein mit seiner braunen Hand den Schnee, daß die Goldschrift leuchtete: »Was war der Ochsenmetzger do für e hitziger Mann! Seit ich den Bühler in der Pfleg hab, kriegt er kei roten Kopp mehr und hockt net mehr de halbe Tag mit seine ewige Prozeß beim Rechtsanwalt Markus und beim Amtsgericht. Der Heitz do, der Holzhändler, gerad so! Du liebe Zeit, was hamme die früher als auf den Tisch gehaue, daß die Schöppche getanzt hamme, und sich angekrische ...«
»Und do die alt Muserin? Ich hab's ihr oft gesächt: Was soll so e alt's Weible noch auf der Welt? Jetzt fliegt sie im Himmel wie e Spatz! Und do der Bürgermeischter selwer – e großer, dicker Mann ... badd nix ... kumm norr ... die Gemeindegeschäft hot ja doch der Krebs, der Ratsschreiber, gemacht. Den hat's erscht vorige Woch geholt! Do leit er! Der muß sich erst senke, wisse Se, bis e Stein uff'n kummt!«
Der Alte ging befriedigt weiter. Ein Windstoß pfiff und warf Schneewehen über die stille Welt. Das Gitterpförtchen klirrte.
»Kumme Se mit heraus, Herr! 's wird Nacht. Die Leut wolle jetzt unter sich sein!«
»Ich bleib noch hier!«
»Dees geht net! Ich sperr jetzt zu!«
»No spring ich nachher über die Mauer!«
Der Totengräber zwinkerte ihn prüfend an. Eigentlich gefiel es ihm ja, daß der Fremde so viel Freude an seinem Kirchhof halte. Aber es blieb doch ein Mißtrauen.
»Fürchte Sie sich denn net?«
»Vor was denn?«
Die Antwort freute den alten Hasenfratz. Auf seinen Runzeln war plötzlich Sonnenschein über dem angestäubten Schnee. Er wurde ganz eifrig: »Do hawwe Sie recht! Ich steh für meine Leut do! Wegen dene bräucht's kei Bezirksamtmann und kei Bolizeidiener! Sell sind die Brävschte!«
Und wieder ein Zweifel, der unter dem Reif des Bartes zuckte. »Aber was wolle Sie denn hier? Sie könne sich doch net zur Nacht uff'n Grabstein hocke!«
»Vielleicht will ich geischtere!«
Der drüben nickte beifällig. »Meinetwege! Geischtere Sie norr tapfer! Verschrecke Sie norr die Leut! Dees schad't dene gar nix, wenn die mol 'nen Finger von oowe sehe! ... Dank schön!«
Der alte Hasenfratz schob sein Markstück in die Tasche und trottete mit geschulterem Spaten in die Nacht hinein, so als ginge der Meister Tod selber über Land. Robert Nimis schritt auf den Kirchhof zurück. Er musste schon vor sich niederblicken, um nicht an die halbverschneiten Grabsteine anzustoßen, so finster war es mittlerweile geworden. Er bückte sich, streifte wieder den Schnee von den Inschriften, um sich die Zeit zu vertreiben, und las: Wendelin Lutz, der Kreuzwirt ... Andreas Flauhaus, der Waisenrat – .. jetzt müssen sich die Waisen ohne dich behelfen... Mathäus Koch, der Stabhalter von Schallingen ... Peter Seib, der Bäckermeister, und seine Frau, eine geborene Dorn... »Tod – wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg?« Ja – Tod – wo ist dein Stachel? Aber man möchte doch leben ... leben ... und lieben... Binchen... wo bleibst du nur? Binche! Binche! »Hier ruht in Gott die Jungfrau Apollonia Disch, gestorben im siebenundachtzigsten Jahr ihres Lebens« ... Binche... Wo steckst du? ... Es war doch alles so schön besprochen ... Peter Mufflert, Ökonom, und seine Frau und Söhne und Töchter und Enkel... Vermoderte Mufflert auf einmal rings um einen im Boden... »Wie die Blätter im Herbst, so sind die Geschlechter der Menschen« ... Das haben wir in der Prima griechisch gelesen... bei dem Stocker ... dem alten Pauker ... Oder heißt's »wie die Blätter im Wald?« ... Binche... mach mich nicht gar zu ungeduldig ...
Vom Kirchturm schlug es blechern ... hüstelte fünfmal wie ein alter Mann ... fünf Uhr nachmittags... Binche, wenn es heute nicht glückt ... Robert Nimis stand im dämmernden Schneetreiben, las mit leeren Augen: Konrad Bauknecht, Sägebesitzer ... verunglückt am 6. Ianuar 1881 beim Fällen eines Baumes – gerade vor zehn Jahren ... »denn das Gesetz des Geistes hat mich freigemacht von dem Gesetz der Sünde« ... Recht so! Recht, der Geist ist das neue Gesetz. Der Geist ist frei. Aber dann fackel nicht, Binche! Und laß den Pastor Großvater und das Pfarrhaus und alles darin hinter dir und komm! ... Komm! ...
Auf der Landstraße neben der Kirchhofmauer gingen im Dunkel Kinder. Sie hatten sich an den Händen gefaßt. Plötzlich ließen sie sich los und fingen an zu laufen wie besessen. Der größte, zehnjährige Knirps voran.
»Schorschl!« schrie er aufgeregt und doch beinahe glücklich in seiner Angst in die Dorfgasse hinein. »Schorschl... horch mal... da owwe uff'm Kirchhof geischtert's wüscht!«
Die anderen Kinder trabten weinerlich, das Nesthäkchen wie eine große Puppe durch den Schnee mit sich schleifend, hinter ihm her. Und zugleich huschte es oben zwischen den Grabsteinen lautlos, verschleiert und vermummt, als käme die weiße Frau – ein Bündel in der Hand, atemlos: »Da bin ich, Robert!«
»Schnell! Schnell! Die Lausbube mache das ganze Dorf rebellisch!«
»Wohin?«
»Ich spring voraus! Steig nur als auf die Mauer! Ich fang dich auf!«
»Gelobt sei Jesus Christus!« schrie der Fuhrmann, der noch in der Nacht oben mit seinem Langholz aus dem Wald kam. Seine schweren Gäule scheuten, stiegen, seine Rechte umklammerte den Schlittenland, die Linke fegte kreuzschlagend über Stirn und Brust. Zwei Gestalten glitten unheimlich vom Kirchhof hernieder, im Laufschritt an ihm vorbei. Die Gespenster verschwanden im Wald. Dort gingen sie langsamer, keuchend. Er voraus. Sie hinter ihm durch das Dunkel. Sie faßte nach ihm, um ihn nicht zu verlieren
»Robert! Mach doch Licht!«
»Erst besser unten, wo uns keiner mehr sehen kann!«
Nun leuchtete eine kleine Traglaterne. Eine weiße Märchenwelt umfing sie plötzlich. Der deutsche Winterwald mit phantastisch weißgefiederten Tannen, tausendfachem Kristallgeglitzer der Firnkörner am Boden, gnomenhaften Eiszacken am Felshang, leuchtendem Flor von Flocken vor der schwarzen Nacht.
Er küßte sie durch den nassen Schleier auf die kalten Backen und den blassen Mund.
»Kurasch, Binche!«
»Ich hab Kurasch, Liebschter!«
»Da drunte in Mühlried wartet der Schlitten! No geht's per Hui zur Station und mit dem Klingelbähnche nach Darmstadt!«
»Ja ... Ja ...«
»Laß du den Großvater nur kollern! Du bist volljährig! Du darfst heiraten, wen du magst!«
»Dich mag ich, Robert! Sonst keinen!«
»Und vom Standesamt geht's runter an den Rhein!« Robert Nimis lachte im Schneewaten. »Und dann in die Händ gespuckt und an die Arbeit! Ich werd dem August Buschbeck in Lütthahn schon einheizen! Dadrauf kann er Gift nehmen... der alte Schinder...«