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7.

Ein grauköpfiger, finsterer russischer General stand auf der Landstraße tief im weltfernen Innern des nördlichen Finnlands neben dem rumpligen Postkarren, von dem er herabgeklettert war. Die Schirmmütze tief in die Stirne gedrückt, in weißem, sommerlichem Rock, weiten Hosen und Kniestiefeln schaute er ungeduldig um sich. Seine strengen Züge zeigten noch in dem dunklen Schnurrbart und den Bartstreifen an den Wangen die Tracht Alexanders des Zweiten. Er war vom Felde gebräunt. An barsche Befehle gewöhnt. Aber sie halfen ihm hier nichts. Die Finnen, die schweigsam und mißtrauisch den aus unbekannter Weite zu ihnen hereingeschneiten russischen Würdenträger umstanden, konnten kein Wort Russisch.

Der General Baron Paul Oxberg prüfte mit düster gefurchten Brauen seine Landkarte, buchstabierte noch einmal den unaussprechlichen Namen des Orts ... Hauakkawuori? ... Das stimmte. Die Finnen nickten. Aber weiter? Er blickte ratlos umher.

Es war um ihn, in der Kühle eines blauen, blassen, hochnordischen Frühsommertags, das Bild schwermütiger Einsamkeit wie überall im Herzen Finnlands. Die weiten, stillen Fichtenwälder, die weiten, schweigenden Seen, die niederen kahlen Granithügel, das versprengte Rotbraun der vereinzelten hölzernen Bauernhäuser ... Von der Badstube drüben Rauch, ein Zeichen, daß es Sonnabend war. Nackte Gestalten von Männern und Frauen standen harmlos, weißleuchtend, vor dem Dampfbadhaus in der Sonne. Aber den schwarzen Fichtenwipfeln hob sich unwahrscheinlich in der Ferne der Schornstein der Fabrik – jener Fabrik, die plötzlich hier überall im Lande weltverloren an einem der zahllosen Wasserfälle stand, deren Nutzkraft die Baumwollspindeln drehte. Industriearbeiter aus der Spinnerei gingen vorbei. Sie maßen den General schweigend und finster. Plötzlich begriff er, daß dies anscheinend von der Zeit vergessene, abgeschlossene, träumende Land vielhundertfach in seinen entlegensten Winkeln von Nestern gärenden Geistes der Gegenwart durchsetzt war.

Ein städtisch gekleideter Beamter aus der Baumwollfabrik trat herzu. Baron Oxberg sprach ihn lebhaft auf russisch an. Der Herr zuckte die Achseln. Antwortete auf schwedisch. Auch das führte nicht weiter.

Dann murmelte eine Stimme etwas von »saksalainen«. Der General erriet, was es hieß: sächsisch, deutsch. Deutsch und Englisch verstand man da, wo Finnland irgendwie mit der Welt draußen zusammenhing, eher wie Russisch. Er blickte zornig auf den Sprecher. Jedes Wort Deutsch war in der Öffentlichkeit für einen Diener des Zaren während des Krieges ein Verbrechen.

Zwei Männer kamen auf leisen Bastschuhen die Straße entlang. Ihre breitknochigen Züge erinnerten Baron Paul Oxberg noch mehr als der mongolische Schnitt der Finnengesichter um ihn an seine esthnische Heimat. Die Gesichter glichen genau dem seines Dieners aus seinem väterlichen Gut, der, in dem feldbraunen Schilfrock eines russischen Infanteristen, hinter dem Postkarren stand. Die drei Esthen sahen sich an und kamen in ein rasches Gespräch. Baron Oxberg hatte schon seine Jugend fern von den Ostseeprovinzen, im Pagenkorps im Petersburger Malteserhaus, zugebracht und verstand nur wenig Esthnisch. Aber er begriff doch, was der eine der fremden Bauern, die Mütze abziehend, mit feierlicher und langsamer Stimme zu ihm sagte:

»Herr ... der Baron ist hier!«

Es war ein älterer, esthnischer Gesindewirt von der unverkennbaren Eigenart der Herrnhuter. Eine innere Würde des Gerechten lag auf seinem groben Gesicht. Er wiederholte:

»Der Kerreküllsche Baron ist hier! Er wohnt in jener Pörte am Waldesrand!«

»Woher weißt du es?«

»Wir kommen eben von ihm. Wir waren zwei Tage seine Gäste, Herr!«

Das Antlitz des Generals von Oxberg wurde noch strenger. Man las darauf: Esthenkerle zu Besuch bei meinem Neffen Waldemar! And sicherlich nicht die ersten und nicht die letzten ihrer Art! Aber er sagte nur ruhig: »Ich danke dir!« schob sich den schweren Mantel zurecht, den er nach Russenbrauch trotz des Sommers um die Schultern gehängt trug, und ging auf die Holzhütte zu. Seine Sporen klangen leise zu seinen wuchtigen Tritten.

Er stieß die Türe des Plankenzaunes auf, der das Grundstück umgab. Das Haus, das innen stand, war klein, aus schweren, in den Fugen mit Moos verstopften Längsbalken gezimmert und fuchsrot gestrichen. Es bestand eigentlich nur aus einem einzigen Raum. Aus ihm kam eben wieder ein Besucher heraus, auch er von echt esthnischem, aber durchgeistigtem Äußern. Baron Oxberg glaubte in dem noch jugendlichen Brillenträger einen lutherischen esthnischen Pastor aus dem Blut der Ureinwohner zu erkennen. Er erwiderte seinen Gruß, klopfte mit geballter Faust grimmig gegen das Holztor und trat, ohne ein »Herein!« abzuwarten, in das niedere Gemach, das, außer Büchern am Boden und einem weißfichtenen Schreibtisch, ein paar rohe Stühle und ein Feldbett in der Ecke enthielt.

Auf einem dieser Stühle saß Waldemar Kerkhuß, ein Bein über das andere geschlagen, eine Zigarette im Munde, über einen Brief, den er in der Hand hielt, gebeugt, daß der blonde Haarschopf über sein ernstes Gesicht fiel. Als er den General vor sich sah, steckte er das Schreiben weg und reichte jenem ohne ein Zeichen der Überraschung die Hand. Baron Oxberg schaute sich in dem rohen Blockhaus um, schüttelte mißbilligend den kriegerischen Kopf und sagte:

»Endlich fand man dich! Seit einem Vierteljahr bist du verschollen!«

»Wer sollte mich vermissen?«

»Deine Eltern. Von deinem Vater erfuhr ich endlich deinen Aufenthaltsort, den in Petrograd niemand kannte.«

»Gott sei Dank zähle ich dort zu den Jewesenen!«

Waldemar Kerkhuß sprach Deutsch. Sein Oheim ließ jetzt auch, wo sie unter vier Augen waren, ein Balte mit dem anderen, das Russisch sein. Er setzte sich.

»Eines Tages warst du aus Petrograd fort, Waldemar! Man bejriff es nicht. Man schob es auf eine jeistige Verwirrung... Man hat sich jetzt noch nicht über dich beruhigt...«

»Nun – lassen wir diese Mucken! Wie jeht es dir, Onkel Pauluscha? Kommst du von der Front?«

»Von der Front.«

»Wie steht es da?«

»Wie es seit einem Jahr steht! Wir auf dem livländischen Ufer der Düna, der Deutsche jejenüber auf dem kurischen. Ich hatte jroße Verluste... Nun, jenug!«

Baron Oxberg stand wieder auf und stellte sich, mit seiner düsteren, mantelumhangenen Felderscheinung das Licht des kleinen Fensters verfinsternd, hart vor seinen Neffen, der gleichmütig zu ihm aufsah.

»Waldemar, was suchst du hier?«

»Dasselbe kann ich dich fragen, Onkel!«

»Dich suche ich!«

»Warum?«

»Schon diese Frage zeigt die Entjleisung deiner Lebensführung, die der Krieg über dich jebracht hat. Es ist jetzt nicht die Zeit für einen fixen, jungen Kerl, sich hier in der Wildnis zu verjraben! Man braucht dich!«

»Wer brauchte mich wohl?« sagte Waldemar Kerkhuß und schob dem Oheim den Kasten mit beßarabischem Tabak und Zigarettenpapier hin, damit er sich bediene.

»Dein Vater!«

»Er schrieb mir dieser Tage. Eben als du kamst, war ich im Bejriff, seinen Brief noch einmal zu lesen.«

»Dein Vater ist krank und benötigt dich. Da hast du's!«

»Ich kann nicht kommen. Ich brauche mich selbst.«

»Er ist der Verwaltung der Gütter im Kriege nicht jewachsen. Es ärjert ihn. Es regt ihn auf. Es sind da ständige Schwierigkeiten mit den örtlichen Behörden. Er ist an jrößere Aufjaben jewöhnt!«

»Die Mitbrüder sollen helfen. Ringsum sitzt ja alles von ihnen voll. Ich werde an meinen Freund Arwed Speerreuter schreiben. Er ist ein besserer Landwirt als ich. Fedor Tumme übrijens auch. Bittet doch den Alt-Sötthaster, daß er nach dem Rechten schaut!«

»Jut! Lassen wir den Vater! Lassen wir Kerreküll! Sprechen wir von dir selber! Du scheinst nicht zu ahnen, was für Jerüchte über dich umlaufen – wie mißliebig du dich in Petrojrad jemacht hast! In dieser Hundehütte hier, die du in deiner unjesunden Jeistesverfassung dem Aufenthalt unter Menschen vorziehst...«

»Ich bin hier mehr unjestört.«

»... hier ist ein Kommen und Jehen von Esthen. Ich sah es eben selbst. Was sind das für verdächtige Jestalten?«

»Die beiden, die dir eben im Herauskommen bejejneten?«

»Nun ja... diese Esthenkerle... Es stinkt noch nach Tran und Schafpelzen...«

»Es sind Bauern von unseren Güttern. Sie kommen zu mir, auch im Auftrag der anderen. Oft sojar heimlich. Mit Fischerbooten über das Finnische Meer und zu Fuß durch die Wälder hierher...«

»Was wollen sie von dir?«

»Sie haben Zutrauen zu mir!... Schon seit meiner Jugend ... Du weißt es ja. Wir sitzen die weißen Nächte hindurch im Hellen und sprechen... ich höre ihnen zu ...«

»Du? Ein Kerkhuß einem Esthen? Was erzählt er dir? Vom Holzdiebstahl? Oder wie man nachts Pferde von der Weide treibt? Oder wie man nach Johannis die Heumieten anzündet?«

»Der alte Herrnhuter, der eben wegging,« sagte Waldemar Kerkhuß, »weiß vom Lesen und Schreiben nicht viel. Und jelesen hat er in seinem Leben nur die Bibel. Ein einfältiger Mensch aus dem Walde. Er sagte vorhin: ›Herr, wir lernen fliegen, um uns zu töten! Wir lernen unter der Erde kriechen, um uns zu töten! Wir lernen tauchen, um uns zu töten! Wäre es nicht besser, wir blieben beim Gehen, um uns zu lieben?‹«

Baron Oxberg erwiderte nichts.

»Der alte Kerl meinte: ›Herr, wir Menschen wandern jetzt alle widereinander und suchen die Welt außer uns. Aber die Welt ist in uns. Wir zerstören den Leib des Nächsten, statt daß wir die eigene Seele retten. Wir jehorchen den Jesetzen der Menschen und brechen die Jebote Gottes!‹«

»Verschone mich! Man kennt diese Sektierer! Wir haben von diesen Altjläubigen viel zu viel. In janz Rußland!«

»Wie du befiehlst, Onkel Pauluscha! Bleiben wir bei den Dingen dieser Welt. Kurz nachher verließ mich einer unserer Pastoren. Er ist von esthnischer Abstammung...«

»Wir bejrüßten uns!«

»Er sagte: Herr Baron! Wo Unrecht ist, da wird Unrecht! Ihr habt uns Esthen und Letten unterdrückt. Nun unterdrückt man euch Deutsche!«

»Das ist dieser neue Jeist der Unbotmäßigkeit. Seit dem Aufstand vor zwölf Jahren!«

»Er sagte: Ihr, von der deutschen Ritterschaft, ließt uns Esthen durch die Jahrhunderte hindurch niemals Deutsch lernen. Nun dürft ihr selber nicht mehr Deutsch sprechen. Der Russe verbietet es!«

»Wie heißt der Mensch? Man wird ihn sich merken!«

»Er sagte: Ihr kamt als Fremde in unser Land. Sieben Jahrhunderte wohntet ihr mitten zwischen uns und habt doch niemals versucht, uns nahezukommen. Ihr nanntet euch die Schwertritter und stütztet euch auf das Schwert. Nun steht die Welt im Zeichen des Schwertes. Aber das Schwert wandte sich jejen euch. Ihr ließt uns immer nur eure Macht fühlen. Jetzt zeigt euch der Russe seine Macht. Ihr erntet, was ihr sätet!«

»Ein Pastor als Aufrührer!«

»Keineswegs! Er spricht natürlich nicht nur Deutsch wie wir, und seine Bildung ist deutsch, sondern er will auch ein festes Band um deutsche und esthnische Art.«

»Jehorchen soll er!«

»Er sagt: Wir bewohnen dasselbe Land. Wir jlauben an denselben lutherischen Gott. Wir haben denselben jemeinsamen Feind: den Zaren mit seinen Popen und Gendarmen.«

»Still! Ich bin Jeneral!«

»Er sagt: Wir haben das jleiche Ziel: Los von Rußland! Euch Deutschen jeschieht Unrecht. Aber ihr tatet es zuvor auch uns! Alles alte und neue Unrecht wird jetzt wach. Die Zeit ist da, um es auf der janzen Welt abzustellen! Wir wollen Schulter an Schulter unser Recht jejen die blinde Tyrannei des Zarentums erkämpfen und dann jleichberechtigt in Zukunft hier nebeneinander leben!«

»Also Hochverrat!« sprach der General erschüttert.

»Vorläufig höchstens in Jedanken, Onkel!«

»Und mit diesen Jedanken stehst du zum Jlück unter uns vereinzelt da!«

»Leider!«

»Denn wie willst du auch nur davon träumen, diese staatsjefährlichen Hirnjespinste in die Wirklichkeit zu übertragen? Versuche es doch! Man wird dich und deine Esthen rasch mit ein paar Kosaken abführen!«

»Jewiß doch! Aus eijner Kraft vermögen wir nichts jejen die Asiaten des Zaren!«

Baron Oxberg unterdrückte ein russisches Wort, das wie »Durak« – ›du Narr! ‹ – klang, und fuhr fort, laut, streng, jetzt ganz ein Diener des Selbstherrschers aller Reußen:

»Wer könnte euch denn helfen?«

»Die Deutschen!«

Jetzt mußte der General lachen. Es war ein unheimliches Zucken über sein finsteres Gesicht. Er nahm den Neffen nicht mehr ernst.

»Die Deutschen? Sehr gut! Die Deutschen vor den Toren Petersburgs! Sage doch jleich: die Deutschen hier innen in Finnland! Die Deutschen unten in Kiew! Die Deutschen in Sebastopol! Die Deutschen bei den Kosaken in Rostow! Die Deutschen in Tiflis! Geniere dich nicht! Wenn man schon Fieber hat und phantasiert, geht es in einem!«

»Und doch besitzen die Deutschen schon seit Jahr und Tag die eine unserer Ostseeprovinzen! Warum nicht auch die beiden anderen?«

»Weil ich da unten Wache halte!« sagte Baron Oxberg grimmig und sich aufreckend. »Ich und viele andere! Ich sterbe eher, als daß ich sie durchlasse!«

»Und wenn sie nicht durchkommen, stirbst du auch, das eine Mal als Jeneral, das andere Mal als Deutscher!« Waldemar Kerkhuß sprang auf und trat, das lahme Bein leicht nachziehend, auf den Oheim zu. »Onkel Pauluscha! Einmal, vor zwei Jahren, hast du mir, den deutschen Linien jejenüber, da unten in Ostpreußen in deinen Schützenjräben dein Herz jeöffnet. Da habe ich einen Deutschen jesehen wie mich!«

»Ich bin es auch!« sprach der General dumpf.

»Warum verleugnest du ihn?«

»Ich sagte es dir damals schon: Ich bin Soldat! Ich habe vor meinen Rejimentern die Fahnen des Zaren jeküßt, als wir auszogen. Ich komme im Jespräch mit dir immer wieder in das Deutsche! Ich fange an deutsch zu denken. Aber ich darf es nicht. Da ist mein Schwur auf den Dejen! Jenug! Jedes weitere Wort ist überflüssig!«

»Du tust mir leid, Onkel Pauluscha! Ihr alle, die ihr noch in den Netzen Petrojrads zappelt!«

»Ich brauche dein Mitjefühl nicht! Ich stehe hier als Mahner und Warner. Dein Vater hat mich jeschickt, ehe andere nach dir schicken! Es ist bald so weit. Du spielst mit dem Feuer.

»Nein doch! Das Feuer dieser jroßen Zeit spielt mit mir! Mit dir! Mit jedem!«

»Nicht lange wird man das noch mit ansehen! Was ist das für dich für ein verdächtiger Aufenthalt, mitten in dieser unjlaublichen Wildnis, nahe der schwedischen Jrenze? Wer weiß, was sich da alles durch Lappland ins Ausland schleicht oder dir von dort Nachrichten herüberbringt?«

»Es kann schon sein!«

»Nun! Ein Befehl durch den Fernsprecher, und man hebt dich auf. Du bist der erste nicht!«

»Aber jewiß nicht! Der Zar hat schon viele von uns Balten einjesperrt, die noch weniger schuldig waren als ich!«

»Man jibt dir in zwölfter Stunde noch einmal Zeit, dich zu besinnen und von dieser Jeisterseherei zu lassen, die du seit Bejinn des Kriegs in wechselnder Jestalt treibst, und ein nützliches Jlied der menschlichen Jesellschaft zu werden! Du hast den Brief deines Vaters erhalten. Er ist zu krank, um selbst zu reisen! Er hat mich jebeten, es zu tun und dich zu fragen, was du auf sein Schreiben hin zu tun jedenkst?«

»Nichts.«

»Ich habe mich bereit erklärt, dir noch einmal ins Jewissen zu reden. Dies jeschah! Ich jebe dir jetzt bis zum Nachmittag Zeit zur Überlejung. Dann fahre ich wieder zur Eisenbahnstation und über Wiborg zurück.«

»Jlückliche Reise, Onkel Pauluscha!«

»Inzwischen werde ich sehen, daß ich auf der Post ein Unterkommen finde...«

»Tee, Brot und Fisch wird man dir schon jeben!«

»Bis dahin lies noch einmal, was dir dein Vater schreibt. Es jeht um dein Schicksal, Waldemar!«

Als Waldemar Kerkhuß allein war, setzte er sich am Fenster hin und entfaltete den Brief. Er war in französischer Sprache. Die Handschrift des Vaters hatte nicht mehr den leichten Schwung des Petersburger Weltmanns. Sie war zittrig und müde geworden. Schwach von Alter und Krankheit.

»Keiner meiner anderen Söhne gibt mir Rätsel auf. Nur gerade Du, der Älteste und mein Erbe. Wer wird aus Dir klug? Warum schweifst Du seit einem Jahr und länger ruhelos in Rußland herum, bald in Jalta, bald in Petrograd, nun gar drüben in Finnland? und dort nicht einmal als Fremder von Distinktion, sondern ohne Beziehungen zur schönen Welt?

Ich hoffe, man erzählt Märchen, wenn man über Deinen augenblicklichen Verkehr berichtet. Ich bin nicht imstande, diese Tatarennachrichten richtig einzuschätzen. Ich habe aber mein Leben lang gefunden, daß der Umgang mit Arbeitsrittern, Oktobristen, Muschiks, Syndikalisten, landflüchtigen Popensöhnen und paßlosen Hebräern, oder wen Du Deines Vertrauens würdigen magst – die Mitteilungen über Dich lauten ja ganz widersprechend – unseren Kreisen keinen Gewinn bringen kann. Ich gestehe, daß ich zu alt bin, um sogar das Vergnügen eines solchen Umgangs zu begreifen. Es gibt Gesetze der Rücksicht auf sich und seine Nächsten – nun genug: Es kompromittiert Dich und mich dazu.

Ich habe noch meine alten Gönner im Winterpalais und jetzt da unten in Livadia. Zwei Deiner Brüder kämpfen zu Land und zur See, der dritte arbeitet unter den Augen des Reichskontrolleurs in Petrograd. Ohne das ständest du schon lange auf der Schwarzen Liste!

Aber man hatte bereits ernste Unterhaltungen über Dich, mein Freund. Man ist nicht mehr gesonnen. Deine Irrwege mitanzusehen. Man befiehlt Deine Rückkehr! Wohlverstanden: Man befiehlt sie! Man weist Dir Kerreküll als Aufenthaltsort an, wo Du unter Aufsicht der örtlichen Behörden zu leben hast! Die Gunst, daß man Dich nicht in den Ural oder sonst in das Innere des Reiches verschickt, verdankst Du mir! Man nimmt auf einen alten Staatsdiener wie mich Rücksicht. Man weiß, daß ich Dich hier brauche. Ich bin matt und anfällig. Ich schlafe oft plötzlich ein und weiß, wenn ich aufwache, nicht recht, wo ich bin. Frälsemann behandelt mich falsch. Mir könnten nur deutsche Bäder helfen. Aber man kann ja nicht in das Ausland.

Schreibe mir, was Du auf diesen Brief tun wirst. Es ist keine Zeit zu verlieren! In keiner Hinsicht! Benutze den Wind der Gnade, der augenblicklich noch für dich weht ...«

Waldemar Kerkhuß stand auf und ging im Zimmer hin und her. Er wiederholte sich, düster den blonden Kopf gesenkt, die Zigarette schräg zwischen den hochmütig lächelnden Lippen: Den Wind der Gnade ... die Gnade von Asien ... Sie nennen es in diesem Reich schon Gnade, wenn sie einen Menschen, der nichts verbrach, in halber Freiheit und am Leben lassen! Noch ist der Drache des Ostens guter Laune! Er spielt noch mit mir! Aber bald fühlt man sich unentrinnbar zwischen seinen Fängen ...

Da waren noch ein paar Worte am Schluß des Briefes:

»Dieser Wind kann über Nacht versiegen. Zumal wenn ich nicht mehr bin. Und auch dies kann jede Nacht sich ereignen.«

Er ließ den Brief sinken. Er dachte sich: der Vater ist doch erst Siebzig. Die Kerkhuß' werden alle steinalt. Sie steigen zwar gerne zuweilen in ihre Ahnengruft hinab, leuchten mit Kerzen zwischen den gedrängt stehenden Steinsärgen, prüfen die Wappen und Wappenbesserungen, vergleichen die Inschriften und Jahreszahlen, aber hinuntertragen lassen sie sich so spät wie möglich. Der Zeitpunkt, wo auch der Vater da unten ruhen und ich Herr auf Kerreküll und elf anderen Gütern sein soll, schien mir immer in weiter, unbestimmter Ferne. Jetzt rückt er mir auf einmal greifbar vors Auge, so als hörte man in der Stille der finnischen Einsamkeit den schweren Tritt des Schicksals. Ein Ahnen über einem ... ein leises Grauen...

Er setzte sich an den Tisch und begann hastig die Antwort an seinen Vater. Es schien ihm, er müsse sich eilen – er wagte sich selber nicht Rechenschaft zu geben, aus welchem Grunde. Er murmelte vor sich hin, was er schrieb.

»Von Dir aus gesehen scheinen die letzten beiden Jahre meines Lebens wirr und kraus. Sie sind es nicht. Sie sind eine gerade Linie, die mich zu einem Ziel führt, das ich noch nicht kenne. Ich halte mich nicht vor diesem Krieg verborgen. Niemand kann das. Nein. Ich suche diesen Krieg. Ich folge ihm, so gut es einer mit einem lahmen Knie kann, der nicht zu kämpfen vermag. Das heißt: ich folge ihm im Geiste. Ich suche in diesem Krieg meinen Platz in der Welt. Ich werde nicht ermüden, bis ich ihn gefunden habe. Ich passe im Wandern und Suchen besser in diese alles umstürzende Zeit, als wenn ich abseits in Kerreküll säße und still das Leben meiner Vorfahren führte. Was ich hier draußen in mir erlebte, woran ich zweifelte, was ich verwarf und hinter mir ließ, alles hat mich doch reicher gemacht. Es hat mir die Überzeugung gegeben, daß wir nichts sind, und die Gedanken, die uns führen, alles. Denn in ihnen liegt die Zukunft der Menschheit, für die jeder von uns Lebenden in dieser Nacht über der Erde der Nachwelt verantwortlich ist. Es ist nur die Frage: Wo muß ich meine Zukunft suchen? Bei welchem Volk und in welchem Land? Diese Frage steht vor mir. Sie rückt mir immer näher. Sie ist der große Entschluß, der, auch aus Deinem Brief, vor mir aufsteigt, und den ich einmal fassen muß, wenn ich mich reif genug für ihn fühle. Ich glaube, ich werde ihn sehr bald fassen, und wenn das geschieht, so ist er eben stärker als ich, und ich kann's nicht ändern ...«

Er legte die Feder hin. Er frug sich: Wer versteht denn das, was ich schreibe, in Kerreküll? Mein Vater gewiß nicht. Ihm wird es bis an sein Lebensende, trotz allem und allem, unbegreiflich bleiben, wie man sich von Rußland trennen kann. Er liebt Rußland nicht. Er sieht mit schonungsloser Kühle Rußlands Fehler und Gebrechen. Er verachtet Rußland sogar aus Herzengrund, wenn das, was dort in dem Reich des Zaren geschieht, baltischem Reinlichkeits- und Ehrlichkeitsgefühl und Ordnungsliebe und Sinn für Anstand und Maß zu sehr ins Gesicht schlägt. Er betrachtet Rußland hochmütig von oben, von seinem Herrenstandpunkt. Aber das ist es ja eben: diesen Herrenstandpunkt, dieses Bewußtsein deutscher Überlegenheit kann ihm, kann uns nur Rußland geben. Anderswo sind wir Menschen wie andere. Hier die geborenen Übermenschen. Wir fühlen uns der halbasiatischen Umwelt nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich überlegen. Das erklärt so manchen Widerspruch in uns: daß Männer wie mein Vater wohl deutsch sein wollen, aber keine Deutschen ...

Draußen flimmerte der bleiche, kühle finnische Sommertag. Durch das Schweigen ringsum näherten sich schwere Schritte dem kleinen Blockhaus. Sie wurden immer langsamer, zögernder in ihrer Wucht. Man hörte ihren dumpfen, unentschlossenen Widerhall an der Balkenwand. Waldemar Kerkhuß hob unruhig den Kopf und horchte. Es war da ein leises Sporenklirren. Der Schlag einer Säbelscheide auf der Holzstufe, ein Pochen an das Tor. Ein halblauter, unsicherer Baß.

»Waldemar ...«

»Wie denn? Onkel Pauluscha?«

General von Oxberg stand auf der Schwelle. Seine immer harten Züge waren noch ernster als sonst.

»Jab man dir auf der Poststation nichts zu essen, Onkel?«

»Man jab mir eine Depesche, die eben für mich ankam. Sie ist an mich jerichtet, aber der Inhalt für dich bestimmt, damit ich dich darauf vorbereite!«

»Aus Kerreküll?«

»Ja.«

Waldemar Kerkhuß stand vor dem hastig zurückgestoßenen Stuhl. Er hielt sich mit der einen Hand an dessen Lehne, in der anderen zitterte das Blatt, das ihm Baron Oxberg reichte. Seine Züge wurden langsam bleich. Er las es wieder. Er schwieg. Endlich sagte er:

»Mein Vater im Sterben ...«

»Ich nehme dich als Jeneral auf meine Verantwortung mit, ehe dein Paß in Ordnung ist. Bist du bereit, gleich zu reisen?«

»Ja.«

»Dann komm!«


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