Rudolph Stratz
Das Schiff ohne Steuer
Rudolph Stratz

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VII.

Das neuhergestellte Wasserschloß Abdinghof des Grafen Lothar Mettenberg lag inmitten der weiten, flachen niederrheinischen Ebene mit ihren vielen Windmühlen und den preußisch schwarzweißen Flecken des weidenden Rindviehs auf fettem Wiesengrün. Nasse Gräben umschirmten das plumpe Mauergeviert. An jeder der vier Ecken reckte sich als wuchtiger Wächter ein kurzer, dicker Turm. Auf der Spitze jedes Turmes blähte sich im Frühlingswind die gelbweiße päpstliche Flagge. Kleine Fähnchen in den Farben Roms grüßten aus dem tannengrün der Kranzgewinde der Ehrenpforten zwischen dem Schloß und der Dorfkirche.

»Willkommen, Gesalbter des Herrn!«, stand auf den gelb umränderten, weißen Begrüßungstafeln. Für die Fülle der Andächtigen beim ersten Meßopfer des Priesters Clemens Mettenberg war die Burgkapelle zu klein gewesen. Die Primiz war in der Kirche gefeiert worden. Jetzt wandelte, am Nachmittag nach dem Festmahl, der Neomyst einsam, das Brevier in den Händen, durch die kahlen Baumalleen des Parks. Der Märzwind spielte mit seinem langen Rock, sein tonsuriertes Haupt war bloß, auf seinem blassen und angegriffenen Gesicht lag ein Staunen über sich und seine spirituelle Weihe und den Untergang des eigenen sündigen Ichs in dem Charakter indelebilis des Mittlers zwischen Gott und den Menschen.

Die Hirschgeweihe oben im großen Saal des Schlosses, das Donauweibchen an der getäfelten Decke schwammen im Zigarrendampf. Von den Spitzen seiner Damschaukeln flimmerten die Wachskerzen durch die bläuliche Lufttrübung hinunter auf ordensübersäte Fräcke des rheinischen und westfälischen Adels, schwarze Priestertalare der römischen Kirche, bunte Uniformen der großen katholischen Regimenter der preußischen Armee, der Kürassiere von Münster, der Paderborner Husaren. Ein feiner Weihrauchdunst schien aus der Schloßkapelle heraus alle Räume mit seinem süßen Nebel zu durchduften. Im Rahmen der Ahnenbilder an den Wänden sprach die Ecclesia militans von den dünnen, bartlosen Lippen vieler tonsurierter Mettenberge von einst, des Fürstbischofs von Paderborn und des gefürsteten Abts von Malmedy, des Reichsprälaten in der Benediktinertracht des Abts von Ochsenhausen und des Johannitermeisters von Heidenheim und des k. k. Erzhofkaplans und Abtes St. Blasii und des Stolzes des Geschlechts, des in Lebensgröße und ganzer Gestalt gebieterisch vor seinem Thron stehenden Kardinalpriesters und regierenden Kurfürsten von Köln, des Heiligen Reiches Erzkanzler durch Italien und Legatus Natus des Römischen Stuhls.

Jetzt wurde das alte heilige Köln von dem kleinen Koblenz aus durch preußische Bureaukraten regiert. Das Haupt des Hauses, der Majoratsherr Graf Unico von Mettenberg, hatte sich damit abgefunden. Er war ein langer, hagerer, trockener Herr, der sich mehr für seinen Rennstall als für die Kirche interessierte, und den man eher im Unionklub in der Schadowstraße zu Berlin als auf der Königstreppe des Damalushofs im Vatikan traf. Immerhin hielt er auf Überlieferung und hergebrachtes Maß und sagte halblaut, aus seiner nachlässig knarrenden Kehle, zu seinem neben ihm sitzenden südlich dunklen Bruder Lothar, dem Schloßherrn: »Merkwürdige Ansichten, die dein Fräulein Schwägerin da zum besten gibt ...«

Sein Bruder Daniel, der Cumberländer Welfe aus Gmunden, ergänzte: »Wenn Corisande und ich schon die weite Reise hierher machen – um dann bei Tisch, nach einem ersten, heiligen Meßopfer, von einer jungen Dame modernistische Anschauungen zu hören ...«

»Ach geht's!« sprach gutmütig der vierte der Brüder, k. und k. Rittmeister bei den Montecuccolihusaren in einem weltfernen galizischen Nest mit einem Wunderrabbi und voll von Kaftanjuden und ruthenischen Bauern. »So a Madel plauscht viel!«

»Was hat sie denn gesagt, Emmerich?« erkundigte sich der letzte der Brüder, der Königlich Sächsische Hauptmannsuniform trug. Wenn es irgend ging, vermieden es die Mettenberge, gerade unmittelbar in der preußischen Armee zu dienen.

»Unreifes, modernes Zeug! Wer spricht denn gerade heute bei einer solchen Gelegenheit mitten bei Tisch von Arbeitern?« Der Majoratsherr zuckte mißbilligend die Schultern. Daniel, der Welfe, fügte hinzu: »Sie behauptet, Arbeiter könnten nicht religiös sein! Sie hätten zu wenig vom Diesseits, um an das Jenseits zu glauben!«

»Und das vor den Ohren der Dienerschaft!« versetzte der bleiche junge hausgeistliche Doktor Graf Hülstrop, ein Vetter der Brüder. Ein Herzleiden hatte ihn gezwungen, seine zukunftsreiche Laufbahn bei der heiligen Congregatio de propaganda fide in Rom aufzugeben und auf dem Ruheposten hier im Schlosse ganz seiner Gesundheit zu leben. »Onkel Gerhard war auch ganz entsetzt. Man sah es ihm an!«

Der Bischof Freiherr von Dünwege hatte dem Jüngsten der Brüder, dem Primizianten, der einsam unten im Park auf und ab ging und sein Brevier betete, am heiligen Sonnabend vor Judika die Hand aufs Haupt gelegt und ihn mit dem feierlichen: »Accipe spiritum sanctum!« ordiniert. Jetzt hatte er sich nach der Tafel zu einer kurzen Ruhe in seine Gemächer zurückgezogen, ehe er abreiste.

»Als Gegenstück wußte Fräulein Ottonie Buschbeck dann noch zu melden, daß auch die protestantische Kirche verknöchert sei und dem Geistesleben der Arbeiter noch viel weniger nahekomme ...«

»Total verbiestert!«

»... zu behaupten, selbst das Gute, was wir heutzutage täten, wäre sündhaft, weil es zu viel mit dem Kopf und zu wenig mit dem Herzen geschähe ...«

»Jetzt laßt's doch die fade Nocken!«

»Es sind Zeichen der Zeit!«

»I bitt dich, Ignaz! ... Was so 'ne Urschel ...«

»Sie redet nur, was sie überall hört! Sie kommt doch mitten aus dem Kohlengebiet! Kaum eine Stunde Eisenbahn von hier!«

»Ist deine Schwägerin immer so, Lothar?« Graf Daniel schnippte seine Zigarrenasche in die Schale.

»Heut war sie noch verhältnismäßig zahm!«

»Das is ja eine grausliche Verwandtschaft!« meinte der k. und k. Rittmeister.

»Nimm mir's nicht übel, Lothar! Aber ob es richtig war, eine Dame von so vorgeschrittener Weltanschauung uns gerade heute ...«

»Ich kann das Tinettche nicht hindern, sich ihre einzige Schwester einzuladen«, versetzte Graf Mettenberg kurz. Und in der Tat, das war dem ganzen schwarzen Adel im Kreise bekannt: Dies funkelnagelneue Ahnenschoß war vom Keller bis zum Hahn auf dem Turmknopf von den Schätzen gebaut, die in finsterer Nacht dunkle Massen von Namenlosen dem alten August Buschbeck in Lütthahn aus tiefen Schächten schürften.

»Wie alt ist denn das Fräulein Buschbeck?«

»Nächstens fünfundzwanzig!«

»Da wäre es doch überhaupt schon höchste Eisenbahn ...«

»Zum Heiraten? Die Ottonie kriegt nicht so leicht einen Mann!«

»Trotz der klobigen Mitgift?«

»Die Erbprinzen aus ihren Kreisen haben alle Manschetten vor ihr! Die kennen sie und ihre dicke Freundschaft mit allen möglichen Bassermannschen Gestalten des Kohlenbeckens zu genau. Andere stoßen sich an dem gewalttätigen Charakter meines Schwiegervaters. Der Alte wäre ja auch heilfroh, wenn er die Tochter glücklich unter der Haube hätte!«

»Und sie mag nicht?«

»Sie möchte schon ...«

»Aber?«

»Es soll jemand Bestimmtes sein ... das wissen wir ...«

»Na also ...«

»Aber der Esel selber merkt es nicht in den geschlagenen drei Jahren, seit er regelmäßig in Geschäften nach Lütthahn kommt!«

»Anständiger Mensch?«

»Ja. Durchaus. Natürlich nichts Berühmtes. Aus ganz guter Familie. Groß. Blond. Ein Auslanddeutscher. Von Haus aus kein Geld. Aber geschäftlich tipptopp! Mein Schwiegervater weimert immer: ›Der gute Mensch hat immer die Hände in den Taschen. Aber nicht in seinen, sondern in meinen!‹ ... Das ist bei ihm eine hohe Anerkennung!«

»Also los'«

»Ja, der Betreffende könnte im Handumdrehen sein Glück machen und sieht es nicht! So steht die Geschichte seit Jahr und Tag.«

»Aber ewig kann doch der Karren nicht so im Dreck steckenbleiben!«

»Deine Schwägerin kompromittiert euch ja! Gott weiß, was sie noch einmal anstellt!«

»Mir scheint auch, wir werden dem Betreffenden einmal den Star stechen müssen«, sagte Lothar Mettenberg nachdenklich. »Einen Lärm machen sie da drüben ... Man versteht sein eigenes Wort nicht!«

In dem als Trinkstübchen ausgebauten Erker kneipten der preußische Landtagsabgeordnete Freiherr Maria Josef von Nievenich, der Besitzer des Weinguts Kloster Himmelspforte, und sein dicker Freund, der Domherr von Nippers. Neben dem hochwürdigen Sozialpolitiker saß der Schwiegersohn des hitzköpfigen, graubuschigen Weingutbarons, der päpstliche Kämmerer Freiherr Hugo Gratiadei von Steenkerk, und gegenüber der Freiherr Jobst Adolf von Högscheidt, der eine Tochter des deutschen Sekthauses Schurich zur Frau hatte, die nach der Hauptmarke der Firma »Schurich süß« genannt wurde. Das vierblätterige Kleeblatt war ein Bild vom Rhein, in dem die Kirchenglocken ihr: vinum bonum – vinum bonum über die Winzerberge hinläuteten. Wein und Weihrauch, Kutte und Kelter, Rom und Reben klangen da ineinander wie die Gläser im Erker.

»Mir fällt die gute Ottonie ja auch auf die Nerven!« sagte Graf Mettenberg, der Hausherr, mit einer Unruhe auf den warm gelblich getönten, wallonisch fremdartigen Zügen mit dunklem Schnurrbart, schwermütigen, schwarzen Augen und der Glatze eines Lebemanns, der er, der fromme Knecht der Kirche, nie gewesen.

»Wie lange bleibt sie denn bei euch?«

»Sie reist heute noch! Sie packt wahrscheinlich schon ihre Sachen, wenn sie nicht noch bei den Damen oben sitzt.«

Im Antoniussaal im ersten Stock waren die Gräfinnen und Baroninnen unter sich. Sie bildeten auf den Louis-Quinze-Stühlen eine große Runde und bewunderten den aus seinem Bettchen herbeigebrachten Stammhalter des Hauses. Der kleine, zweijährige Eugen Eusebius wanderte verschlafen von Schoß zu Schoß. Er hatte die dunklen katholischen Augen des Vaters. Das Gesichtchen war ernst – fast feierlich, wie bei einem winzigen künftigen Heiligen. Auch das junge, hübsche, rotwangige Kindermädchen war nicht ganz von dieser Welt, sondern vom dritten Orden. Das Tinettche Mettenberg gab ihrem Sprößling einen kräftigen Schmatz.

»So! Allons! Marsch ab mit deinem Nönnche!«

Sie setzte sich mit ein paar anderen lustigen Rheinländerinnen zusammen, der Lolott Steenkerk und der Scholastika Högscherdt, der geborenen Schurich in Firma »Schurich süß«. Sie rauchten. Aber wenigstens nur Zigaretten. Darüber pflegte der Hauskaplan Graf Hülstrop, der jeden Augenblick in den Saal treten konnte, hinwegzusehen. Die Gräfin Jadwiga Mettenberg jedoch, die Gattin des galizischen Rittmeisters, paffte nach Art des österreichischen hohen Adels eine dicke schwarze Zigarre ihres Mannes, hatte ein Bein über das andere geschlagen und erzählte in ihrem sarmatischen Deutsch von ihren vielen Kindern. Der älteste, der Ignatius Loyola, war schon bei den Jesuiten in der Stella matutina in Feldkirch.

»Soll er Priester werden?«

Jawohl: der Ehrgeiz der Eltern sah ihn schon im feuerroten Gewand des Collegium-Germanico-Hungaricum in Rom. Die Schwägerin Corisande, die Gemahlin des Gmundener Welfen, aus dem nahen südniederländischen, streng katholischen Hause der von Hettema, berichtete von ihren beiden kleinen Töchtern, dem Georginchen und der Alix Wellingtonia. Die Mädchen genossen Privatunterricht beim Pater Augustin, dem Professor am Lyzeum. Später kamen sie ins Pensionat zu den englischen Fräulein. Die Gräfin Berta, die Frau des Majoratsherrn, entstammte dem altmärkischen Geschlecht der Triglitz. Sie war in ihrer Ehe protestantisch geblieben. Die Kinder freilich alle katholisch.

»Die Gisela ist achtzehn!« sagte sie. »Nächsten Winter führ ich sie aus!«

»In Berlin?«

Große Augen. Leise Schauer. Berlin. Berlin war eine Stadt der Freimaurer, der Juden, der Umstürzler. Berlin war hier weltenfern.

»Nein! Bei den Verwandten in Breslau!«

Ein Erbgraf von den Leibkürassieren ... Diese Zukunftsmöglichkeit beruhigte die durch Berlin verängstigten Damen. Die Gräfin Luise, die Frau des Dresdener Hauptmanns, hatte ihre zwei Jungen im sächsischen Kadettenkorps, Die Schwägerinnen schwatzten eifrig. Die Lolott und das Tinettche kicherten miteinander. Die Gräfin Jadwiga tat plötzlich schuldbewußt die dicke Zigarre aus dem Mund und in den Aschenbecher. Der Pater Cölestin war eingetreten. Er saß abseits im Gespräch mit Ottonie Buschbeck, der Schwester der Hausfrau.

Pater Cölestin war ein Luxemburger von den Rekollekten des noch nicht geeinigten strengeren Franziskanerordens. Er war hoch von Wuchs. Ein eisgrauer Bart wallte ihm über die strickgegürtete Kutte. Das gefurchte Antlitz zwinkerte in tausend braungebrannten Fältchen um die gutmütig schlauen. Augen. Er hatte etwas Menschliches, gleich einem alten Förster. Einem Waldbruder. Ottonie Buschbeck saß dem Mönch gegenüber, die schlanke, hohe Gestalt straff aufgerichtet, die Hände im Schoß verschlungen, das glänzend schwarze Haar klösterlich gescheitelt. Auch die dichten Augenbrauen und die langen Wimpern waren von stärkstem Schwarz, Unter ihrem Bogen leuchteten die dunkelblauen, tiefliegenden Augen in einem schweigenden, verhaltenen Glanz. Die gleiche Verschlossenheit beherrschte ihre herben, aber in ihrer jugendlichen Regelmäßigkeit ansprechenden Züge, obwohl sie eindringlich auf den väterlich lächelnden Religiösen einsprach.

»Sie haben doch den größten Teil Ihres Lebens in Ihrer Missionstätigteit im Orient zugebracht, Hochwürden? Ist es nicht seltsam, daß wir dort mit Mühe und Not fremde Seelen fischen, und hier, in unserem eigenen deutschen Land, leben Millionen von Seelen, um die sich keiner kümmert!«

Der Pater Cölestin sprach Deutsch ebenso fließend wie Französisch und Arabisch. Er sagte ruhig: »Sie tun unserer Kirche unrecht, Fräulein Buschbeck! Wir sind auch hier die Fischer Petri!«

»Gut! Die Kirche! Das geb ich allenfalls zu! Aber sonst! Sehen Sie einmal meinen Vater an! Seine Geschäftsfreunde! Er sieht Fäuste, viele Tausende von Fäusten, und zahlt sie! Die Köpfe und die Herzen, die zu den Fäusten gehören, sieht er nicht. Wahrscheinlich wären ihm die Fäuste allein lieber. Die Maschine ist sein Ideal! Die streikt nicht und hat keine unsterbliche Seele!«

»Ihr müßt bei der Ottonie wirklich mal was dagegen tun!« sprach drüben halblaut die Lolott zu dem Tinettche.

»Aber Papa sieht die Leute wenigstens noch. Er spricht mit ihnen. Er lebt unter ihnen. Er sorgt sogar in seiner Art für sie, damit sie ihm Geld verdienen können. Aber die Aktionäre, denen er das Geld abliefert, haben meist niemals ein Bergwerk mit Augen gesehen. Sie kaufen sich einfach irgendwo an der Börse die Anweisung auf die Arbeitskraft von soundso viel Menschen, die ihnen niemals in ihrem Leben begegnen. Dies Unpersönliche, Seelenlose ist das Unheimlichste von allem!«

»Es ist das neunzehnte Jahrhundert, Fräulein Buschbeck!« sagte der Mönch.

»Das quält mich manchmal an einsamen Abenden so, daß ich aufspring und aus unserem Hause oben hinunterlauf auf die Straße unten, bloß um die Leute zu sehen, die für mich arbeiten – ich weiß nicht warum ...«

»Habt ihr denn schon mal wegen der Ottonie den Doktor gefragt, Tinettchen?«

»Warum bringt man denn da nicht Licht in die Nacht, Hochwürden, statt daß wir all unser Sinnen und Trachten dareinsetzen, nur immer noch mehr Nickelstahl zu erzeugen? Aber wir Frauen haben ja nichts zu sagen. Wollen auch gar nicht. Wir sind wie die Spatzen!«

»Ottonie!« rief die kleine gräfliche Schwester weinerlich.

»Wenn wir glücklich in ein Regiment hineingeheiratet oder die Krone auf der Visitenkarte erobert haben, dann sind wir ja zufrieden. Dann drehen wir unserer Welt den Rücken. Unsere Brüder auch. Die tragen ja auch meist buntes Tuch oder tun so, als ob sie Jura studierten.«

»Tinett... Jetzt mach aber mal Schluß bei der Ottonie!«

»Was soll ich denn tun. Lolottche? Ich kannn ihr doch die Gosch nicht zupappen!«

»Aber diese Welt bleibt, Hochwürden! Die wächst, die steigt wie eine schwarze Flut!«

»Wie eine rote ...«

»Diese Millionen von Menschen sind uns schon so fremd! Sie haben so wenig teil mehr an uns. Sie bilden so völlig ein unterirdisches Reich für sich. Warum steigt man nicht in das hinab, statt daß wir uns mit tausend fernen Dingen beschäftigen?«

»Fragen Sie die moderne Gesellschaft!«

»Warum klärt man nicht auf? Hilft? Tröstet? Belehrt? Statt immer nur zu verbieten, was sich nicht verbieten läßt?«

»Fragen Sie Berlin, Fräulein Buschbeck!«

»Wenn ich zu Papa so spreche, dann explodiert er! Mein Bruder Max lacht mich aus! Das Tinettchen drüben heult schon beinahe, daß ich in ihrenm schönen Salon so unpassende Sachen sag! Die Damen machen verlegene Gesichter. Man ist immer ganz allein. Man kann sich niemand verständlich machen. Da sitzt man nur und weiß nicht recht, wozu man auf der Welt ist!«

»Ich muß doch nächstens zu Papa hinüberfahre.!« versetzte drüben die kleine Gräfin zu ihrer Freundin, der Baronin Steenkerk. »Ich muß mit ihm reden! Die Ottonie wird ja auf die Art noch der reine Geck! Sie muß jetzt mal endlich heiraten ...«

»Du! Dasselbe wollt ich eben sagen!«

»Wenn sie erst ihr eigenes Haus hat, wird sie schon ruhiger!«

»Sucht ihr nur einen!«

»'s ist ja schon einer da! Der ist blind. Der gilt bei allen für so mordsgescheit und sieht das Nächste vor seiner eigenen Nase nicht!«

»Die Männer haben auch nicht alle 's Pulver erfunden!«

Die jungen Frauen lachten. Die Gräfin Tinettchen hatte sich schon völlig in diese weihrauchduftende, ahnendunkle Welt eingelebt. Sie meinte unbefangen: »Lieber wär es mir ja, die Ottonie machte eine bessere Partie. Aber sie paßt doch nun mal in unsere Kreise wie die Faust aufs Auge! Das wirst du mir zugeben, Lolott!«

Die lustige junge Baronin Steenkerk, die väterlicher- und mütterlicherseits von malteserfähigem Adel stammte, bejahte mit unterdrücktem Lächeln.

Die Treppen herauf kam das Rascheln von Priesterröcken, das Klirren von Husarensporen, das Knarren von Lackstiefeln. Die Herren hatten ausgeraucht und gesellten sich zu den Damen. Der Schloßgeistliche Graf Hülstrop setzte sich zu dem Franziskanerpater. Beide unterhielten sich in weichem, leisem Italienisch. Die Baronin Nievenich mit der Gräfin Corisande, der geborenen Holländerin, auf französisch. Die anderen deutsch. Die Fasanenjagd war nun leider zu Ende. Fabelhafte Jährlinge im Mettenbergschen Gestüt des Majoratsherrn. Hut ab vor den Fohlen! ... Fuder 59, bestes Fuder, bei der Versteigerung des bischöflichen Konvikts in Trier ... Nein ... nein ... Er ist noch in Rom ... Bitte ... Bitte ... Liebste ... werben Sie für unseren Paramentenverein! Unsere Altardeckchen sind süß! ... Alles nach uralten Klostermustern...«

»Ich bitte: Nein!« sagte der Rittmeister von den k. k. Montecuccolihusaren. »Das war sein Bruder, der Fredi, der in Wien im Jänner die halbe Million Kronen im Jockeiklub verspielt hat!« Und auf der Schwelle, vor dem Eintritt zu den Damen, erzählte der lebensfrohe alte Herr von Nievenich noch rasch halblaut den letzten seiner Krätzerchen, seiner saftigen Kölner Witze, und mitten zwischen schwarzem Adel und blauem Blut saß Ottonie Buschbeck mit einem gesellschaftlich höflichen, ganz leeren Gesicht und verschleierten Augen, so als habe sie einen Vorhang über ihre Seele herabgelassen, und schwieg.

Plötzlich erhob sich alles gleichzeitig. Verstummte in Ehrfurcht. Zwei Diener rissen die Gobelinvorhänge der Tür zur Seite. Feierlich leuchtete in deren Rahmen das Violett des bischöflichen Talars. Der Freiherr Gerhard von Dünwege verabschiedete sich von den Gastgebern und Gästen. Silberne, wie bei einem kleinen Kind zartgekrauste Haarflöckchen umkränzten Seiner bischöflichen Gnaden den strengen, auf breiten Schultern und starkem Leibe sitzenden Rundkopf, in dessen bebrilltem, menschenkundigem Gelehrtenantlitz der willenstarke Mund mit den selbst im Schweigen beredten Lippen ausdrucksvoll über dem kräftig gewölbten Kinn hervorsprang. Hier, im Kreise der rheinischen, ritterbürtigen Verwandten, lächelten diese Lippen freundlich, hier war Onkel Gerhard Mensch unter Menschen, ein milder, väterlicher Weltmann voll natürlicher Würde und doch um ihn herum ein heimlicher leerer Raum heiliger Scheu. Alle die hochfrisierten Köpfe und alle die Glatzen und die weltlichen Grauschädel, die Schnurrbarte und die rosigen Lippen beugten sich abschiednehmend ehrfurchtsvoll zum Handkuß über den Ring an seiner Rechten. Dann stieg der Bischof vor der sich bis zum Boden verneigenden Dienerschaft die Treppe hinab und mit seinem Hofkaplan in den Wagen. Die Dame des Hauses hatte ihn bis zum Schloßeingang, ihr Mann entblößten Hauptes bis zum Kutschenschlag geleitet, um dort ihm gegenüber Platz zu nehmen. Der Rentamtmann hielt davor mit einem Trupp Knechte und Bauernburschen hoch zu Pferd, gelbweiße Bänder an der Schulter und in den Mähnen der Gäule. Sie ritten als geübte, in der preußischen Armee gediente Kavalleristen dem Gefährt des hohen Herrn bis zum Bahnhof voraus. Von der Windmühle auf dem kleinen Hügel knallten die Böllerschüsse. Die Glocken läuteten. Am Weg standen die Männer, die Hüte in der Hand, und bekreuzigten sich die Frauen. Auf dem Kindergesicht der kleinen Gräfin Tinette war tiefe Befriedigung, während sie dem Zug nachschaute. Dann krausten Unmutwölkchen ihre Stirn. Sie raffte ihre Schleppe und lief leichtfüßig wie ein Backfisch die Steintreppen hinauf und atemlos und ärgerlich in das Gastzimmer ihrer Schwester.

»'s ist doch eine rechte Crux mit dir eigensinnigem Bock, Ottonie! Meinst du, ich hätt nicht bemerkt, daß du heimlich aus dem Zimmer herausgewitscht bist, wie der gute Onkel Gerhard uns Adieu sagte?«

»Ich halt es für unnötig, Menschen die Hand zu küssen!«

»So? Na, wart nur, wenn du erst mal im Fegfeuer hockst!« Die Jüngere stemmte herausfordernd die Hände in die Seite »In fünfzig Jahren wird mein Kleiner, der Eugen Eusebius, noch für seine sündige alte Tant' Messen lesen lassen müssen und beten: ›Herr, laß es genug sein mit der armen Seele!‹«

»Ich büß meine Sünden auf dieser Welt, Tinettche!«

Ottonie Buschbeck hatte sich bereits umgekleidet und einen einfachen, langen, dunklen Reisemantel angelegt. Jetzt setzte sie sich einen ebenso schlichten Hut auf das schwarze Haar. Ihre Schwester sah das mit offenem Mund.

»Wo willst du denn hin?«

»Wenn ich spring, erreiche ich noch gerade den Zug!«

»Zu Fuß?«

»Die Apostel sind auch zu Fuß gelaufen – wenn ihr schon so fromm seid!«

»Am Bahnhof triffst du den Onkel Gerhard und meinen Mann...«

»Die sehen mich nicht im Gedräng! Ich fahr dritter Klasse!«

Die kleine Dame schüttelte traurig das wohlfrisierte Köpfchen.

»Da hörst du nichts Gutes, Ottonie!«

Ottonie Buschbeck lachte. Mit einem tiefen, warmen, zärtlichen Lachen.

»Weißt du, wie du bist. Tinettchen? Wie ein Osterhäschen! Genau so weiß und mollig und zuckrig und ein Dummchen.«

»Du ... ich hätt mit dir zu reden, Ottonie ...«

Die Ältere schüttelte abwehrend den Kopf und knüpfte sich unruhig die Schleierzipfel hinten über dem Hutrand.

»Ich muß weg ...«, sagte sie zwischen den Zähnen. »Weg ... weg ... Wenn ich nur wüßte, wohin ...«

Plötzlich umhalste sie das Tinettchen und küßte sie leidenschaftlich, durstig, brennend, und ihr Gesicht war blaß und ihre tiefen Augen feucht und heiß.

»Ach, Tinettche! Es ist ja viel zu wenig Liebe auf der Welt!«

»Du ... setz dich da mal her ...«

»Viel zu wenig auch für mich! Ach, wir sind ja alle so arm ... so arm ...«

»Darüber wollte ich ja eben mit dir ...«

»Du fährst mir gerade in der Seele herum mit deinen ungeschickten kleinen Fingerchen!« sagte Ottonie Buschbeck und war auf einmal wieder sehr gelassen. »Putz du nur dein eigenes Seelchen hübsch im Beichtstuhl aus! Adieu, Schatz! Schick mir mein Gepäck nach!«

Sie küßte die kleine Gräfin wiederum, diesmal ganz flüchtig, zum Abschied, und ehe jene sich noch von ihrem Erstaunen erholt hatte, sah sie schon die ältere Schwester unten groß und schlank und dunkel, den blassen, leidenschaftlichen Kopf gegen den Märzwind geneigt, mit flatterndem Mantel und gerafftem Rock über den Schlamm der Landstraße auf dem Weg zum Bahnhof dahineilen...

Es war schwarze Nacht, als Ottonie Buschbeck den Zug verließ und auf der Chaussee den Lütthahner Werken zuschritt. Die Hochöfen glühten als Purpurflecken im Finstern. Funkenregen sprühte am Himmel über unsichtbaren Schloten. Fabriken mit vierstöckigen, bläulichhellen Fensterreihen standen wie Geisterschlösser im dunklen Nichts. Glühwürmchen von Handlaternen schaukelten auf den Feldwegen. Ferne Dampfpfeifen forderten mit ihrem weinerlichen Wolfsgeheul die Konkurrenz zum Kampf auf Tod und Leben auch jetzt, nach Feierabend, heraus. Die Schlackenhügel ragten als schwarze, tote Umrisse vor den Sternen. Die Luft war zäh und bitter von Rauch. Ottonie Buschbeck glaubte im Gehen trotz des Schleiers die feinen Kohlenstäubchen auf den Lippen zu spüren, die durch alles hindurch und bis in die Spitzen der Lungenflügel drangen. Sie schaute im Ausschreiten angestrengt vor sich hin, um nicht unversehens im Dunkel mit jemand zusammenzustoßen. Denn diese Nacht lebte. Rings um sich hörte sie in dem beinahe undurchdringlichen Dunkel der Landstraße das Scharren vieler Füße, halblaute, hundertfache Stimmen, das Klirren von Blechgeschirr, Husten. Die Bergleute kamen von der Zeche, gingen zu ihr. Da unten war es gleich, ob oben die Sonne oder der Mond am Himmel stand. Dann tauchte eine Reihe niederer Häuschen auf.

Frauen mit Umschlagetüchern und Körben am Arm standen vor einem Krämerladen. Ottonie trat ein, kaufte ein paar Lebensmittel und hörte, als sie den Laden verließ, hinter sich ein leises: »Düwel noch ens ...«

»Wer is es denn?«

»Die von owe!«

»Su!«

»Hännes'che! Spring flöck hingerhär! Kriegst was!«

Ein kleiner Bube lief und zerrte sie ungestüm am Rock. Sie beugte sich hinab und gab ihm etwas von ihren Sachen. Er dankte nicht, umkrallte es mit der schmutzigen Faust ... starrte sie an ... In einem grenzenlosen Staunen...

In dem winzigen Haus, in das sie trat, lag ein noch jüngerer Mann im Bett. Rote Flecken brannten aus seinen Wangen.

»Ming Frau is noch nit gekumme!« sagte er und hustete.

»Wo ist sie denn?«

»Danze!«

Ottonie Buschbeck legte ihre Gaben hin. Im nächsten Haus saß ein steinaltes Weiblein aus dem Küchenschemel. Vier, fünf Kinder im Hemd kauerten wartend auf den Backsteinfliesen des Bodens.

»Ist Ihre Tochter noch nicht daheim?«

»Hä?«

»Ob Ihre Tochter daheim ist?«

»Ich verstonn Sie nit!«

Endlich erkannte das stocktaube Mütterchen den Gast: »Sie seien's! Enä! Sie is noch nit da!«

Es war für die junge Witwe ein weiter Weg im Dunkel von den Lütthahner Werken bis hierher zu ihren Kindern. Ottonie Buschbeck legte ihr Päcklein auf die Ofenplatte. Die war kalt. Aber ihr war, als schüttete sie Tropfen auf einen heißen Stein.

Am letzten Haus mußte sie lange warten. Gewisper innen hinter dem Schlüsselloch: »Laß mich kucke!«

»Do kütt die Bolizei!«

»Red nit so domm! Mit lange Röck!«

»Soll ich affmache?«

»Eja!«

»Ist der Vater da?«

»Ich künnt nix sagen!«

»Ihr Mann ist doch daheim, Frau Kümpchen! Ich höre doch seine Stimme!«

»Ja ... hä is da drin'...«

Durch den Türspalt klang die Stimme eines Vorlesers, der langsam, mühsam die schwierigen Fremdwörter buchstabierte.

»... Dadurch, daß die kapitalistische Gesellschaft die Pro ... du... ktionsmittel besitzt, besitzt sie auch die Verfügung über die Pro ... duktion, da außer ihr niemand in der Lage ist, zu pro ... duzieren ...«

»Hä hat sing Leseabend, Fräulein Buschbeckl«

Ottonie Buschbeck schaute durch den Türspalt. Zehn, zwölf Männer saßen um die Petroleumlampe, die auf dem Tisch stand, und hörten andächtig, verbissen, resigniert zu.

»Lassen Sie mich doch mal hinein, um zu sehen, Frau Kümpchen!«

»Ne – ne! Nit öm die Welt!«

»Ich bin ganz derselben Meinung wie die drin!«

Die Frau drückte leise die Tür ins Schloß. Es war wie eine sinnbildliche Handlung, die zwei Welten schied.

»Gehe Sie lieber ens no Hus, Fräulein Buschbeck!«

Ottonie Buschbeck stieg durch das Seitenpförtchen des Parks hinauf zu der burgartigen, als wuchtige Warte weithin die Gegend überschauenden Villa des Vaters. In der Vorhalle flog der verscheuchte Diener an ihr vorbei. Drinnen predigte eine weinerlich helle, in der Wut sich zuweilen überschlagende Altmännerstimme.

»Herr Geheimrat haben mir einen stietzköpfigen Esel genannt, gnädiges Fräulein!«

»Gott – Sie kennen ihn ja, Johann!«

»Aber der Herr Geheimrat sollen bei den alten Schimpfworten bleiben! An die neuen gewöhn ich mir nich mehr!«

»Wer ist denn bei ihm?«

»Der junge Herr!«

Ottonie Buschbeck zuckte die Achseln und trat in den Wintergarten. Eine lebensgroße Marmorvenus fror da zwischen zwei mannshohen Palmen, und zu den Füßen der Mediceerin saß Frau Mathilde Buschbeck, ein weißes Spitzenhäubchen auf dem gemütlichen, roten, runden Matronenhaupt, in kostbarer schwarzer Seide und alten Brüsseler Spitzen, alles Dinge, die die Göttin oben nicht hatte, und unterhielt sich mit ihrer Gesellschafterin, dem kleinen, spitzen, kurzsichtig an einer Tapisserie stichelnden Fräulein Schneider. Die Damen mußten beinahe schreien, um das Geplätscher zu übertönen, mit dem das Wasser aus den Mäulern der Tritone und Delphine in das Muschelkalkbecken des Springbrunnens sprudelte. Bibi, der Havaneser, hatte sich hinter den Waden der Venus versteckt und kläffte aus Leibeskräften, bis er die Haustochter erkannte. Die fragte: »Warum sitzt ihr denn heute auf einmal hier, Mama, in dem zugigen Glashaus?«

»Papa ist heute schrecklich, Ottonie! Man hört ihn durchs ganze Haus! Da haben wir uns lieber hierher geflüchtet!«

Aber auch unter den Palmen vernahm man noch die fernen Wutausbrüche. Die alte Dame wiegte bekümmert den freundlichen Kopf. »Der arme Maxi! Ich weiß gar nicht, was Papa gegen ihn hat!«

»Max bummelt und spielt und macht Schulden, Mama«, sagte Ottonie gelassen.

»Ach ... der Goldjunge! Versuche doch, ob du sie auseinanderbringst! Mich hat Papa gleich angebrüllt: ›Was steckst du deinen roten Vollmond durch die Tür!‹«

»Ja ... es ist gemütlich bei uns ...«

»Ach, Ottonie, der Papa meint's ja nicht so schlimm! Er schreit halt den lieben langen Tag, wie die kleinen Kinder schreien. Sie wissen's halt nicht besser ... Liebe Schneider – geben Sie mir doch meine Baldriantropfen.... Mir ist schon ganz blümerant zumut ...«

»Ich werd nach Papa sehen«, sagte Ottonie und ging durch die Halle. In der warnte sie der spitzbärtige Doktor Rödicke, der Privatsekretär: »Schlagende Wetter drinnen in der Grube, gnädiges Fräulein! Fahren Sie jetzt lieber nicht ein!«

»Papa wird mir schon nicht den Kopf abbeißen!«

Ottonie Buschbeck trat bei ihrem Vater ein. Der Kohlenkönig saß grimmig und grauschöpfig, goldbebrillt und mit geblähten Nüstern der kurzen, breiten Nase in einer blauen Wolke von Zigarrenrauch. Asche und Milchtropfen hingen in dem unordentlichen, schütteren Bart. Der riesige Bismarckbleistift wippte wie ein Donnerkeil in der nervösen, mächtigen, behaarten Hand. Max, sein einziger Sohn und Erbe, stand lässig, vornehm gelangweilt, vor ihm. Er erschien Ottonie wie die lebendig gewordene Vollkommenheit eines Modebilds aus einer Fachzeitung für das Herrenschneidergewerbe. Der verkörperte Gott des Nichtstuns. Eine Lichtgestalt, aus den Londoner Klubs zur europäischen Menschheit herabgestiegen.

»Du spielst«, sprach der alle Herr dumpf zu seinem Sohn.

»Kann vorkommen!«

»... und verlierst ...«

»Einer kann nur gewinnen! Das ist der Zweck der Übung, Papa!«

»Wenn ich spielen will, geh ich an die Börse! Das ist ein gesundes Geschäft. Das ist wie in der Kinderstube: Da ziehen die Großen die Kleinen aus ...«

»Ich hab kein Talent zum jungen Mann!«

»Da zeigt sich, wer Grütze im Kopf hat! Bei eurer Quinze und Bac kann jeder Esel gewinnen!«

»Dann bin ich gerade keiner! Denn ich hab feste verloren!«

»Das ist noch dümmer!«

»Papa ... Ich hab eine Engelsgeduld! Aber nun wollen wir doch mal Schluß machen! Ich bin nun mal gründlich angeschossen. Bezahlt muß die Geschichte werden!«

»Und in einem Vierteljahr kommst du wieder! Wenn es nicht der Klub ist, dann ist es deine petite femme, die du in Frankfurt oder Gott weiß wo sitzen hast! Neulich waren es, glaub ich, sogar schon zwei ... oder drei ...«

»Papa ... das sind meine Familienangelegenheiten.«

»Du sollst ja schon, mit deinen Freunden als Paten, Kindtaufe gefeiert haben!«

»Es war ein ganz stilles Fest! Übrigens: für die Ottonie ist das gar nichts!«

»Glaubst du, ich wüßte das nicht«, sagte die Schwester.

Der alte Kohlenmagnat grollte. »Du tust nichts!«

»Nee!«

»Der Mensch soll aber arbeiten!«

»Aberglaube!«

»Dazu ist er auf der Welt!«

»Arbeitsame Rauhbeine haben wir genug! Der Edeltyp des unabhängigen britischen Gentleman fehlt uns. Ich erfülle eine gesellschaftliche Sendung in Deutschland!«

Der alte Herr feixte bitterlich. »Hast du gehört, Ottonie? Der Flaps hat auch noch 'ne Sendung!«

»Papa ...«

»Raus! ... raus! ... Laß dir in des Teufels Namen die hunderttausend Mark morgen von Rödicke geben! Bloß damit ich Ruhe hab!«

»Na also! Wozu vorher der Lärm?« Buschbeck der Jüngere fragte es noch auf der Schwelle, nachsichtig mit dem Schmerz des Mannes von Maß. Als sich die Tür hinter ihm geschlossen, sah der alte Herr auf einmal verfallen und ruhebedürftig aus. Er saß in den Lehnstuhl zurückgesunken, die langen Spinnenfinger ineinander verschränkt, stumm, ununterbrochen Rauch aus den schadhaften gelben Zähnen ausstoßend. Die beiden Buckel auf der mächtigen Stirn traten geisterhaft hervor. Er spuckte hinter der hohlen Hand in den Papierkorb und seufzte. »Wozu hat man Kinder? Das Tinettche schleppt mir einen Grafen heran, dem ich ein Schloß aus der Spielzeugschachtel aufbauen darf. Mein Sohn verjuxt sein Geld am grünen Tisch und bei den kleinen Weibern. Und du, statt daß du wenigstens heiratest und mir einen vernünftigen Schwiegersohn als Stütze ins Haus bringst ...«

»Papa – lassen wir das doch heute!«

»Ich hab mehr als Sechzig auf dem Buckel, Kind! Ich häng auch an meinem Lebenswerk. Ich möcht es nicht gern ganz in fremden Händen zurücklassen! Am wenigsten bei dummen Kerlen! Wozu hat man eigentlich eine Tochter? Rödicke ... Rödicke ... heiraten Sie nicht! Lieber ein Nest voll Raben als 'ne Familie ...«

Der Privatsekretär hielt eine Besuchskarte in der Hand. »Na – wer ist denn gekommen? Der Kaiser von China – scheint mit nach Ihrer Miene ...«

»Herr Nimis. Aus Berlin. Jetzt noch am späten Abend! Er behauptet, er müsse morgen weiter nach Petersburg. Er habe keine Lust, daß das französisch-belgische Syndikat ihm da zuvorkäme! Und darum müsse er Herrn Geheimrat noch heute ...«

August Buschbeck hob seine lange, knochige Gestalt mit einem Ruck aus dem Sessel. Er stand breitbeinig da. Er wiegte sich von einem dünnen Bein auf das andere. Er hielt die Havanna schief zwischen den zitronengelben Zähnen und wiederholte in breiter, brutaler Gemütlichkeit: »Herr Nimis! Der kommt mir wie gerufen! Den werde ich mir kaufen! Mit dem hab ich noch ein Hühnchen zu pflücken ... von neulich ... als er mich übers Ohr hauen wollte! Na warte, mein Sohn! ... nur rein mit ihm, Rödicke!«

Der alte Herr war sofort neubelebt durch die Aussicht auf einen Skandal und Tumult. Bis Leo Nimis eintrat, lief er bösartig summend, allein, mit langen Beinen rund um den Tisch. Er hatte dabei die Hände hinten unter den flatternden Schößen des langen, stets mit Zigarrenasche und Maschinenöl befleckten Rocks verschlungen und kicherte schalkhaft und schadenfroh in sich hinein und fuhr jäh wie ein Tiger gegen die Tür los.

»Aha! Hab ich Sie!«

»Vorläufig nur meinen Rockknopf, Herr Geheimrat!«

»Können Sie noch einem stillen, vertrauensseligen alten Mann wie mir ins Gesicht sehn?«

»Warum denn nicht?« sagte Leo Nimis gelassen und befreite den Knopf an seiner Brust aus dem Krallengriff des Alten.

»Haben Sie mir das letztemal ein Sterbenswörtchen von der Transaktion mit der ›Nowaja Rossija‹ in Petersbürg verraten?«

»Nein! Das Geschäft war zu fett! Das machten wir lieber allein!«

»Ist das schön? Ist das gut?« fragte August Buschbeck, weinerlich vor Wut. »Hab ich das um Sie verdient, Herr Nimis?«

»Reichlich! Ich setze mich mit Ihrer Erlaubnis! Ja? ... Ich habe Ihnen schon ein paar der schönsten Sachen zugeschanzt, Herr Geheimrat, und zum Dank immer nur Grobheiten von Ihnen besehen!«

»Die hört von mir jeder!«

»Aber ich bin nicht der erste beste!«

Leo Nimis sagte das in einer kühlen und kaltblütigen Art. Um ihn war Seeluft. Sicherheit, weite Welt. Der Alte blinzelte ihn feindselig an. »Sagen Sie mal. Sie werden wohl von Ihren Leuten überall hingeschickt?«

»Überall!«

»Auch unter die Wilden?«

»Hierher oder sonstwo hin! Das ist mir gleich!«

»Und Sie machen's?«

Leo Nimis lachte. »Das müssen Sie selbst beurteilen, Herr Geheimrat, ob ich ein Waisenknabe bin!«

»Natürlich sind Sie's!« schrie August Buschbeck, und der Bismarckbleistift tanzte, »Sozusagen noch ein Säugling!«

»Von bald dreißig!«

»Eben! Da könnt ich Ihr Vater sein!«

»Ich möchte dafür danken«, sprach Leo Nimis gelassen.

Der alte Herr schnitt unter dem wirren Graubart eine überraschte Grimasse und äugte ihn von der Seite zweifelnd durch die goldene Brille an.

»Na – na ...«, sagte er gemütlich, die Havanna schräg im Mund, und setzte sich plötzlich auch ganz behaglich nieder.

»Was heißt das, Herr Geheimrat?«

»... wenn Sie das alles da unten mal erben würden ... Oder trauen Sie sich so eine Riesenaufgabe nicht zu?«

»Ich traue mir jede Aufgabe zu«, sagte Leo Nimis, seine Mappe öffnend und die herausgenommenen Aktenstücke ordnend. Der Geheimrat belauerte ihn scharf durch die von ihm stoßweise herausgepafften Zigarrenwolken.

»Na also! Warum springen Sie da nicht in die Höhe bei der Vorstellung, in einem Werk wie Lütthahn Herr zu sein, statt sich zeitlebens für andere abzurackern?«

»Weil es die reine Hypothese ist!« Leo Nimis faltete gleichgültig, mit den Gedanken schon bei dem Geschäft, die Aktenstücke auseinander. »Ich bin hier mit realen Offerten gekommen ...«

August Buschbeck schwieg. Nach einer Weile sagte er trocken: »Sie sind doch nicht so klug, wie ich dachte ... Also bitte, Herr Nimis, was führt Sie her?«

Draußen in der Halle horchte Doktor Rödicke. Er unterschied die Anfälle des alten Herrn, wie der Arzt am Puls des Leidenden, je nachdem man sie durch zwei, drei Türen oder durch das ganze Haus hörte. Aber in der Höhle des Löwen verhielt sich alles geschäftsmäßig ruhig.

Einmal ein Gedonner und dahinter Leo Nimis leidenschaftsloses: »Sie müssen ein bißchen lauter sprechen, Herr Geheimrat! Ich höre bei Ostwind immer etwas schwer!«

Und nach einem neuen Wutausbruch drüben: »Lassen Sie doch diese lärmenden Methoden! Die sind ja veraltet. Vieles hier in Lütthahn. An den Menschen und an den Maschinen ...«

Dann eine unheimliche Stille. Endlich durch die Türe ein matter Ruf: »Doktor Rödicke!«

Der Privatsetretär schlüpfte hinein. August Buschbeck saß drinnen, erschöpft, die gewaltigen Fäuste auf den Knien. Seine kleinen, schlauen, infolge eines nervösen Leidens stets tränenden Augen glänzten feucht hinter den Brillengläsern. Es sah aus, als weinte der alte Mann über die Schlechtigkeit der Welt.

»Rödicke ... sehen Sie mal nach, ob ich noch ein Hemd anhab! Ich bin zu schwächlich, um mich zu wehren! Dieser Herr macht ja keine Geschäfte. Er raubt seine Mitmenschen aus!«

Leo Nimis stand auf und packte seine Papiere zusammen. »Mit Ihnen kann man keine Geschäfte machen, Herr Geheimrat!«

»Rödicke ... haben Sie gehört?«

»Ich war heute zum letztenmal in Lütthahn! Also adieu!«

Der Alte riß die Augen auf.

»Ja, und der Vertrag, mein Sohn?« fragte er ganz sanft, als sei nichts vorgefallen.

»Sie wollen ja nicht!«

»Lassen Sie mir noch ein bißchen Zeit zum Nachdenken, Kind! Ein halbes Stündchen werden Sie doch noch Zeit haben?«

»Schön. Aber länger nicht!«

Draußen entfiel Leo Nimis ein Schriftstück aus der Mappe. Der Privatsekretär, der ihn geleitete, bückte sich dienstbeflissen und hob es auf. Er hatte dabei ein eigentümliches, verständnisinniges und gewinnendes Lächeln auf dem spitzbärtigen, scharfen Juristengesicht.

»Sie brauchten wir hier dauernd im Betrieb, Herr Ninis ... Ihnen pariert der alte Herr!«

»Jetzt, wo ich als Parlamentär aus dem Berliner Lager komme! Aber wenn ich sein Angestellter wäre ...«

»Davon sprach ich auch nicht ...«

»Ich verstand Sie so ...«

»Nein. Sie verstehen mich nicht.« ... Wieder etwas Geheimnisvolles, Aufmunterndes hinter den Zwickergläsern drüben. »Denken Sie einmal darüber nach ... So, bitte ... machen Sie es sich hier bequem, Herr Nimis.«

Leo Nimis schaute betroffen dem Privatsekretär nach. Was wollte dieser Schatten August Buschbecks eigentlich? Und der Alte selber hatte ihn ein paarmal so komisch gemustert, als sei er ein großes Kind. Sonderbare Leute. Irgend etwas schien ihm heute abend verändert hier im Hause. Etwas, das irgendwie ihn betraf. Er setzte sich. Er war allein in dem Prunkgemach. Das zeigte Folianten hinter Butzenscheiben, alte Meister auf pompejanisch roter Seidentapete, gemasertes Edelholz in der Kassettierung der Decke. Aber vor allem zeigte es, wie die meisten Räume dieses Fabrikherrensitzes, die Unbewohntheit, die Leere. Leere Zimmer, leere Herzen, leere Seelen.

Er hatte den Kopf auf die Hand gestützt und schaute düster vor sich hin, in Gedanken verloren, die nichts mit seinem Aufenthalt hier in Lütthahn zu tun hatten. In der Ecke stand eine friesische Uhr und tickte. Er hörte es geistesabwesend. Sah und sann ...

Dann hob er jäh den blonden Kopf und sprang auf.

»Oh ... Fräulein Buschbeck ... Verzeihung ... ich war so in Gedanken ...«

»Ich hab's gesehen.«

Sie gab ihm die Hand und nahm unbefangen Platz.

»Ich wollte Ihnen nur guten Tag sagen und Sie unserseits um Verzeihung bitten ... auch im Auftrag von Mama ... Sie schickt mich eigentlich ... Sie ist doch so gutherzig ... Sie möchten doch nicht böse sein, daß Papa wieder so tobt. Es ist uns so peinlich ...«

»Ach Gott – wenn es kein schlimmeres Unglück auf der Welt gäbe, gnädiges Fräulein!«

»... wenn es noch unten in der Fabrik geschieht ... Aber hier im Hause ... Sie sind doch Gast ...«

»Meinen gehorsamsten Dank an Ihre verehrte Frau Mama, und ich hätte ein dickes Fell.«

»Nun lachen Sie, Herr Nimis ...«

»Die Welt ist entweder zum Lachen oder zum Weinen, Fräulein Buschbeck! Da muß man sich entscheiden!«

»Wenn man das so leicht könnte ...«

»Oder man muß es teilen und das Gejobber tagsüber nicht zu tragisch nehmen und dafür außer Dienst ernst sein!«

»Das tun Sie!«

»Woher wissen Sie das?«

»Wie ich hereinkam, habe ich Sie doch da sitzen sehen! Sie sahen sehr traurig und gedrückt aus!«

»Ich bin's auch.«

»Immer noch?«

Seine lebhaften blauen Augen schauten verwundert auf. Sie saß aufrecht nach ihrer Art, die Hände ruhig im Schoß, schwesterliche Stille auf dem schwarzgescheitelten, blassen, regelmäßigen Gesicht.

»Erinnern Sie sich an das kurze Gespräch, das wir vor drei Jahren auf einem Spaziergang im Park hier hatten? Seitdem haben wir uns öfters gesehen, aber kein ernsthaftes Wort mehr miteinander geredet.«

»Ich weiß schon noch, gnädiges Fräulein! Ich schüttete Ihnen damals meinen Weltschmerz aus. Recht überflüssig für einen Menschen wie mich.«

»Und ich Ihnen meinen! Ich war damals so betroffen, daß das Leben sogar einem Mann Ihrer Art Rätsel aufgeben könnte!«

»Ich glaube, das Leben ist überhaupt ein einziges großes Rälsel ...«

»... und wie Sie eben da saßen ... den Kopf in der Hand ... Sie haben die Lösung auch noch nicht gefunden!«

»Nein.«

»Und haben inzwischen doch soviel Erfolge gehabt ...«

»Das ist alles dummes Zeug.«

»Als ob Sie ohne Arbeit und Vorwärtskommen leben könnten! Da kenn ich Sie, glaub ich, besser als Sie selber!«

»Da haben Sie ganz recht, gnädiges Fräulein! Mit so einem Wort wecken Sie einen wieder auf. Schließlich muß man seine verfluchte Pflicht und Schuldigkeit tun. Dazu ist man da!«

Leo Nimis war in innerer Erregung aufgestanden und durch das Zimmer gegangen. Er sah nicht zwei tiefe, blaue, heiße Augen, die ihm in stummer Leidenschaft folgten, verzehrend an ihm hingen. Ottonie Buschbeck war in dieser Sekunde schön. Eine gläubige Hoffnung verklärte ihr Gesicht. Ein Sonnenschein unerfüllter, verlangender, fünfundzwanzigjährige und doch noch herber Jugend. Dann senkten sich plötzlich die langen, schwarzen Schatten der Wimpern in schirmenden Schleiern vor das Innere ihrer Augen. Er hatte sich umgedreht und versetzte ahnungslos: »Arbeiten! Arbeiten! Das ist das Wahre! Ich bin froh, daß ich jetzt auf ein ganzes Jahr nach Rußland geh!«

Ihr Gesicht hatte sich verändert. Es zeigte die gewohnte, sanftmütige Verschlossenheit, hinter der sich der Eigenwille eines einsamen Menschen barg. Um die Mundwinkel, die eben noch ungläubig gelächelt hatten. flackerte flüchtig, fliehend, einen Augenblick nur, ein Anflug bitterer Enttäuschung. Er bemerkte es nicht. Er stand vor ihr und fuhr fort: »In Rußland hat man noch Ellbogenfreiheit! Da ist man, was man kann!«

»... und da dreht man eben Deutschland den Rücken!« sagte Ottonie Buschdeck. Es klang dumpf. Teilnahmlos. Sie schaute ruhig vor sich hin auf das Knüpfmuster des Teppichs, die Hände zwischen den Knien gefaltet, das glänzend schwarze Haupt gesenkt. Auf der Schwelle erschien Dr. Rödicke und machte Leo Nimis ein Zeichen, ihm zu dem alten Herrn zu folgen. Er lächelte dabei freudig. Die Schlacht war gewonnen. Der Vertrag zur Unterschrift bereit.

Als Leo Nimis seinen Namen unter das Aktenstück gesetzt hatte und vor dem Tor in den Wagen steigen wollte, um zur Bahn zu fahren, tauchte aus dem Dunkel plötzlich Max Buschbeck auf. Der Sohn des Hauses nahm ihn freundschaftlich unter den Arm und schlenderte mit ihm die Terrasse entlang.

»Haben Sie noch Zeit? Ein paar Minuten gewiß! Ich bin ja nicht wie Papa, der gleich den Rock auszieht und in Hemdsärmeln boxt. Ich möchte mal im Vertrauen mit Ihnen reden: Es wird mir zuviel, was hier auf mir lastet...«

»Auf Ihnen, Herr Buschbeck?«

»Na ja.«

Leo Nimis war sprachlos. Buschbeck der Junge seufzte: »Papa macht mir rechte Sorgen! Er arbeitet zuviel!«

Der junge Mann schüttelte mißbilligend den vom Jeu etwas blassen, vornehmen, wie aus dem Schnittmuster eines Londoner Schneidertönigs entlehnten Kopf. »Ich predige ihm immer Ruhe! Aber er ist ja von einem Eigensinn ... Lachen Sie über mich, Herr Nimis?«

Leo Nimis faßte sich.

»I wo! Es ist nur der Gedanke: Ihr Herr Vater und Ruhe!«

»Ja, und trotzdem: Ich brauche Entlastung!«

»Sie?«

»Na ja! Der Überbürdung sind meine Nerven auf die Dauer nicht gewachsen!«

»Ich wußte gar nicht, daß Sie sich überhaupt mit Geschäften ...«

»Jetzt wimmele ich sie mir noch krampfhaft ab. Aber wenn mein Erzeuger eines schönen Morgens zusammenklappt – nur noch Frage der Zeit, Unkenruf des Hausarztes – dann muß ich rin in diese Tretmühle! Gräßlicher Gedanke!«

»Arbeit ist nicht schlimm!«

»Das sagen Sie! Ich hab keine Zeit zur Arbeit! Ich hab zu viel zu tun! Mein Schwager Mettenberg ist mir dann auch keine Stütze. Der ist nicht von dieser Welt! Wenn ich im Klub bin, steckt er im Kloster! Rutsch ich nach England, so reist er sicher nach Rom. Das sind furchtbare Zukunftsaussichten, Herr Nimis!«

»Ja ... furchtbar ...«

»Sie müssen da helfen! Es muß da ein vernünftiger Mensch bei. Er braucht ja nicht höherer Kuli zu sein. Er kann ja sozusagen als zur Familie gehörig betrachtet werden! Lassen Sie sich das doch mal durch den Kopf gehen.«

Leo Nimis blickte auf. Jetzt allmählich ging ihm selber allerhand durch den Kopf. Unbestimmte Wolkenzüge von Gedanken ... dämmernde Erkenntnis ...

»Sie kennen ja Gott und die Welt, Herr Nimis! Sie kommen ja überall herum. Vielleicht finden Sie irgendwo den geeigneten Mann! Dann dringen Sie ihn doch bitte auf die richtige Fährte. Es brennt ja nicht. Vorläufig ist ja der alte Herr noch recht rüstig. Aber ich habe die Pflicht, für die Familie zu sorgen, und ich bin ein Mensch, der es mit seinen Pflichten nicht leicht nimmt.«

»Das seh ich.«

»Manchmal ist ja so was näher, als man denkt. Na – vielleicht kommt der große Unbekannte plötzlich um die Ecke. Also gute Reise, Herr Nimis!« –

Die Fahrt nach Köln war kurz. Als Leo Nimis dort am andern Morgen auf den Platz vor dem Hauptbahnhof trat, quoll gerade gegenüber ein Strom Gläubiger durch den Ledervorhang des Domportals ins Freie. Ein südlich brünetter Herr schritt zwischen dem Volk die Treppenstufen hinab und lüftete mit verbindlichem Lächeln unter dem schwarzen Schnurrbart den Hut, den er eben erst auf die Glatze gesetzt hatte. Der Graf Lothar Mettenberg auf Schloß Abdinghof schien viel angenehmer von der zufälligen Begegnung berührt, als ihn Leo Nimls von früher her in der Erinnerung hatte.

»So trifft man sich, Herr Nimis. Neulich in Berlin bei dem guten Spängler und heute wieder hier. Auf längere Zeit in Köln?«

»Nur noch eine halbe Stunde, dann geht mein Schnellzug nach Frankfurt.«

»Und was haben Sie jetzt vor?«

»Ich will nach dem Hauptpostamt, ein paar Geschäftsdepeschen aufgeben«

»Sehr gut. Da haben wir eine Ecke den gleichen Weg. Ich habe eben im Muttergotteschörchen die heilige Messe gehört und muß jetzt in die Gereonstraße.«

Es war dem wallonischen Grafen unfaßbar, daß jemand nicht wußte, was einen frommen Sohn der Kirche wie ihn in die Gereonstraße führe.

»Ich habe dort im erzbischöflichen Palais zu tun«, erklärte er dem Protestanten. »Kommen Sie, wir gehen da näher am Andreaskloster vorbei ... Apropos: wann besuchen Sie denn wieder einmal meinen Schmiegervater?«

»Ich komme eben von Herrn Geheimrat Buschbeck.«

»Süperb! Was treibt er?«

»... sich und andere zur Verzweiflung«, sagte Leo Nimis und lachte. »Ein Donnerwetter mal ist ja ganz gut! Aber wenn das Wüten zur Geschäftsusance wird ...«

»Ach, leider! Jeder klagt darüber.«

»... so stumpft es sich ab. Er hat's ja auch gar nicht nötig, um sich in Respekt zu setzen. Einen Industriekapitän wie ihn kann man anderswo mit der Laterne suchen.«

»Nur eben allmählich zu alt, Herr Nimis.«

»Das ist's. Weniger alt – er ist ja kaum sechzig – als erschöpft.«

Der Graf hatte einen vorübergehenden Domgeistlichen freundlich begrüßt und ihm zugerufen: »Ich komm nachher zu dir hinüber!« Nun versetzte er, während sie in die Dominikanergasse einbogen, mit einem plötzlichen Entschluß: »Da gäbe es doch ein Mittel, einen – einen Koadjutor! Eine Stütze! Seine Erfahrung und eine jüngere Kraft daneben! Sie, Herr Nimisl«

»Herr Graf ...«

»Ja. Sie!«

»Abgesehen von allem anderen: Der Herr Geheimrat hat mir niemals die leiseste Andeutung gemacht, daß ich in seine Dienste ...«

»Sie sprechen das Wort ›Dienste‹ schon etwas zögernd aus, Herr Nimis, weil Sie sich selbst sagen, daß das nicht der rechte Ausdruck für dies Verhältnis sein würde ... oder wenigstens derlei ahnen.«

»Man stellt mich seit gestern vor allerhand unbestimmte Andeutungen, Herr Graf.«

»Ja, herausschreien kann man ja solche subtile Dinge auch nicht ... Kommen Sie, wir müssen mal einen Moment vernünftig darüber reden.«

Sie waren schon an der Hauptpost vorbei und wandelten nebeneinander im Gespräch um den Maria-Ablaß-Platz herum. Der Graf hatte, wie um eindringlicher sprechen zu können, seinen Arm vertraulich in den des jungen Kaufmanns gelegt.

»Ich hab gestern spät nachts, als unsere Gäste weg waren, noch lange mit meiner Frau darüber geredet. Sie meint auch ... solche Verhältnisse müssen einmal geklärt werden ... Offenheit ist da schließlich das beste. Unter dem Siegel der Verichwiegenheit.«

»Selbstverständlich. Herr Graf!«

» Sotta voce, sozusagen! Als Ehrenmann zum Ehrenmann! ... Es ist ja eine heikle Sache. Aber ich muß meiner Frau darin beistimmen. Wenn schon, dann bin ich eigentlich der Nächste dazu. Ich bin der nächste Verwandte des Hauses und doch kein eigentliches Mitglied der Familie ... Sie haben doch noch Zeit?«

»Noch zehn Minuten.«

»Bleiben Sie jetzt in Deutschland?«

»Ich gehe sehr bald auf längere Zeit nach Petersburg.«

»Hm. Na – das liegt ja schließlich auch nicht aus der Welt. Sehen Sie, unter uns, ich rede ja auch im eigenen Interesse. Ich bin finanziell von meinem Schwiegervater abhängig. Stirbt er mal ... ja ... ich versteh von dem Kram nicht die Bohne ... Wenn sich da ein beliebiger Gewaltmensch mit Hilfe der Direktoren und des Verwaltungsrates, oder wie man das nennt, einnistet und mir unter irgendeinem Vorwand die Temporalien sperrt oder überhaupt das Unternehmen verschustert ... gräßlicher Gedanke ... Unsereiner ist ja da ganz wehrlos.«

»Ihre Offenheit ehrt mich, Herr Graf, aber noch sehe ich nicht ...«

»Sie sollen ja ein Kirchenlicht ersten Ranges sein, Herr Nimis. Das hört man von überall. Sie kennt man. Sie sind ein durch und durch anständiger Mensch. Mit Ihnen kommt man aus ...«

»Sehr schmeichelhaft ...«

»Also ...«

»Nun, Herr Graf?«

»Also heraus damit: Gehen Sie einfach zu dem alten Buschbeck und bitten Sie ihn um die Hand seiner Tochter.«

Sie hatten zum drittenmal den Maria-Ablaß-Platz umschritten. Leo Nimis war etwas blaß geworden. Er schwieg. Der andere fuhr fort: »Denken Sie doch mal: Ein Mann wie Sie! Sie werden ja einer der Industriekönige am Rhein! Tausende von Arbeitern! Die Zechen! Die Hütten! Die Fabriken! Und was Sie womöglich noch daraus machen!«

»Und wenn der Herr Geheimrat mir ...«

»Er wundert sich nicht. Er ist auf alles gefaßt. Sie dürfen es mir glauben.«

Wieder blieb Leo Nimis stumm.

»Mein lieber Herr Nimis, unter uns: er wünscht es selbst! Sie sind ihm als Schwiegersohn willkommen.«

In schweren Schlägen dröhnte es umher, dem Feiertag zu Ehren, vom Dom, von der Jesuiten- und der Minoritenkirche, von St. Andreas und St. Vinzenz und St. Gereon und drüben von St. Martin und St. Peter und St. Cäcilia und St. Maria lm Kapitol und St. Georg und ferne St. Severin und St. Panteleon und von allen den Glocken und Klöppeln des alten heiligen Kölns.

Leo Nimis versetzte nach einer langen Pause: »Schließlich kommt es da doch in erster Linie nicht auf den Herrn Geheimrat an ...«

»... sondern auf seine Tochter.«

»Ja.«

»Meine Schwägerin Ottonie sagt nicht nein! Ja ... schauen Sie mich nur so an!«

Graf Mettenberg wiederholte: »Die Ottonie sagt nicht nein! Ich weiß es!«

Und zum drittenmal: »Mein lieber Herr Nimis, sie sagt nicht nein!«

Er reichte Leo Nimis die Hand.

»So! Nun wissen Sie, woran Sie sind. Meine Schwägerin hat natürlich keine blasse Ahnung, daß ich Ihnen das sagte, aber ich hielt es, en un mot, für meine Pflicht. Nun schauen Sie, daß Sie noch zu Ihrem Zug zurechtkommen. Alles Weitere steht bei Ihnen!«


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