Rudolph Stratz
Das Schiff ohne Steuer
Rudolph Stratz

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

IV.

Auf der nächsten Station verließ Leo Nimis sein Abteil erster Klasse, schritt suchend den Zug entlang und entdeckte hinter einem Fenster der dritten Klasse den Kopf seines ausgewiesenen Vetters. Er stieg ein und setzte sich neben ihn auf die Holzbank.

»Guten Abend, Robert! Na – wer bin ich? Erinnere dich mal an Göttingen! Vor fünf Jahren!«

Es war in ihrem Äußeren ein großer Unterschied zwischen seinem grellgewürfelten schottischen Mantel eines Weltreisenden und dem schäbigen ausgedienten Studentenüberzieher des anderen. Der erkannte ihn, reichte ihm ohne besondere Überraschung die Hand und gähnte: »Du bist's! Ich hab gedenkt, alleweil kommt noch e Spitzel!«

In dem Abteil saß außer ihnen nur noch, in die Ecke gedrückt, ein schnurrbärtiger Mann vom Äußern eines ausgedienten Unteroffiziers. Der verwegene, breitschulterige kleine Mensch gegenüber musterte ihn mit vergnüglicher Bosheit.

»Mir kann nämlich nix passiere. Leo«, sagte er laut in seinem Darmstädter Deutsch. »Ich hab wie e gekrönter Landesvater mei Ehrewach als bei mir! Kost mich kein Pennig! Gell – da guckschte?«

»Wie geht's dir denn?«

Der Vetter ließ seinen Polizeischatten drüben nicht aus den Augen. »Ha – gut! Großartig! Wie soll's einem denn anners in Preußen gehn? Nur böse Menschen sind unzufrieden! Ich bin kein böser Mensch! Der Herr da drüben weiß das auch!«

»Robert – sei doch vernünftig!«

»Beispielsmäßig: Ich bin doch als Redakteur an sitzende Lebensweise gewohnt. Gleich krieg ich die vom Staat umsonst! Dies Frühjahr hab ich erst in Leipzig drei Monate runtergemacht! Alleweil hat mir der Doktor Bewegung verordnet: Kommt ganz von selbst! Heut bin ich zum neuntenmal ausgewiesen! Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt. Gestatten Sie, mein Herr, daß ich rauche?«

Der Unbekannte in der Ecke antwortete nicht. Robert Nimis paffte grinsend das Pfälzer Kraut.

»Leoche, möchtest du auch so 'ne Stinkadores? Gelt – die ist dir nicht rar genug? Ja – rümpf du nur deine Nas über Deutschland! Ich bin unbändig mit unseren Zuständen zufrieden!«

»Kann man denn mit dir kein gescheites Wort reden?«

»... mein einziger Kummer ist, daß ich als noch nit den Kronenorden vierter Klasse hab! Aber vielleicht hat der Puttkamer noch ein Einsehen! Der Mann steht nur zu weit nach links! Ich kann so Freigeischter nit leide!«

Leo Nimis wußte nichts von dem preußischen Polizeiminister. Der Vetter stand auf.

»Ich werd doch noch mal auf meine alten Tag Kommissionsrat«, sprach er hoffnungsvoll. »Donnerwetter! Da is ja schon meine Station! Hat mich sehr gefreut, Leoche! Auf ein andermal!«

Er raffte hastig seine Sachen zusammen, stieg aus und eilte mit langen Schritten dem Ausgang zu. Der Mann in der Ecke war plötzlich aus seiner scheinbaren Schläfrigkeit erwacht und machte ihm alles genau nach. Die Handtasche aus dem Netz ... die Tür auf ... ohne Gruß hinaus, ... fort im Laufschritt, um die Spur des Wildes nicht zu verlieren ...

Leo Nimis blieb verblüfft sitzen. Es war alles Hals über Kopf gegangen. Das Abteil dritter Klasse plötzlich leer. Es blieb auch keine Zeit mehr, in den eigenen Wagen überzusiedeln. Der Zug setzte sich schon wieder in Bewegung. Im selben Augenblick wurde die Türe des Abteils aufgerissen. Der Vetter Nobert schwang sich, mit seinen Sachen bepackt, schon im Fahren hinein, warf sich neben Leo Nimis auf die Bank und lachte aus vollem Hals.

»Drauße steht der Aff und macht Auge! Denkt der Simpel wirklich, ich steig in sellem Drecknescht aus! Nit mal den Namen kenn ich! ... Jetzt sind wir den Hornochs los! Hab ich schon öfters gemacht!«

Der kleine, stämmige Mann wurde plötzlich ernster, müder. Sein Gesicht veränderte sich. Verbissene Linien von Sorge und Kampf traten hervor und ließen es älter erscheinen als seine siebenundzwanzig Jahre. Er spuckte auf den Boden und seufzte. Dann zog er ein Butterbrot aus einem Stück Zeitungspapier und biß hinein.

»Des is in einen Artikel von mir eingewickelt«, sagte er kauend und warf den faltigen Fetzen aus dem Fenster. »Vielleicht liest ihn draußen noch so ein Mistbauer! Jeder Satz ein Flohstich für den Herrn Staatsanwalt. Aber das ist für dich zu hoch, Alterle. Du bischt so recht das einfältige, frühreife Leoche von damals in Göttinge gebliebe.«

Leo Nimis lachte. »Ich hab's aber weiter gebracht unterdessen als du ...«

»... das dumme Vetterche aus Amerika, das sich mit Leib und Seel und Haut und Haar sellen Vampiren drüben verschrieben hat und sich dabei noch mordschlau vorkommt – du Kamel mit Hörnern!«

»Bist du immer so grob?«

»Saugrob! Das ist ein Zeiche, daß ich einen leiden mag!«

»Dann mußt du mich ja sehr liebhaben!«

»Ich faß die Leut nicht mit Glacéhändschings an! Die mich auch nit! Ja, horch nur, du Kapitalsknecht. Oh mei! Hockt das Bürschle da, geschniegelt und gebügelt und pomadisiert und merkt in seiner himmlischen Einfalt gar nicht, daß ihm die Blutsauger in Amerika das Fell über seine langen Löffel ziehen! Die quetsche doch deine Arbeitskraft aus wie eine Zitrone, du Gimpel! Du bischt ein Kuli wie ich! Bloß e feiner!«

»Das ist mir ganz neu«, sagte der junge Weltmann neben ihm trocken. »Du bist der erste, der mich einschätzt wie ein Nigger, der einem am Broadway die Stiefel putzt!«

»Hut ab vor sellem Nigger!« schrie der Vetter.

»Du lebst ja schlechter als ein Tramp! Wie stellst du dir denn nur deine Zukunft vor?«

»Mei Zeit wird komme! Die Junker habe Deutschland eingerichtet, als wär es ein großes Rittergut. Aber seit zehn Jahren wird Deutschland eine große Fabrik. Liebschter, sell knallt dir noch mal außenanner! Sell setzt Scherbe, sag ich dir! Wenn du lang genug lebst, du Mammonsdiener, so wirst du noch gnug von mir höre!«

Der Zug hielt. Ein paar Geschäftsreisende stiegen ein. Robert Nimis gähnte laut. »Sodele! Ich schlaf' jetzt. Ich hab morgen einen strengen Tag vor mir!«

»Du fährst doch nach Darmstadt mit?«

Der Vetter lachte schallend. »Ach – du heilige Unschuld du! Aus meiner Vaterstadt bin ich doch natürlich längst ausgewiese! So 'nem seine Herrche wie dir tun sie da freilich nix! Geh du nur rüber in deinen Salonwage! Gute Nacht!«

»Sieht man dich denn gar nicht mehr?«

»Bist du der Staatsanwalt, daß du so arg Sehnsucht nach mir hast?«

»Ich halte die Augen offen und schau mir die Leute an, wie sie kommen«, sagte der junge Mann. »Man kann von jedem was lernen!«

»Also horch mal!« Der andere beugte den tief in den stämmigen Schultern steckenden Kopf zum Ohr des Ausgestiegenen. »Morge abend komm' ich nach Darmstadt hinein! Egal wie die Ferschte: Inkognito! Keine weißgewaschene Jungfrauen ... Keine vertrottelten Stadträt und Kinneiche mit Blume ... nix!«

»Und wo?«

»Komm, wenn's dunkel ist ... so um sechse ... ins Schnakeloch in der Altstadt... Du fragst dich schon durch ... dort hock ich hinterm Schöppche – den Rockkragen hoch ... Spring, Alterle, spring ... sonst geht der Zug ohne dich weiter!«

Robert Nimis warf sich in seine Holzecke zurück und schnarchte nach kurzem tief und friedlich. In Mainz stieg er aus und fuhr mit dem Bummelzug über Worms nach der Bergstraße weiter. Auf dem Bahnhof von Jugenheim waren breitknochige, fremdartige Gesichter. Klangen slawische Laute. Großfürst Sergius von Rußland weilte bei seinem Schwiegervater, dem regierenden Großherzog, zu Besuch. Asien lag in der Luft. Robert Nimis schnitt eine Grimasse. Auf der nächsten Station verließ er den Zug. Der herbstbunte Wall des Odenwalds senkte sich vor ihm zur Rheinebene. Er stieg in die weiten, stillen Buchenhaine hinein und weiter über die Kämme der Berge. Die Wolken wanderten, der Wind wehte. In den Wäldern wirbelte das welke Laub. Auf den Feldern wirkte der Bauer sein ewiges Werk. Ging langsam, andächtig hinter dem Pflug, pflegte die Allmutter Erde wie seit Jahrtausenden, streute mit segnendem Wurf die Wintersaat in die leise, erwartungsvoll dampfenden Schollen, In der Schmiede sprang und flackerte der Feuergott über der Esse wie einst in Heidenzeit, von der hier noch überall die Namen von Berg und Fluß wiedertlangen. In flatterndem Radmantel schritt wie vor Jahrhunderten der alte Schäfer hinter seiner gelbwolligen blökenden Welle über die Stoppeln und schleuderte mit dem Krummstab die Erdbrocken nach den Nachzüglern. Die alte Sachseneiche stand am Waldrand, der Sagenbrunnen rauschte, aus dem schon Siegfried getrunken, der Wanderfalke schrillte über Tannenwipfeln, und unten, wo die bemoosten Heidenwälle noch an Wotan, den Wanderer, mahnten, schritt der kleine stämmige Robert Nimis rüstig und rasch durch Wind und Wetter als Wanderer über den Odenwald.

Es standen in dieser Einsamkeit dort oben noch uralte Fachwerkhäuschen, himmelblau getüncht, das Dach mit Binsen gedeckt. Kein Wellenschlag der neuen Welt schien diese niederen, vielleicht noch an Winterabenden im Dreißigjährigen Krieg von sorglicher Bauernhand geschnitzten Türen erreicht zu haben. Robert Nimis klopfte dreimal an die Pforte. Wartete. Es dauerte lange, bis drinnen der Riegel zurückging. Ein junger Mann steckte vorsichtig den Kopf heraus. Sie nickten sich zu. Sie gingen durch die Wohnstube nach dem Ziegenstall hinten. Wenn man das Heu auseinanderwarf, stand darunter eine Kiste, bis obenhin gefüllt mit Flugschriften. Sie verhandelten leise über die nächste Sendung aus Hottingen bei Zürich und ihre Verteilung übers Land. Dann schritt Robert Nimis weiter. Der schwindsüchtige, junge Schlosser, der aus Frankfurt ausgewiesen war, wie er aus Darmstadt, gab ihm noch bis zur Wegecke das Geleit.

In einem tiefen Grunde – da geht ein Mühlenrad ... der junge Mann summte im Herniedersteigen: Das Rad, das mahlet Liebe – nur Liebe, früh und spat ... Aber unten, wo der Bach über die Schaufeln rauschte und man schreien mußte, um das silberne Brausen zu übertönen, holten vorsichtige Hände die geheime Liste der Vertrauensmänner aus dem Schrank – manche Namen durchstrichen – der war tot – eingeklammert: im Gefängnis ... Ein Fragezeichen dahinter: Spitzel? ... Der Doktor war aus Mannheim ausgewiesen. Er lebte hier unter falschem Namen ... als Sommergast, dem es auch noch im Herbst gefiel ... Vorsicht ... Vorsicht ... lieber hinten hinaus ... auf dem Steg, über das Wehr ... so ... da den Buckel hinauf ... das war der Weg zum Offenbächer.

Der Offenbächer, der aus Offenbach am Main ausgewiesene Portefeuillearbeiter Kniel, wohnte mitten im Dorf Hartolzheim oben beim Bäcker. Er hatte seine Familie bei sich. Seine Lederarbeiten konnte er auch hier besorgen. Er sah, mit Brille und schwarzem Bart, wie ein Privatgelehrter aus. Abends war bei ihm Diskutierklub. Ehe ihn der Polizeibefehl hierher verschlagen, hatte man in diesem weltfernen Winkel nichts von Kapital und Arbeit geahnt. Jetzt hatte er schon das halbe Dorf herumgekriegt. Sogar der Bürgermeister kratzte sich manchmal hinter dem Ohr ...

Sie hatten eine lange Besprechung bei Kaffee und Brot. Nächster Tage sollte eine Versammlung der Vertrauensleute sein, am stockdunklen Abend, oben im Wald bei dem Steinkreuz ... »Also drei Pfiffe ... auf Wiedersehen. Kniel!« ...

Es war des Odenwaldes Brauch, daß die Bauern, wenn sie im Herbst und Winter draußen nicht mehr viel zu tun hatten, den Dorfhandwerkern in deren warmen Stuben bei der Arbeit zuschauten. Der Sebastian Unkel, genannt der Krops-Unkel, der Schneidermeister in Alt-Neuheim, dem das Schicksal außer dem dicken Hals einen besinnlichen Kopf ins Leben mitgegeben, hatte an diesem späten Nachmittag Zuhörer genug, während er mit gekreuzten Beinen auf dem Tisch saß und, aufmerksam unter dem grauen Kakaduschopf durch die trübe Hornbrille blinzelnd, eine Nadel einfädelte, um einen neuen Hosenboden einzusetzen. Dabei belehrte er seine Umgebung, daß alles Unglück der Welt nur von den reichen Leuten herkam. »E reicher Mann tut nix und laß sei Taler danze! Der fährt im Chaisewägelche spaziere und lacht euch aus, daß ihr so dumm seid und für ihn arbeitet!«

Das Schneiderlein beugte sich emsig über seine Arbeit. Es war ein Schweigen. Die beiden Landwirte, der Lenze-Adam und der Lappe-Lorenz, gingen, die Tür schmeißend, fort. Der engbrüstige Meister kicherte ihnen nach.

»So mächt m'r's!« sprach er befriedigt. »Sell verschlägt dene dreckige Ökonome 's Maul!«

Rupert Volz, der Schmied, der bibelfeste, alte Judenfeind, der immer mit den Worten der Schrift redete, schüttelte feierlich den Grautopf: »Wahrlich, ich sage euch. Es steht geschrieben: Seid Untertan der Obrigkeit!«

»Aber es steht auch geschrieben: Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, denn ein Reicher ins Himmelreich!« schrie Robert Nimis im Hinausgehen. Innen war ein Gelächter um den verdutzten Schmied. »Hurtig, Rupert – kriech durch dem Unkel sei Stopfnadel da!« Der draußen sah auf die Uhr und schritt mit Siebenmeilenstiefeln weiter. –

In dem großen Kirchdorf wandelte der Pfarrer Melchior Thilo behaglich im Abendgrauen in seinem Garten auf und nieder und rauchte seine lange Pfeife. Er war ein schöner Mann mit blauen Augen, rosigen Wangen und wallendem, silberweißem Vollbart. Er sah aus wie Gott-Vater im Paradies oder wie der Knecht Ruprecht für die artigen Kinder. Er schaute nach seinen Bienen, die schon zur Nachtruhe gegangen waren, nach den blauen, roten und weißen Astern, nach den roten Backen der Goldparmänen und Renetten im Apfellaub, nach den stillen Kreuzen auf dem Gottesacker, der sich an Pfarrhof und Kirche anschloß.

Hinter der Kirchhofsmauer huschte es im Dämmern hervor, als Robert Nimis sich näherte. Das war kein Gespenst. Das war warm und lebte und umschlang ihn mit heißen Küssen und roten Lippen und wilden Blauaugen und lachte atemlos und schmiegte sich selig an ihn. Die vielen Toten daneben störten die beiden Lebenden nicht. Die hatten auch einmal geliebt. Die lagen still und schützten die Kinder der Welt mit dem Grauen der Menschen vor den Gräbern.

»Binche ... Binche ... mei Binche ...«

»Mei Robertche is wieder da ...«

»Du lieb's Binche ...«

»Da hab ich dich, du Schote! ... Ach Gott ... hab ich dich lieb ...«

»Nit halb wie ich ...«

»Küß hurtig. Ich muß weg ...«

»Am Sonntag ...«

»Ich ... ja ... du Bester! Bei der Bas!«

»Weiß sie's?«

»Die Bas petzt nit! Die hält's mit uns!«

»Sabinche!« klang es vom Pfarrhaus. »Sabinche!«

»Ja – ja ... ich komme!«

»Sabinche!«

»Nit mal ausküsse lasse sie einen ...«

»Noch einen ...«

»Da ... da ... da ... Ich wollt, es wären tausend! Gut Nacht, du Liebstes ...«

»Ach du ... Ich nehm dich mit und freß dich auf!«

»Sa – bin – che!«

»Gut Nacht!«

Sabinchen Thilo, die Pfarrersenkelin, flog in langen Sätzen durch den Kirchhof, im Sprung des Lebens über die Gräber, mit flatternden Zöpfen zwischen den Kreuzen hin. Robert Nimis stand und schaute ihr nach, bis der lichte Schein ihres Kleides um die Kirchturmecke schwand. Dann wanderte er weiter in das Dunkel. –

Mitten in dem Odenwälder Amtsstädtchen stand das Katzenschloß, ein ungefüger, verwahrloster Kasten aus der Landgrafenzeit, von dem niemand mehr wußte, warum der finstere Bau ein Schloß hieß. Seit des heiligen Reiches Ende war es von einer Hand in die andere gegangen, nacheinander Kornspeicher, Gerichtsgefängnis, Baumwollspinnerei gewesen. Jetzt hauste in dem Katzenschloß Hiob Greulich, der Viehhändlerpatriarch, mit seinem Weib Rebekka und seinen Töchtern Veilchen und Täubchen und seinem Schwiegersohn Hirsch Naphtali und seinen eigenen Söhnen und deren Frauen, alle in blauem Hemd mit daruntergeschnallter Geldkatze, in allen Kuhställen weit herum und auf allen Märkten zu Haus. Es war auf den schmutzigen Treppen ein ewiges Kommen und Gehen von Viehjuden, Metzgern, Bauern, Schmusern, Lederkäufern, Geldmännern. Karren mit Kälbern hielten auf der Gasse. In dem feuchten Stall unten wechselte das Rindvieh Tag für Tag. Im Hinterzimmer darüber wurden auch andere Geschäfte gemacht. Das Bargeld lachte auf dem Tisch. Die Wechselformulare lagen zur Unterschrift bereit, und auf den fälligen Akzepten daneben standen ganze Reihen von Namen untereinander, die sich auf der sechsmonatigen Irrfahrt des schmutzigen Papiers über den Odenwald hin aufgesammelt hatten.

Ganz oben, im vierten Stock des Katzenschlosses, wo die Mäuse pfiffen und dle Schleiereulen laut wie Menschen schnarchten, leuchtete die halbe Nacht hindurch ein Lämpchen, als Zeichen, daß der Robert Nimis wieder im Lande war und in seinem Stübchen saß und schrieb. Am andern Mittag war die Tür des Schlupfwinkels schon wieder verschlossen. Er war über alle Berge.

Wälder umgaben beinahe von allen Seiten die nahe Haupt- und Residenzstadt Darmstadt. Es war nicht schwer, bei einfallender Dunkelheit von Kranichstein durch den Wildpark und an der Fasanerie vorbei in die Altstadt zu gelangen. Als Leo Nimis, der Deutsch-Amerikaner, fremdartig in seinem großgewürfelten Mantel und in breitrandigem Schlapphut, sich am Abend mühsam durch das Gewirr der krummen Gäßchen zum »Schnakeloch« durchgefragt hatte, fand er drinnen in der dunkelsten Ecke schon einen Unbekannten sitzen, der seine leidenden Augen mit einer großen blauen Brille schirmte und ein Viertel Umstädter Roten vor sich stehen hatte. Er setzte sich neben seinen Vetter Robert und schüttelte ihm die Hand.

»Hast du dich wirklich hereingewagt?«

»Päh! Kätterche, noch e Schöppche!« Der Vetter kniff der Kellnerin wohlwollend in den Arm und erntete einen tüchtigen Puff. »Wart norr, du Krott! ... Weißt, Leoche, ich muß die Bolizei uze! Dees läßt mir kei Ruh! Die Bolizei mir auch nit!«

Er nahm einen langen Schluck von dem blutfarbenen Bergsträßer.

»Hier in der Kneipe hat schon mein Großvater Anno Tobak als gehockt! D'r Louis! Sell muß ein Original gewesen sein, Leoche! ... Hier an dem Tisch hat er als Linksanwalt seine Leut abgerichtet, wie man den Code Civil umgeht, und gesungen: ›Mihi est propositum in taberna mori!‹ Es hat ihn auch gerade in der Ecke hier der Schlag gerührt! Mei eigener Vater hat als ordnungsliebender Unteroffizier Anno achtundvierzig gegen ihn auf den Barrikaden in Frankfurt gekämpft. Da is d'r Louis weggelaufe! Ein Held war er nit!«

»Vielleicht hast du auch von dem so 'nen Kopf voll Flöhe!«

»Dein Großvater, sein Bruder, Leo – das war auch einer! Den kennen die alten Leut jetzt noch drüben auf dem Odenwald. Er hat den Kreis damals in der Paulskirche vertrete! Dees war dir e Mann! Glatt wie ein Karpfen! Ein Geheimrat! Ein Schlechtschwätzer! Als den Mantel nach dem Wind ...«

»Ich hab ihn nie gekannt!«

»Sie sind ja auch beide eine Ewigkeit tot!«

Zwei Männer waren in die Stube getreten. Der eine Dicke mit dem martialischen Schnauzbart sprach erschüttert: »Richtig! Da hockt das Laschter! Jetzt hat's geschellt! Ihne kenn ich, trotz der blauen Brill! Sie hawwe trotz Ausweisungsbefehl Darmstadt betrete!«

»Rege Sie sich bloß nit auf, Herr Schickedanz! Sie hawwe als schon so was Schlagflüssiges an sich! Jetzt gehen wir halt zusammen zur Polizei!« Robert Nimis trank aus und erhob sich, als wäre das die selbstverständlichste Sache von der Welt. »Tut mir arg leid, Leoche! Du siehst, wie beliebt ich überall bin! Wo ich hinkomm, reißen sich die Leut um mich ...«

»Wer sind denn Sie?« forschte mißtrauisch der Wachtmeister. »Auch so ein Gutedel? Bawweln Sie nit, sondern weise Sie sich gefälligscht aus! So ... so ...« Der dicke Beamte musterte zweifelnd den Paß. »Ein Sohn von dem Herrn Nimis in der Rheinstraße! Der ist auch ein alter Freischärling ...«

»Das rechnen Sie jetzt noch nach?«

»Ha! Es tut ihm ja keiner was, wann er pünktlich Steuern zahlt und vor seinem Haus Schnee fegen läßt! 's ist schon gut! ... Sie können gehen!«

Leo Nimis hatte sich von dem verhafteten Vetter verabschiedet. Er schritt am Schloß und dem langen Ludwig-Obelisken auf dem leeren Platz vorbei und in die leere Rheinstraße hinein. Darmstadt war immer leer und still und still und leer auch das alte Familienhaus, in dem der alte Herr Reinhold Nimis, der einstige achtundvierziger Student und Freiheitskämpfer, seit seiner Heimkehr aus Amerika als Witwer wohnte und seine Schwester Babettche, deren Mann auch schon lange als Pfarrherr droben in Oberhessen gestorben war, ihm die Wirtschaft führte.

An der Wand des vormärzlichen Zimmers hingen die Bilder seiner lange verstorbenen Eltern. Daneben die Phoographie seines Schwagers Harro von der Venne, des wilden friesischen Edelings, für dessen Freiheitsdurst Europa zu eng gewesen war, und der nun schon seit vielen Jahren drüben über dem großen Wasser, wie ein Wikinger unter einem Hügel, auf den weiten Prärien seiner Farm im wilden Westen schlief und zu seiner Seite, in den Tod getreu wie einst in den Stürmen des Lebens, seine Frau, das schöne, goldblonde Vrenche, die ihn einst hier, noch ein Jüngferchen der Biedermeierzeit, als Flüchtling in diesem Hause, in der Eulenstube oben, zum erstenmal geschaut hatte. Über den Geschlechtern der Menschen an der Wand, die dahingingen wie die Blätter im Wind, prangte in großem eichenumrahmten Stahlstich einer: der blieb leben, auch wenn er starb. Unter dem Helm der Halberstädter Kürassiere schaute das gewaltige Haupt herab. Vor Bismarcks Bild stand Reinhold Nimis, der alte Achtundvierziger, jetzt über die Sechzig hinaus, zart und zierlich von Gestalt, wie er es sein Leben lang gewesen, mit kurzem, grauem Vollbart und üppigem, dichtgelocktem Grauhaar, das die dunklen Augen noch weicher und träumerischer erscheinen ließ, und sagte im Eifer des Gespräches zu seinem Sohn: »... und ich liebe auch Bismarcks Zorn! Ich liebe selbst Bismarcks Fehler! Es ist ein heiliger deutscher Zorn! Es sind aufrechte deutsche Fehler! Ich lieb den ganzen deutschen Mann, wie er gewachsen ist! Ich lasse mir an ihm nicht drehen und deuteln!«

Er schaute andächtig zu dem eisernen Kanzler empor.

»Wehe der Zeit, Leo, die zu nahe an ihn herantritt und von unten nur seine Kürassierstiefel sieht! Weh dem Volk, das sich nur als Kammerdiener seiner Helden fühlt, vor dem nichts groß ist! Wehe dem Deutschen, der nicht das bißchen Bismarck in sich trägt, das er versteht! Jedem von uns muß Bismarck etwas sein, wodurch er sich selbst ergänzt!«

»Auch dir als Achtundvierziger?«

»Ach, liebes Kind, wir dachten es gutzumachen, aber er hat es gutgemacht! Wir kämpften für Kaiser und Reich. Aber er hat uns Kaiser und Reich gegeben!«

»Anders, als du wolltest!«

»Aber Kaiser und Reich sind da! Ich hab als junger Mensch für Schwarzrotgold geblutet. Dafür freu ich mich als alter Kerl an Schwarzweißrot! Guck doch nur um dich, Kind! Schau unser liebes, altes Deutschland! Es blüht wie der tausendjährige Rosenstock in Hildesheim. Deutschland ist unsere alte ehrwürdige Mutter und dabei wieder jung und schön geworden wie eine Braut. Alles durch ihn, den einzigen Mann! Leo, Leo, denk daran! Dazu hab ich dich erzogen ...«

»Ich tu's gewiß!«

»Nun haben wir auch noch Kolonien! Unsere Flagge auf allen Meeren! Überall ein Segen und Gedeihen, was wir auch anfassen! Du hast noch kurze Höschen getragen, wie das Reich kam. Was weißt denn du, wie's früher mit uns war? Wenn du jetzt als Deutscher auf der ganzen Welt Geschäfte machst, dann vergiß nicht, daß Bismarck hinter dir steht! Der Schatten, den du wirfst, ist sein Schatten!«

»Ich gebe mir ja alle Mühe, dem deutschen Namen draußen Ehre zu machen!«

Der Sohn setzte sich, schlug ein Bein über das andere, zündete sich seine kurze Pfeife an und sagte nach den ersten Zügen nachdenklich: »Aber daheim bei uns? Warum ist es so grenzenlos ungemütlich, wenn man nach Deutschland kommt?«

»Was meinst du damit?«

»... man kommt wie in eine große verzankte Familie! Es ist doch jetzt alles in Ordnung und gut und schön hier! Da sollt man doch denken, sie sind alle zufrieden. Aber sie sind alle unzufrieden. Jeder, den man spricht, möchte Deutschland anders haben und möchte den andern anders haben! Man wird nicht warm. Es fehlt etwas. Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll ...«

»Ach ... lieber Leo ...«

»Es ist wie bei den Kasten in Indien. Unsereiner paßt als Auslanddeutscher in keine von den unzähligen Schachteln und Schächtelchen hinein. Aber man schaut von oben in sie hinein, und da bin ich immer entsetzt, wie wenig sie in den einzelnen Kästchen von ihren Nachbarn rechts und links wissen wollen. Sie mißbilligen sich allenfalls. Und mit einem Mann, der überhaupt nicht genau in irgendeine Schachtel paßt, wissen sie gar nichts anzufangen. Er ist ihnen dann immer ein bißchen unheimlich. Er hat etwas an sich, was sie stört!«

»Du auch?«

»Ich bin doch Auslanddeutscher! Den Junkern bin ich als Bürgerlicher fremd. Den Juristen bin ich als Kaufmann unsympathisch. Mein Vetter Robert schimpft mich wieder einen Bourgeois. Dem Grafen Mettenberg am Rhein schien ich als Protestant zuwider. Den Geheimrat von Spängler verschnupft es, daß ich nicht in dem Korps ›Cimbria‹ war – den jungen Buschbeck, daß ich nicht Reserveoffizier bin. Dem dicken Wachtmeister eben war ich wieder als Sohn eines Achtundvierzigers verdächtig. Ich bin ein harmloser Mensch. Ich bin gewohnt, die Menschen zu nehmen, wie sie sind. Mir ist das langweilig, daß immer einer am andern herumschulmeistert. Warum bekämpfen sich denn alle, obwohl sie doch darin einig sind, daß sie einig sein wollen? Wie wird denn das, wenn sie einmal in der Not alle ihre Kräfte zusammenfassen müssen?«

Der alte Herr hatte sich gesetzt und schüttelte still den silbergrauen, jugendlichen Krauskopf.

»Schau mal nach Wien, Leo«, sagte er nach einer Weile. »In Österreich haben sie keinen Bismarck gehabt. Und wie sieht's da aus! Da triumphieren die Tschechen und Madjaren jeden Tag mehr, und die armen Deutschen ... ich geh recht ungern nächster Tage nach Wien, so sehr ich mich auch auf mein Töchterle freu!«

»Schau nur, daß die Hansi jetzt mal Ernst macht mit ihrer Verlobung. Das ewige Tanzen und die Gaudi bei der Tante Lini, als ob die Welt ein ewiger Fasching wär, muß doch mal ein Ende haben! Das Mädel ist jetzt zweiundzwanzig ...«

»Ich denke bestimmt, daß der Sektionsrat Fronhofer in nächster Zeit um sie anhält. Der scheint mir gerade der Rechte. Er ist auch schon siebenunddreißig. Ein stiller, ernster Mensch. Sein Vater ist Professor an der Prager Universität. Ebenso deutsch gesinnt wie der Sohn. Das paßt alles so gut!«

»Die Hansi ist eine zu leichte Fliege. Die braucht einen Mann, der bedeutend älter und ruhiger und vernünftiger ist als sie!«

Sie verstummten beide. Dann schaute der Alte lebhaft und herzlich auf. »Du! Da ist vorhin eine Familienanzeige gekommen! ... Aus Berlin. Du wirst dich wundern: Meinem guten Pritzig seine Nichte und Pflegetochter hat sich vorigen Dienstag verlobt.«

»Ja. Mit dem Herrn von Spängler.«

»Das weißt du schon?«

»Ich war ja dabei!«

»... und hast mir nichts davon erzählt?«

»Gott ... Was soll man denn alles immer erzählen,« sagte Leo Nimis, stand auf und trat zum Fenster, »... ob sich so ein Mädel nun verlobt? Einmal nimmt sie natürlich jemand aus ihren Kreisen. Ich kenn sie ja kaum und sehe sie nicht wieder!«

»Sie soll so schön geworden sein'«

»Ja. Schön ist sie schon.«

Es war wieder still.

»Leo! ... Lasse dich nicht verbittern ...«

Der junge Mann fuhr hastig herum.

»Wodurch?«

»Nun – daß in Deutschland nicht alles so ausschaut, wie du möchtest! Innen ist vielleicht das Haus noch nicht ganz fertig. Da arbeiten noch die Maurer und Zimmerleute, und es ist noch Lärm und Staub. Aber die Außenseite steht schon herrlich da. An die muß man sich halten...«

»Ja ... ja!«

»Du bist zerstreut. Du hörst nicht zu. Halte dich an Deutschland, Leo! Auch wenn es dir manches vorenthält, was du haben möchtest! Leben heißt Verzicht. Das weiß ich als Sechziger. Aber Leben heißt auch Gewinn!«

»Und doch hab ich immer das Gefühl: Es fehlt etwas in Deutschland! ... Ich kann es nur nicht sagen ...«

»In einem, Leo, hast du wohl recht: Eins dürfen wir über dem Reich und der Macht und der Herrlichkeit nicht verlieren: den deutschen Menschen! Der deutsche Mensch ist unser kostbarster Besitz. Menschen erhält man sich auf die Dauer nur durch Liebe. Besser statt der geballten Faust die offene Hand und noch besser das offene Herz. Vielleicht hast du da an eine Wunde der Zeit gerührt: Wir brauchen in Deutschland mehr Liebe!«


 << zurück weiter >>