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5.

Das Schwarze Meer war nicht schwarz, sondern tiefblau, mit seegrünem Leuchten an den Uferklippen und weißen Wogenkämmen draußen in der unendlichen Ferne. Die Luft Rußlands war nicht rauher Nordost, sondern ein schmeichelndes Spiel linder Lüfte über Weinberghängen und Blumenhalden. Die weiten Steppen, die stillen Birkenhaiden des Zarenreichs hatten sich in Wälder von Pinien und Nußbäumen, in Zypressenalleen und Lorbeerhaine verwandelt. Wo droben im Norden jetzt, im Spätherbst 1915, schon die ersten Schneeflocken über grün gestrichene Zwiebelkirchlein und schilfgedeckte Bauernhütten wirbelten, ragten hier die Minarette der kleinen tatarischen Moscheen in lachendem Sonnengold aus dem Laub der Feigenhecken und Granatstämme. Palmen und Orangenbäume umrahmten die weißen Schlösser und Paläste, die sich zwischen Meer und Gebirge viele Stunden weit aus dem südlichen Pflanzenwuchs riesiger Parke erhoben. Diese Gärten Eden mit ihren Farmen, ihren Weinkellereien, ihren Wasserkünsten und Löwentreppen und Grotten gehörten zumeist dem Zaren und den Großfürsten des Hauses Romanow. Zwischen ihnen, über ihnen schimmerten, auf halbem Hang der Berge, mit dem Ausblick auf das Meer, die Villen, die Frühjahrs- und Herbstsitze der russischen reichen Welt. Hunderte dieser Datschen badeten sich zwischen Baidor-Tor und Gursuff in Licht und Wärme und Farbenpracht des russischen Orients. Denn überall an diesem gesegneten Küstenstrich bildete noch das mohammedanische Morgenland mit seinen Tataren, seinen Moscheen den Hintergrund für das Petersburger und Moskauer Modetreiben der Luxusbäder, bis es sich jenseits der hohen, wolkenverhangenen Küstenberge in der Weite und Öde der Hochsteppe, da, wo noch Kamelherden weideten, wo die reichen deutschen Mennoniten in ihren Dörfern saßen und unter mächtigen, grasüberwachsenen, viereckigen Erdbergen still zu vielen Zehntausenden die Toten von Sebastopol schliefen, bis sich da der Traum des Südens in den russischen Norden der Krim verlor.

Die Krim war ein bevorrechteter Besitz Rußlands. Schon im Frieden ein Geheimnis für den Westen. Von Mitteleuropäern kaum gekannt oder betreten. Noch weniger jetzt in dem Krieg, der die Dardanellen sperrte, die Landgrenzen des Zarenreichs schloß. Was jetzt hier das dolce far niente eines östlichen Italiens genoß, das gehörte zur russischen Erde oder zu denen, denen diese Erde gehörte und für die draußen die Söhne dieser Erde, die Muschiks, zu vielen Millionen in Pelzmütze und feldbraunem Kittel bluteten und verröchelten.

»Was wollen Sie, Sergej Iwanowitsch?« sagte der Hausherr einer dieser Datschen, die hoch über der Stadt Jalta sich wohlig in einem steilen, vom Immergrün des Südens, duftenden Rosenspalieren, blauen und gelben Blütenwellen strotzenden Berggarten barg. »Man braucht Abstand von den Dingen, um klar zu sehen. Die Nähe verwirrt. Noch im August alten Stils war ich mit einem Lazarettzug an der Grenze der Bukowina. Ich fand, mit Dank gegen Gott, alles gut. Unsere Heere sind, nach diesem schwarzen Sommer, nun zum Stehen gekommen.«

»Weil unser bester Rückzugsstratege, der General Winter, jetzt die Befehle ausgibt. Leider aber ist Seine Hohe Exzellenz nur von Oktober bis März zu brauchen!« sagte der Gouverneur Perekrestoff und lachte mißvergnügt.

Der Staatsrat Pommeranzeff ergänzte:

»Im Frühjahr wird der Preuße uns schon wieder mit dem Bajonett unter der Nase kitzeln, daß wir aus dem Winterschlaf erwachen! Wir brauchen England! Auch Sie sind einer unserer Engländer, Fürst! Helfen auch Sie, daß man dort unsere Verlegenheit begreift!«

Der Fürst Manuchin war ein großer, schwerfälliger, streng nach englischer karierter Herbstmode gekleideter Russe. Sein Antlitz zeigte unter dem mächtigen, blonden Vollbart eigentlich nur die grobgeschnittene Nase. Es hätte einem Muschik des Nordens gehören können. Aber auf den breiten Nüstern dieser Nase saß ein goldener Zwicker, und durch ihn sahen die Augen mit dem unruhigen und leidenden Schimmer des russischen Intellektuellen, der seit Menschenaltern den Ausgleich zwischen den Rätseln Westeuropas und der russischen Urnatur sucht.

»Nun, wie denken Sie über Englands Hilfe, Boris Wladimirowitsch?«

Knjäs Manuchin hob den mächtigen Schädel, dessen Glatze über langsträhnigem Blondhaar an eine römische Mönchstonsur erinnerte. Er hatte auch den würdevollen, priesterlichen und doch weltkundigen Gesichtsausdruck eines hohen russischen Klostergeistlichen. Er zuckte die breiten Schultern. Er war die Verkörperung jener Geistesverfassung, die vor Ausbruch des Krieges Gemeingut der vorgeschrittenen russischen Gesellschaft gewesen: Verachtung der eigenen, schwachen, wirren Regierung des Zaren und des elenden Klüngels seiner Umgebung und seiner Beamten, Haß gegen Österreich, gönnerhafte Freundschaft zu Frankreich, hochfahrende, barbarisch lächelnde Geringschätzung Deutschlands, stumme, aber tiefinnerliche Bewunderung Großbritanniens. Er hatte früher seinen Stolz darin gefunden, mit seinen wuchtigen und wulstigen, vom Bart verdeckten Lippen den leichten, gepflegten Zungenschlag des Französisch eines Schauspielers der Comédie Française nachzubilden, aber schon seit zehn Jahren war bei ihm mit Vorliebe an Stelle des Pariserischen ein ebenso sorgfältig geschultes und reines Englisch getreten. Er, der Erbe des alten Bojarengeschlechts an der Wolga, das zur Zeit der Leibeigenschaft fünfzigtausend Seelen besessen hatte, war stolz darauf, ein russischer Liberaler im Sinne des europäischen Westens zu sein!

»Ich bin ein aufgeklärter Mensch,« sagte er, »also sehe ich in Deutschland den Feind Rußlands. Ich kam zu diesem Schluß, indem ich mich eindringlich und lange mit den Methoden des deutschen Geistes beschäftigte. In ihn einzudringen ist, bei der nebelhaften Terminologie deutscher Denker, nicht leicht. Einen Übergang zu ihm fand ich in der geistigen Struktur der Balten. Diese Brücke stand mir zur Verfügung. Meine Schwester ist, wie Sie wissen, an einen Balten verheiratet.«

»Der alte Wiffenhausen gilt als verrückt!« sagte der dicke Staatsrat.

»Ich gebe es zu, daß sein Haus Narraks in Esthland eine anormale Atmosphäre darstellt. Es war auch nur der Ausgangspunkt. Ich habe die deutsche Frage in ihrem ganzen Umfang studiert. Der Deutsche ist unser heimlicher Feind im Lande, mag er nun als schwäbischer Kolonist, als Hebräer, als Balte oder wie sonst sich in dem russischen Volke festsetzen wie der Wurm im Apfel, und der Deutsche ist der offene Feind Rußlands an unseren Fronten.«

Der Knjäs hob mit der mächtigen, breiten, weißgepflegten Muschikhand das Teeglas von dem rotgolden nach russisch-chinesischer Bauernkunst lackierten Hocker neben ihm. Während er schlürfte, glitten seine wasserblauen Augen, deren nervöser Schimmer dem bärenhaften Urwald seines Gesichts widersprach, über seinen Garten und seine vielen Gäste darin und durch die üppige Landschaft bis zur Tiefe des Meeres. Dort unten lag Jalta, die elegante Bäderstadt, mit ihren bunten Häusern in das Immergrün südlicher Gärten gebettet. Rechts davon schimmerten aus blauem Meer, aus Zedernwäldern und Traubenhängen die Paläste des Zaren. Dort, eine halbe Stunde von den nächsten Ansiedlungen entfernt, von Gendarmen, Truppen, Geheimpolizisten in jeder Verkleidung bewacht, geborgen wie auf einer Insel in diesem Schlupfwinkel zwischen Straße und See, füllte Nikolai der Zweite sein Tagebuch mit Nichtigkeiten, spielte mit seinem Sohn, fällte Bäume, las Pariser Romane, während draußen die Alte Welt an dem Namenszug verblutete, den er vor nun schon mehr als einem Jahr unter den russischen Mobilmachungsbefehl gesetzt hatte. Der Fürst oben sah düster auf das weiße, verwunschene Zarenschloß. Er dachte daran, daß die Romanows eigentlich auch aus Holstein kamen, durch ihre Frauen immer wieder deutsches Blut ihrem Stamm zuführten. Alles Unheil kam aus Deutschland, nach dem Maß von Grimm und Groll, der sich im Lauf der Jahre in der russischen Gesellschaft wider den westlichen Nachbar eingefressen hatte.

»Wie ist das?« sagte er, und ein brutal asiatischer Haß dämmerte unter dem Bart auf seinen herrischen dicken Lippen. »Beliebt zu erwägen: was geht den Deutschen der Balkan an? Bismarck, auf den er schwört, hatte keinen Knochen eines seiner vielen Soldaten für den Balkan übrig. Uns aber ist der Balkan ein Stück unserer Seele. Er spricht unsere Sprache, er ist unseres Glaubens, er wurde durch uns vom Türkenjoch erlöst, unsere russische Seele sucht die heiligen Klöster auf dem Berge Athos, sie sieht im Geist wieder das orthodoxe Kreuz auf der Hagia Sophia, dem Ursitz unseres Glaubens in Byzanz. Wer aber bringt dort den Ungläubigen den Parademarsch bei? Karl Karlowitsch, der Deutsche mit dem Fes auf dem Kopf. Wer anders als Berlin hält den Schlüssel der Dardanellen? Unsere Weizenausfuhr, ohne die wir nicht leben und nicht sterben können, liegt in seinem Belieben. Unser Rubelkurs wurde in Berlin gemacht. Berlin legte uns, nach dem japanischen Unglück, jenen Handelsvertrag auf, unter dem wir seufzen. Längst wäre der rechtgläubige slawische Balkan bis zur Adria durch uns von Habsburg erlöst. Aber hinter Habsburg siehst du schon wieder den Nibelungenhelm mit Flügeln. Der Deutsche hemmt uns überall, Rußlands geschichtliche Sendung zu erfüllen!«

»Wahr!« sprach der Gouverneur Perekrestoff, ein Riese mit tiefer Stimme, dessen russische weiße Schirmkappe ein finsteres, entschlossenes Gesicht überschattete.

»Wahr, für jeden wahren Russen, Sergej Iwanowitsch!« Ein Lächeln übersonnte den urweltlichen, an bärtige Büßer der Vorzeit erinnernden Kahlschädel des Fürsten Manuchin. Es war kein europäisches Lächeln mehr. Asien sprach aus ihm. Der Größenwahn unermeßlicher Weiten. Der Höhenrausch unvorstellbarer Maße und Zahlen. Die Verachtung Europas und des Mittelpunkts Europas: Deutschlands!

»Seit Jahrhunderten hypnotisierte man unsere russische Natur, daß sie nach Europa blickte und von Europa ihre Gesetze empfing! Wir ragen nach Europa hinein, nicht mit der Macht der slawischen Erde, sondern mit unseren Randvölkern, unseren Fremdstämmigen, den Polen, den Ostseeprovinzlern, den Finnen, den Litauern. Wir sind der größte Teil Europas: aber wir sind mehr. Wir sind ein Stück der Erdkugel.«

»Ein krankes,« versetzte der Staatsrat Pommeranzeff und legte sich schnaufend die Zitronenscheibe in das Glas mit beinahe wasserhellem Karawanentee.

»Krank, weil uns der Druck des Zarismus lähmt. Das Land verarmt. Die Selbstverwaltung ermattet. Diese Flöhe am Leibe Rußlands, diese Tschinowniks, fressen uns auf!«

Die beiden anderen, der Staatsrat und der Gouverneur, waren beide selbst Kronsbeamte von einer hohen Stufe des Tschin. Aber sie nickten beistimmend, während der Fürst fortfuhr:

»Wir brauchen Methoden zur freien Entwicklung unserer Kräfte. Wir finden sie im Westen. Dort ragt das zweite Weltreich nach Europa hinein, das ebenso wie Rußland mehr als Europa, das ein Stück Erdkugel ist. England for ever! Wer England zum Freund hat, den liebt Gott! An dem Tag, da auf der Reede von Reval der Geschützdonner die Vermählung Rußlands und Großbritanniens ankündigte, ward die Welt vollkommen!«

»Vorläufig steht der Preuße vor Riga!« sagte der dicke Staatsrat kauend. »Man jagte uns aus Galizien hinaus. Polen ging vor die Hunde!«

Der Fürst machte eine Bewegung mit Hand und Schulter, als lehnte er eine lästige Bürde ab.

»Kein Kleinmut, Sergej Iwanowitsch! Erwägen wir doch mit Dank gegen Gott, was wir an England haben! Durch Menschenalter hindurch glückte uns nichts. Was wir auch taten, Gottes Wille wandte es ins Gegenteil. Wir bauten eine Flotte. England versenkte sie uns – zwölf Stunden Troikafahrt ist es nur von hier bis Sebastopol! Wir standen in Sehweite vor Konstantinopel. Im Marmarameer lag die englische Flotte und gebot uns bei San Stefano Halt. Wir gingen nach dem fernen Osten. Der Japaner zerstörte unsere Flotte und trieb uns zu Lande heim. Denn England war hinter ihm! Da endlich gingen uns die Augen auf. Wir erkannten: Wir kamen nie zum Ziel, weil wir gegen England, statt mit England waren!«

»Wahrlich: es scheint so!«

»Wir brauchen England nicht nur da draußen! Wir brauchen es mehr noch in der Seele unseres russischen Volkskörpers! Wir sind im Genesen. Wir sind mitten in der Durchführung des Prozesses, der unsere Intelligenz seit einem halben Jahrhundert beschäftigt: der Organisierung der russischen Gesellschaft. Sie kann nur durch die Aufnahme englischer Lebensgesetze in unsere Methoden des Daseins geschehen. England ist der beste Arzt!«

»Er gibt uns tüchtige Pillen zu schlucken!« sagte der Staatsrat.

»Es ist unser aller echtrussischen Leute Pflicht, nach dem Vorbild englischer Weisheit die Thesen der dortigen großen Staatsmänner zu Richtlinien unserer Zukunft zu machen. Dann ist, durch das Wasser der Themse, Rußland von allen Sünden der Vergangenheit gereinigt!«

Gospodin Pommeranzeff hustete. Es war ihm etwas in die unrechte Kehle gekommen. Der Gouverneur Perekrestoff sprach in dumpfem Baß:

»Ich verstehe kein Englisch. Ich war nie in England. Die Menschen dort sind mir fremd. Aber ich begreife klar: Dies ist der Weg!«

»Und unsere große und heilige Aufgabe ist es, die angelsächsische Orientierung des neuen Rußland gegen Deutschland durchzuführen!«

Der Fürst erhob sich schwerfällig und befriedigt. Er fühlte, wenn er die staatsmännische Ruhe seiner eigenen Stimme hörte, in sich schon etwas von der Weisheit von Westminster und von England als Erzieher. England hatte er auch die Einrichtung der Garden-Party abgesehen, des zwanglosen Empfangs im Freien, der an diesem Nachmittag viel müßige Welt von Jalta im Garten seiner Datsche vereinte. Es waren fast nur Russen und Russinnen. Unter einem kleinen Freundschaftstempel, dessen antikisierende Säulenform an das einstige Griechentum der Krim erinnern sollte, hielt die Fürstin des Hauses Cercle, verblüht und überpudert, mit einem Millionenwert an Diamanten beladen, von einer Mischung stärksten Pariser Parfüms und feinstem Rauch der Papyros im Munde umweht, und doch große Dame von Kopf bis zu Fuß. Es schien ihrem Mann an der Zeit, sich wieder unter seine Gäste zu mischen. Er ging durch die Gruppen und näherte sich lächelnd zwei langen, hageren, hellblonden Gestalten, deren phlegmatische Ruhe nichts von der Träumerei des Russen an sich hatte. Die beiden Gentlemen standen, als er herankam, zusammen etwas abseits unter einer Palme, schauten, die Hände in den Hosentaschen, auf das weite Rundbild des grünen Ufers und des blauen Meeres, und der eine sagte trocken und leise zwischen den Zähnen auf englisch zu dem anderen:

»Es ist zweifache gute Arbeit, Brewster! Wir zerstören Rußland von außen durch die Deutschen und setzen uns innen an die Stelle der Deutschen in Rußland!«

»Aber wir werden Rußland gründlicher ausquetschen, als es die Deutschen taten!«

»So hoffe ich!... O welch ein herrlicher Tag und welch ein lieblicher Platz hier, Fürst Manuchin!« Mr. Mac Nalta, der britische Agent, wandte sich mit seinem Landsmann herzlich zu dem Gastgeber, auf dessen bärtigen Zügen bei der Begrüßung der britischen Verbündeten ein breites und offenes, freundschaftliches Vertrauen der altehrwürdigen russischen Seele strahlte. Er sagte in seinem schönen Englisch, das fremdartig aus seiner flachsfarbenen Bartwildnis hervorkam:

»In der Tat, ich wählte mir den Platz für meine Datsche so, daß die Schlucht des Utschan-Ssu und dahinter das Meer den malerischen Hintergrund für meine kleine Hütte bildet.«

»Aber auch der Vordergrund hat seine Reize. Mein Freund und ich fanden es eben und waren nie einiger als in dem Wunsch, zu wissen, wer diese große, blonde, schlanke, junge Dame in weißem Kleid da vor uns ist? Ihre Schönheit würde auch im Hydepark Aufsehen erregen!«

»Es wird mir eine Ehre sein, Sie bei meiner Nichte einzuführen.« Der Knjäs geleitete die beiden verbindlich einige Schritte den Kiesweg hinab, nannte ihre Namen und ergänzte: »Fräulein Kaja Nikolajewna Wiffenhausen!«

Kaja Wiffenhausen schüttelte den Briten kräftig nach deren Landesbrauch die Hand. Sie war ein Kind der internationalen russischen Welt, die nach Belieben die Formen des Auslandes wählen und wechseln konnte. Sie sprach sofort Englisch mit den beiden Gentlemen. Vom oberen Teil des Gartens sahen Gospodin Perekrestoff und Gospodin Pommeranzeff zu, und der Gouverneur sagte:

»Der Fürst hält den Deutschen für den Antichrist, und doch ist da die Tochter seiner Schwester eine Deutsche.«

»Nur zur Hälfte, Sergej Iwanowitsch!«

»Das ist genug. Der Vater ist aus ältestem Stamm ... Ich kenne den alten Wiffenhausen von Esthland her. Ich entsinne mich: Im Bauernaufstand brannte man ihm vor zehn Jahren sein Gut Narraks nieder!«

»Die Tochter sieht ihn ja kaum. Die Eltern leben seit zwanzig Jahren getrennt. Die Fürstin verläßt Petrograd nicht mehr. Betet und fastet. Bereut ihre Sünden.«

»Sie hat allen Grund!«

»Nun – es ist lange her ...« Der grauköpfige Staatsmann lächelte, in gewisse Erinnerungen verloren. »Im übrigen – was wollen Sie machen, Sergej Iwanowitsch? Wo ist bei uns der Deutsche nicht? Auch jetzt noch im Krieg? Ein Stück von ihm findet sich, wo Russen beisammen sind, immer, selbst hier in diesem Garten! Bemerken Sie diesen einzelnen jungen Mann dort unter der Palme, mit blondem, dichtem Haar und kurzem, blondem Schnurrbart?«

Der Gouverneur Perekrestoff lenkte den Blick von Kaja Wiffenhausens strahlender, hochgewachsener, blonder Schönheit ab und blinzelte mißtrauisch.

»Ja. Er fiel mir schon auf. Er rührt sich seit einer Stunde nicht von seinem Platz.«

»Er spricht mit niemandem!«

»Wer ist der steinerne Gast?«

»Nun, wieder ein Balte. Ein Baron mit seinen Schrullen.«

»Was treibt er hier?«

»Das ist nur Gott bekannt. Er wohnt schon seit langem da unten irgendwo zwischen Tataren am Strande. Er bleibt für sich. Dann kommt er wieder in die Welt. Er ist ein Sonderling. Fräulein Wiffenhausen meint es auch. Sie kennt ihn. Ich glaube sogar, sie ist mit ihm verwandt.«

»Deswegen empfängt man ihn hier?«

»Wie sollte man nicht? Sein Vater und seine Oheime bekleiden bei uns hohe Stellungen. Seine Brüder dienen. Nur er ist ein Rätsel.«

Waldemar Kerkhuß, auf den sie blickten, saß an den braungeschuppten Stamm des Dattelbaums zurückgelehnt, mit der blasierten Ruhe eines Mannes, vor dem die Welt Komödie spielt. Sein ironischer Blick schien gleichgültig über den Mückentanz im Weltkrieg um ihn hinwegzugleiten. Dazwischen suchte sein Auge doch, halb geschlossen, mit zerstreutem Interesse eine große, schlanke, blonde Gestalt in weißem Kleid. Es zuckte kaum merklich belustigt, als beobachte er ein spielendes Kind, um seine Mundwinkel, wenn er Kaja Wiffenhausen im Schwarm der genesenden Offiziere, der Petersburger Wichtigtuer, all dieser Tschinowniks und Edelleute irgendeines Gouvernements, und Knjäsen aus Gott weiß welchen tatarischen Geschlechtern auftauchen und verschwinden sah. Er dachte sich, halb schäfrig von Sonne und Schweigen: Geh du nur auf den Männerfang! Ich brauche nur die Hand zu heben, so fang' ich dich ...

Neben ihm rückte ein Gartenstuhl. Ein zierlicher, alter Herr hatte da Platz genommen. Er sah, fein und gepflegt, mit seinem weißen Haar und weißem Henriquatre wie ein gepuderter kleiner Marquis des Ancien Régime aus. Waldemar Kerkhuß winkte stumm dem Grafen Jaroszynski zu, dem russisch-polnischen Magnaten, der seit Kriegsbeginn nicht mehr den gewohnten Paß auf seinen winterlichen Landsitz in Abbazia bekam und in der Not seine hustende Lunge statt an der Adria hier in der Krim mit Salzluft füllte. Eine Weile saßen die beiden, der junge Balte und der alte Sarmate, schweigend nebeneinander und betrachteten das Bild der Menschen vor sich, an denen sie keinen Anteil hatten. Sie dachten beide das gleiche.

»Man muß Philosoph sein, Graf!« sagte Waldemar Kerkhuß endlich in seinem lässigen Französisch, in dem nichts von dem markigen Ton des Deutsch der Ostseeprovinzen mitklang. »Die Völker bringen sich um. Wir gehören zu keinem anerkannten Volk. Wir haben das Recht, zu leben, statt der Pflicht, zu sterben! Fügen wir uns! Schauen wir zu!«

»In welcher Eigenschaft?« frug Thaddäus Jaroszynski.

Waldemar Kerkhuß hob hochfahrend den blonden Kopf.

»Als unabhängige Edelleute. Wir sind bevorzugt durch Geburt, Bildung, Besitz. Niemand verlangt Taten von uns beiden! Wir beide gehören zu den wenigen Menschen, die noch frei sind. Die noch tun können, was sie wollen.«

»... und was sollten wir tun?«

»Mein Gott ... das fortsetzen, worin der Krieg die Menschheit unterbrach!« sagte Waldemar Kerkhuß gleichgültig und schlug ein Bein über das andere. »Menschen im alten Sinn sein! Wir sind die Eremiten der Kultur. Ein paar Menschen müssen doch schließlich leben bleiben, um das, was lebenswert ist, in künftige Zeiten hinüberzuretten ...«

»Ich habe Ihre Weltflucht bewundert,« sagte der alte Pole, »als ich Sie neulich in Ihrem Häuschen am Strand besuchte. Sich heutzutage in Bücher zu vergraben ... mein Gott ja ... was lag nicht alles um Sie herum ... auf dem Tisch ... auf den Stühlen ... auf dem Boden ... Mit was beschäftigen Sie sich eigentlich nicht?«

»Nun – lassen Sie mir doch den Schützengraben, den ich um meine Welt zog! Ich halte meine Welt für die wirkliche ...«

Der Greis neben ihm schüttelte den Kopf.

»Nein. Die Wirklichkeit unserer Tage heißt Krieg! Der Irrtum, in den Sie jetzt verfielen, hieß mein Leben. Ich hielt die Kunst für das Leben und das Leben für eine Kunst! Aber jetzt ist das Sterben die Kunst geworden. Ich denke sie bald zu üben und gern. Das Leben hat mir nichts mehr zu sagen. Ich verstehe die Mundart der Kanonen nicht. Ich bin zu alt dazu.«

Waldemar Kerkhuß blieb stumm.

»Aber Sie, Baron Kerkhuß, sind jung. Sie werden es noch lernen. Sie werden müssen. Diesem Krieg kann man so wenig entgehen wie dem eigenen Schatten, trotz dieser Täuschung da vor uns ... der farbigen Kleider... der Palmen, der schönen Frauen ... Oder haben Sie in Ihrer Weltflucht Ruhe gefunden? Hand aufs Herz! Nun – Schweigen ist auch eine Antwort!«

»Nein!« sagte Waldemar Kerkhuß nach einer Weile in einem gequälten und unruhigen Ton. »Nein. Nein ... das ist der Weg nicht. Er führt nicht weiter ...«

»Es gibt Zeiten, wo man handeln muß, um zu denken, und die Augen zumachen muß, um zu sehen. Wir beide glauben, die Erde sei krank. Aber vielleicht sind nur wir krank, weil wir nicht handeln, sondern untätig zuschauen. Wir sind noch mit unzähligen kleinen Gewichten belastet. Für die anderen ist die Welt so furchtbar einfach geworden, daß jeder, bis zum Wilden hinab, seinen Platz in ihr sieht und begreift. Alle Fragen, mit denen wir uns plagen, sind für die anderen auf den Anfang aller Dinge zurückgeführt, das erste Naturgesetz: den Kampf ums Dasein! Töte, damit du nicht getötet wirst! Warum lachen Sie?«

»Nun – wenn dem so ist ...,« sagte Waldemar Kerkhuß, »warum haben wir dann gelernt, auf zwei Beinen zu gehen und uns mit all dem Ballast zu behängen?... Dann haben diese Leute hier freilich recht: sie lassen die draußen sich umbringen, und sie selber tanzen und springen. Warum soll man auch nicht heiter sein?«

»Ich sehe wenig davon in Ihrem Gesicht.«

»Nie war man in Venedig ausgelassener als zur Zeit der Pest. Rußland beginnt zu wanken. Wer Rußland kennt, fühlt es. Warum soll man da nicht seinen Karneval feiern und das Leben genießen? Gerade wir? Von uns verlangt man ja nicht, zu sterben! Wir überleben ja das große Morden. Uns gab das Schicksal alles. Wir können uns alles nehmen.«

Auf der grünen Rasenfläche vor dem griechischen Säulenrund des Tempelchens hob sich Kaja Wiffenhausens königliche Gestalt. Sie war so groß, daß sie die meisten Herren um sich überragte. Nur die beiden Briten schauten noch in ihrer Länge auf ihren lachenden blonden Kopf herab. Ihre Wangen waren gerötet. Sie sprach Französisch und Englisch in einem Satz durcheinander, dazwischen laut ein paar russische Worte hinüber zu ihren Verwandten, dem Fürsten und der Fürstin.

Waldemar Kerkhuß versank stumm in ihren Anblick. Er dachte sich: Ja... du bist schön... Und dann, mit einer Wiederkehr lässigen und selbstsicheren Herrenbewußtseins: Und du weißt, wer der Erbe von Kerreküll ist, der vier Hengste lahm fährt, wenn er seine Güter umkreisen will... Ein anderer Mann als diese Wichtigtuer von Jalta da um dich... Er warf so ungestüm das Haupt herum, daß der blonde Schopf flog, und sagte zu dem alten Polen:

»Sie haben ganz recht: man muß die Augen zumachen. Vielleicht ist es ein Vorurteil, daß alles ohne Ausnahme leiden und dulden muß. Ein paar Auserwählte bleiben immer übrig. Man darf nicht fragen, warum gerade wir? Aber es wäre undankbar gegen das Schicksal, das Geschenk auszuschlagen.«

»Ich meinte es anders!« versetzte der kleine Graf. Waldemar Kerkhuß lachte.

»Aber ich lege es mir jetzt so aus! Sie sind zu alt zum Sterben, ich zu lahm! Warum soll man nicht Mensch sein, wenn man nicht mehr sein kann, sondern zwischen den kämpfenden Völkern steht?«

»Mein Schicksal ist das nicht mehr, und so lange möchte ich noch leben ...« Graf Thaddäus Jaroszynski stand auf. »Dieser Sommer 1915 hat sich vollendet. Warschau ist frei. Die Deutschen haben es uns erobert. Die polnischen Festungen sind von ihnen genommen! Nun gebe uns Gott das zweite Wunder, daß wir die polnischen Provinzen von Preußen reißen können. Dann folgt Galizien nach.«

Er sagte es leise und vorsichtig, noch schuldbewußt. Man konnte hier wohl von Dank an Deutschland sprechen, aber noch nicht von Abfall von Rußland. Seine Gestalt war, während er langsam durch den Park dahinging, so klein und schmächtig, daß sie, ohne das weiße Haar im Nacken, an einen Knaben erinnert hätte. Waldemar Kerkhuß schaute ihm tiefsinnig nach. Polen... da stand wieder, fern hinter der goldenen Sonne und dem blauen Meer des schmeichelnden Südens hier, die schwarze Wetterwand des Ostens. Zeichen und Wunder flammten an ihr... Rätsel des Himmels, die kein Verstand zu deuten vermochte. Polen von den Deutschen befreit... ja ... das war im Bereich der Möglichkeit... Aber du meine weltferne Heimat hoch da oben im Norden... seit zwei Jahrhunderten in Rußlands Hand und seitdem nie vom Feind betreten... Wer drang je bis zu dir? Wie käme je ein Gegner Rußlands bis zu dieser äußersten esthnischen Thule am Finnischen Meer? Eher stiege der Mann vom Mond hernieder...

Und doch hörte er in diesem Augenblick hinter sich ein Raunen auf englisch. Es waren die beiden britischen Agenten.

»O... in der Tat! Neue Kämpfe in Kurland?«

»Die Deutschen stehen stärker als je vorher an der Düna, an der Grenze Livlands.«

»Ist es Ihre Meinung, Mac Nalta, daß die Goten weiter vorrücken?«

»Nichts scheint mir und jedem, der etwas davon versteht, unmöglicher, Brewster! Riga und Dünaburg sind Plätze, die keine menschliche Hand zu nehmen vermag. Im nächsten Frühjahr wälzt sich die russische Lawine wie überall, so auch über Kurland, gegen Deutschland zurück.«

»Das scheint Ihnen sicher?«

»Unbesorgt, alter Bursche! Deutschland wird zu tun haben, seine eigenen offenen Grenzen im Osten zu verteidigen! Wie könnte es noch Eroberungen festhalten?«

Waldemar Kerkhuß hatte sich unruhig erhoben. Er stand wieder allein zwischen den Menschen. Ein schwüler, berauschender Blumenhauch wehte durch die südliche Pracht. Die Wipfel der Zypressen neigten sich träumerisch im kosenden Wind. Es gab, in diesem Farbenspiel der Teppichbeete und Rosenschauer und Orangensterne, in diesem Gewirr sorglos heiterer Stimmen, in diesem Sprühen der Diamanten und matten Glanz der Perlenschnüre nichts, was an Schmutz, Armut, Krankheit das Auge beleidigte. Das Lachen der Männer klang tief und gutgelaunt, das der Frauen hell und silbern. Waldemar Kerkhuß sah und hörte alles und sagte sich: Das ist das Ziel, wofür die Menschheit im Blut erstickt, daß überall, an irgendeinem Platz der Erde, eine Handvoll Sonntagskinder sich in Selbstsucht und Frieden sonnt. Dafür jagt Rußland seine Muschiks zu Millionen in den Tod.

Aber wenn man selbst zu den Sonntagskindern gehört?...

Dort stand Kaja. Es ging ihm durch den Kopf: Ja. Du bist schön ...

Und ein Achselzucken über die Dinge hinter einem... eine lockende Ergebung in das Schicksal: Die Welt ist wahnsinnig geworden! Seien wir es mit!...

Er ging durch den Garten Eden in der Richtung, wo er Kaja Wiffenhausen zuletzt gesehen. Um ihn schwirrte es. Vom Krieg. Aber der Krieg war fern. Er wandelte sich hier in Wohltätigkeit. Die Damen würden Blumensträußchen für die Lazarette bei Oreanda und Alupka binden. Es gab in Jalta einen Bußgottesdienst in der Alexander-Newski-Kathedrale, bei dem Vater Cyrill, der Wunderpope, selber mit seinem mächtigen Kellerbaß das »Herr, erbarme dich« anstimmen würde. Es gab hinterher mit flinken Daimlerwagen einen Ausflug nach Ai-Todor oder mit dem Boot zur Puschkingrotte. Es gab den Plan einer Besteigung des Zeltbergs mit berittenen tatarischen Führern. Es gab ferner einen Vortrag eines französischen Conferenciers im Hotel Rossija. Es gab morgen eine Wohltätigkeitsvorstellung zugunsten des Roten Kreuzes im Kursaal des Stadtgartens am Seeboulevard.

Waldemar Kerkhuß stand vor Kaja Wiffenhausen. Sie hatte noch ein paar Eintrittsscheine für dieses Fest übrig. Es wurden auch lebende Bilder gestellt. Sie selbst wirkte dabei als Mädchen von Arles mit.

»Es wird Ihnen nicht stehen,« sagte er kalt und legte einen Hundertrubelschein auf den kaukasischen Teller, ohne eine Karte zu nehmen. »Sie haben kein griechisches, sondern ein germanisches Profil.«

Das Wort erregte Befremden. Es klang schon an das an, was hier in Acht und Bann war, was keiner über die Lippen bringen durfte, was man am liebsten als überhaupt endgültig aus der Welt geschwunden betrachtete, das Wort »Deutsch«. Kaja Wiffenhausen verfärbte sich ein wenig unter seinem forschenden Blick. Sie lenkte ab.

»Wenn ich Ihrer nicht würdig bin, so begleiten Sie uns heute in die Conférence! Professor Isoard aus Paris hält einen Vortrag über die Notwendigkeit des Kriegs!«

»Professor Isoard ist ein Schwätzer!«

Waldemar Kerkhuß sagte es in einem kalten Dünkel gegen seine Umgebung. Er setzte hinzu:

»Er wird den Verwundeten erzählen, daß der Schmerz bloße Einbildung ist. Er paßt vollkommen hierher. Das Sterben ist der reine Unfug. Warum denn auch? Man kann ja leben! Wir leben ja hier alle! Sogar sehr vergnügt!«

»Sind Sie immer so ironisch, Baron?«

»Nun – es ist auch eine Art, über die Dinge hinwegzukommen: Wenn mir etwas mißfällt, leugne ich es. Darin sind wir doch hier einig. Zu diesem Zweck haben wir uns doch hier fern von der Welt versammelt.«

Er hatte dabei ein schneidendes und nachlässiges Lächeln. Er sah Kaja an und sagte auf russisch zu den anderen:

»Fragen Sie nur Kaja Nikolajewna. Sie ist trotz ihrer Jugend eine Lebenskünstlerin. Sie wird Ihnen erklären, daß auch der Krieg seine Freuden hat. Ohne ihn wäre unser Frieden hier zu banal. Jeder könnte ihn haben. Erst der Krieg draußen gibt ihm seinen prickelnden Reiz.«

»Sie lieben die Widersprüche!«

»Mein Gott ... ich bin ein Mensch, und jeder Mensch ist zu sich selbst ein Widerspruch. Nicht wahr?«

Er sah dabei Kaja Wiffenhausen an, mit einer Frage in den großen, blauen Augen: Hast du nicht auch ein Halbteil deutsches Blut in den Adern? Die blonde Schönheit vor ihm hob mit einer slawisch leichtsinnigen Bewegung die Venusschultern.

»Baron Kerkhuß ist immer so. Man muß ihn nehmen, wie er ist. Er spielt nun einmal den Menschenfeind!«

»Den Frauenfeind!«

»Das ist ein und dasselbe!«

Die jungen Frauen lachten. Die Herren mit. Kaja Wiffenhausen verfiel plötzlich in das Esthnische, das in diesem Kreise nur Kerkhuß und sie verstanden. »Warum gießen Sie denn wieder Ihr Scheidewasser auf alles!« sagte sie und schlenderte mit ihm ein paar Schritte zur Seite, groß, schlank, den königlichen Kopf mit dem verächtlichen Ausdruck russischer Schönheiten im Nacken. »Finden Sie es so geistreich, alles zu verneinen? Ich nicht! Das bringt bei uns hier jeder Nihilist fertig. Sind Sie ein Popensohn und ich eine Kursistin, daß wir den anderen Russen hier so ein Schauspiel geben?«

»Ich bin überhaupt kein Russe und Sie nur halb!«

»Was sind Sie denn?«

»Unzufrieden bin ich mit allem um mich her!«

»Da würde ich mit mir selber anfangen, Waldemar Konstantinowitsch!«

»Wer sagt Ihnen denn, daß ich das nicht tue?«

»Warum sind Sie dann gekommen, um mich vor aller Welt hier zur Rechenschaft zu ziehen?«

Ihr Atem war heiß. Eine schwüle Wolke von Wohlgeruch umwehte sie nach slawischer Art. Ihr Busen hob und senkte sich heftig. Er stand dicht neben ihr und sagte finster wieder auf russisch:

»Sie sind mir ein Stein des Anstoßes. Ich ärgere mich jedesmal, wenn ich Sie sehe! Warum gab Gott so viel Leere in solch schönes Gesicht?«

Kaja Wiffenhausen lachte hell auf.

»Weshalb sind Sie denn immer da, wo ich bin?«

»Ja. Ich weiß es auch nicht!« sagte Waldemar Kerkhuß nachdenklich.

»Sie werden heut mit in die Conférence kommen. Sie werden morgen in der ersten Reihe sitzen und mich als lebendes Bild mit Ihren großen blauen Augen anstarren!«

»Wie sollte ich nicht? Sie sind schön!«

Kaja wurde unter seinem Blick plötzlich ernst und etwas blaß. Ihr Gesicht gewann unter dem Myrtenschatten, in dem sie stand, einen geisterhaften und geheimnisvollen Reiz. Er wußte: das war auch nur ein Teil des Spiels zwischen ihm und ihr. Aber er wandte das Auge nicht von ihr. Er wurde unvermittelt heftig.

»Was machen Sie aus sich? Wie lebt ihr hier? Ihr seid wie die Mücken über dem Wasser. Habt ihr denn keinen Ernst und keinen Schmerz in dieser Zeit?«

Kaja Wiffenhausen schwieg und zündete sich eine Zigarette an. Der Feuerschein lief leuchtend über ihr trotziges und dabei doch lächelndes Gesicht. Sie sah ihn erwartungsvoll an, daß er weiterreden solle, mit einem Blick von unten herauf, zutraulich wie ein Kind. Er dachte sich: Du hast viele Künste. Man kennt sie. Man kennt dich durch und durch und muß sich doch täglich gegen dich wehren ... Dann brach er wieder los:

»Was sind das für Menschen hier, mit denen Sie herumlaufen? Warum sind Sie nicht bei Ihrem Vater?«

Sie zuckte nur die Achseln. Der alte Wiffenhausen ... wenn man ihn einmal im Jahr auf acht Tage in seinem niedergebrannten esthnischen Schloß am Meer besuchte, hatte man seine kindlichen Pflichten erfüllt.

»Und Ihre Mutter?«

Maman war in Petrograd und betete. Die anderen dort amüsierten sich. Alle Welt amüsierte sich in Petrograd. Man schrieb ihr von dort entzückt. Das Leben war noch leichter und schneller als im Frieden. Wohltätigkeitsfeste ... Empfänge bei den Großfürstinnen ... Feiern zu Ehren der Verbündeten ... Das Geld rollte. Der Krieg ließ alle Pulse höher schlagen ...

»Ja. Ihr seid alle im Fieber. Aber einmal kommt der kalte Wasserstrahl.«

Waldemar Kerkhuß maß das Weltkind vor ihm mit einem strengen und düsteren Blick. Sie schüttelte das mit einer Bewegung des blonden Kopfes, in dem ein Diamantendiadem glitzerte, wie eine Fliege von sich.

»Warten wir's ab! Vorläufig sitze ich hier warm in der Sonne. Ich habe keinen Sinn für Weltschmerz. Die Leidensmiene steht mir nicht. Ich lasse sie Ihnen. Sie haben sich eine ganz gute Maske zurechtgelegt. Sie sind interessant. Täglich werde ich nach Ihnen gefragt!«

Kaja Wiffenhausen warf die Papyros achtlos hinter sich und stand slawisch lässig vor ihm, die Hände auf dem Rücken, an den Stamm eines Drachenbaumes gelehnt, der phantastisch seine schlangenartigen Äste über ihrer weißen Schlankheit spreizte.

»Aber ich warne Sie als Freundin, Waldemar Konstantinowitsch, spielen Sie Ihre Rolle nicht zu lange! ... Ein vornehmer, junger Mann, der zu ernst für den Krieg ist ... Es reizt einen ... man ärgert sich ... Eine Zeitlang war sogar ich neugierig ... Aber Sie fangen bald an langweilig zu werden ... ich merke es an mir ...«

Die ersten Schatten des Abends senkten sich hernieder ... Kaja Wiffenhausens Antlitz wurde weich vor Sehnsucht, während sie gläubig zu dem allmählich dämmernden Himmel aufsah.

»Wenn Sie schon vor dem Krieg fliehen – warum machen Sie es nicht wie wir und sind vergnügt? Manche sagen, daß man jetzt nicht tanzen soll ... Gestern abend tanzten wir doch ... am Strand ... Wir warfen Schatten im Mondschein, wie wir uns unter den Palmen drehten ... wie ein Geistertanz ... Arkad Stepanowitsch spielte auf der Balalaika ... Er konnte nicht mitmachen wegen seiner Wunde am Fuß. Er saß und sah zu ...«

Waldemar Kerkhuß erwiderte nichts. In seinen kühlen Mienen stand: Eifersüchtig machst du mich nicht mit deinem Arkad, dem Grodnoer Taugenichts! Ich weiß, daß du mich doch nimmst, wenn ich will. Kalt berechnend, wie du bist ...

»Ach, ich hätte zehn Jahre früher auf die Welt kommen sollen, Waldemar Konstantinowitsch, dann hätte ich mein Leben genossen. Jetzt bin ich um meine Jugend geprellt und wahrscheinlich auch um meine Zukunft, wenn dieser Krieg noch lange weitergeht. O, ich hasse ihn!«

»Wer haßt ihn nicht? Nur aus anderen Gründen ...«

»Aber er wird bald zu Ende gehen! Sie sagen es alle! Und dann wird alles wie früher! Ach, ich freue mich ja wie ein Kind auf Paris ... Machen Sie doch nicht solche Augen ... man könnte sich vor Ihnen ängstigen! Niemand wird aus Ihnen klug. Was treiben Sie eigentlich hier?«

»Ich suche.«

»Was denn?«

In ihren glänzenden Augen lockte die Frage: mich? Aber Waldemar Kerkhuß machte nur eine Handbewegung:

»Lassen wir's!«

Und dann, nach einem Schweigen:

»Ich gehe auch weg.«

»Wohin?«

»Ich weiß es nicht!«

Kaja Wiffenhausen schaute ihn an und sagte:

»Sie sind ein sonderbarer Mensch!«

Es klang halblaut und weich in ihrem sanften Russisch. Plötzlich wurde er wieder lebhaft. Es war wie ein Selbstgespräch, das er rasch und eindringlich anfing:

»Man könnte ja weit von hier fort ... aus Europa ... in ferne Länder ... wo das alles nicht hinkommt, was uns hier verwirrt! Es gibt doch noch Paradiese auf Erden. Man könnte träumen ... ruhen ... vergessen ...«

»Wir sind ja hier in einem Paradies!«

»Nein. Hier ist der Krieg. Wer im Krieg seinen Platz nicht findet, muß Meere und Länder zwischen sich und den Krieg legen. Sonst stirbt er am Krieg, so gut wie einer draußen.«

»Wo sollte man hin?«

»Die Welt ist groß. Man könnte in Argentinien Güter kaufen. Sich ein Königreich in den Steppen gründen. Frei leben. Es gibt spanische Inseln, auf denen ein ewiger Frühling ist. Man würde in Java, oben auf den Bergen, zwischen seinen Plantagen, Europa vergessen können ...«

Er brach ab. Er sah einen kaum merkbaren Anflug von belustigtem Zucken um die schwellenden roten Lippen drüben. Ihr Antlitz blieb ganz ernst. Sie hörte ihm scheinbar andächtig zu. Aber in ihren Augen las er die kaltblütige Zuversicht, las durch diese blauen Sterne hindurch in ihrer Seele das ruhige: Wenn ich dich nur erst habe, folgst du mir in meine Welt. Kommst mit zu den Meinen. Nach Petrograd und Paris. Ein Schrecken überfiel ihn. Er vergletscherte auf einmal wieder, in seinem hochmütig die Mitmenschen auf drei Schritte vom Leibe haltenden Lächeln.

»Nun – ich muß jetzt gehen!« sagte er, als ob er es unvermutet sehr eilig hätte, schüttelte Kaja Wiffenhausen freundschaftlich die Hand und verließ, ohne sich weiter von jemandem zu verabschieden, den Kragen gegen die Abendkühle hochschlagend, den Blick am Boden, den Garten.

Zerstreut schritt er die Autskajastraße hinab. Es dämmerte nun schon stark. Jetzt, wo man im einfallenden Dunkel die buntfarbige Tünche der Datschen, der Landhäuser, die weißen Schirmkappen, die schwarzen Astrachanmützen und feldbraunen Mäntel der Russen, die vereinzelten morgenländischen Gestalten der Tataren nur noch undeutlich sah, konnte man sich, wenn man stehenblieb und die Augen schloß, einbilden, in Italien zu sein. Es war dasselbe weiche Spiel der Luft, das Meeresrauschen in der Ferne, Blütenduft, hier noch eindringlicher, in dieser unwahrscheinlichen Zuflucht zwischen nordischem Winter und Schwarzem Meer, die die Ostküste der Krim hieß.

Waldemar Kerkhuß kam aus seinen Gedanken zu sich. Er zog einen Brief aus der Tasche und las ihn noch einmal mühsam im Zwielicht. Es waren französische Lettern. Feine, zitternde Züge. Die Mutter schrieb. Sie, die ihn einst in deutscher Sprache beten gelehrt, durfte nicht wagen, ihrem Sohn in deutschen Worten Nachricht aus Esthland, wo jetzt wohl schon bald die ersten Schneeflocken über Sumpf und Heide flogen, in die Sonne des Südens zu schicken. Sie durfte kein Wort von dem erwähnen, was er zwischen den Zeilen las: daß da oben in den Ostseeprovinzen alles beim alten war, die alte Bedrückung weiterging, das Deutschtum starb, die Hoffnung erlosch. Sie schrieb nur Familiennachrichten. Hauptsächlich über das Befinden des Vaters. Baron Konstantin von Kerkhuß kränkelte seit einiger Zeit. Dr. Frälsemann, der Arzt des Kirchspiels, hatte nichts Eigentliches gefunden und war doch besorgt über diesen plötzlichen Verfall. Und wieder mußte er, der Sohn, aus den Gedankenstrichen am Schlusse erraten, was das Leiden war, das an der hohen, vornehmen Gestalt des alten Grandseigneurs nagte: der Dank von Rußland für ein langes, in seinem Dienst verbrachtes Leben. Der Dank von Rußland für zwei Jahrhunderte deutscher Treue eines alten deutschen Geschlechts. Der Dank von Rußland an seine Zuverlässigsten, weil unbestechlichen. Der Dank von Rußland, der Vernichtung des Deutschtums in baltischen Landen hieß.

Dort ferne in der Dämmerung hinter Europa brütete der asiatische Koloß. Ein Frösteln überlief Waldemar Kerkhuß trotz der wohligen und weichen Wärme der südlichen Luft. Es war dasselbe Zurückfahren vor dem Abgrund wie vorhin, als er in Kaja Wiffenhausens Augen jählings den Osten gesehen hatte. Er schritt weiter. Es ging ihm wieder durch den Kopf: Kurland in deutscher Hand ... Aber wie lange vielleicht nur? ... Und dann? Ihr Brüder da unten im alten Ordensland ... Ihr steht schon vor dem großen Schicksalswegweiser ... Namen fielen ihm ein ... Namen von solchen, die sich schon entschieden hatten ... Erik Stier mit seinen drei Söhnen war offen hinüber zu den Deutschen, Professor Krummaß, Baron Dalen, Baron Treutlingen, Pastor Feilitz und noch viele andere, die er kannte, und zehnmal mehr, die er nicht kannte. Alles harrte da ... hoffte ... Aber jenseits der Düna hielt der Moskowiter nach wie vor Wache ...

Da war die Nabareschenja, die lange elegante Promenade mit ihren kaukasischen Luxusläden auf der einen Seite, von der anderen der Blick über das Meer, dessen schwarzen Spiegel nun schon der Mond mit dem Gefunkel silberner Schuppen übersäte. Gegen Abend hatte sich die See beruhigt. Sie plätscherte nur noch in kleinen Wellen um die Pfähle des in das Wasser hinausgebauten Strandpavillons. Waldemar Kerkhuß saß stumm und allein an einem Tisch und rauchte. Die Menschen um ihn waren ihm Luft. Er vernahm mit halbem Ohr das leise, lebhafte Russisch ihres Gesprächs. Der Krieg ... der Krieg auch hier ... Polen ... Galizien ... der Balkan ... Armenien ... von den Ostseeprovinzen war kaum die Rede. Sie waren ein Nebenschauplatz des Völkerringens, dessen Ausgang auch über sie entschied. Die Nacht ringsum war dunkel. Welches Menschenauge vermochte durch ihre Geheimnisse in die Zukunft zu schauen?

Waldemar Kerkhuß dachte sich: Gläubige Augen gibt es, die auch im Dunkel sehen, weil das Licht in ihnen ist. Elise Metztak ging unbeirrt mit ihrem Mann nach Deutschland. Ist in dem so unwahrscheinlich fernen, von der Menschheit abgeschlossenen Berlin ... Ich kann ihr nicht mehr schreiben. Keinen Brief empfangen. Monate sind es her, daß ein letztes Lebenszeichen von ihr über Schweden kam ... die Tore sind zu ... die Riegel liegen überall vor ... Deutschland drüben ist das große Schweigen.

Er saß versonnen, den Kopf in die Hand gestützt. Er fühlte sich einsam und sagte sich selbst: Du bist einsam, weil du nur an dich denkst! Und dachte sich wieder: Muß ich es nicht? Ist nicht mein erstes vererbtes Gebot das der Selbsterhaltung? Wo wären wir hingekommen, diese Handvoll deutscher Geschlechter im baltischen Norden, allein in der ungeheuren Überzahl undeutscher Welt, von Deutschland getrennt, von den Polen, Schweden, Dänen bedroht, vom Russen überschwemmt, – wo wären wir hinverweht und zerstoben in den langen Jahrhunderten, wenn nicht dies ecce Ego unser Leitstern im Leben gewesen wäre? Für uns war Selbstsucht längst nicht mehr eine Eigenschaft, sondern eine Notwendigkeit, kein Charakterzug, sondern eine Vorbedingung zum Dasein ...

Die Asche stäubte von der Papyros in Waldemar Kerkhuß' Hand, so kräftig hatte ihn jemand von hinten auf die Schulter geschlagen. Er zog die Augenbrauen hoch und drehte sich langsam um. Der Knjäs Manuchin stand vor ihm, die massige Gestalt in einen weißen Staubmantel gehüllt, eine blaue Jachtmütze auf dem grobgeschnittenen Barbarenkopf mit den westlich nervösen, durchdringenden und leidenden Augen.

»Ich machte noch einen Spaziergang,« sagte er, »diese langen Gespräche ... diese vielen Menschen am Nachmittag ... es gibt da schließlich eine Trübung des Kopfes ... Ich sah Sie im Vorbeigehen sitzen ... einsam, wie meist ...« »Belieben Sie Platz zu nehmen, Fürst!«

»Gut!« Der Knjäs setzte sich schwer und klatschte befehlend in die riesigen Hände. »Höre, Mensch!«

Der Tatar kam.

»Bring' Tee, Butter, Brot! Warte!« Er hielt den Kellner zurück. »Du wirst mir einen Vorschmack geben, Boeuf à la Stroganoff ... eine Assetrina ... habt ihr?«

Jawohl, es gab diese Butte des Schwarzen Meeres. Boris Wladimirowitsch Manuchin nickte bedächtig. Er hatte den Magen des wahren Russen, der immer Zufuhr vertragen konnte und Zufuhr verlangte. Er drehte sich behutsam eine Zigarette und frug:

»Wie lange denken Sie noch hier zu bleiben, Waldemar Konstantinowitsch?«

»Wie soll ich es wissen?«

»Belieben Sie: wir haben Mitte Oktober. In wenigen Wochen ist hier Stille. Man geht wieder nach Moskau. Man geht nach Petrograd. Auch die Fürstin und ich. Kaja begleitet uns dorthin zu ihrer Mutter zurück. Es ist Zeit, sich eine Nummer für den Luxuszug von Sebastopol einschreiben zu lassen.«

»Ich werde diese Nummer niemandem rauben!«

»Und was tun Sie hier? Gestatten Sie, daß ich einmal als Freund zu Ihnen spreche!«

Im Schweigen des anderen war ein sonderbares Lächeln. Kaja Wiffenhausens Oheim bemerkte es nicht. Er schlürfte den dampfenden Tee eines Hitzegrades, den kein Westeuropäer vertragen hätte, und stellte das Glas am Handgriff des silbernen Untersatzes wieder hin.

»Man beschäftigt sich mit Ihnen, Waldemar Konstantinowitsch ...«

»Wer das? Die Polizei?« »Erbarmen Sie sich! Nein: Menschen, die es gut mit Ihnen meinen. Ich hier etwa.«

»Ich danke Ihnen, Boris Wladimirowitsch!«

»Wie ist das doch mit Ihnen? In welch nihilistischer Stimmung sind Sie? Man sieht es Ihnen an. Was ist das für eine Leere um Sie, dem Gott alles gab, Jugend, Gesundheit, Kraft, ein Äußeres, wie es die Frauen lieben, vornehmen Namen, Güter, Reichtum ...«

»Vergessen Sie ein lahmes Bein nicht, Fürst!«

»Vielleicht ist auch dies eine Gnade Gottes. Ohne dies steife Knie wären Sie ins Feld gezogen, lägen jetzt vielleicht schon unter der Erde ...!«

»Möglich!«

»Nun denn, diese Gaben verpflichten. Wer darf jetzt in dieser furchtbaren Auseinandersetzung über die Methoden des Lebens in den nächsten Jahrhunderten abseits bleiben? Rußland will Sie ...«

»Mich?«

»Wie denn nicht?«

»Mich, einen Russen deutschen Namens? Lieben Sie die Deutschen, Knjäs?«

Der Fürst schnalzte abwehrend mit der Zunge, schüttelte das slawische Apostelhaupt, fuhr sich mit der Hand durch den Bart.

»Nun – es gibt Ausnahmen! Auch bei mir! Sie selbst sind der Beweis. Heute mag Ihr deutscher Ursprung für Sie in Petrograd noch ein Hemmschuh sein. Morgen nicht mehr. Die Zukunft gehört Ihnen, wie jedem, der an der Erneuerung der russischen Gesellschaft selbstlos mitzuarbeiten bereit ist!«

... und Kaja Wiffenhausen zur Herrin von Kerreküll macht! dachte sich Waldemar Kerkhuß. Er lächelte und schwieg. Der Knjäs ihm gegenüber fuhr mit seiner Gabel in die Schüsseln, nahm zwischen den einzelnen Bissen einen Zug aus der Papyros, die auf dem Tischtuch neben ihm glimmte, und stieß den Rauch durch die breiten Nasenlöcher. Dabei lag doch in allem, was er sprach und tat, über ihm das Wesen des vornehmen Mannes, nur von einer Art, die den Übergang aus Westeuropa nach Asien bedeutete.

Fürst Boris Wladimirowitsch Manuchin war ein Schüler dieses Westens und ein Sohn der großen russischen Welt, der er durch Geburt und Stellung angehörte, und die er doch leidenschaftslos von außen her zu sehen sich bemühte. Er redete von ihr wissenschaftlich wie der Arzt am Krankenlager. »Wie kam das alles?« sagte er mit seiner weichen, hellen, durch ihre Ruhe überzeugenden Stimme. »Wir haben seit tausend Jahren, seit Rurik, Sineus und Truwor die Zaren! Der Gossudar war für uns Gottes starke Hand. Wer nicht stark war, den schied die russische Seele gewaltsam aus. Peter der Große tötete seinen Sohn. Iwan der Vierte starb in Schlüsselburg im Kerker. Peter der Dritte wurde vom Thron entfernt und begraben. Paul den Ersten habt ihr Balten selbst an den Beinen aus dem Kamin gezogen, ihm den Ruß aus dem Gesicht gewischt – Er ist es! – und mit euren Schärpen erwürgt. Gut. Nun aber drang durch Polens Teilung der Westen bei uns ein. Es hieß: Auch das Schwache hat ein Recht zum Dasein! Auch ein schwacher Zar!«

Waldemar Kerkhuß betrachtete stumm und gespannt das bärtige Urbild Rußlands vor ihm, dessen geistvolle und leidende Augen in das Dunkel der Nacht, in der Richtung nach dem nahen Zarenschloß, hinauswiesen. Die Stimme raunte nur noch im leisesten Flüstern:

»Er dort – der in diesem Augenblick da drüben in Livadia sein Leben verträumt – er, der Zar, ist ein Schwächling. Sein Sohn ein Krüppel ohne Erziehung. Auch da nichts zu hoffen. So ruht Rußlands Dasein auf sich selbst. Es muß seine eigenen Kräfte sammeln. Es muß, nach den Formeln westlicher Freiheit, seine Kultur organisieren!«

Knjäs Manuchin faltete seine mächtigen Fäuste, denen man eher zugetraut hätte, daß sie im Birkenwald die Zimmermannsaxt führten, als daß sie seine in der politischen Welt weit bekannten Essays in englischer und französischer Sprache schrieben, die er gleichmäßig wie das Russische und auch das Deutsche beherrschte. Er ließ seinen Geist in Petersburger Widersprüchen glitzern.

»Was ist dies Rußland des Zarismus heute? Ein organisiertes Chaos. Eine allgemeine Anordnung, die nur dadurch besteht, daß die Verwirrung überall gleichmäßig sich die Wage hält. Ein Selbstherrscher, der sich nicht selbst beherrschen kann. Ein Adel, der zur Beamtenschaft wurde, weil die Aufhebung der Leibeigenschaft ihn ruinierte. Eine Beamtenschaft, die stiehlt, weil ihre Gehälter sie verhungern lassen. Ein Muschik, der hungert, weil das Korn unserer schwarzen Erde vor seinen Augen in das besser zahlende Ausland geht. Ein Hebräer, der hungert, weil man ihn in den Ghettos Polens und Beßarabiens einpfercht. Ein Kosak, der mit seiner Nagaika den hungernden Muschik niederschlägt, weil er den hungernden Hebräer tötete. Eine Intelligenz, die mißvergnügt ist, weil sie diese Wunden Rußlands sieht. Eine Ochrana, die diese Intelligenz um vier Uhr nachts aus dem Bett heraus verhaftet, weil sie mißvergnügt ist.«

»Es scheint mir, Fürst, daß nur Ihre hohe Stellung Sie selbst vor einem solchen Besuch der Geheimpolizei schützt.«

Knjäs Manuchin schüttelte das Haupt. Es fiel Waldemar Kerkhuß auf, wie ausdrucksvoll diese sich in den kahlen Schädel hinauf verlierende Stirne gebaut war. Rußland wohnte dahinter, Rußland mit seinem Fieber und seinen Nöten, seinem Grübeln tief nach innen und zugleich seinem blinden Drang nach außen, dies ganze, halb endlose und eben darum sich selbst nur halb verständliche und nach Begreifen ringende Chaos.

»Wie denn? Ich spreche nur aus, was jedes Kind in Rußland denkt. Selbst dem Khan von Chiwa kann man es nicht verbergen, daß die Säulen der heutigen Anordnung wanken. Belieben Sie, unsere Mißerfolge an allen Fronten zu betrachten. Studieren Sie das Durcheinander von Gatschina und Livadia. Die Minister kommen und gehen. Sie erfahren auf dem Bahnhof ihre Entlassung. Die Generale hören mitten im Angriff am Fernsprecher, sie sind abgesetzt. Inmitten dieses Tollhauses sitzt er ... der Wundermönch! Kannst du heute abend ahnen, was er morgen früh seinen hohen Büßerinnen befehlen wird? Wahrlich, die Zeit ist reif. Nicht umsonst hat unsere Intelligenz sich vorbereitet. Sie ruht auf dem mächtigen Bau der Semstwos, von dem das Ausland kaum etwas weiß. Es handelt sich nur darum, diese Formeln der Selbstverwaltung auf die Spitzen des heutigen Systems zu übertragen, das auch euch Balten peinigt und verfolgt.«

»Der Deutschenhaß in Rußland sitzt zu tief. Bei Ihnen selbst, Fürst! Ihr schafft ihn nicht von heute auf morgen aus der Welt!« sagte Waldemar Kerkhuß. Der Fürst überhörte es. Er fuhr gedämpft und eindringlich fort:

»Die Magna Charta statt des Zarismus, die Habeaskorpusakte statt der Ochrana, Westminster statt des Winterpalais! England ist unser Vorbild. England ist unser Wohltäter. Welchen Zeiten führt es Rußland entgegen!«

»Noch ist der Krieg nicht entschieden, Fürst!«

»Wir werden ihn durch Englands Brudertreue gewinnen. Nach innen und außen. Beachten Sie, Waldemar Konstantinowitsch, daß wir Russen in letzter Zeit jeden Krieg, den wir führten, zugleich nach innen, gegen uns führten. Darum kam nach dem Türkenkrieg der Nihilismus, nach dem Krieg im fernen Osten Brand und Aufruhr auch bei euch in den Ostseeprovinzen, in Moskau, überall. Diesmal enden wir den Krieg für uns. Mag der Zar auf dem Thron bleiben oder nicht – auch England hat ja eine derartige Gestalt – die herrschenden Elemente sind dann wir, die führende Intelligenz Rußlands ...«

»... die von England geführt wird ...«

»Die im Geiste der westlichen Aufklärung jedem sein Recht gibt! Auch euch Balten! Ihr seid wie andere Bürger des auferstandenen allrussischen Vaterlands! Sie lächeln? Ich kenne an Ihnen diesen ironischen Zug ...«

»... ich denke an die Freundschaft, die England für uns Deutschrussen an den Tag legen wird!«

»Es wird es! Vertrauen Sie auf Englands Weisheit. Und im übrigen: kommt nach Petrograd, ihr Balten! Macht euch geltend! Tretet auf! Jedem soll freistehen, sein Recht zu wahren! Je früher er sich zur Mitarbeit einstellt, desto sicherer wird ihm sein Recht zuteil!«

... Und Kajas Hand ... Waldemar Kerkhuß befahl dem Tataren mit einem kaum merklichen Kopfnicken, ihm ein neues Glas Tee zu bringen. Er dachte sich ... Ja, sie ist schön ... ein glänzendes Leben ist an ihrer Seite – eine weite Zukunft ...

»Bald bin ich wieder in Petrograd, Waldemar Konstantinowitsch! Sie kennen mein Haus in der Großen Morskaja?«

»Ich sah es früher im Vorüberfahren.«

»Besuchen Sie mich dort! Erweisen Sie mir die Ehre! Die Fürstin wird sich freuen. Auch Kaja finden Sie meistens bei uns. Belieben Sie: Was soll sie bei ihrer Mutter? Sie ist noch zu jung zum Büßen und Beten ... Wir werden da weiter plaudern, Sie und ich! Was wollen Sie den Winter hier vertrauern? Die Witterung wird bald rauh, schlägt jäh um ... Wir sind alle Menschen und dem Irrtum unterworfen. Aber am sichersten wird jetzt der irren, der überhaupt keine Wahrheit sucht!«

Waldemar Kerkhuß erwiderte nichts.

»Ich begreife es, daß Sie an der Front nicht blieben. Das Kreuz Ihrer Lahmheit war Ihnen im Wege. Man sagt, Sie waren in Bukarest. Was taten Sie dort unter diesen Gespenstern von gestern, die dem Schatten des Zarismus von heute dienen? Ich verstehe den Widerwillen, der Sie wegtrieb. Aber hier tut sich Petrograd vor Ihnen auf, das Rußland von morgen, mit allen Möglichkeiten, die dieses heilige Wort in sich schließt ... Ich erachte es für meine russische Bürgerpflicht, jeden zu gewinnen, der an diesem Glück unseres Volkes mit Hand anlegen kann. Ich lade hiermit auch Sie ein, Waldemar Konstantinowitsch, der russischen Zukunft zu dienen. Seien Sie uns willkommen!«

... und deiner Schwester als Schwiegersohn, dachte sich Waldemar Kerkhuß. Sie selbst, die alte Sünderin, ist reuig und weltfern geworden ... schlägt mit dem Graukopf auf den Boden und betet zu Johann dem Leidensreichen von Kiew und allen Heiligen. So müßt ihr, du und die Fürstin, für eure Nichte sorgen.

»Ein Mann wie Sie, Waldemar Konstantinowitsch! Man fragt dereinst nach Ihnen. Man zuckt die Achseln: Er verstand die Zeit nicht zu fassen. Die Zeit ging über ihn weg. Nun ist er verlassen. Ein lebender Leichnam. Und vor ihm, nach Gottes Willen, noch ein langes Leben!«

Waldemar Kerkhuß saß und rauchte. Vor ihm raunte durch blaue Zigarettenschleier und den Dampf des Teeglases die Stimme des Versuchers. »Man wird sagen: Alles bot sich ihm. Er aber hielt sich fern, wo er alles hätte erreichen können! ... Was kann man in Petrograd jetzt nicht erreichen? Die Zeit stürmt wie ein Dreigespann. Die Räder fliegen. Wo ist das Ziel? Jeder mag es sich so weit stecken, als er will. Das Wort ›unmöglich‹ schwindet aus dem Wörterbuch der slawischen Sprachen. Entschließen Sie sich! Jeder Anhänger westlicher Schulung unseres Gesellschaftssystems gehört jetzt nach Petrograd. Es ist der Kopf Rußlands, wie Moskau sein Herz. Man muß nur Freunde haben zwischen der Balschaja und der Fontanka. Sie wissen, wo dort dazwischen mein bescheidenes Haus liegt ... Warum wollen Sie nicht den nahen Triumph der liberalen Intelligenz Rußlands teilen? Wie wird in einem Jahr, nach dem Sturz des alten Systems und gewonnenem Krieg, Rußland dastehen und mit ihm jeder seiner Söhne, der ihm treu war? Nun schenkt ihm die Vorsehung einen Tummelplatz seiner Gaben vom Stillen Ozean bis zum Balkan, vom Nördlichen Eismeer bis zum Goldenen Korn. Halb Asien und halb Europa sind das Sprungbrett seiner Erfolge. Sie haben Gaben, Waldemar Konstantinowitsch! Wie sollten da Erfolge fehlen?«

Der Knjäs Manuchin hatte zu reden aufgehört. Er saß plötzlich in sich versunken. In dem jähen Umschwung slawischen Wesens war auf einmal eine schwermütige Ruhe und Abspannung über ihn gekommen. In dem Schweigen zwischen ihnen beiden lag die tatenlose, weit aus Asien herstammende Schicksalsergebung in die Dinge. Aber vor Waldemar Kerkhuß' Gedanken dehnte sich dies unermeßliche Asien, das in seiner europäischen Hülle Rußland hieß, dies Reich der unbegrenzten Möglichkeiten, in dem alles denkbar war, nur nichts Kleines, in dem es alles gab, schwindelnden Aufstieg, Macht über Millionen Menschen ... unerschöpflichen Reichtum ... schöne Frauen ... Kaja Wiffenhausen stand im Geist vor ihm. Sie stand da, groß, schlank, in weißem Gewand, mit leuchtenden Augen wie ein Cherub vor dem Thron des Lebens.

»Dein Teegeld, Mensch!«

Der Fürst hatte geraucht und vor sich hingestarrt. In einer jähen und nervösen Bewegung war er dann aufgestanden und hatte dem Kellner ein Bündel Rubelscheine hingeworfen, den Rest dem Tataren ungezählt mit einer Handbewegung als Trinkgeld lassend. Er reichte seinem Gefährten die Rechte.

»Nun, mit Gott! – Man wartet auf mich!«

»Grüßen Sie die Fürstin, Boris Wladimirowitsch!«

Waldemar Kerkhuß wollte hinzusetzen: Und Fräulein Wiffenhausen! Aber er schwieg. Sie trennten sich, und der Fürst ging schwerfällig, mit der Langsamkeit des Russen, in die Nacht hinaus.


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