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Bärtige bewaffnete Weltwanderer standen in der Mittagsglut des August 1916 auf der Königgrätzer Straße in Berlin. Landwehrmänner. Bis obenhin bepackt. An ihren schweren Nagelstiefeln hatte schon der Lehm Flanderns, der Kreidestaub der Champagne, die schwarze Erde Wolhyniens, der Moorboden Kurlands geklebt. Ihre grauen Röcke waren vergilbt und zerschlissen. Ihre Gesichter mahagonibraun. Sie standen, ihrer vier oder fünf, und frugen nach dem Weg vom Anhalter zum Friedrichstraßen-Bahnhof. Es waren nur wenige Mann und doch Millionen. Zahllose zogen unsichtbar hinter ihnen. Sie waren der Krieg selbst auf seinem Gang durch Europa.
Aus einem der vierstöckigen Miethäuser schlüpfte eine junge Frau über die Straße, mit bloßem dunkelm Kopf und in elegantem Hauskleid, so wie sie eilig ihre wohlhabende Wohnung oben im zweiten Stock verlassen. Sie war kaum mittelgroß. Ihr Antlitz war so zart und schmal wie ihre Gestalt. Zwei kleine Mädchen sprangen neben ihr. Sie trugen Packen mit Zigarren und Mundvorrat, stellten sich auf die Fußspitzen und hielten sie den Kriegern empor. Die schauten erstaunt herab. Die Zeiten, da man die Liebesgaben auf offener Straße aufdrängte, waren schon lange vorbei.
»Bitte, nehmen Sie doch!« sagte die junge Frau lächelnd in baltisch betontem Deutsch. Eine leise Röte lief dabei über ihr mädchenhaftes Gesicht. Sie war immer wieder verlegen, obwohl die Nachbarschaft Tag für Tag diese Spenden beobachtete. Ihre tiefblauen, schwärmerischen Augen baten mit. Sie wiederholte:
»Nehmen Sie doch! Sie haben jewiß eine weite Reise vor sich! Sie werden eine Stärkung jebrauchen!«
»Danke, Frau! ... Danke!« Der bärtige Kriegsmann vor ihr nahm die Gabe. »Danke ooch!« »Danke!« In den drei Stimmen klangen drei Mundarten, klang halb Deutschland mit. Die Landwehrleute marschierten weiter, ihren einsamen Weg durch die bunten Wellen des kriegsfremden, kriegsverwöhnten, kriegsvergessenen, kriegsgewinnenden Berlin von 1916. Die junge Frau nickte ihnen noch einmal herzlich nach, nahm die Mädchen an der Hand und stieg die Treppen des vornehmen Miethauses bis zum zweiten Absatz empor, neben dessen Türe auf dem Messingschild »Baron Alexander Metztak« stand.
Während sie sich vor dem Spiegel im Flur mit der Hand die dunkelbraunen Haare glattstrich, die der Sommerwind auf der Straße zerzaust hatte, hörte sie von nebenan, aus dem Zimmer ihres Mannes, dasselbe Stimmengewirr im Klang der Ostseeprovinzen, wie sie es vor fünf Minuten verlassen.
Als sie wieder zu den Nachmittagsgästen ihres Hauses eintrat, standen einige der jetzt oder schon vor Jahren aus Rußland geflüchteten Balten am Fenster. Baron Erik Stier schaute ernst hinter den feldgrauen Namenlosen her, die so schwerbeladen sich durch das sorglose Berlin schleppten, als trügen sie die ganze Last Deutschlands auf ihren starken und geduldigen Schultern. Er war ein großer, mächtiger Kurländer in den Fünfzigern, mit graugesträubtem Haar, rotem Gesicht und schlauen Augen, deren Gutmütigkeit seiner grimmig dröhnenden Stimme widersprach:
»Die Leute jehen nach der Friedrichstraße!« sagte er. »Jewiß! Aber setzt man sie dort in einen Zug nach Osten? Nein doch! Man befiehlt ihnen: Marsch hinunter nach dem Balkan!«
»Was willst du? Alles jeht jetzt nach Rumänien!«
»Und der Osten? Wir? Hat man Rußland verjessen?«
»Schreien Sie doch nicht so, lieber Stier!«
»Nein. Er soll nur reden!« Elise Metztak hob heißblütig den sanften Kopf und faltete beschwörend die Hände. »Die Steine sollen reden, wenn es die Menschen nicht tun ... Wenn es uns selber nicht hinreißt, von wem sollen wir denn dann Bejeisterung für unsere gute Sache verlangen?«
»Elise, du schwärmst schon wieder!«
»Ja, ich schwärme, Alexander! Gott sei Dank schwärme ich! Tut ihr es nur auch! Denkt nicht an uns, sondern an unsere Stammesjenossen in der Ferne!«
»Elise hat janz recht!« sagte Baron Alexander Metztak. »Wir sind nicht nach Deutschland jejangen, um die Heimat zu verjessen, sondern um der Heimat Befreiung vom Zaren zu bringen!«
Er hatte einen für einen Balten auffallend dunklen, durchgeistigten, von einem Christusbart umrahmten Kopf, in dem die Augen leidenschaftlich in tiefen Höhlen brannten. Als er sie jetzt auf seine Frau wandte, gewannen sie einen weicheren Glanz. Er und sie verständigten sich durch ein Lächeln, daß sie eins waren. Baron Stier erhob, durch sie ermutigt, wieder seine starke Stimme.
»Hat man Rußland verjessen? Den Zaren? Unsern jrimmigsten Feind? Warum jeschieht im Osten nichts mehr? Vorijes Jahr jagten wir den Tamerlan und seine Horden, daß sich die Jroßfürsten noch im Laufen bekreuzten! Dieses Jahr jibt man dem Bären unbejreiflicherweise Zeit, seine Wunden jesundzulecken! Wir kennen ihn! Er hat eine asiatische Heilhaut! Er wird wieder auf die Beine kommen und uns nächstes Jahr auf den Hals!«
»Wenn ich ein Mann wäre!« rief Elise Metztak von ihrem Schreibtisch im Nebenzimmer her, wo sie in Eile einige dringliche Schriftsachen des vaterländischen Dienstes ordnete. »Ich schrie' es jedem Menschen in Deutschland ins Ohr: Kommt und helft euern Brüdern im Baltikum!«
Ihre zarte Gestalt war fast überschlank von der ständigen Anstrengung der Wohltätigkeitsarbeiten, ihr schmales Antlitz abgemagert, daß die Augen darin noch größer und gläubiger erschienen, als sie waren. Aber es lag eine frohe Zuversicht der Nerven in der Art. wie sie geschäftsmäßig und geübt die Aufschriften der Briefe schrieb, sie schloß, die Marken aufklebte und dabei auf das Gespräch nebenan hörte. Dort fuhr Baron Stier grollend fort:
»Bei Jakobsstadt jreift der Moskowiter schon wieder an! Er kriegt schon wieder seinen Jrößenwahn!«
»Erzähle das Treutlingen! Er ist Livländer! Den jeht es an! Und uns Esthländer! Du bist Kurländer, Stier! Dein Jottesländchen sieht schon unter deutschem Schutz!«
»Dafür habe ich meinen Jungen an der deutschen Front im Osten!«
»Wie jeht es Engelbert?« frug Elise Metztak. Sie kam wieder in das Zimmer, diesmal beschäftigt, ein Feldpostpäckchen zu versiegeln. »Hat er geschrieben?«
»Er kämpft!« schrie sein Vater. »Er hat sich ausgezeichnet! Ich bin stolz auf diesen Sohn! Ich wollte, ich könnte auch noch mit hinaus! Die Karre sitzt im Dreck an der Düna fest! Herrgott – erbarme dich!«
»Haben Sie Jeduld!« sagte Pastor Krummeß. »Gott wird sich erbarmen!«
»Elise, setze dich doch! Jönne dir doch einen Augenblick Rast!«
»Sie machen ja Ihre Jäste unruhig, Baronin!«
»Ihr sollt auch alle unruhig sein! Die Zeit ist danach!« sagte die kleine, zarte Frau. Man merkte ihr die nervöse Energie an, wie sie einen eben für sie angekommenen Rohrpostbrief überflog, zerriß und dann an den Fernsprecher im Flur lief, um mit irgendeiner amtlichen Wohlfahrtsstelle zu verhandeln. Man hörte ihre helle, kindliche Stimme: »Exzellenz! Wir tun hier, was wir können! ... Aber es muß auch wirklich Liebe zur Sache dasein! ... Wer nicht janz in seiner Pflicht aufjeht, den kann ich nicht jebrauchen! Das kann sich die betreffende Dame jesagt sein lassen!«
»Jeduld?« meinte zwischendurch im Gespräch innen im Zimmer Baron Treutlingen, der geflüchtete, lange, livländische Junker, zu dem kurischen Pfarrer. »Und das sagen Sie, Pastor Krummeß, den die Kosaken schon am Schlafittich hielten, um ihn nach Sibirien zu schleppen, wenn Sie sich nicht im letzten Augenblick, als die Schwefelbande nicht aufpaßte, seitwärts in die Büsche jeschlagen hätten?«
»Nun – es ist mir ja jejlückt, nach Deutschland zu jelangen, wie uns allen hier!« versetzte der vollbärtige, starkgebaute, lutherische Pastor. Von der Straße scholl dumpfer, unregelmäßiger Massentritt. Es war der Ausmarsch des letzten Aufgebots, das da zum Bahnhof zog: Familienväter, das Gewehr in der einen Hand, das Jüngste auf dem anderen Arm, Frau und Kinder daneben. Gleich hinterher lachende Gesichter: die Achtzehnjährigen mit Blumensträußen an der Brust und am Gewehrlauf.
»Da jehn sie hin!« sagte Herr von Treutlingen. »Aber nicht jejen Rußland! Es jilt doch im Osten wahrhaftig nicht nur uns! Ich bin heute wieder von Pontius zu Pilatus jelaufen und habe beschworen: Setzt über die Düna! Helft uns Livländern! Helft den Esthländern! Laßt nicht deswegen davon ab, weil ihr immer denkt, die Ostseeprovinzen seien nur voll von Baronen! Helft allen Deutschen im Baltenland, die zehnmal zahlreicher sind als die Ritterschaft! Jeht nach dem Osten! Sonst kommt der Osten wieder zu euch! Rußland lebt noch! Rußland ist noch da! Der Zar, der mit Wahnwitz jeschlagen für seinen Todfeind England jejen euch ficht, – der Zar – ist euer böser Feind!«
»Der Zar und hinter ihm, wenn er nicht will, die russische Gesellschaft!«
»Wir werden sie schlagen!« sagte zurückkommend Elise Metztak mit der Andacht ruhiger Gewißheit und setzte sich zu den Herren.
»Wir müssen sie schlagen! Und dann überzeugen, daß unsere Bestimmung nebeneinander und nicht gegeneinander heißt.«
Professor Feilitz, der Hochschullehrer, der das sprach, hatte Rußland schon vor einem Menschenalter verlassen, als dort zum erstenmal unwissende, asiatische Gestalten auf den Kathedern der Hörsäle, diebische Tschinowniks in den Amtsstuben, brutale allrussische Machthaber in den Gouvernementspalästen, auf dem Dom zu Reval, am Börsenplatz zu Riga, im herzoglichen Schloß zu Mitau erschienen waren. Er war längst innerlich und äußerlich ein Bürger des neuen Deutschen Reiches und doch ein Sohn des Baltenlandes geblieben, dessen deutsche Oberschicht mit Bildung und Wissen so gesättigt war, daß sie damit nicht nur die eigene Heimat durchgeistigen, nicht nur das russische Kaiserreich mit seinen besten Feldherren, Staatsmännern, Kronbeamten, Ärzten, Ingenieuren versorgen, sondern selbst an Deutschland noch von ihrem Überfluß abgeben konnte.
»Der Osten ist unser aller Schicksal! Nicht nur das der paar Balten!« sagte er, und in der Stille, die folgte, nahm der Hausherr plötzlich das Wort. Er hatte bisher geschwiegen und zugehört. Man kannte seine Art, versonnen dazusitzen und vor sich hin zu starren. Jetzt lebte er, in einem jähen Umschlag seines Wesens, auf. Redete schneller, eindringlicher, leidenschaftlicher als alle anderen.
»Es jibt ein Wunder von Osten!« versetzte er leise und bestimmt, und der Glaube an das Fatum leuchtete in seinen dunklen Augen. »Es jibt jeheime Runen der Weltjeschichte! Wenn man diese russischen Runen richtig liest, wiederholt sich ihr Sinn! Die Rettung Deutschlands aus höchster Not kam immer von Osten!«
Draußen tönte die Flurklingel. Er achtete nicht darauf. Er fuhr fort:
»Als Friedrich der Jroße im Siebenjährigen Krieg am Ende seiner Kräfte im Kampf jejen janz Europa war und alles verloren schien, jaloppierte da nicht plötzlich der Kurier aus Petersburg heran: ›Sire! Die Zarin, Ihre Feindin, ist tot. Ihr Nachfolger bietet Waffenstillstand und Waffenbündnis!‹ Das war das Mirakel der Hohenzollern!«
»Ja, das war es!« sagte andächtig seine Frau.
»Als Preußen nach Jena anscheinend für immer daniederlag, stieg ein Feuermeer im Osten auf. Moskau brannte. Die Jroße Armee erfror, verhungerte, ertrank. In unserem Baltenland steht die Mühle bei Tauroggen, wo wiederum Rußland und Preußen sich zum Sieg verbündeten!«
»Und heute stehen dort wieder in Kurland die Deutschen und warten!« rief siegesfroh Elise Metztak. Ihr Mann schloß, mit dem nervösen Beben eines hingebenden Glaubens in der Stimme:
»Die Verjangenheit hält die Schlüssel der Jejenwart. Mit ihnen kann man das Tor der Zukunft aufmachen und es wagen, hineinzuschauen: vielleicht bringt uns auch diesmal, das Ende eines Zaren oder ein Brand in Rußland irgendwie die jroße Wendung der Dinge!«
»Gott jebe es!«
»Möge uns das Licht von Osten scheinen!«
Die Balten hier kannten besser als die Reichsdeutschen, in deren Mitte sie lebten, den russischen Koloß, seine unverwüstliche Wurzelkraft und seinen verfaulten Stamm, seine Mischung von Bärennatur und Nervenschwäche und daraus seine Unberechenbarkeit. Sie blieben in stummen Gedanken. Im Nebenzimmer war, leise auf dem Teppich, der neue Gast, der vorhin geklingelt hatte, eingetreten. Elise Metztak wollte aufstehen und ihn begrüßen. Aber er winkte ihr flüchtig und freundschaftlich ab, auf der Schwelle stehenbleibend, denn eben ergriff der greise Baron Dalen das Wort.
Er war schon Mitte der Siebzig und für die anderen hier, die eine neue Heimat in Deutschland suchten, die Geschichte des neuen Deutschlands selbst. Er hatte sie, aus dem väterlichen Haus und Hof in Livland gekommen, von ihren ersten Anfängen erlebt. Er hatte den Düppeler Sturmmarsch wider die Dänen mit angehört und bei Königgrätz Verwundete gepflegt und in Versailles das erste Kaiserhoch mit vernommen. Sein Wachsen und Werden war das Deutschlands gewesen. Er sagte milde:
»Mich werden sie ja nun bald hinausfahren vor das Hallesche Tor! Das Fuhrwerk gibt es ja immer noch in Berlin.«
»In zehn Jahren sprechen wir uns wieder, Exzellenz!«
»Danke, lieber Krummeß, danke! Ich habe mich jetzt lange genug hier aufgehalten. Ich bin zu alt zum Leben. Ihr Älteren hier seid zu alt zum Sterben in dieser wunderlichen Zeit, die vor die Jugend den Tod setzt. Aber mit bald Achtzig hat man dasselbe Recht wie mit eben Achtzehn. Man geht. Ich möchte Ihnen vorher nur eines sagen, Metztak: die Wunder des Ostens, von denen Sie sprachen, geschahen für Preußen, nicht für das Deutsche Reich. Preußen war, im Vergleich zu Rußland, immer klein. Das Deutsche Reich aber wurde eine Großmacht wie Rußland selbst!«
»Gott sei Dank!«
»Das sage ich auch, Metztak, und trotzdem: Bis zur Gründung des Reichs waren wir deutsche Menschen ein lebender Kulturbegriff. Der war den Russen drüben willkommen. Es brachte Licht in die asiatische Nacht. Nach Siebzig wurden wir ein lebender und wachsender Machtbegriff. Der wurde den Russen, sobald sie es erkannten, erst verdächtig und dann verhaßt.«
Elise Metztak lud mit einer Kopfbewegung den von den anderen noch nicht bemerkten stummen Zuhörer auf der Schwelle des Nebenzimmers ein, doch näher zu kommen. Aber der lächelte eigensinnig und blieb auf seinem Platz.
»Dieser russische Deutschenhaß«, sagte der alte Dalen, »richtete sich in Rußland zuerst gegen die Deutschen, die man erreichen konnte, also gegen uns Balten! Später gegen die Deutschen jenseits der russischen Grenzpfähle, also gegen das Deutsche Reich! Eines hängt mit dem andern zusammen. Unser baltisches Schicksal war uns eigentlich vom Tage der Gründung des Deutschen Reiches ab vorgeschrieben.«
»Weil Deutschland nichts für uns tat...«
»Weil Bismarck nicht wollte ...«
»Ich habe Bismarck gut gekannt,« sagte Baron Dalen. »Und er kannte uns Balten. Er war als Gast bei uns in den Ostseeprovinzen und schoß da seine Elche. Er wußte wohl, wie es um uns stand. Aber er konnte nichts machen, ohne Rußland zu reizen. Und von dem Gedanken an die russische Freundschaft kam er zeitlebens nicht los, so wenig die Russen sie ihm erwiderten. Wir in den Ostseeprovinzen aber blieben unerlöst!«
»Und in Deutschland verjessen!«
»Man nahm niemals an uns so viel Anteil wie an anderen Deutschen in der Fremde.«
»Weil man uns immer in Deutschland nur für eine Handvoll Barone hielt,« beharrte Herr von Treutlingen, »statt für unjezählte Tausende von deutschen Pastoren, Lehrern, Bürgern, Beamten ...«
»Keine Hand streckte sich uns aus Deutschland entjejen!«
»Hättet ihr sie denn früher auch schon jenommen?«
Waldemar Kerkhuß frug es obenhin, mitten in das Gespräch hinein, während er aus dem Hintergrund, von der Schwelle des Nebenzimmers, hervortrat und der Hausfrau und dem Hausherrn die Hand schüttelte. Elise Metztak sagte zu den anderen:
»Das ist doch nun wieder so echt Kerkhuß! Seit einer Viertelstunde steht er nämlich schon dahinten und hört zu!«
Man war in diesem baltischen Kreise nach altem heimatlichem Brauch voll von Nachsicht gegen die Eigenart eines jeden. Man kannte auch Waldemar Kerkhuß' Widerspruchsgeist. Es machte weiter keinen Eindruck auf die anderen. Er setzte sich lässig, mit dem Recht des Hausfreundes, und fuhr fort:
»Es jing uns ja sehr gut früher in Rußland! Und den Deutschen jing es bei ihnen drüben bedeutend weniger gut. Wir waren jahrhundertelang unter Dschinghiskhans Fuchtel janz zufrieden. Wir ließen hier nichts von uns nach Deutschland hören!«
»Müssen Sie denn immer anderer Meinung sein, Waldemar?«
»Wie denn nicht? Ich bin nun einmal eigensinnig. Ich suche die Wahrheit. Ich jehe ihr nach. Im Jeiste haben wir jewiß immer Deutschland jeliebt und jesucht ...«
»Nun also!« rief Elise Metztak vorwurfsvoll.
»... aber wenn es an das Handeln jing, waren unsere Vorfahren die jehorsamen Diener des Zaren. Sogar die Führer der beiden russischen Armeen, die in diesem Krieg Ostpreußen anzündeten, wie ich das selbst jesehen habe, waren unsere Mitbrüder Rennenkampf und Sievers ...«
»Es war eben leider Krieg!«
»... und dieser Krieg – das wissen wir hier alle – ist durch die russische Diplomatie hervorjerufen worden!«
»Weiß Gott!«
»Nun wohl: Unter den diensttuenden russischen Diplomaten in den jroßen Hauptstädten des Auslands befanden sich bei Ausbruch des Weltkriegs jejen Deutschland nicht weniger als rund dreißig unserer Stammesjenossen von altem baltischem Adel!«
Es war ein Schweigen.
»Und jerade aus unsern ersten Jeschlechtern!« ergänzte Waldemar Kerkhuß. »Sie können es im Jothaer Almanach von 1914 nachlesen!«
»Es ist nur ein kleiner Bruchteil!«
»Aber ein mächtiger! Verlangen Sie nicht, daß die Deutschen, die jetzt um ihr Dasein jejen die Menschheit kämpfen, das alles verjessen!«
»Wenn Sie im Zimmer sind, lieber Kerkhuß,« sagte Elise Metztak, »dann jibt es immer Streit!«
»... weil ich den Dingen auf den Jrund jehe!«
»... und vor allen Dingen anderer Meinung sein müssen als andere! Wahrscheinlich haben Sie sich wieder auf der Polizeiwache jeärjert, als Sie sich als verdächtiger Ausländer melden mußten!«
»Nein. Jerade heute nicht!«
»Wie das?«
»Sechs Wochen lang, seit mir meine Flucht nach Deutschland jejlückt ist, habe ich jeden Mittag diesen Gang jetan ...«
»Seien Sie froh, daß Sie unentdeckt über die Ostsee nach Schweden und zu uns gelangten!«
»... und habe jeden Abend, wenn ich nicht von acht Uhr abends an allein in meinem Zimmer sitzen wollte, um Urlaub bitten müssen ...«
»Es jing doch nicht anders!«
»Jewiß! Aber heute war der örtliche Beamte, als ich wie jewöhnlich eintrat, ausnehmend höflich. Er räusperte sich, jab mir im Namen Preußens die Hand und verkündete mir, daß ich, dank Ihrer Fürsprache, Exzellenz, mich von nun an völlig frei bewegen dürfe. Ich muß nur noch jede Ortsveränderung persönlich melden. Sonst jenieße ich dieselben Rechte wie ein deutscher Staatsbürger! Ich danke Ihnen, Exzellenz!«
»Danken Sie, indem Sie unserer deutschen Sache dienen!«
»Das kann ich erst von jetzt ab, und das werde ich! Dazu habe ich daheim in Esthland alles hinter mir jelassen!«
»Ja wahrlich. Sie haben jrößere Opfer jebracht als alle andern!«
»Eijentlich, lieber Kerkhuß, mit Ausnahme von Leben und Jesundheit alles!«
Waldemar Kerkhuß schlug mit der flachen Hand an sein lahmes Knie.
»Und was ist das Jroßes jejen die Unzähligen, die Leben und Jesundheit opfern?«
»Jedenfalls unsern Jlückwunsch!«
»Und nochmals herzlich willkommen in Deutschland!« Elise Metztak sagte es. Ihre Augen waren feucht vor Begeisterung und Rührung, während sie Waldemar Kerkhuß die Hand drückte. Er blieb wie gewöhnlich inmitten der Gemütsaufwallung um ihn her äußerlich kühl. Er setzte sich, drehte sich eine Zigarette und hörte, rauchend und in der träumerischen Versunkenheit, die ihn oft plötzlich ergriff, dem Gespräch der anderen zu.
Er kannte besser als jene die englischen Umtriebe in Esthland, von denen die Rede war. Denn er kam ja eben von dort. Es war noch nicht ganz klar zu sehen, welchen ihrer Fäden die erdumspannende britische Kreuzspinne da um einsamen Strand und Moor und Heide im nordischsten Baltenland wob. Es handelte sich um die Nähe Petersburgs, des einzigen Zugangs des eigentlichen Rußlands zur Ostsee. Peter der Große mußte sich im Grabe umdrehen, wenn etwas von diesem Griff an Rußlands Kehle in seine Stille drang. Pastor Krummeß, der vor seiner Flucht noch im innern Rußland gewesen war, meinte:
»Ehrlich jestanden, es war erstaunlich zu beobachten: Irgendein Engländer kommt als Orjanisator in einer russischen Provinzstadt an. Sie verstehen: eine russische Provinzstadt, mit Schmutz überall, allgemeiner Unordnung, tausend diebischen Beamten, einem trägen Stadthaupt, betrunkenen Arbeitern und Kleinbürgern ... Niemand kennt sich aus – die einzige Antwort überall: Ja niet snaju: ich weiß nicht! Gut! Der Engländer kommt mit einem Kofferchen in der Hand. Er bringt höchstens einen Dolmetscher mit, jedenfalls aber Jeld, viel Jeld. Er stellt sich hin, die Hände in den Hosentaschen, und die Jeschichte jeht auf einmal! Die Stadt wird lebendig! Die Semstwos zeijen Eifer! Die Tschinowniks arbeiten! Rußland orjanisiert sich!«
»Durch England!«
»... und Rußland verjleicht damit die Unfähigkeit der eijenen Rejierung! Die Jefahr für den Zaren wächst! Bald wird der englische Botschafter und hinter ihm die russische westliche Jesellschaft mächtiger sein als er! Sie kennen ja den Knjäs Manuchin, Kerkhuß, und seine Kreise!«
Waldemar Kerkhuß bejahte zerstreut. Baron Erik Stier meinte grimmig:
»Bei uns in den Ostseeprovinzen braucht kein Engländer erst Ordnung zu schaffen! Dafür haben wir seit Jahrhunderten jesorgt! Was wollen die Kerle in Esthland?«
»Was die draußen immer wollten – ein Stück unseres Landes besetzen!« sagte Professor Feilitz. »Das Unjlück ist, daß unsere Ostseeprovinzen eng zueinander jehören und doch immer jetrennt waren! Da war der Pole, da der Däne, da der Schwede. Wenig mehr als hundert Jahre sind es her, daß wir endlich unter Rußland einig wurden, von dem wir jetzt doch wieder alle weg wollen! Auch jetzt sind wir wieder jeschieden: Kurland ist deutsch, Livland und Esthland russisch! ...«
»... und es jibt nur einen Weg,« Waldemar Kerkhuß stand auf, »daß die Deutschen auch den Weg nach Livland und Esthland finden! Gott sei Dank, ich bin jetzt hier! Ich bin jetzt nicht mehr jeduldeter Flüchtling in Deutschland, sondern zujelassener Jast! Ich werde heute noch mein Recht, jehört zu werden, jeltend machen! Man lud mich für diesen Nachmittag zu einer Besprechung ein!«
»Wenn ich fertig bin, Alexander, werde ich zurückkommen und dir und deiner Frau erzählen.«
Waldemar Kerkhuß trat in das Nebenzimmer. Dort saß die Hausfrau wieder am Schreibtisch und kritzelte mit fliegender Feder Adressen für einen Werbeaufruf. Der tiefe Ernst der Hingabe an eine selbstgewählte Pflicht lag auf ihrem mädchenhaft feinen, andächtigen Profil. Er zog einen Stuhl heran und setzte sich schweigend neben sie. Nach einer Weile sagte er:
»Lassen Sie doch endlich den Kram da wachsen! Seien Sie mein juter Jeist wie immer und jeben Sie mir Ihren Sejen mit auf den Weg. Heute werde ich zum erstenmal den Jeist der Wilhelmstraße kennenlernen ...«
Elise Metztak schob ihre Schreiberei beiseite und wandte ihm ihr sanftes und doch lebhaftes Antlitz zu. Alles an ihr schien zerbrechlich, so zart war es, und doch stark durch die innere Lebenswärme, die aus ihren immer etwas feucht schimmernden blauen Augen sprach. Die Wimpern darüber waren dicht und dunkel. Ebenso ihr lockiges Haar. Er sah diesen Gegensatz, der ihr einen eigenen und besonderen Reiz verlieh, mit demselben stummen, fast andächtigen Interesse wie alle Tage. Sie seufzte leicht und sagte:
»Man kann ja heute wieder nicht mit Ihnen sprechen, Waldemar!«
»Wie denn nicht?«
»Sie haben wieder Ihren nordischen Tag. Sie haben sich wieder in Ihre dritte baltische Burg zurückgezogen!«
»Auch unsere Vorfahren taten das im Krieg.«
»... aber nicht unter Freunden! Hier sind Sie unter Freunden!«
»Eigentlich habe ich nur einen Freund, und das sind Sie!«
»Ja doch, Ihr Mann auch! ... Verzeihen Sie ... Ich verjaß ... jewiß ... Sie beide ...«
»Und all die anderen nebenan auch. Wir sind doch alle Schicksalsjenossenl Offene Herzen schlagen Ihnen entjejen! Warum verstecken Sie das Ihre? Oder haben Sie überhaupt keins?«
»Doch.«
Es war ein seltsames, kurzes Schweigen zwischen ihnen. Waldemar Kerkhuß sah stumm und ergeben auf den Teppich zu seinen Füßen. Dann sagte sie, nach dieser Stille, an deren tiefen Sinn kein Wort und kein Blick rühren durfte, nach einem flüchtigen und liebevollen Hinüberschauen zu ihrem Mann drüben, mit weicher und ruhiger Stimme, durch die ein schwesterlicher Vorwurf klang:
»Was hilft uns denn diese baltische Kühle? Diese Ironie? Sie entfremdet nur.«
»Ich bin mir dessen jar nicht bewußt!«
»Ich sage es Ihnen jeden Tag. Alexander hat diese Kälte nicht. Ich habe sie nicht ...«
»Nein. Ihr seid andere Menschen.«
»... und wie leicht wurde Deutschland unsere zweite Heimat! Jlauben Sie mir, Waldemar: Wir Balten fühlen uns immer viel zu sehr als Herrenmenschen. Wir sind viel zu leicht mit dem Urteil oder jar mit dem Spott über andere bei der Hand ...«
»Man ist es eben jewöhnt!«
»Aber damit jewinnt man keine Herzen! Daran liegt es, wenn wir niemals jenug Anklang in Deutschland fanden! Wir blieben fremd. Alexander und ich, wir streckten, als wir ankamen, die Arme aus: ›Da sind wir! Nehmt uns auf! Helft uns Deutsche werden!‹ Und wieviel Hände streckten sich uns entjejen! Wie viele Freunde haben wir in kurzer Zeit jewonnen! Aber wir haben es uns auch vom ersten Tag unserer Ehe an jelobt, die Menschen liebzuhaben und ihre guten Eijenschaften zu sehen, nicht ihre Fehler!«
Elise Metztak lachte und fügte hinzu, indem sie mit ihren mageren, kleinen Händen die Wohltätigkeitsbriefe auf dem Schreibtisch schichtete:
»Woher hätte ich denn sonst die Jeduld mit Ihnen aufjebracht? Und jeholfen hat es doch nichts!«
»Doch!« Er saß träumerisch zurückgelehnt, die Augen halb geschlossen. »Sprechen Sie nur weiter! Erziehen Sie mich! Seit Jahr und Tag jehe ich bei Ihnen in die Schule! Es tut not. Ich weiß. Tiljen Sie nur meine Vorfahren in mir aus! Ich jebe mich Ihnen janz hin. Aber kann der Mensch sich ändern?«
»Ja.«
»Und wird er dadurch brauchbarer? Was ich verliere, das weiß ich. Was ich jewinne, das weiß ich nicht!«
»Sie sollen nicht verlieren, nur jewinnen!«
»Was denn?«
»Die Liebe! Die Bejeisterung! Die Hinjabe.« Die Augen der kleinen Frau leuchteten. Ihr schmales, blasses Gesicht belebte sich schwärmerisch und schien ihm in diesem Augenblick schön wie aus dem Heiligenbild eines frommen alten Meisters herausgeschnitten. »Sie sollen an die Menschen jlauben, statt sie zu belächeln! Sie sollen sie nicht aus ihrer einsamen esthnischen Vogelschau ansehen, sondern unter ihnen Mensch sein! Deutschland hier jibt Ihnen jetzt das alles! Es jab nie eine Zeit, wo Menschen einander so alles jaben! Lernen Sie das Selbstverjessen! Lernen Sie Deutschland lieben!«
»Weiß Gott: ich will es!«
»Wenn Sie Deutschland lieben müssen, weil Sie nicht anders können, dann ist es das Rechte! Es muß über Sie kommen. Sie müssen lernen mit dem Herzen zu leben, statt mit dem Kopf ...«
Waldemar Kerkhuß erwiderte nichts, sondern schaute wieder stumm, mit einem Zug, den sein Antlitz sonst nicht kannte, vor sich auf den Boden. In der Stille klang zwischen ihnen beiden seine unausgesprochene Antwort: Ich lebe wohl mit dem Herzen ... Du weißt auch für wen. – Und weißt auch, was ich dir, der glücklichen Frau und Mutter, nie sagen werde ...
Elise Metztak schaute ihn ruhig an und meinte lächelnd:
»Dabei machen Sie sich viel schlechter, als Sie sind, oder vielmehr: ich mache Sie schlechter, und Sie stimmen leider zu ...«
»Ich stimme zu allem zu, was Sie sagen!«
»... Denn Sie haben ein Herz für die Menschen, Waldemar, und jerade für die Menschen, wo es bei uns am seltensten ist und am meisten nottut, für die Esthen! Jedermann, als wir nach Reval kamen, erzählte mir, daß Sie schon von Ihrer Jugend an den Verkehr mit den Esthen jesucht und ihr Vertrauen jefunden haben. Sie waren ja bis zu Ihrer Flucht mit den Esthen im Einverständnis ...«
»Ich bekomme jetzt noch über Schweden Nachrichten hierher!«
»Ehe ich Sie damals kennenlernte, hat mich das für Sie eingenommen und auf Sie neujierig jemacht, daß Sie, der Erbherr von Kerreküll, auf janze Abende sich in die Jesinde zu dem jemeinen Volk setzten ...«
»Sprechen Sie doch weiter!« sagte Waldemar Kerkhuß. »Sie wissen, bei Ihnen werde ich ein besserer Mensch!«
»Sie sind viel besser, als Sie jlauben. Sie sind viel wärmer und leidenschaftlicher, als Sie sich jeben ...«
»Vielleicht,« sagte er leise, ohne Elise Metztak anzuschauen.
»Ihr Herz ist in Esthland bei Ihrer Heimat. Und wird immer da bleiben, Waldemar ...«
Er erwiderte nichts.
»... und der Haß jejen Rußland, das unsere Heimat bedrückte, hat Sie hierherjeführt, nicht die Liebe zu Deutschland.«
»Die müssen Sie mich lehren!«
»Ach, lieber Freund, ich bin hier selber fremd!«
Waldemar Kerkhuß stand heftig auf.
»Doch!« sagte er. »Durch Sie bin ich hier! Ihr Vorbild war es. Durch Ihr Beispiel ließ ich Haus und Hof im Stich, daß jetzt womöglich schon der Russe auf meinem Schlosse haust und ich ein Mensch ohne Feld und Jütter, ohne Paß und Heimat jeworden bin! Wenn ich heute die Wahl hätte, täte ich es wieder, wenn ich weiß, daß ich Sie am Ziel hier treffe und Sie mir recht jeben! Sie sind mein Schicksal jewesen!«
Plötzlich wurde er ganz ruhig, sah auf die Uhr und drückte ihr die Hand.
»Nun jehe ich meinen ersten entscheidenden Jang hier in Berlin!« sagte er. »Ich bringe Ihnen nachher Bericht.«
Die Wilhelmstraße war nicht weit und in ihr das langgestreckte, niedere Haus mit den kleinen Eingangspforten und darüber die Nummer 76. Drinnen im Vorraum war alles wie vor dem Krieg: die würdevolle Stille, der dicke Bodenteppich, der jeden Tritt dämpfte, die spiegelnden Zylinder und tadellos geschnittenen Mäntel, die in der Kleiderablage hingen, die langen Gänge mit den vielen Türen zu den einzelnen Zimmern.
In einem dieser Räume, dessen Fenster nach dem Garten hinausgingen, saß der Geheimrat seinem Besucher Waldemar Kerkhuß gegenüber. Der Geheimrat war noch nicht alt, höchstens Mitte der Vierzig, und von stattlichem Wuchs. Er war sehr höflich. Aber es war eine Verbindlichkeit, in der ein feierliches Selbstbewußtsein den bebrillten Zügen den Ausdruck lächelnder Überlegenheit über alle Menschen und Dinge gab. Er redete rasch und gewandt, mit der Denkschärfe des Juristen und mit dem Behagen eines, der sich selbst gerne reden hört, und den die übrigen – ob gern oder ungern – hören müssen, weil sich in ihm ein Stück obrigkeitlicher Leitung Deutschlands verkörperte.
»Sehen Sie, Herr Baron,« sagte er geläufig, »bei Ihnen in Esthland liegen ja die Dinge so ...« Er besann sich einen Augenblick. Er mußte ein gutes Gedächtnis haben. Denn die Namen und Zahlen, mit denen er nun den anderen belehrte, fluteten hintereinander her. Waldemar Kerkhuß selbst kam nicht zu Worte. Er erfuhr in der halben Stunde, in der der Geheimrat ununterbrochen redete, mehr von Esthland als bisher in den dreißig und einigen Jahren seines Lebens.
Endlich war der Geheimrat am Ende seines Wissens angelangt. Er achtete nicht darauf, daß Waldemar Kerkhuß' Augen immer größer geworden waren.
»Also so liegen die Dinge bei Ihnen in Esthland, Herr Baron!« schloß er verbindlich. »Sehr interessant! Sehr nett, daß wir uns einmal gründlich miteinander über den Gegenstand aussprechen konnten ...«
Dabei machte er eine leichte Lüftung des Oberkörpers vom Sessel als Zeichen, daß die Audienz zu Ende sei.
»Verzeihung, Herr Jeheimrat: noch sprach ich nicht. Ich bin in den meisten Dingen janz anderer Ansicht als Sie ...«
Das gönnerhafte Lächeln drüben blieb. Aber zwischen den Schmissen, die sich auf der kahlen Stirn kreuzten, zogen sich ein paar ungeduldige Querfalten zusammen. Man liebte hier keinen Widerspruch. Die laufenden Sachen hatten so zu sein, wie man sie höheren Ortes ansah.
»Jeben wir zu, Herr Jeheimrat, daß die deutschen Verhältnisse in den Ostseeprovinzen nicht allzu schwer zu überschauen sind! Wir Deutschen sind jering an Zahl, wir bilden überall die Oberschicht. Unsere Sprache ist Jemeinjut der jebildeten Welt. Janz anders ist das aber mit den Esthen und den noch viel schwieriger zu behandelnden Letten! Das ist eine Unterwelt der Unterdrückung, des Jrolls, der Sektiererei, des Strebens nach dem Licht, in das außer mir nur wenige drangen!«
»Sehen Sie mal: mit den Esthen ist die Sache ganz einfach so ...«
»Einen Augenblick, Herr Jeheimrat! Verjährtes Unrecht ist niemals einfach. Ein Esthe ist nicht wie der andere. Sie können den Jesindewirt nicht mit den losen Leuten in einen Topf werfen. Der Lette wandert leicht. Jeheime Verbindungen von Litauern und Letten gehen bis Amerika ...«
»Was die Letten betrifft, so hören Sie doch bitte mal zu: Wir haben da folgende Richtlinien ...«
»Man muß die sonderbare, aus Mongolenzeit zurückgebliebene Sprache der Esthen kennen, ihre eigentümliche Art zu denken, ihre Schwierigkeit, abstrakte Bejriffe zu bilden, man muß sich in die Weltabjeschiedenheit dieser Menschen hineinversetzen, deren einziger Zusammenhang mit uns früher die Bibel und das lutherische Pfarrhaus war ...«
»Wissen wir alles, Verehrtester, alles, alles, was Sie da sagen!«
»... und in denen jetzt ein neuer Jeist järt – ein Jeist, der wider alles ist, was deutsch ist! Sie, Herr Jeheimrat, kamen, wenn Sie die Ostseeprovinzen besuchten, sicherlich immer nur mit Deutschen in Berührung. Sie konnten sich beim besten Willen keinen Einjang in die Seelen der Einjeborenen schaffen, schon weil Sie sie nicht verstanden. Ich weiß ja nicht, wie lange Sie im janzen vor dem Krieg bei uns waren, aber ...«
»Ich bei Ihnen?« Der Geheimrat des Auswärtigen Amts riß die Augen auf. »Ich war nie in meinem Leben in den Ostseeprovinzen ...«
»Wie denn? Ich verstand Sie nicht ...«
»Ja, warum sollte ich denn dorthin?«
»Aber Sie erzählen mir doch die janze Zeit, wie es bei uns Balten aussieht?«
Der Geheimrat schien verwundert über die Frage. Er begriff sie nicht.
»Aber dazu habe ich doch meine Akten, verehrter Herr Baron!« sagte er endlich ruhig. »Mindestens siebzig Nummern allein über Ihre engere Heimat. Hier diese Schränke sind voll von allem Wissenswerten. Wir sind genau orientiert. Nun, ich danke Ihnen für Ihre schätzenswerten Aufklärungen, Herr Baron! Ich werde gerne davon Gebrauch machen, wenn Sie gestatten!«
Er hatte sich mit einer unbeirrbaren Liebenswürdigkeit, an der, wie an einem unsichtbaren Panzer, alles abprallte, erhoben.
Auch Waldemar Kerkhuß war aufgestanden. Aber er dachte nicht daran zu gehen. Er machte in der Mitte des Zimmers halt und sagte schroffer als bisher:
»Wie sollte ich Ihren Dank annehmen, Herr Jeheimrat? Es bot sich mir ja keine Jelejenheit, mich zu äußern! Nun jestatten Sie mir wenigstens eine Frage!«
»Bitte!«
Es klang etwas gereizt. Waldemar Kerkhuß ging unruhig in dem Zimmer auf und ab. Er warf den Kopf mit der blonden Stirnmähne in den Nacken. Seine großen blauen Augen stammten.
»Ich habe alles, was ich besaß, in Esthland jelassen! Ich nahm nur so viel Jeld mit auf die Flucht, daß ich hier nicht in Verlejenheit komme! Mein einziger Wunsch ist, mich hier in Deutschland jejen Rußland nützlich zu machen! Also bitte: wozu können Sie mich sofort gebrauchen?«
»Sie stellen mich da vor eine schwierige Frage, Herr Baron!«
»Wie das? Ich bin zu allem bereit!«
»Das ist nicht so einfach! Man müßte sich da an verschiedene Stellen wenden ...«
»Warum denn? Morjen kann ich anfangen!«
»Es werden da sicher Bedenken erhoben, die erst beseitigt werden müssen ...«
»Bedenken ... jetzt im Krieg ... wo die Ereignisse sich überstürzen ...«
»Übers Knie brechen läßt sich derlei nicht! ... Ich werde die Sache bei Gelegenheit zur Erwägung bringen ...«.
»Hier steht der Fernsprecher! Rufen Sie doch an!«
»... und mir dann erlauben, Ihnen schriftliche Nachricht zukommen zu lassen!«
Ein Bote trat in das Zimmer und brachte einen Akt zur Unterschrift. Ringsum türmten sich in dem Gemach des Geheimrats die Aktenstöße mit laufenden Nummern und Zahlen. Sie erfüllten ebenso die Nebenräume. Sie wuchsen mit tropischer Üppigkeit in all den zahllosen Amtsstellen von Berlin, so daß ein kurzer Bericht am Morgen schon am Abend zu einem dicken Bündel und am Ende der Woche zu einer unförmlichen Papiermasse angeschwollen war, die ein Mann kaum zu schleppen vermochte. Die Akten wanderten von einer Tür zur anderen, von einem Referat zum vorgesetzten Dezernat, zur Abteilung, zu den »oberen Stellen«, sie kamen zurück, sie vermehrten sich wie die Kaninchen, die Mappen blähten sich, die Schreibmaschinen klapperten, die Mitternachtslampe beschien noch müde Männer, die schrieben und schrieben, um durch Schreiben ihren Eifer zu zeigen und die Verantwortung für das Geschriebene möglichst bald an die nächste Stelle oder das nächste Amt loszuwerden. Die Heimat und ihr Geist ertrank in diesen papiernen Fluten.
Waldemar Kerkhuß hatte sich in seinem alten Hochmut, ohne eine Aufforderung abzuwarten, wieder hingesetzt und sagte:
»Ich habe den Eindruck, daß Ihnen am Buchstaben mehr liegt als am Menschen! Ich bin jetzt sechs Wochen in Deutschland und komme vom Feind und kann verjleichen! Es scheint mir immer mehr: So sehr in Deutschland Not am Manne ist, so jebraucht ihr doch lange nicht alle, die ihr jebrauchen könnt, oder ihr jebraucht sie unrichtig, weil ihr sie eijentlich überhaupt nicht jebrauchen wollt.«
Der Geheimrat lächelte, diesmal etwas verlegen. Auf diesen brüsken Ton des Balten war er nicht vorbereitet. Plötzliche Entschlossenheit eines anderen setzte ihn immer in Verwirrung. Er meinte auf einmal ganz unsicher:
»Herr Baron ... davon ist keine Rede ... Wie kämen wir dazu, irgendwo eine sachkundige Unterstützung abzulehnen ...«
»Ich jlaube, es kommt daher, weil Sie hier eijentlich nur auf eine Bestätigung Ihrer schon jewonnenen Ansichten Wert legen!« sagte Waldemar Kerkhuß kühl. »Diese Ansichten sind natürlich für uns andere maßjebend. Denn Sie haben ja das Amt und die Macht, sie zu verwirklichen. Darum bitte ich Sie: stillen Sie mir meine Neugier?«
Er sprang auf und trat jäh vor den Bürokraten hin.
»Sagen Sie mir: Was jeschieht eigentlich im Osten?« frug er leidenschaftlich und gedämpft. »Oder besser: Was jeschieht nicht seit Jahr und Tag?«
»Ich verstehe nicht ...«
»Wir Balten im Osten kämpfen um unser Dasein! Nicht wir allein! Der janze Osten brennt. Früher, unter dem Moskowiter, war es die Ruhe des Kirchhofs. Jetzt ist es das Chaos. Die Polen, die Litauer, die Weißrussen, alle wollen sich finden! Heere zogen durch unsere Länder. Der Russe floh. Er hinterließ die allgemeine Unordnung. An seiner Stelle steht jetzt ihr. So jebt uns die allgemeine Ordnung ...«
»Wir sind überall dabei, Herr Baron!«
»Jewiß! Man gründet Universitäten. Man fegt die Jossen in den Ghettos! Man schafft örtliche Blättchen! Man jewinnt Sänger zu Jastspielen. Man veranstaltet Verbrüderungsjesellschaften ...«
»Was soll man vorderhand mehr tun?«
»Jebt uns die Zukunft!« versetzte Waldemar Kerkhuß mit so starker Stimme, daß der Geheimrat ängstlich nach der Tür blickte. »Ihr habt jesiegt! Nun seid doch Sieger! Ihr seid Herren im Osten! Nun herrscht doch wirklich! Befehlt! Ordnet an! Sorgt, daß wir wissen, woran wir sind! Auch wir in Livland und Esthland, ob wir überhaupt noch hoffen dürfen, befreit zu werden, wie die anderen.«
»Ja – das ist eine schwierige Sache!«
»Macht uns bejreiflich, was ihr wollt! Dann werden wir es auch wollen. Vor einem Jahr nahmt ihr Warschau, und noch habt ihr nichts Neues an Stelle des Alten gesetzt! Seit anderthalb Jahren steht ihr in Kurland, und niemand weiß: soll es deutsch bleiben oder nicht?«
»Es schweben da Erwägungen ...«
»Vierzig Festungen habt ihr wie die Kegelkugeln umjeworfen. Aber in Litauen glauben sie, der Russe kommt wieder, weil ihr keine Miene macht, eure Siege auszunutzen! Und nun jar wir oben in den beiden Ostseeprovinzen, in deren Namen ich hier bin ...«
»Tja, man wird sehen, Verehrtester! Man wird sehen!«
»Wann denn! Die Zeit ist kostbar und doppelt im Krieg! Wann werden wir im Osten endlich wissen, wie wir in Deutschland daran sind? Wollt ihr uns an Rußland zurückjeben? Wollt ihr uns behalten? Wollt ihr uns selbständig machen oder was?«
Das bebrillte Amtsgesicht bewegte sich nachsichtig hin und her. Eine stille Überlegenheit lächelte darauf.
»Jeden Tag sitzen hier ungeduldige Leute und bestürmen uns zu handeln! Aber wir lassen uns nicht drängen. Wir können es nicht. Der einzelne, der zu uns kommt, hat seine einzelnen Gesichtspunkte im Kopf. Wir aber überschauen auf Grund der Akten das Ganze. Hier bei uns laufen alle Fäden zusammen.«
»Dann zerhaut doch diesen jordischen Knoten! Wozu rejiert denn jetzt das Schwert?«
»Man muß alle sich rings auftürmenden Schwierigkeiten ins Auge fassen ... Wir können doch nicht dem Volk auf der Straße oder gar den Zeitungen sagen, was wir wollen! Im Vertrauen, wir haben doch auch Rücksicht auf den Zaren zu nehmen ...«
»Auf den Zaren?«
»Nun natürlich,« sagte der Geheimrat, erstaunt über die Frage.
»Erbarmen Sie sich! Wie denn: der Zar! der Mann, der durch einen Federzug dies jräßliche Morden entfesselt hat – dessen Horden Ostpreußen in Asche legten – und dabei ein schwacher, kaum zurechnungsfähiger Mensch – niemand in Rußland nimmt ihn ernst ...«
»Wir sehr! Zurzeit sind ja bei uns hier die Russenfreunde ...«
»Die Russenfreunde? Ich denke, ihr führt Krieg mit Rußland?«
»... etwas im Hintertreffen. Die Anglophilen, zu denen auch ich mich zähle, haben Oberwasser ...«
»Jestatten Sie, daß ich mir an die Stirn jreife, Herr Jeheimrat!«
»Bitte!«
»... und dann frage: England führt einen Krieg, wie er in der Steinzeit üblich war – nicht jejen die Männer, sondern jejen das janze Volk. Haben Sie Frau und Kinder?«
»Nee, nee, nee, Verehrtester!« Der Geheimrat lachte. »Ich bin unverheiratet!«
»Ich auch noch! Aber trotzdem jraut mir vor dem Jedanken: Frau und Kinder, die vor meinen Augen hungern – womöglich verhungern! Männer, die man zwingen will, zwischen dem Unterjang ihres Vaterlandes und dem Unterjang ihrer Lieben zu wählen ... und dann sprechen Sie von Englandfreunden, Herr Jeheimrat?«
Die Schmisse über der funkelnden Brille schoben sich weit zu der jugendlichen, elfenbeinfarbenen Glatze hinauf, so gewichtig furchte der Geheimrat die Stirn.
»Englandfreunde gibt es bei uns massenhaft, Herr Baron! Bis oben hin! Bis ganz in die obersten Regionen! Wir sind doch hier vernünftige Menschen! Wir beurteilen die Dinge nicht nach den Aufwallungen der guten Leute draußen, sondern nach nüchterner Erwägung ...«
»Und dabei kommen Sie zu dem Erjebnis, daß man ein Freund seines Todfeindes sein soll!«
Alle Weisheit der Erde spiegelte sich in dem Augurenlächeln drüben. Es zeigte etwas Triumphierendes. Das Gefühl, in diesen blauen und roten Mappen ringsum den Schlüssel der Welt zu besitzen. Der Geheimrat beugte sich geheimnisvoll lächelnd vor, mit einer Miene der Vertraulichkeit.
»Ich bitte Sie: es ist ja alles gar nicht so schlimm! Die Engländer sind ja gar nicht so! Die Franzosen schließlich auch nicht! Wir haben doch unsere Berichte! Bitte ... hier ... hier – überall in diesen Akten! Das ist ja alles Humbug drüben, womit man uns hier schreckt ... Stimmungsmache ... für den Mann auf der Straße ... für die bezahlte, feindliche Setzpresse ...«
»Aber jestatten Sie: ich war doch selbst in Feindesland! Ich war doch Augen- und Ohrenzeuge ...«
Der Geheimrat hörte gar nicht hin. Er strich liebkosend mit der Hand über sein Schreibwerk.
»Die deutschfreundliche Stimmung ist drüben viel weiter verbreitet, als wir ahnen! Glauben Sie mir, die Leute drüben sind doch auch schließlich vernünftig! Sie wollen doch auch wieder schließlich Geschäfte mit uns machen! Sie haben ja eigentlich gar nichts gegen Deutschland! England möchte längst wieder mit Anstand aus der Sache raus ...«
»Haben Sie das von irgendeinem Engländer jesehen oder jehört?«
»Wozu denn, Herr Baron! Man kennt doch das gute, alte England!«
»Wann waren Sie zuletzt im Frieden dort?«
»Ich war nie in England. Ich komme von meinen Akten hier ja nicht weg! Es langt gerade im Sommer zu vier Wochen Karlsbad. Aber ich habe die ganze Literatur über England im Kopf!«
»So. Nun, ich kenne England, Herr Jeheimrat ... Jejen den Engländer, wenn man ihn richtig jereizt hat, ist eine Bulldogge noch ein ...«
»Ach was! Spaß! Der Engländer ist ein guter Kerl – nicht wahr? Er nimmt die ganze Geschichte ja lange nicht so ernst wie wir ...«
»Er ist seit zwei Jahrhunderten planmäßig zu einer Zähigkeit erzogen, die ...«
»Nee, nee – mit den Engländern, da bin ich unbesorgt! Die Geschichte wird den Kerlen nachgerade ja auch viel zu teuer. Schließlich sind es doch auch unsere Vettern! Blut ist dicker als Wasser!«
Waldemar Kerkhuß holte tief Atem. Er sah die Tapete vor sich an und dachte sich: Man kann ebensogut gegen die Wand da reden! Dann sagte er:
»Ich war bei Ausbruch des Kriegs in Amerika. Ich reiste mit einem französischen Dampfer nach Havre und fuhr über Paris und London heim. Ich bin seitdem in Rumänien und überall in Rußland jewesen. Ich habe alle Feinde Deutschlands in nächster Nähe beobachtet ...«
»Unsere Feinde zerfallen in drei streng geschiedene Gruppen,« begann in lehrhaftem Ton der Geheimrat. Aber jetzt ließ ihn der andere nicht mehr zu Worte kommen.
»Ich habe überall dasselbe jesehen. Niemand hatte Scheu vor mir. Ich war ja selbst ein Feind Deutschlands. Und was ich sah, das war überall derselbe jrimmige, rasende Haß. Am rohsten in Rußland, am blutdürstigsten in Paris, am unerbittlichsten und jefährlichsten in England ...«
Der Geheimrat sah verstohlen auf die Uhr. Das Gespräch langweilte ihn.
»Dort bei den Feinden kochen die Jeister!« sagte Waldemar Kerkhuß gedämpft, als dürfe man das Furchtbare gar nicht laut aussprechen. »Die Kriegswut wirft Blasen auf. Die janze Öffentlichkeit fiebert. Selbst das Temperament der Frauen ist bis zur Siedehitze erregt. Wer nicht mitmacht, wird jlatt jelyncht ...«
»Na, na, mein Bester ... immer sachte!«
»... und hier diese alljemeine Ruhe ... diese Abjeklärtheit, Jeduld, Milde ... dies Allesverstehen und -verzeihen ... inmitten dieser Jefahr ... Es ist ja jräßlich ...«
Er war in seiner Erregung aufgesprungen. Der Geheimrat nahm den willkommenen Anlaß, um den Besucher, der nicht seiner Meinung war, zu verabschieden. Er legte ihm väterlich, obwohl er noch nicht anderthalb Jahrzehnte älter war, die Hand auf die Schulter.
»Sie werden schon auch noch die Dinge ruhiger anschauen, wenn Sie sich erst bei uns eingewöhnt haben, Herr Baron! Vielen Dank für alle Ihre Aufschlüsse ...«
»... und kein Anhaltspunkt, was ihr aus dem eroberten Osten macht? ... was ihr überhaupt aus dem Krieg machen wollt?«
»Tja! – da sind allerhand Bedenken! Die Sache hat ihre Schwierigkeiten! Gerade in diesen Tagen. Es geht jetzt mit Rumänien los ...«
»Warum schafft ihr euch denn immer neue Feinde? Ihr habt doch jerade jenug!«
»Die Lage unten ist, ehrlich gestanden, bedenklich. Vor dem Volk halten wir das alles geheim! Ich bin immer dafür, möglichst gar nichts, was geschieht, in die Öffentlichkeit zu bringen! Aber man muß sich jetzt wirklich Mühe geben, um seine Nerven nicht zu verlieren!«
»Ach, ihr siegt ja immer!« sagte Waldemar Kerkhuß. Sein hartes Baltischdeutsch rollte, und seine nordisch blauen Augen leuchteten zornig. »Ich kenne Rumänien! Ihr werdet auch diesmal siegen!«
»Meine eigenen Nerven zum Beispiel ...«
»Aber wenn ihr jesiegt habt, dann jlaubt doch auch, daß ihr die Siejer seid! Dann jlauben es auch alle anderen! Wartet nicht, sondern werft das Schwert in die Wagschale und ordnet den Osten, solange die Macht in euren Händen ist! Ordnet ihn, wie ihr wollt! Aber steht nicht jahrelang untätig vor diesem uferlosen Völkerbrei, der jetzt der Osten heißt! Jebt uns Jewißheit!«
Der Geheimrat hatte den unwillkommenen Gast nun schon bis zur Schwelle gebracht. Er drückte ihm verbindlich die Hand.
»Lassen Sie noch dies rumänische Wetter vorübergehen, Herr Baron! Machen Sie uns bitte ja keine Ungelegenheiten in der Öffentlichkeit. Wir müßten sonst sofort mit Verboten gegen Sie einschreiten. Wir lieben das nicht, daß man unsere Kreise stört! Warten Sie bis zum Herbst! ... Dann ist, wie ich sicher hoffe, wenigstens ein Teil der Schwierigkeiten schon behoben ...«
»Jewiß doch, Herr Jeheimrat, ich werde warten! Was bleibt mir sonst übrig?« sagte Waldemar Kerkhuß und ging. Eine Reihe Wagen mit Akten stand, als er das lange, graue Haus verließ, draußen auf der Wilhelmstraße.
Der schwüle Augustabend dämmerte schon, als er wieder bei seinen Freunden in der Königgrätzer Straße saß. Das Ehepaar Metztak war jetzt allein. Der Teekessel summte. Durch die offenen Fenster drang der Lärm der Straße. Er war oft so hier zu Gast. Kam und ging, wie er wollte. Es war ein Verhältnis von drei Kameraden, die die Kriegswelle an den gleichen Strand geworfen, und so unbefangen mitbrüderlich und mitschwesterlich war ihr Verkehr miteinander. Alexander Metztak hatte den leidenschaftlichen Christuskopf mit den dunkel brennenden Augen in die Hand gestützt. Er hörte stumm, was der andere erzählte. Aber in seinem Innern arbeitete es. Seine Seele war wie eine lichtempfindliche Platte. Jeder Strahl der Außenwelt rief da Veränderungen hervor, erzeugte neue Stimmungen und Meinungen. Sein Leben war ein einziges heißes Gehen und Suchen an der Hand seiner Frau.
»Sei froh, daß du das nicht mit anjehört hast, Alexander!« sagte Waldemar Kerkhuß. »Dich hätte das zu tief jetroffen: da draußen bei den Menschen die Bejeisterung, und da drinnen bei denen, die diese Menschen zu führen haben, der kalte Wasserstrahl!«
»Aber warum denn, um Gottes willen, warum?«
»Sie sollen mit dem deutschen Jeiste umjehn und können es offenbar nicht!« Waldemar Kerkhuß zuckte die Achseln und griff nach der tröstenden Zigarette. »Da machen sie ihn lieber tot! Und nicht nur in der Wilhelmstraße. Das habe ich nun schon gemerkt. Unser russischer Tschin ist furchtbar. Aber an diesen Tschin in Deutschland muß man sich auch erst jewöhnen!«
»Er stiehlt wenigstens nicht!« sagte Elise Metztak.
»Er stiehlt nicht. Aber er unterschlägt ... Feste Zuversicht! Warmen Willen! Starken Jlauben! Tritt dort ein. Sieh diese Jeheimräte lächeln, und du bist alles los!«
Elise Metztak warf ihm einen schnellen Blick zu. Er wußte, was das hieß: Mache mir nur Alexander, den Nervenmenschen, nicht etwa kopfscheu! Er schwankt ohnedies immer zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt. Ich habe immer wieder Mühe, ihn durch Fröhlichkeit und Frische das Gleichmaß des Tages zu lehren ... Aber augenblicklich war ihr Mann in seiner gläubigen und freudigen Stunde. Er hob den Kopf aus der Hand und sagte:
»Auch diese Leute werden den Jang der Weltjeschichte nicht hemmen. Ich jlaube an einen höheren Sinn und jeheimen Willen des Jeschehens. Darum sprach ich heute nachmittag von dem Wunder aus dem Osten, das Deutschland schon zweimal beschieden war und jewiß auch ein drittes Mal wiederkehrt! Daran machst du mich nicht irre, Waldemar!«
»Ich will es auch jar nicht,« sagte Waldemar Kerkhuß ernst. »Aber es jenügt nicht, daß ein Wunder jeschieht, man muß es auch bejreifen! Dazu gehört ein Jlaube, nicht an sich, sondern an etwas außer einem. Diese Leute jlauben nur an sich und ihre Akten. Mögen sie das Licht von Osten nur auch richtig sehen, wenn es uns erscheint!«